Kurz nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg. Der Sand glühte blaßgolden, die Sonne schien schon grell. Wir unterhielten uns kaum. Ich machte mir Sorgen um Evelyn. Wie sollte ich sie von ihren seltsamen Ängsten befreien?
Die erste Person, die uns entgegenkam, war Walter. Er trug den verletzten Arm in der Schlinge, schien sich aber sonst wohl zu fühlen. Ich freute mich sehr darüber. Er gab zwar zuerst mir die Hand, schaute dabei jedoch Evelyn an.
»Ich bin sehr erleichtert, Sie zu sehen«, sagte er, »und ich war sehr böse auf Radcliffe, als er mir sagte, daß Sie gegangen seien.«
»Um uns brauchten Sie sich keine Sorgen zu machen«, erwiderte ich. »Wir waren um Sie besorgt. Wo ist Ihr Bruder?«
»Raten Sie«, meinte er lächelnd.
»Wahrscheinlich hat er in meiner Abwesenheit die Grabungen wiederaufgenommen. Hat er denn gar kein Gewissen? Hat er etwas gefunden? Etwa neue Malereien?«
»Miß Amelia, woher wissen Sie das?« rief Walter erstaunt.
»Ich kenne Ihren Bruder doch. Er ist zu jeder Dummheit fähig, wenn es um Altertümer geht. Wo ist er? Ich habe mit ihm zu reden.«
»Das Pflaster ist nicht weit von dem zerstörten entfernt. Aber .«
»Keine Widerrede!« unterbrach ich ihn. »Ihr kehrt jetzt alle ins Lager zurück, und ich hole Emerson.«
Ich hatte mich in einen richtigen Zorn hineingesteigert, als ich ihn fand. Er kauerte fast unsichtbar auf dem Boden, und fast wäre ich über ihn gestolpert. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er mich nicht hörte, und ich versetzte ihm daher mit meinem Sonnenschirm einen ziemlich kräftigen Schlag auf die Schulter.
»Oh, Sie sind's, Peabody«, sagte er. »Wer sonst würde einen Mann zur Begrüßung über den Kopf schlagen?«
Ich hockte mich neben ihn auf die Fersen. Daran hatte ich mich gewöhnt, und meine Knie protestierten längst nicht mehr dagegen. Er hatte ein Stück von etwa drei Fuß im Quadrat gesäubert. Auf dem blauen Grund, der Wasser bedeutet, schwammen drei herrlich geformte Lotosblüten mit grünen Blättern.
»Aha, Sie wollten also nur in Ruhe arbeiten. Sie sind doch der größte Egoist, den die Welt je gesehen hat! Und welche Zeitverschwendung, den Sand mit bloßen Händen wegzuschaufeln! Auf die Art legen Sie niemals das ganze Pflaster frei.« Da er nicht antwortete, fuhr ich fort:
»Sind Sie denn gar nicht neugierig? Wollen Sie nicht wissen, was vergangene Nacht geschehen ist?«
»Weiß ich doch«, antwortete er. »Ich war in aller Morgenfrühe beim Boot und habe mit Hassan gesprochen.«
Er sah sehr müde aus, das stimmte, aber ich brauchte eine Weile, um mich von meiner Verblüffung zu erholen. »Und was halten Sie davon?« fragte ich.
»Es ging genau, wie ich vermutete. Die Mumie erschien und wurde von Ihnen .«
»Von Lucas.«
»Seine Lordschaft schien nicht besonders nützlich gewesen zu sein, denn sein Kollaps hat die Mannschaft zur Panik getrieben. Selbst Reis Hassan, der gewiß kein Feigling ist, hat jetzt Angst. Hat der Lord sich wenigstens von seinem Angstanfall erholt?«
»Ich weiß wirklich nicht, was mit ihm war und warum er ohnmächtig wurde. Aber ein Feigling ist er nicht.«
Emerson zuckte die Achseln und räumte weiter Sand weg.
»Sind Sie denn ganz von Sinnen?« fuhr ich ihn an. »Ein Pflaster haben Sie schon vernichtet, und wenn Sie das hier freilegen, geschieht es wieder so. Die einzige Sicherheit liegt darin, daß es keiner sieht.«
»Dieses Pflaster ist nicht meine größte Sorge. Besser, wir verlieren dieses Mosaik als Miß Evelyn.«
»Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht recht glauben«, erwiderte ich.
»Es ist wahr, auch wenn Sie von mir die denkbar schlechteste Meinung haben.« Das klang so bitter, daß ich mich getroffen fühlte.
»Ich habe doch gar keine schlechte Meinung von Ihnen«, murmelte ich. Es muß ein urkomisches Bild gewesen sein, das wir boten. Er hockte auf den Fersen und beugte sich vorwärts, um mir ins Gesicht zu schauen. Er glich in dieser Haltung eher einem Orang-Utan als einem Menschen, und ich mußte mit meinen um mich gebauschten Röcken auch recht merkwürdig ausgesehen haben. Es war mir aber unwichtig, denn ich sah nur seine intensiven blauen Augen, die wie Saphire funkelten und meine Augen nicht losließen. Da mußte ich den Blick senken, und ich glaube, ich wurde flammend rot. »Hallo, Radcliffe!« hörte ich in diesem Augenblick Walter rufen, der auf uns zukam. »Was meinst du, was ...« Er schaute von einem zum anderen. »Was ist denn? Habe ich ... gestört?«
»Nein, hast du nicht«, knurrte Emerson. »Was ist, Walter? Du bist so aufgeregt.«
»Kein Wunder, und du wirst auch aufgeregt sein, wenn du hörst, was letzte Nacht geschehen ist.«
»Das weiß ich doch.«
»Dann hat es dir also Miß Amelia erzählt. Radcliffe, es muß etwas geschehen! Das ist doch entsetzlich. Du mußt die Damen überreden, noch heute abzureisen. Komm mit ins Lager. Ich habe keinen Erfolg bei Miß Evelyn und auch nicht bei Lord Ellesmere.«
»Na, gut«, brummte Emerson, und wir machten uns auf den Weg. Walter hörte nicht auf, über sein Entsetzen zu sprechen, bis ihn sein Bruder unterbrach. »Walter, hör doch endlich auf mit deinem Geplapper. Was erreichen wir damit, wenn wir Miß Evelyn wegschicken? Ist die Mumie etwas Übernatürliches, was ihr Narren alle zu glauben scheint, dann kann sie ihr folgen, wohin sie auch geht. Und sie kann ihr auch folgen, wenn sie nichts Übernatürliches ist. Da dir an ihrer Sicherheit mehr liegt als an unserer Arbeit hier, sollten wir vielleicht besser daran denken, die Motive dieser Kreatur zu erforschen, um ihnen wirksam begegnen zu können.«
Walter sah ziemlich geknickt drein, und ich versuchte ihn aufzuheitern. »Ich bin überzeugt, daß die Mumie Evelyn nichts Böses will. Sie und Lucas, Sie beide wurden angegriffen, aber nicht Evelyn.« - »Ah«, sagte Emerson und sah mich lange und nachdenklich an. »Peabody, ich versichere Ihnen, das ist mir nicht entgangen.«
Walter war besorgt, ich wütend, und so legten wir den Weg schweigend zurück. Evelyn und Lucas warteten schon auf uns, und wir setzten uns zu einer Diskussion zusammen, die uns anfangs auch nicht weiterbrachte. Das war mein Fehler; sonst fällt es mir nicht schwer, selbst zu einem Entschluß zu kommen und andere von dessen
Richtigkeit zu überzeugen, aber diesmal gelang es mir nicht.
Am sichersten wäre es gewesen, wenn wir gepackt und das Lager aufgegeben hätten. Das kam für Emerson nicht in Betracht, und ich gab ihm insgeheim darin recht. Ich konnte aber auch die Emersons nicht im Stich lassen und unsere Vergnügungsreise fortsetzen, denn die beiden Brüder waren nicht besonders gesund. Wie sollten sie Hilfe herbeiholen, wenn die Dorfbewohner vom passiven Widerstand zur offenen Feindseligkeit übergingen? In Amar-na gab es schon in ruhigen Zeiten kaum Touristen.
Ich konnte natürlich auch auf der Dahabije bleiben und Evelyn mit Lucas nach Kairo zurückschicken, damit sie Hilfe holten. Ich konnte die beiden aber nicht gut allein reisen lassen, und Evelyn würde sich sowieso weigern, mich zu verlassen. Und Emerson würde wie ein Schakal heulen, wenn man ihn in seinem männlichen Stolz verletzte, das heißt, in Kairo für ihn um Hilfe bat.
Nun, ich nahm das Risiko auf mich, diesen Vorschlag zu machen. Alle protestierten außerordentlich heftig, nur der eine nicht, von dem ich es ganz bestimmt erwartet hatte - Emerson. Er kniff die Lippen zusammen und schwieg düster.
Lucas sah wieder ein Ziel in Reichweite. »Ich kann nur dann reisen, wenn ... Also unter ganz bestimmten Voraussetzungen, um Evelyns Ruf nicht zu schädigen«, erklärte er nachdrücklich. Evelyn wurde rot und schaute weg. Seine Absicht war nur allzu klar. Wenn sie als offizielles Brautpaar reisten mit dem Ziel, nach ihrer Ankunft sofort zu heiraten, so war das zwar auch unschicklich, aber die englische Kolonie in Kairo wäre nicht schockiert.
Walter begriff natürlich auch sofort und zog ein langes Gesicht. Emerson stopfte seine Pfeife und paffte dicke Wolken. Dabei musterte er uns mit bösen Blicken.
»Das ist alles absurd!« rief ich und sprang auf. »Der Tag vergeht, und ich bin erschöpft.«
»Natürlich, Amelia«, antwortete Evelyn sofort. »Du mußt ausruhen.«
Emerson nahm die Pfeife aus dem Mund. »Wirklich, Peabody, das sieht Ihnen gar nicht gleich, so unentschlossen zu sein. Ihr benehmt euch alle wie Kinder, die vor einem Schatten davonlaufen.«
»Schatten! War es etwa ein Schatten, der mit Felsen nach Ihnen warf? Oder der Walter verwundete?«
»Bei mir war es ein Steinschlag, und bei Walter ein . unglücklicher Zufall«, erwiderte Emerson und schaute Lucas bedeutungsvoll an. »Kommen Sie, Peabody, und benutzen Sie Ihren Kopf. Bis jetzt liegt kein Beweis dafür vor, daß die unglücklichen Vorkommnisse reiner Bosheit entsprangen, und die Ohnmacht von Lord Ellesmere in der vergangenen Nacht - nun, das Fleisch ist schwach, man ist müde, erregt, hat ein bißchen zuviel Wein .«
Lucas wurde rot vor Zorn. »Das ist nicht wahr!« rief
er.
»Nun, dann müssen wir an übernatürliche Kräfte der Mumie glauben«, antwortete Emerson trocken. »Damit bin ich aber nicht einverstanden. Ich suche nach einer vernünftigen Erklärung, und wenn mir niemand ein Motiv nennen kann . Nun, Lord Ellesmere meinte, die Dorfbewohner wollen uns vertreiben, weil sie eine wertvolle Entdeckung gemacht haben. Ich lasse mich nicht vertreiben. So einfach ist das.«
Die Logik dieses Mannes beeindruckte mich sehr, und trotzdem fühlte ich noch immer einiges Unbehagen. »Was schlagen Sie dann vor?« fragte ich.
»Wir gehen zum Angriff über. Bisher haben wir uns nur verteidigt, und das wollen unsere Gegner ja. Wenn die Dorfbewohner ein Grab finden können, dann können wir das auch. Morgen beginnen wir mit der Suche und werden uns dazu der Hilfe Ihrer Bootsmannschaften versichern. Das wird nicht einfach sein, weil die Dorfbewohner sie beschwatzten, daß auf uns ein Fluch liege. Mit Schmeichelei, gutem Zureden und ein wenig Bestechung bringen wir sie schon auf unsere Seite. Wir brauchen Männer zur Bewachung der Damen und für eine ausführliche Suchaktion. Nun, ist der Plan in Ordnung?«
Ich hatte nichts zu sagen und fand den Plan gut, doch zugegeben hätte ich es nicht. Die anderen waren beeindruckt, Evelyn sogar deutlich erleichtert. »Dann besteht also keine Gefahr für uns?« fragte sie.
»Nein, meine Liebe«, antwortete Emerson. »Wenn es Ihnen recht ist, verbringen wir diese Nacht eben in einem Raum, doch ich meine, das ist gar nicht nötig. In Ordnung? Peabody, gehen Sie zu Bett, Sie brauchen unbedingt Ruhe. Seit zehn Minuten haben Sie keine sarkastische Bemerkung mehr gemacht. Also müssen Sie außerordentlich erschöpft sein.«
In meinem Kopf herrschte große Verwirrung, und das erlaube ich diesem Körperteil sonst niemals. Ich war körperlich und seelisch richtiggehend ausgepumpt, so daß ich in einen von wilden Träumen zerrissenen unruhigen Schlaf fiel. Lichtstrahlen und tiefste Dunkelheit wechselten einander ab. Und es war dann auch ein Lichtstrahl, der mich aufweckte. Die Sonne ging eben unter; mein Laken und meine Haare waren schweißfeucht, und ich mußte mich aus den Tiefen des Schlafes emporkämpfen. Und dann hörte ich die Stimme: »Nicht bewegen, um alles in der Welt nicht bewegen!«
Am Fuß meines Feldbettes lag ein dickes, braunes Seil. Das bewegte sich plötzlich. Ein flacher Kopf hob sich, und zwei kleine, starrende, funkelnde Kreise ließen mich nicht los.
Es war eine Schlange. Ich wagte mich nicht zu rühren.
Emerson stand unter der Türöffnung und ließ den Reptilienkopf nicht aus den Augen, der sich nun wiegend vor- und rückwärts schaukelte. Seine Hand bewegte sich unendlich langsam zur Tasche. Ich war vor Entsetzen gelähmt, wollte schreien, wagte es jedoch nicht. Ein Nebel schien sich über meine Augen und mein Gehirn zu legen.
Dann sah ich, wie Emersons Arm sich schnell bewegte, es gab einen Blitz, einen rollenden Donner, und ich glaubte, der Himmel falle über mir ein. Von da an wußte ich nichts mehr.
Ich war nicht lange bewußtlos; als ich aufwachte, konnte ich mich jedoch an nichts erinnern. In meinen Ohren dröhnte es noch, mein Kopf schwamm, aber irgendwie fühlte ich mich so behaglich wie ein Kind im Arm der Mutter. Dann berührte etwas mein Gesicht, meine Lippen, die geschlossenen Augen, meine Wangen; es war wie ein Fingerdruck, nur wärmer und weicher, und diese Berührung hatte eine unglaubliche Wirkung auf mich. Ich öffnete die Augen nicht, ich schloß sie noch fester, weil ich zu träumen glaubte. Ähnliche Empfindungen hatte ich bisher ausschließlich in Träumen erlebt. Warum sollte ich sie für eine Wirklichkeit aufgeben, die nicht, sogar bei weitem nicht, so vergnüglich war? Dann überlegte ich mir: Vielleicht hat mich doch die Schlange gebissen; ich bin vergiftet und im Delirium ...
Schreie und rennende Füße brachen dann den Zauber. Ich wurde zurückgelegt, geschüttelt, dann sogar ein paarmal - wie würdelos! - kräftig auf die Wangen geschlagen. Ich machte die Augen auf. Emersons Gesicht, die Maske eines Nachtmahrs, hing über mir, daneben erkannte ich Evelyns weißes Gesicht. Sie schob Emerson weg und umklammerte mich.
»Oh, Amelia, meine allerliebste Amelia, wir hörten den Schuß. Was ist geschehen? Bist du verwundet? Oder stirbst du?«
»Sie ist weder verwundet, noch liegt sie im Sterben, sie ist nur damenhaft in Ohnmacht gefallen«, erklärte Emerson, und darüber mußte ich mich schon wieder ärgern. »Peabody, zum erstenmal habe ich erlebt, daß Sie sich wie eine richtige Dame benehmen. Das muß ich in meinem Tagebuch eigens vermerken.«
Mir fiel leider keine beißende Antwort ein - ausnahmsweise. Ich funkelte ihn nur an. Dann tat Walter einen Schrei und hob die Schlange hoch.
»Radcliffe«, stöhnte er, »das ist ja eine Haubenkobra, eine der giftigsten Schlangen in Ägypten. Hast du geschossen? Bist du sicher, daß sie nicht vor dem Schuß gebissen hat?«
Evelyn untersuchte sofort meine Beine nach einer Schlangenbißwunde, doch ich schob sie weg. Mir ging es gut, denn Emersons Grobheit hatte meinen kämpferischen Instinkt wieder geweckt. »Mach doch kein Theater, Evelyn«, fauchte ich sie an. »Dieses Biest hat viel zu lange überlegt, ob es mich beißen soll oder nicht, und da hatte Emerson Zeit genug, zu schießen. In der gleichen Zeit hätte ich zehn Schlangen erschossen.«
»Bei Schlangen«, erklärte Walter, »muß man sich sehr behutsam bewegen, sonst beißen sie blitzschnell. Hu, mich schüttelt es vor Entsetzen. Zum Glück hattest du eine Waffe, Radcliffe.«
»Wahrscheinlich die meine«, bemerkte Lucas vom Eingang her.
»Es war ja noch eine Kugel drinnen«, antwortete Emerson.
»Sie hatten unverschämtes Glück. Wie leicht hätten Sie Miß Amelia treffen können.«
»Selbst dieses Risiko mußte man in diesem Fall in Kauf nehmen«, sagte Walter.
»Gott segne Sie und Ihre sichere Hand, Mr. Emerson!« rief Evelyn. »Sie haben Amelias Leben gerettet. Wie kann ich Ihnen das je danken?«
Emersons hoheitsvolles Gehabe fiel plötzlich von ihm ab, und er lächelte merkwürdig. »Ich werde Sie bei Gelegenheit daran erinnern, Miß Evelyn.«
Die Schlange wurde dann beseitigt, Evelyn und ich bekamen Tee, die Herren etwas Geistvolleres. Nur Lucas schien sehr ruhig zu sein. Er fragte, wie die Schlange in die Grabkammer gekommen sein könnte. Er vermutete, sie habe sich in einer Ecke zum Schlafen zusammengerollt und sei erst auf das Bett gekrochen, als ich schlief, weil Schlangen ja immer die Wärme suchen. Aber ich wollte dann wirklich nichts mehr davon hören und schlug vor, wir sollten uns entscheiden, was wir weiter tun wollten.
»Ich habe mich entschieden«, sagte Evelyn laut und deutlich. »Ich werde Lord Ellesmeres Heiratsantrag annehmen, und wir beide verlassen das Lager. Morgen früh segeln wir nach Kairo.«
Wir waren alle wie vom Blitz getroffen, das heißt Emerson, Walter und ich. Dann sprang Walter auf, tat einen Schrei und wurde dunkelrot. Auch Lucas stand auf, und seine triumphierende Miene machte mich wütend.
»Ich bin natürlich der glücklichste Mann der Welt«, antwortete er ihr. »Allerdings wäre es mir lieber gewesen, du hättest meinen Antrag nicht so in aller Öffentlichkeit angenommen. Wenn du aber ...« Ehe wir's uns versahen, hatte er Evelyns Hand gepackt und sie an sich gezogen, um sie zu küssen. Walter schlug seine Hand weg, er atmete schwer. Wie Feinde standen die beiden jungen Männer einander gegenüber.
Lucas kniff die Augen zusammen. Jetzt schlug sein hei-ßes Blut durch. »Was? Das wagen Sie? Emerson, dafür werden Sie mir noch Rede und Antwort stehen.«
Evelyn trat zwischen die beiden. »Lucas, Walter, schämt euch! Ich habe gesagt, was ich tun muß und tun werde, und nichts kann mich umstimmen.«
»Evelyn, das können Sie nicht tun!« rief Walter beschwörend. »Sie lieben ihn doch gar nicht. Sie wollen sich nur opfern, weil Sie glauben, Sie seien die Ursache .«
Es war eine furchtbare Auseinandersetzung. Walter beschwor sie, Emerson meldete seine Vernunftgründe an, ich redete ihr zu wie einem kranken Kind, und Lucas -nun ja, Lucas war überzeugt, daß Evelyn ihm schon so gut wie sicher war. Schließlich sagte ich, nachdem alle ihre Meinung geäußert hatten, auch die meine.
»Emerson ist zwar ein schrecklicher Dickkopf, aber er hat recht. Wir kennen das Motiv dieses ganzen Theaters nicht, und überstürzte Handlungen könnten sich sehr schlimm auswirken. Du könntest unbewußt genau das tun, was der unbekannte Gegner von dir will.«
Wäre ich nicht eine Frau gewesen, so hätte Lucas mich jetzt verprügelt, das weiß ich; aber ich hatte Evelyn soweit, daß sie noch einmal darüber nachdenken wollte. Dazu mußte sie allein sein. Sie ging den Sims entlang und stieg den Hügel hinab. Sie sah so verloren aus und tat mir unbeschreiblich leid.
Lucas sprang auf, um ihr zu folgen, die Brüder Emerson versuchten ihn zurückzuhalten, ein böses Wort gab das andere - es war schrecklich. Schließlich lief ihr Lucas doch nach, um sein Süppchen an dem noch glimmenden Feuer gar zu kochen, aber ich sah dann, daß Evelyn den Kopf schüttelte.
Emerson sparte nicht mit sarkastischen Bemerkungen, wofür ich ihn scharf tadelte. Ich hatte plötzlich alles gründlich satt, selbst Evelyn und ihr morbides Märtyrer-tum, Lucas und seine Arroganz, Walters hündisches Leiden und am allermeisten Emerson. Er hatte ja gewonnen, weil er seinen Bruder behielt, und mit sadistischem Vergnügen drehte er das Messer in dessen Herzenswunde herum, indem er Walter versicherte, Evelyn heirate Lucas nur des Reichtums und des Titels wegen. Da wurde ich aber endgültig böse.
»Hören Sie endlich damit auf!« schrie ich ihn an. »Lieber sähe ich Evelyn in einem Kloster als in einer Ehe mit diesem Elenden! Sie liebt ihn ja gar nicht. Sie liebt einen anderen, und den wollte sie retten durch eine Heirat mit Lucas. Vielleicht hat sie recht, denn der Mann, den sie liebt, ist ein elender Schwächling, der nicht einmal den Mut aufbringt, sich ihr zu erklären.«
Walter griff nach meiner Hand. »Sie meinen .? Glauben Sie wirklich, ich könnte . , ich dürfte .«
»Selbstverständlich, Sie junger Narr!« Ich versetzte ihm einen solchen Stoß, daß er taumelte. »Sie liebt doch Sie. Warum, das kann ich mir nicht vorstellen, aber es ist so. Jetzt laufen Sie. Halten Sie sie auf!«
Walter warf mir noch einen Blick zu, dann stürmte er davon. Und ich - nun, ich mußte mich Emerson stellen und meine Handlungsweise rechtfertigen.
Er wiegte sich in seinem Stuhl vor und zurück und ließ sich von einem lautlosen Gelächter durchschütteln. »Meine liebe Peabody, Sie erstaunen mich!« stöhnte er schließlich. »Ist es denn möglich, daß Sie insgeheim eine Romantikerin sind?«
Ich wandte diesem unmöglichen Menschen den Rücken zu und beobachtete das, was unten vorging. »Ich gehe auch hinunter«, verkündete ich. »Vielleicht war ich vorher doch ein bißchen voreilig .«
»Es könnte zweckmäßig sein«, gab Emerson zu. »Dem edlen Lord ist durchaus zuzutrauen, daß er einen Ver-wundeten schlägt, und mit einem Arm ist ihm Walter nicht gewachsen. Oh, verdammt! Ich habe zu lange gewartet.«
Er hatte recht, denn Lucas schlug auf Walter ein. Emerson rannte den Pfad entlang wie eine Bergziege, und ich folgte, wenn auch langsam. Evelyn versuchte, sich zwischen die beiden Männer zu werfen, doch Lucas schüttelte sie ab. Walter war nicht gestürzt und kehrte in den Kampf zurück, und ich konnte meine ehrliche Freude nicht unterdrücken, als er Lucas' Kinn mit einem soliden Haken traf. Lucas fiel um wie ein angesägter Baum. Ich raffte meine Röcke und rannte. Als ich ankam, stand Lucas gerade langsam und ziemlich benommen auf.
Äußerlich schien er unversehrt zu sein, doch von der Würde eines Lords war wenig mehr vorhanden. »Zwei gegen einen?« schrie er. »Das ist unsportlich!«
»Sie müssen von unsportlichem Verhalten reden!« schrie ich zurück. »Sie haben einen verwundeten Mann geschlagen!«
»Er hat mir Namen gesagt, die ich mir nicht gefallen lasse!«
»Der Namen wegen entschuldige ich mich«, erklärte Walter, »aber wenn Sie, Miß Amelia, gehört hätten, was er von Miß Evelyn sagte .«
»Das ist wahr«, erklärte Evelyn, und alle schauten sie
an.
Sie trat einen Schritt zurück, als wolle sie ausdrücken, daß sie keine Unterstützung wünsche. »Nein, Amelia«, sagte sie leise und sehr bestimmt, »ich hatte die Hoffnung, dies vermeiden zu können, aber nun kann ich nicht mehr schweigen, weil Lucas es ausgesprochen hat. Ja, ich habe meine Unschuld an einen nichtswürdigen Menschen verloren, aber ich gab sie aus freiem Willen auf. Ich verließ einen alten Mann, der mich von Herzen liebte. Nur
Amelias gütiges Herz hat mich davor bewahrt, mein Leben wegzuwerfen. Und jetzt bin ich dir Dank schuldig dafür, daß du mich vor einer unbesonnenen Handlung bewahrt hast. Ich kann Lucas' nobles Angebot, mich zu heiraten, nicht annehmen. Es wäre keine feine Art, seine Güte zu vergelten. Ich werde niemals heiraten, sondern mein Leben guten Werken weihen.«
Armes Ding! Sie wollte noch mehr sagen, doch ihre Gefühle waren stärker als sie, und ihre Stimme brach in einem Seufzer. Und dabei schaute sie immer Walter an, nur Walter.
Er schien eine tödliche Wunde empfangen zu haben und wußte es nur noch nicht, daß er jetzt umfallen sollte. Emersons Gesicht war ausdruckslos wie der Fels hinter ihm. Aber nun wurde Walter plötzlich lebendig, und er fiel vor Evelyn auf die Knie.
»Sie sind das edelste Mädchen der Welt, das mutigste und schönste!« rief er. »Aber mein liebes, mein süßestes Mädchen, halten Sie so wenig von mir, daß Sie glauben, ich könnte Ihre tragische Geschichte nicht verstehen?« fragte er voll zärtlichen Vorwurfes. »Sie hätten mir doch vertrauen dürfen .«
Sie schaute ihn ungläubig an, dann seufzte sie, schloß die Augen und ließ ihren goldenen Kopf an seine Brust fallen. Walter drückte Evelyn fest an sich, und ich wischte mir die Tränen nicht ab, die mir über die Wangen liefen.
»Gott sei Dank, das wäre also erledigt«, meinte Emerson erleichtert. »Lange genug hat's gedauert. Komm, Walter, küß deine Braut, dann kehren wir ins Lager zurück. Ich bin halb verhungert und will essen.«
»Niemand wird Sie je der Sentimentalität beschuldigen«, hielt ich ihm zornig vor. »Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie bereit sind, Ihren Bruder an ein armes Mädchen wegzuwerfen?«
»Nicht nur arm, nein, sogar ruiniert«, erwiderte Emerson fröhlich. »Aber wieso eigentlich ruiniert? Sie scheint in jeder Beziehung noch wie neu zu sein. Eine tüchtige Künstlerin ist eine wertvolle Ergänzung unserer Mannschaft. Ein Gehalt kann ich ihr allerdings nicht bezahlen. Stellen Sie sich doch vor, was ich damit spare!«
Ich erschrak, als ich Lucas' Stimme hinter mir hörte. »Emerson, das können Sie doch nicht auch noch unterstützen. Das meinen Sie doch gar nicht so.«
»Oh, Eure Lordschaft scheinen meinen Charakter miß-zuverstehen«, erwiderte Emerson samtglatt. »Wer bin ich, daß ich mich wahrer Liebe in den Weg stellen dürfte? Ich denke, das ist ganz ausgezeichnet für uns alle. Meinen Sie das nicht auch?«
»Vielleicht haben Sie recht«, antwortete Lucas nach einigem Zögern, und ich mußte ihn dafür bewundern. »Vielleicht war es so bestimmt.«
»Sehen Sie, jetzt benehmen Sie sich wie ein wahrer britischer Edelmann«, lobte ihn Emerson. »Wollen Sie Kohlen auf die Häupter der Verlobten sammeln, indem Sie uns helfen, einen Toast auf sie auszubringen? Komm, Walter, wach auf! Walter! Walterchen!«
Wie in Ekstase lief er gehorsam hinter seinem Bruder drein, und Evelyn konnte ihren verzückten Blick nicht von Walter lösen.
»Na, so edel bin ich auch wieder nicht«, meinte Lucas und lächelte dazu. »Entschuldige mich, Evelyn. Ich möchte ein bißchen allein sein.«
»Gott sei Dank«, sagte ich aus tiefstem Herzen, als er verschwunden war.