Ich hatte mir vorgenommen, ungewöhnlich früh am nächsten Morgen abzureisen, um Mr. Lucas zu entgehen. Ich unterschätzte ihn. Am Himmel zeigte sich noch kaum ein erster rosenfarbener Schimmer, als wir in die Hotelhalle hinabkamen und dort Mr. Lucas mit einem riesigen Blumenstrauß für Evelyn und einem wissenden Lächeln für mich vorfanden. Er bestand darauf, uns nach Boulaq zu begleiten, und als wir schon auf der Dahabije waren, stand er noch immer winkend und die Pracht seiner Zähne in einem breiten Lachen zeigend am Ufer.
Mit viel Geschrei nahmen die Männer ihre Plätze ein und lösten die Ankertaue. Die Ruderer stießen ab, bald schwellte der Wind die Segel, und wir waren auf dem Weg.
Wir saßen auf dem oberen Deck im Schutz eines Sonnensegels. Teppiche, Liegestühle und Tische machten es zu einem behaglichen Salon, und sofort erschien auch unser Aufwärter, der junge Habib, mit Minzentee und Gebäck. Evelyn gab ihre tiefe Nachdenklichkeit auf und tat kleine Entzückensschreie. Wirklich, selbst ein ausgemachter Pessimist müßte auf die Schönheit eines solchen Tages und einer solchen Reise voll Heiterkeit reagieren. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel, und ein sanfter Wind fächelte uns die Wangen. Die Paläste in ihren Gärten, die bis zum Wasser reichten, erschienen uns wie ein Traum oder ein liebliches Märchen. In der Ferne hoben sich die Pyramiden klar vor dem Himmel ab, denn die reine, trockene Luft ließ alle Linien wie graviert hervortreten.
Wir konnten uns von dieser herrlichen Aussicht nicht losreißen und saßen den ganzen Tag über auf Deck. Zur Dinnerzeit wehten delikate Düfte zu uns herauf, und Evelyn aß mit herzhafterem Appetit als seit langem. Dann brach der Abend herein, und wir zogen uns in den Salon zurück. Sie spielte Chopin, während ich an einem Fenster saß und den Sonnenuntergang beobachtete. Solche Momente bleiben ewig in meinem Gedächtnis haften.
Selbstverständlich habe ich nicht die Absicht, die Literatur um ein weiteres Reisebuch zu bereichern und den seltsamen Gesang der Männer in der Abenddämmerung, den Austausch von Saluten mit den Cook-Dampfern und unsere Besuche bei den Monumenten von Dahshoor und Abusir - größtenteils Pyramiden - zu beschreiben. Die meisten Reisenden wollen die schwierigere Fahrt flußaufwärts möglichst rasch hinter sich bringen und besichtigen die historischen Plätze erst auf dem Rückweg. Sehr viel hängt natürlich von den Winden ab, denn bei Flaute ist man entweder gezwungen, am Ufer vor Anker zu gehen oder sich von Männern rudern zu lassen, die wie Sklaven an Taue gelegt werden.
Ich zog es aus privaten Gründen vor, die Reise nilauf-wärts möglichst schnell zu machen, denn ich unterschätzte Mr. Lucas' Energie keineswegs. Ich rechnete mir aus, daß es nicht sehr leicht wäre, eine passende Dahabije zu finden, so daß wir ein paar friedliche Wochen genießen könnten.
Vor unserer Abreise hatte ich einen Plan aufgestellt, weil ich die älteren Grabdenkmäler sehen wollte, bevor ich die aus der griechischen und römischen Periode besichtigte. Reis Hassan erklärte mir jedoch, er müsse sich nach den Winden richten. Ich verstand aber inzwischen so viel Arabisch, daß ich ein paar Bemerkungen begriff, die mir Michael nicht übersetzte. Nach Reis Hassan war ich eine Frau, also eine Närrin, die nichts von Booten und Winden auf dem Nil verstand. Wer ich denn sei, daß ich einem erfahrenen Kapitän sagen wolle, wie er sein Boot führen müsse?
Selbstverständlich machte ich den Reis darauf aufmerksam, daß ich das Boot gemietet habe, und man braucht nicht zu raten, wer die Auseinandersetzung gewann. Trotzdem mußte ich jedesmal mit ihm streiten, wenn ich unterwegs einen Halt vorschlug.
Der Wind war gut, und wir kamen ausgezeichnet vorwärts. 167 Meilen südlich von Kairo sind die Gräber von Beni Hassan aus der Zeit der Zwölften Dynastie, die chronologisch jener der Pyramiden von Gizeh folgt. Der Reis begriff meine Erklärung sicher nicht, doch wir hielten in Beni Hassan.
Das Dorf war typisch. Kleine, mit Stroh gedeckte Erdhügel, die wahllos über die Ebene verstreut waren, dienten als menschliche Behausungen. Gekocht wird in einem von solchen Erdhügeln umgebenen Innenhof; neben der Feuerstelle gibt es einen Stein, mit dem Korn zerquetscht wird, und ein paar Krüge, das ist alles. Die Frauen spinnen, mahlen Korn oder nähren ihre Kinder, die Männer sitzen untätig da. Kinder, Hühner, Hunde und ab und zu eine Ziege, alles schmutzig und mit unzähligen Fliegen bedeckt, balgen sich da. Sind die Kinder nicht von Krankheiten entstellt, so sind sie trotz allen Schmutzes sehr hübsch.
Als wir in das Dorf kamen, wurden wir sofort umringt. Hände streckten sich nach Bakschisch aus oder boten uns gestohlene Antiquitäten oder deren wertlose Nachahmungen zum Kauf an. Man sagt, diese Fälschungen stammten aus europäischen und amerikanischen Lieferungen.
Evelyn schrie auf, als ihr ein unbeschreiblich gräßlicher Gegenstand unter die Nase gehalten wurde. Erst sah das Ding aus wie ein Bündel trockener brauner Stecken, die in Lumpen gewickelt waren, doch dann erkannte mein kritischer Blick eine Mumienhand, die am Gelenk abgetrennt war. Zwei zierliche Ringe steckten noch an den Fingern, und das machte den Anblick noch gespenstischer.
Viele Reisende kaufen solche Dinge, ja sogar ganze Mumien, die ohne jede Ehrfurcht vor ihrem Alter und ohne Berücksichtigung ihres unschätzbaren kulturellen Wertes außer Landes gebracht werden. Michael mußte diesen Leuten erklären, daß wir nicht daran dächten, solche Sachen zu kaufen.
Wir begaben uns zu den Gräbern. Ich hatte während der Reise meine Zeit nicht vergeudet, denn ich hatte mich mit Samuel Birchs kleinen Büchern über ägyptische Hieroglyphen beschäftigt, so daß ich nun in der Lage war, Evelyn den einen oder anderen Namen zu buchstabieren. Es ist ein sehr erregendes Gefühl, diese Zeichen auf zerbröckelten Fels gemalt zu sehen, statt gedruckt auf den Seiten eines Buches, und dann auch noch ihren Sinn zu erkennen.
Die Gräber waren auch für Gelegenheitstouristen außerordentlich interessant. Die Wandbilder stellten auf fröhliche Art das dar, was diese Toten zu Lebzeiten zu tun liebten und was auf ihren Besitztümern gearbeitet wurde. Sklaven bliesen Glas und machten Goldschmiedearbeiten, hüteten die Herden, arbeiteten auf den Feldern oder töpferten.
Später wurden dann viele dieser herrlichen Gräber von habgierigen und unverständigen Eingeborenen geplündert. Teile der Wandbilder wurden an Antiquitätenhänd-ler verschachert. Die Touristen waren auch kaum besser als die Ägypter. Ich beobachtete einen Amerikaner, der einfach ein Stück Stein mitnahm, das ein entzückend gemaltes, ganz junges Kalb zeigte. Ich schrie den Mann an, doch er erklärte mir seelenruhig, wenn er es nicht mitnähme, täte es ein anderer, und es sei ja genug da.
Emerson hatte mit seinen Klagen schon recht gehabt, das sah ich immer deutlicher. Evelyn sprach nie von Walter, doch wenn ich einmal den Namen erwähnte, leuchteten ihre Augen. Sie schien also sehr häufig an ihn zu denken.
Ich dachte oft an den älteren Bruder, wenn auch auf eine andere Art als Evelyn an den jüngeren. Mir kam der Gedanke an ihn wie ein Moskitostich vor, an dem man ständig kratzen mußte. Ich weiß, das ist kein eleganter Vergleich, doch seine Kritik war ja auch immer sehr beißend gewesen. Als ich jedoch immer klarer sah, daß die Touristen und die Einheimischen wie Vandalen in diesen geheiligten Altertümern hausten, hätte ich am liebsten die ganze Altertumsabteilung des Landes übernommen. Oh, ich hätte für Ordnung gesorgt!
Inzwischen kannte ich die Bootsmannschaft ganz gut. Der Koch war ein ältlicher, schwarzhäutiger und zahnloser Mann aus Assuan, der auf zwei kleinen Kohlenöfchen die köstlichsten Mahlzeiten zauberte. Habib und Abdul, die beiden jungen Diener, hätten direkt aus einem alten ägyptischen Wandbild stammen können. Sie sahen sehr gut aus, waren groß, schlank und breitschultrig. Besonders Habib hatte ein sehr ansteckendes Lachen, wenn ich mit ihm arabisch sprach. Die anderen Männer konnte ich nicht leicht voneinander unterscheiden; sie waren milchkaffeefarbig bis schwarz und trugen gestreifte Gewänder und weiße Turbane.
Die Ägypter haben für jedermann einen Necknamen.
Maspero hatte uns von einem weißbärtigen Freund erzählt, den sie >Vater des Bartes< nannten. Mir verliehen sie den Titel Sitt Hakim, das heißt Doktorin. Ich verdiente ihn, denn täglich hatte ich Wunden zu verbinden, Kratzer zu desinfizieren und kleine Krankheiten zu heilen, doch zu einer Amputation wurde ich niemals gerufen. In den Dörfern brachten mir die Frauen ihre kranken Kinder. Als wir Beni Hassan verließen, hatte ich fast meinen ganzen Vorrat an Augenmedizin aufgebraucht, aber auch das war nur ein Tropfen Wasser in der Wüste.
So vergingen die Tage eigentlich recht abwechslungsreich und interessant. Evelyn war eine sehr angenehme Gesellschafterin und gute Freundin. Sie genoß Schönheit, wo sie sich bot, nahm auf meine Stimmungen Rücksicht, war heiter, beklagte sich nie und zeigte sich sehr aufgeschlossen für die Geschichte, deren Zeugen wir vor Augen hatten. Ich glaube, wir hätten viele Jahre lang wie Schwestern zusammen reisen oder die Behaglichkeit Englands genießen können, doch mir war ja klar, daß ich damit nicht rechnen konnte. Ob sie nun ihren Vetter heiratete oder nicht, war egal, denn heiraten würde sie eines Tages, und Lucas' Beharrlichkeit war nicht zu unterschätzen. Also beschloß ich, ihre Gegenwart so lange zu genießen, wie es möglich war.
Nach Beni Hassan war der nächste interessante Ort ein Dorf namens Haggi Quandil, auch Tell-el-Amarna genannt, die Stadt des Ketzerkönigs Khuenaten. Manche Archäologen vermuten, daß es kein König, sondern eine Königin war, und wenn man Bilder dieses Herrschers sieht, entdeckte man eindeutig feminine Züge.
Verwirrend waren die Überlegungen zur religiösen Überzeugung dieser Persönlichkeit. Khuenaten hatte die alten ägyptischen Götter aufgegeben und verehrte dafür die Sonne, Aten. Betete er wirklich nur diesen einzigen
Gott an? Und bestand zwischen seinem Monotheismus und dem der Hebräer irgendeine Verbindung? Moses war am Hof von Ägypten erzogen worden, und so erschien es mir möglich, daß der Glaube der Hebräer von der Religion eines altägyptisehen Pharaos abstammte. Evelyn war sehr erschüttert, als ich ihr gegenüber diese Idee entwickelte. »Er hat die königliche Stadt Theben aufgegeben«, erklärte ich ihr, »und seine neue Hauptstadt seinem Gott geweiht. Lepsius entdeckte auf den Felsen rund um Khuenatens Stadt zahlreiche Inschriften und interessante Gräber. Die Malereien hier unterscheiden sich grundlegend von den sonstigen Grabgemälden. Wenn der Wind günstig ist, könnten wir dort einen Besuch machen. Was meinst du dazu, Evelyn?«
Evelyn, die gerade an einer Skizze arbeitete, legte den Bleistift weg. Sie zeichnete nämlich sehr hübsch und hatte unterwegs schon viele Skizzen gemacht. Jetzt schaute sie zum Ufer hinüber.
»Wie heißt dieses Dorf, Amelia?« fragte sie.
»Der alte Ortsname heißt ...« Ich blätterte in meinem Buch.
»Der moderne Name ist doch El Amarnah, nicht wahr?« sagte sie leise.
»Es gibt hier drei Dörfer, El-Till, El-Haggi Qandil und El-Amariah.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Walter hat davon gesprochen. Da arbeiten doch die beiden. Du hast natürlich keinen Grund, dich daran zu erinnern.«
Jetzt war Evelyn ausnahmsweise einmal sarkastisch. Einen solchen Luxus erlaubte sie sich selten, also sagte ich nichts dazu.
»Tatsächlich?« antwortete ich beiläufig. »Ich denke nicht, daß wir den Emersons hier unbedingt begegnen müssen. Es ist ein riesiges Gebiet, und die Gräber liegen weit auseinander. Ich werde also mit Reis Hassan sprechen.«
Infolge widriger Winde kamen wir erst zwei Tage später nach Haggi Qandil. Reis Hassan sträubte sich sehr gegen einen Aufenthalt dort. Er sagte, im Dorf herrsche eine Krankheit, die archäologischen Stätten seien viel zu weit vom Fluß entfernt, und dazu fiel ihm noch eine Menge anderer Gründe ein. Er kannte mich nun schon lange genug und hätte wissen müssen, daß es unnütz war, mit mir zu streiten. Selbstverständlich hatte er teilweise recht. Vor dem Dorf liefen wir auf eine Sandbank, und die Dorfbewohner mußten uns zum Ufer tragen. Reis Hassan und seine Männer mußten das Boot wieder flottmachen, und das war eine harte Arbeit.
Michael, unser Dragoman, führte uns ins Dorf. Dieses Dorf sah noch verrückter und elender aus als andere, die wir gesehen hatten. In den engen Straßen lagen übelriechende Unrathaufen, die in der heißen Sonne dampften. Alles war mit Sand bedeckt. Viele magere Hunde streiften herum, und halbnackte Kinder bettelten uns an.
Michael stürzte sich in die Menge, schrie Befehle, und wenig später konnten wir unter einer Anzahl von Eseln unsere Auswahl treffen. Natürlich nahm ich den Esel, der noch am besten aussah, aber ich forderte eine Prozedur, die selbst unseren getreuen Michael überraschte. Der Eselsbesitzer mußte nämlich das schmutzige Zeug vom Rücken des Tieres nehmen und es mit etlichen Wassergüssen ordentlich säubern. Dann wurde der Esel mit einer Salbe eingerieben, die ich zur Verfügung stellte, und ich gab auch eine saubere Satteldecke her, die nach jeder Benützung gewaschen werden mußte. Es war sowieso das erstemal, daß dem armen Tier eine so fürsorgliche Behandlung zuteil wurde.
Das finstere Gesicht des Eselsbesitzers hellte sich be-trächtlich auf, als er mein ansehnliches Trinkgeld entgegennahm. Ich erklärte den Leuten, wie vorteilhaft es für sie sei, wenn sie ihr Vieh ordentlich pflegten, doch begriffen haben sie's sicher nicht, obwohl Michael dolmetschte.
Das kultivierte Land zu beiden Seiten des Nils ist kaum breiter als eine halbe Meile; dahinter ist Wüste, bis man zu den Felsen kommt, in denen die Königsgräber liegen. Dorthin machten wir uns nun auf.
Wir kamen recht gut vorwärts, wenn uns auch die grelle Sonne sehr blendete. Bald bemerkte ich eine Gestalt, die uns entgegenkam. In der trockenen, klaren Luft Ägyptens sieht man weiter und schärfer als sonstwo, und so erkannte ich bald, daß diese Person kein Einheimischer war. Der Mann trug nämlich Hosen und kein flatterndes Gewand. Es ist nicht fein, von den inneren Organen zu reden, doch die meinen verknoteten sich. Evelyn erkannte ihn gleichzeitig mit mir; ich sah, wie ihre Hände sich um die Zügel krampften.
Walter erkannte uns nicht gleich; er sah nur zwei europäische Reisende, denen er entgegenlief. Er blieb dann so unvermittelt stehen, daß unter seinen Absätzen eine Sandfontäne aufstob. Dann starrte er uns an, als seien wir ein Traum.
»Gott sei Dank!« rief er, ehe wir ihn noch begrüßen konnten. »Das heißt, sind Sie das wirklich? Sie sind keine Fata Morgana?« Natürlich schaute er dabei vorwiegend Evelyn an, doch es war sicher nicht nur Liebe, die ihn erleichtert aufatmen ließ.
»Ja, wir sind es wirklich«, antwortete ich. »Was ist denn los, Mr. Walter?«
»Emerson, mein Bruder. Er ist krank, sehr schwer krank. Sie haben natürlich keinen Arzt bei sich. Aber vielleicht wäre es möglich, ihn mit Ihrer Dahabije nach Kairo bringen zu lassen?«
»Schnell, Michael, lauf zum Boot und bring mir den Sanitätskasten«, befahl ich. »Aber lauf, so schnell du kannst, bitte . Und jetzt, Mr. Walter, wenn Sie uns den Weg zeigen wollen? Sie wissen ja, einen Arzt gibt es nur in Kairo, und ich weiß doch nicht, ob Ihr Bruder transportfähig ist. Also, führen Sie uns hin.«
Er machte kehrt und rannte davon, und wir trabten hinter ihm drein. Eine dicke Staubwolke folgte uns.
Emerson hatte in einem der Felsengräber Stellung bezogen, die am Rand der Ebene lagen. Die Eingänge waren nur schwarze Vierecke im sonnendurchglühten Stein. Ein primitiver Pfad führte hinauf, und das letzte Stück mußten wir klettern. Walter bemühte sich um Evelyn, während ich die Eselstreiber mit dem Sonnenschirm abwehrte. Ich keuchte ein wenig, als ich oben ankam, aber es war weniger die Anstrengung, sondern eher eine gewisse Aufregung, die mich atemlos machte.
Die Türrahmen waren mit Reliefs bedeckt, doch für die hatte ich jetzt keine Zeit. Ich ging hinein und schaute mich um. Es war ein langer, schmaler Gang, der selbstverständlich etwas besser war als ein Zelt. Das Ende verlor sich in düsterer Dunkelheit, doch in Türnähe konnte ich ganz gut die Packkisten sehen, die als Eß- und Schreibtische dienten. Zwei Feldbetten und ein paar Klappstühle waren die ganze sonstige Einrichtung. Auf einem Feldbett lag bewegungslos ein Mann.
Mich packte Entsetzen, weil ich fürchtete, wir seien zu spät gekommen. Dann bewegte sich ein Arm, und eine rauhe Stimme murmelte etwas. Ich trat zum Bett und setzte mich daneben auf den Boden.
Zu erkennen war er kaum mehr. Sein Bart hatte das Gesicht fast völlig überwuchert, die Augen waren eingesunken, und die Wangenknochen traten hervor. Er glühte vor Fieber. Sein Hemd war offen und enthüllte einen dichten schwarzen Pelz. Bis zur Taille war er mit einem Laken zugedeckt, das sich um seine Beine gewunden hatte.
Evelyn sank neben mir auf die Knie. »Was soll ich tun, Amelia?« fragte sie.
»Tauch ein Tuch ins Wasser, Evelyn. Walter, Sie müssen dafür sorgen, daß immer reichlich Wasser da ist. Essen wird er wohl nicht wollen. Hat er Wasser getrunken?«
»Er will keines«, antwortete Walter.
»Von mir nimmt er es schon«, sagte ich und rollte die Ärmel hinauf.
Als Michael mit dem Sanitätskasten ankam, hatten wir Emerson ein wenig bequemer gebettet. Da wir ihm dauernd kalte Kompressen auf Kopf und Brust legten, war die Temperatur etwas zurückgegangen, und ein paar Tropfen Wasser hatte ich ihm auch eingegeben, natürlich unter Schwierigkeiten. Ich gab ihm eine doppelte Dosis Chinin. Dazu mußte ich mich quer auf seine Brust legen und ihm die Nase zukneifen, während Walter ihm die Arme und Evelyn die Beine festhielt. Danach schlief er ziemlich unruhig. Ich schickte Michael zum Boot, und Evelyn ging mit, um die Sachen auszuwählen, die wir für uns brauchten. Ich befahl ihr zwar, an Bord zu bleiben, doch sie weigerte sich. Also bat ich Walter, ein hübsches Grab für uns auszusuchen.
Walter war sprachlos. Er klappte nur immer wie ein Fisch den Mund auf und zu, und das sah ziemlich komisch aus. Ich drängte ihn also, für uns endlich ein Grab auszuwählen und es säubern zu lassen, damit alles in Ordnung wäre, wenn unsere Sachen ankämen.
»Hübsches Grab?« wiederholte Walter dümmlich. »Ja, ja, ein paar Gräber sind schon da in der Nähe, aber ob sie hübsch sind ...?«
»Ich verstehe ja, daß Sie sich Sorgen machen, Walter, aber den Kopf brauchen Sie doch nicht gleich zu verlieren«, redete ich ihm zu. »Ich bin da und bleibe so lange, bis Mr. Emerson wieder auf den Beinen ist. Ah, ich habe mir schon immer gewünscht, einige Zeit bei einer archäologischen Expedition verbringen zu können. Es hat keinen Sinn, Ihren Bruder anderswohin zu bringen, denn die Krise wird in wenigen Stunden zu erwarten sein. Keine Angst, mein Freund, denn er ist sehr kräftig, und ich bin ja da.«
Walter hockte neben mir auf dem Boden. Er beobachtete mich, als ich ein nasses Tuch auswrang und es auf Emersons Brust klatschte. Ganz unvermittelt nahm er mich bei den Schultern und küßte mich kräftig auf die Wange.
»Ich glaube Ihnen, Miß Peabody, daß ich keine Angst mehr zu haben brauche, denn Sie sind ja da. Sie würden sogar den Satan in die Flucht schlagen, wenn er Ihnen in die Quere käme.« Damit sprang er auf und rannte hinaus.
Ich legte meinem Patienten wieder ein frisches Tuch auf. Außer mir war niemand bei Emerson, und er schlief, so erlaubte ich mir ein Lächeln. Der liebe Gott hatte dem einen Emerson ungeheuer viel Charme geschenkt, dem anderen gar keinen. Arme Evelyn! Kein Wunder, daß sie sich so gründlich verliebt hatte. Dieser Emerson hier war allerdings keine Gefahr für eine Frau.
Aber ein gestürzter Koloß ist erbarmenswerter als ein gefallener Schwächling. Als ich ihm das heiße Gesicht kühlte, verloren sich ein paar Linien des Schmerzes, er seufzte wie ein Kind, und von da an schlief er ruhig.
Die Krise kam nachts, und wir hatten alle Hände voll zu tun. Bis zum Morgengrauen kamen Evelyn und ich nicht zur Ruhe. Walter hatte für uns ein Grab säubern lassen, und Michael hatte es recht gemütlich eingerichtet.
Aber wir verließen unseren Patienten nicht. Gegen Sonnenuntergang lag Emerson in Fieberfantasien, und wir brauchten unsere ganze Kraft, um zu verhindern, daß er sich oder uns durch sein Toben verletzte. Ich gab ihm noch ein paarmal Medizin ein, und in den ersten Morgenstunden fiel er in ein Koma, das entweder zum Tod oder zur Genesung führen mußte.
Diese Stunden waren schlimm. Das Fieber stieg trotz unserer Bemühungen. Walter kniete neben seinem Bruder. Meine Hände schmerzten vom ständigen Auswringen der Tücher, alle Knochen taten mir weh, besonders die meiner linken Hand, die Emerson in seinem Delirium ergriffen und lange nicht mehr losgelassen hatte. Das Fieber verlieh ihm unheimliche Kräfte. Aber ich hatte das Gefühl, als sei ich eine Art Lebensleine, die er nicht loslassen wollte, um nicht in den Abgrund des Todes zu stürzen.
Allmählich wurde ich so müde, daß mein Kopf wie leer erschien. Es war eine gespenstische Szene: Die rauchende Lampe warf flackerndes Licht auf das magere Gesicht des Kranken und die gespannten Gesichter seiner Pfleger. Ab und zu heulte draußen in der Wüste ein Schakal. Das klang in der Nachtstille sehr spukhaft.
In der dunkelsten Stunde vor Einbruch der Dämmerung kam dann der Umschwung. Er war so spürbar wie ein kühler Luftzug an der Wange. Für einen Moment schloß ich die Augen, und ich fühlte gar nichts. Da hörte ich einen unterdrückten Seufzer von Walter. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihn quer über dem Fußende des Bettes liegen, und seine Hand ruhte auf dem Arm seines Bruders. Emersons Gesicht sah sehr friedlich aus. Dann hob sich seine Brust in einem langen, tiefen Atemzug -und bewegte sich weiter. Die Hand, die meine festgehalten hatte, erschlaffte. Und sie war kühl. Er würde also am Leben bleiben.
Ich war so verkrampft, daß ich nicht stehen konnte. Walter mußte mich mehr tragen als stützen, als ich endlich zu Bett ging. Er wollte für den Rest der Nacht bei seinem Bruder sitzen und Wache halten, doch ich glaubte nicht, daß ein Rückfall zu befürchten war. Ich schlief sofort ein, während Evelyn mir noch Gesicht und Hände wusch.
Als ich nach einigen Stunden erwachte, wußte ich gar nicht, wo ich mich befand. Um mich herum waren Steinwände, unter mir eine harte Unterlage statt einer weichen Couch.
Als ich mich umdrehte, tat ich einen Schmerzensschrei. Meine linke Hand, auf die ich mich gestützt hatte, war dick geschwollen.
Jetzt wußte ich wieder alles. Ich erhob mich und tastete nach meinem Schlafrock. Evelyn schlief an der Wand gegenüber den Schlaf der Erschöpfung. Ein Lichtstrahl fiel durch den schnell angebrachten Vorhang und vergoldete ihr Haar.
Als ich vor das improvisierte Schlafzimmer trat, traf mich die Hitze wie ein Schlag, aber die Aussicht, die sich mir bot, war großartig. Die Sandhügel der Wüste reichten bis zur blauen Biegung des Flusses, und die Felsen dahinter schimmerten wie nachgedunkeltes Gold. Die Ferne verschönte die Hütten des Dorfes, die Palmen veredelten sie. Etwa halbwegs zwischen dem Dorf und unseren Felsen schien ein Ameisenhügel lebendig geworden zu sein; das war die derzeitige Grabungsstätte.
Eine breite Felsleiste führte an den Gräbern entlang, und ihr folgte ich zum Nachbargrab, von wo zornige Rufe zu hören waren. Emerson ging es also wieder gut. Ich möchte hier ausdrücklich festhalten, daß meine Gefühle an jenem Morgen die reinster christlicher Nächstenliebe waren, denn Emerson tat mir leid, und das war ganz na-türlich bei einem Patienten, den man gepflegt hat. Aber dieses Gefühl hielt nur zwei Minuten an.
Als ich das >Krankenzimmer< betrat, mühte sich Walter ab, seinen Bruder im Bett zu halten. Er war nur teilweise bekleidet. Seine Beine steckten in Hosen von unglaublicher Rosafarbe. Er schrie Walter an, der ihm einen kleinen Teller unter die Nase hielt.
Als er mich sah, hörte er zu brüllen auf, doch seine Miene wurde nicht freundlicher. Ich lächelte und besah mir das, was auf dem Teller lag. Zugegeben, ich vergaß mich und bediente mich einiger kräftiger Ausdrücke, die ich von meinem Vater gelernt hatte, doch das war verständlich, denn der Anblick von giftig aussehendem, graugrünem Zeug war zuviel für mich.
»Guter Gott, was soll denn das sein?« rief ich.
»Das sind Erbsen aus der Dose«, erklärte Walter. »Verstehen Sie, Miß Peabody, das ist ein ausgezeichnetes, billiges Gemüse. Wir haben zwar auch Corned beef, Bohnen, Kohl und dergleichen, doch ich dachte, dies hier ...«
»Hinauswerfen«, befahl ich und hielt mir die Nase zu. »Ihr Koch soll ein Huhn besorgen. Wenn Sie solches Zeug essen, wundert es mich nicht, daß Ihr Bruder Fieber hat. Durchfall und entzündetes Gedärm bleiben da nicht aus.«
Walter salutierte militärisch und marschierte davon. Emerson hatte sich inzwischen zurückgelegt und das Laken bis zum Kinn hinaufgezogen.
»Reden Sie schon weiter, Miß Peabody«, forderte er mich heraus. »Geben Sie ruhig Ihren Kommentar auch zu meinen anderen Fehlleistungen. Ich habe gehört, daß ich Ihnen mein Leben verdanke. Allerdings neigt Walter immer dazu, alles zu dramatisieren. Trotzdem danke ich Ihnen für Ihre aufopfernde Pflege. Aber jetzt gehen Sie.«
Das hatte ich zwar beabsichtigt, doch nun blieb ich, setzte mich auf das Bett und griff nach seiner Hand. Er entriß sie mir. »Ich will doch nur Ihren Puls fühlen«, fuhr ich ihn an. »Hören Sie auf, sich wie eine schüchterne alte Jungfer aufzuführen.«
Ein paar Sekunden lang überließ er mir sein Handgelenk, ehe er es mir endgültig entzog. »Mir wäre lieber, Miß Nightingale wäre zu Hause geblieben. Jetzt möchte es ihr jede Engländerin gleichtun. Madam, wenn Sie jetzt endlich zufrieden sind, dann gehen Sie - oder ich stehe auf.«
»Sie können heute nicht aufstehen, also bleibe ich«, erklärte ich ihm resolut. »Und glauben Sie ja nicht, daß Sie mir mit Ihren Drohungen Angst einjagen können. So hinreißend ist Ihre Anatomie ja wirklich nicht, darin gebe ich Ihnen recht; aber ich bin ganz gut vertraut damit.«
»Aber mein Pflaster!« rief er. »Was geschieht mit meinem Pflaster? Sie Teufelsweib, ich muß nachsehen, was die mit meinem Pflaster machen!«
Von seinem Pflaster hatte er auch in seinen Fieberdelirien ständig gesprochen, doch ich wußte nicht, was er damit meinte. Also fragte ich ihn.
»Mein bemaltes Pflaster«, erklärte er mir nun ruhiger. »Ich habe einen Teil von Khuenatens königlichem Palast entdeckt. Pflaster, Wände und Decken waren bemalt. Stellenweise sind diese Malereien wundervoll erhalten.«
»Gut und sehr erstaunlich. Heißt das, der Palast des häretischen Königs habe dort gestanden, wo jetzt Sandwüste ist? Khuenaten . Eine faszinierende Persönlichkeit. Oder könnte es vielleicht doch eine Frau gewesen sein?«
»Unsinn! Ein solcher Gedanke ist typisch für die Narren, die heute archäologische Forschungen betreiben. Ma-riette behauptet, die Nubier hätten ihn gefangen, und sie gehen davon aus .«
»Die Theorie kenne ich«, unterbrach ich ihn. »Warum sollte das nicht möglich sein? Eine solche Operation bringt bei Männern doch weibliche Züge hervor, oder nicht?«
Emerson warf mir einen seltsamen Blick zu. »So kann man's auch sagen. Ich halte es für wahrscheinlicher, daß Khuenatens körperliche Absonderlichkeiten künstlerische Zutaten sind. Seine Höflinge und Freunde zeigen die gleichen Eigenheiten.«
»Wirklich?«
»Klar. Schauen Sie doch das hier an.« Er setzte sich auf und grapschte nach dem rutschenden Laken. Er war wirklich überaus haarig. »Dieses Grab hier gehörte einem Edelmann an Khuenatens Hof. Die Wände sind mit Reliefs im einzigartigen Amarna-Stil geschmückt.«
Ich griff nach der Lampe, um sie anzuschauen, was einen Wutschrei Emersons zur Folge hatte. »Doch nicht die Lampe! Ich benütze sie nur, wenn es gar nicht anders geht. Diese Narren mit ihren Magnesiumlampen sind Vandalen, denn der fettige Rauch zerstört die Reliefs. Nehmen Sie doch den Spiegel. Wenn Sie ihn im richtigen Winkel halten, haben Sie genug Licht.«
Der Spiegel war mir vorher schon aufgefallen, und ich hatte mich gewundert, woher Emersons plötzliche Eitelkeit kam. Nun probierte ich ihn aus, unterstützt von seinen sarkastischen Kommentaren, und fand auch endlich den richtigen Winkel, so daß ich einen Moment lang den Atem anhielt.
Die Reliefs waren ziemlich flach und etwas verwittert, doch sie waren von einem Leben erfüllt, das mich tief beeindruckte. Sie schienen eine Parade oder Prozession darzustellen. Zahlreiche kleine rennende Gestalten folgten der großen des Pharaos, die zehnmal so groß war wie die der Untertanen. Er lenkte graziös einen mit feurigen Pferden bespannten leichten Wagen. Neben ihm im Wagen saß eine etwas kleinere, ebenfalls gekrönte Person. Sie wandten einander die Köpfe zu, als wollten ihre Lippen einander berühren.
»Er muß sie sehr geliebt haben, wenn er sie so an seine Seite setzte«, überlegte ich laut. »Emerson, ich glaube, nur ein richtiger Mann kann seiner schönen Frau so viel ergebene Zuneigung zeigen. Sogar ihr Name Nefertiti -die schöne Frau ist gekommen ...«
»Ah, Sie haben die Hieroglyphen gelesen?«
»Ein wenig.« Ich deutete auf das ovale Medaillon, in dem der Name der Königin stand, dann auf die leeren Ovale, die einst den Namen des Khuenaten enthalten hatten. »Ich habe gelesen, wie die triumphierenden Priester des Amon den Namen des königlichen Ketzers nach seinem Tod überall tilgten. Wie müssen sie ihn gehaßt haben!«
»Sie hofften, damit auch seine Seele auslöschen zu können«, antwortete Emerson. »Ohne Identität konnte der Geist des Toten nicht weiterleben.«
Erst als Evelyn erschien, kam mir zu Bewußtsein, wie grotesk meine Unterhaltung mit einem Gentleman in rosa Unterwäsche eigentlich war. Sie zog sich sofort wieder zurück und fragte von außen her schüchtern an, ob sie hereinkommen dürfe.
»Ah, verdammt noch mal«, fluchte Emerson, zog das Laken zum Kopf hinauf und forderte Evelyn zum Eintreten auf. Sie war korrekt in ein blaßgrünes Baumwollkleid gehüllt und sah aus, als hätte sie alle Bequemlichkeiten des Dahabije zur Verfügung gehabt, statt lediglich einer Schüssel lauwarmen Wassers. Sie schien sich über etwas zu amüsieren. Emersons Augen funkelten sie über dem Lakenrand böse an. Sie beachtete ihn jedoch nicht.
»Evelyn, komm doch rein, und schau dir diese Reliefs an!« rief ich und drehte meinen Spiegel geschickt. »Hier ist
der König in seinem Wagen, neben ihm die Königin .«
»Das ist sicher sehr faszinierend, aber wäre es nicht klüger, Amelia, eine geeignetere Zeit für diese Dinge abzuwarten? Mr. Emerson braucht Ruhe, und du bist für einen Besuch nicht passend gekleidet.« Ihre Stimme kam mir recht verdächtig vor, als müsse sie ein Lachen unterdrücken. »Mir scheint, Walter hat einige Schwierigkeiten mit dem Huhn, das du bestellt hast.«
Ich warf einen letzten Blick auf die rennenden Gestalten und legte den Spiegel weg. »Dann muß ich mich eben selbst darum kümmern«, meinte ich seufzend.
»Wenn schon, dann könnten Sie gleich nach meinem Pflaster schauen«, brummte Emerson. »Sie stehen hier herum und schwatzen wie ein Papagei, und inzwischen blättert die ganze kostbare .«
»Sie haben sie doch aufgedeckt«, erinnerte ich ihn. »Wie wollen Sie die Malereien jetzt schützen?«
»Ich habe ein Holzgerüst aufgestellt, aber das ist nicht ausreichend. Die Farbe zerkrümelt zu Staub. Mit einem Pinsel verschmiert man nur die Oberfläche. Firnis verpfuscht die klaren Farben und wird rissig .«
»Aber Sie haben doch sicher eine Lösung gefunden.«
»Genau. Eine Lösung. Eine Mischung aus dünnem Ta-pioka und Wasser, und diese Mischung muß mit der Fingerspitze aufgetragen werden.«
Ich starrte ihn voll Bewunderung an. »Das muß ich zugeben, Sie wissen, was Sie wollen.«
»Es geht sehr langsam, und die Arbeit muß ich selbst tun. Ich habe erst einen kleinen Teil davon fertig.« Er stöhnte vor Verzweiflung. »Frau, ich muß aufstehen und mich um mein Pflaster kümmern.«
»Das werde ich tun. Sie bleiben im Bett, sonst ist ein Rückfall zu befürchten, der Sie dann für Wochen ans Bett fesselt. Selbst Sie müssen einsehen, daß dies recht unprak-tisch wäre.« Auf eine Antwort wartete ich nicht, denn sie wäre doch nur grob ausgefallen.
Draußen hielt mich Evelyn fest. »Amelia, wohin gehst du?« fragte sie.
»Zu Mr. Emersons Pflaster natürlich. Hast du je erlebt, daß ich mein Wort nicht gehalten hätte?«
»Nein, natürlich nicht. Aber könntest du dich nicht vielleicht doch passender dazu bekleiden?«
Da hatte sie recht. Ich hatte ja noch meinen Morgenrock an.
Wie der verehrte Leser inzwischen wohl festgestellt hat, lag mir nie besonders viel an weiblichem Modefirlefanz. Ich hatte, als ich einmal in London war, jedoch von der Liga für vernünftige Kleidung gehört und mir in diesem Stil ein Kleid nähen lassen. Es bestand aus schieferfarbener indischer Seide von einfachstem, fast männlichem Schnitt. Der einzige Schmuck war ein Spitzenrüschchen am Handgelenk. Sein großer Vorteil und sein Charakteristikum war der geteilte Rock. Die beiden Beine waren sehr voll geschnitten, so daß sie wie ein gewöhnlicher Rock wirkten. Er gewährte zwar nicht ganz soviel Bewegungsfreiheit, wie ich mir gewünscht hätte, doch war er viel praktischer als die damals modernen Humpelröcke. In Kairo hatte ich das Kleid nicht zu tragen gewagt und deshalb ganz unten in den Koffer gepackt. Jetzt nahm ich es heraus, schüttelte die Falten aus und zog es an. Noch lieber wären mir jedoch richtige Hosen gewesen.
Ich kletterte nach unten und fand dort Walter, der mit dem Koch stritt. Der Mann schaute mürrisch drein und hatte nur ein Auge. Ich wußte nicht, worum der Streit ging, schlichtete ihn aber und hatte das gerupfte Huhn, das der Koch Walter unter die Nase hielt, im Topf, ehe ich ging. Walter schickte ich zu seinem Bruder, der einen Wachhund brauchte.
Bald hatte ich den Vorarbeiter Abdullah, einen stattlichen, großen Mann in fließendem, schneeweißem Gewand mit langem, grauem Bart, gefunden. Mit seiner umfangreichen Kopfbedeckung glich er einem biblischen Patriarchen. Er stammte aus Oberägypten und hatte schon früher für Emerson gearbeitet.
Abdullah führte mich zum Pflaster, das wegen des hölzernen Schutzdaches leicht zu finden war. Es war etwa zwanzig Fuß lang und fünfzehn breit und einmalig gut erhalten. Die Farben sahen aus, als seien sie frisch aufgetragen - erlesene Blau- und leuchtende Rottöne, dazu kühles Grün mit etwas Weiß und Schwarzblau, um Kontraste zu unterstreichen. In einem Luxusgarten mit schönen Blumen flogen bunte Vögel herum, dazwischen spielten junge Tiere im Gebüsch. Ich konnte fast das Muhen der Kälbchen und das Meckern der kleinen Ziegen hören, so lebendig wirkte alles.
Ich hockte noch immer vor dem Pflaster, als mich Evelyn und Walter fanden. »Amelia, jetzt ist die heißeste Zeit, und alle Arbeiter halten Mittagsruhe«, mahnte sie mich. »Sei vernünftig, komm mit uns und iß einen Happen.«
»Von diesem elenden Huhn esse ich keinen Bissen«, erklärte ich. »Schau dir doch das an, Evelyn. So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. Und die königliche Nefertiti wird in Goldsandalen darüber geschritten sein.«
»Es ist wirklich erlesen«, gab Evelyn zu. »Ich würde es gerne zeichnen.«
»Eine großartige Idee«, pflichtete ihr Walter eifrig bei. »Mein Bruder wäre überaus glücklich, wenn er davon eine Kopie bekäme. Ich bin unter anderem der Künstler der Expedition, aber das kann ich nicht.«
Das Huhn war furchtbar zäh, das Gemüse zu einer undefinierbaren, geschmacklosen Masse zerkocht. Da mein ergebener Michael zur Hand war, flüsterte ich ihm einige
Anweisungen bezüglich unserer künftigen Versorgung zu. Es war wirklich ungemein heiß, und nach der dürftigen Nachtruhe war ich gerne zu einer Siesta bereit.
Michael war ein Juwel. Als ich mit Evelyn am Spätnachmittag unser Grab verließ, stand ein Tisch auf dem breiten Sims, Stühle waren aufgestellt, sogar ein kleiner Teppich lag da. Nun hatten wir einen reizenden Balkon mit einer unvergleichlich schönen Aussicht. Der Sonnenuntergang tauchte den Himmel in die glühendsten Farben, und eine zarte Brise fächelte unsere Wangen. Michael hatte auch Lebensmittel mitgebracht und überwachte den Schurken von einem Koch.
Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen, und gleich darauf stand ein Glas Limonade vor mir. Dann kam Walter dazu, und als ich ihn nach unserem Patienten fragen wollte, hörte ich eine kleine Steinlawine abgehen. Ich drehte mich um und sah Emerson in der Türöffnung seines Grabes stehen. Er war angezogen, und sein Gesicht war grau wie dunkler Sandstein. Er klammerte sich an den Türrahmen.
Im Notfall kann man sich auf keinen Mann verlassen. Ich erreichte Emerson gerade noch rechtzeitig, um ihn aufzufangen, so daß er sich nicht den Kopf an den Felsen einschlug. Unter seinem Gewicht setzte ich mich ein wenig zu plötzlich auf den harten Boden, dessen dornige Spitzen ich schmerzhaft durch meine Röcke spürte. Hätte ich ihn nicht mit beiden Armen festgehalten, wäre er vom Sims gestürzt.
»Dieser Mann ist von einer grenzenlosen, arroganten Sturheit!« rief ich, als Walter gelaufen kam. »Holen Sie Michael. Er soll Ihnen helfen, ihn zu Bett zu bringen.« Sein starriger Bart kratzte durch das dünne Gewebe meines Kleides. »Und schaben Sie ihm endlich dieses gräßliche Gestrüpp aus dem Gesicht!« fügte ich zornig hinzu.