Lois McMaster Bujold Im Schatten des Wolfes

Kapitel Eins

Der Prinz war tot.

Der König aber lebte noch, und so zeigte sich in den Gesichtern der Männer oberhalb des Burgtors keine unziemliche Freude, lediglich verstohlene Erleichterung, befand Ingrey. Und auch die verschwand, als die Wachen beobachteten, wie Ingreys Trupp mit lautem Hufklappern durch den Torbogen auf den engen Hof geritten kam. Die Wachen erkannten Ingrey und wussten auch, wer ihn geschickt hatte.

Im Dunst dieses trüben Herbstmorgens hing der Schweiß klamm und klebrig unter Ingreys Lederwams. Das Kopfsteinpflaster im Burghof und die kalkweißen Mauern, die ihn umschlossen, schienen die Kälte förmlich einzufangen. Der leicht bewaffnete Kurier hatte nur zwei Tage gebraucht, um die Neuigkeiten von Burg Keilerkopf, dem Jagdsitz des Prinzen, bis zur Halle des Geheiligten Königs in Ostheim zu tragen. Ingrey und seine Leute waren ungleich schwerer gerüstet; trotzdem hatten sie denselben Weg in Gegenrichtung in fast derselben Zeit geschafft. Ein Stallknecht eilte herbei und nahm die Zügel, und Ingrey schwang sich aus dem Sattel. Als er die Schwertscheide zurechtrückte, ließ er seine Finger einen kurzen, beruhigenden Augenblick lang auf dem kühlen Schwertgriff ruhen.

Ritter Ulkra, der Haushofmeister des verstorbenen Prinzen Boleso, trat um den Bergfried herum, von wo aus er offenbar Ingreys Trupp beim Heranreiten beobachtet hatte. Er war ein stämmiger Mann und für gewöhnlich unerschütterlich; heute jedoch wirkte er atemlos vor Sorge und Hast. Ulkra verbeugte sich. »Willkommen, Lord Ingrey. Darf ich Euch einen Trunk bringen lassen oder Speise?«

»Nicht für mich. Aber kümmert Euch um meine Männer.« Er wies auf das halbe Dutzend Berittene, das ihm folgte. Der Truppführer, Ritter Gesca, nickte ihm dankbar zu, und Ulkra überließ die Männer und Pferde der Obhut der Dienstboten.

Ingrey folgte Ulkra die kurze Treppe hinauf bis zum Hauptportal aus dicken Holzbohlen. »Was habt Ihr bisher unternommen?«

Ulkra senkte die Stimme. »Auf Anweisungen gewartet.« Besorgnis furchte sein Gesicht. Bolesos Männer waren selbst unter den günstigsten Umständen nicht für ihre Unternehmungslust bekannt. »Nun, wir haben die Leiche an einen kühlen Ort gebracht. Wir konnten sie nicht da lassen, wo sie ursprünglich lag. Und wir haben die Gefangene in Verwahrung genommen.«

In welcher Reihenfolge sollte er diese unangenehme Besichtigung beginnen? »Ich will zuerst den Leichnam sehen«, entschied Ingrey.

»Ja, Herr. Hier entlang. Wir haben eine der Speisekammern dafür ausgeräumt.«

Sie durchquerten eine voll gestellte Halle mit einem tiefen Kamin aus Naturstein, dessen Feuer bereits heruntergebrannt war. Die wenigen glühenden Kohlen, die halb aus der Asche ragten, ließen den Raum auch nicht behaglicher wirken.

Ein struppiger Jagdhund, der im Schatten neben der Feuerstelle an einem Knochen nagte, knurrte sie an. Dann ging es eine Treppe hinunter und durch eine Küche, wo Koch und Küchenjungen verstummten und sich duckten, als sie vorbeigingen, bis in einen kühlen Raum, der durch zwei schmale Fenster weit oben in den grob behauenen Wänden nur schwach ausgeleuchtet wurde.

Diese kleine Kammer war gänzlich leer geräumt, abgesehen von zwei Böcken und einigen darüber gelegten Planken, auf denen der reglose Umriss des verhüllten Leichnams auszumachen war. Unwillkürlich schlug Ingrey das heilige Zeichen, berührte mit einer Hand Stirn, Lippe, Nabel, Leiste und Herz, jeweils eine heilige Stelle für jeden der fünf Götter. Tochter-Bastard-Mutter-Vater-Sohn. Und wo wart Ihr, als das hier geschah?

Während sich Ingreys Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, schluckte Ulkra und sagte: »Der Geheiligte König — wie hat er die Botschaft aufgenommen?«

»Schwer zu sagen«, meinte Ingrey mit diplomatischer Zurückhaltung. »Siegelbewahrer Lord Hetwar schickt mich.«

»Selbstverständlich.«

Aus der Reaktion des Haushofmeisters konnte Ingrey nur das Offensichtliche herauslesen, nämlich dass Ulkra froh war, die Verantwortung für diese Angelegenheit an einen anderen abzutreten. Mit Unbehagen schlug der Haushofmeister das fahle Tuch zurück, das den Körper seines toten Herrn bedeckte.

Prinz Boleso von Hirschendorn war das jüngste lebende Kind des Geheiligten Königs — der jüngste Sohn des Geheiligten Königs, verbesserte Ingrey sich sogleich in Gedanken. Boleso war immer noch ein junger Bursche, obwohl er schon vor einigen Jahren das volle Mannesalter erreicht hatte — groß, muskulös, mit dem vorspringenden Kinn seiner Familie und einem kurzen, braunen Vollbart. Das dunkelbraune Haar war wirr und blutverklebt. Seine mitreißende Tatkraft war nun erloschen, und ohne sie fehlte dem Gesicht die frühere Anziehungskraft. Ingrey fragte sich, wie er es jemals gut aussehend hatte finden können.

Er trat vor, umfasste den Schädel mit beiden Händen und untersuchte die Wunde. Wunden. Der zerschmetterte Knochen unter den Haaren gab beidseitig unter dem Druck seiner Daumen nach. Zwei tiefe Risse in der Kopfhaut darüber waren schwarz vor geronnenem Blut.

»Welche Waffe hat diese Wunden geschlagen?«

»Der Kriegshammer des Prinzen. Er hing an dem Gestell mit der Rüstung des Prinzen in seinem Schlafgemach.«

»Wie … unerwartet. Auch für ihn.« Düster sann Ingrey über das Schicksal des Prinzen nach. Wie er von Hetwar wusste, war Boleso während seines kurzen Lebens abwechselnd von Eltern und Dienern verhätschelt und vernachlässigt worden. Die angeborene Überheblichkeit seines Standes mischte sich mit einer gefährlichen Gier nach Ehre, Ruhm und Anerkennung. Der Hochmut — oder vielleicht verzweifelter Ehrgeiz? — war zuletzt maßlos gewachsen und gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten. Und was aus dem Gleichgewicht kommt, das stürzt.

Der Prinz trug eine kurze, offene Robe aus bestickter Wolle, mit Pelz gesäumt. Er musste das blutbespritzte Gewand bei seinem Tode getragen haben. Sonst nichts. Auf seiner bleichen Haut waren keine weiteren frischen Verletzungen zu finden.

Der Haushofmeister hatte angemerkt, dass sie hier auf weitere Anweisungen gewartet hatten. Und damit hatte er untertrieben, befand Ingrey: Die Gefolgsleute des Prinzen waren offenbar so sehr gelähmt von den erschütternden Ereignissen, dass sie den Leichnam noch nicht einmal gewaschen oder angekleidet hatten. Schmutz hatte sich in den Hautfalten gesammelt … nein, kein Schmutz. Ingrey fuhr mit dem Finger eine Furche entlang, über das kühle Fleisch, und blickte argwöhnisch auf die Farbschlieren: trübes Blau und Blütenstaubgelb, und dort, wo sie sich mischten, ein kränkliches Grün. Farbe, Schminke, buntes Pulver? Das dunkle Pelzfutter war ebenfalls leicht mit Farbe verschmiert.

Ingrey richtete sich auf, und sein Blick fiel auf etwas, das er zuerst für einen Pelzhaufen an der gegenüberliegenden Mauer gehalten hatte. Er trat näher und kniete nieder.

Es war ein toter Leopard. Nein, eine Leopardin, verbesserte er sich, als er das Tier herumdrehte. Das Fell fühlte sich unter Ingreys Händen weich und seidig an. Er fuhr mit dem Finger über die kalten, geschwungenen Ohren, die weißen Schnurrhaare, das dunkle Fleckenmuster auf goldenem Grund. Dann nahm er eine der schweren Pfoten auf, spürte die ledrige Sohle und die dicken, elfenbeinernen Krallen. Sie waren gestutzt. Eine rote Seidenschnur war dem Tier um den Hals geknüpft und schnitt tief ins Fell. Das Ende der Schnur war abgeschnitten. Ingreys Haare stellten sich auf, doch er unterdrückte die Reaktion.

Ingrey schaute auf. Ulkra, der ihn beobachtete, blickte noch düsterer und ausdrucksloser drein als zuvor.

»Das ist kein Geschöpf unserer Wälder. Wo in aller Welt hatte er das her?«

Ulkra räusperte sich. »Der Prinz erwarb es bei Kaufleuten aus Darthaca. Er wollte hier bei der Burg eine Menagerie anlegen. Oder das Tier vielleicht zur Jagd abrichten. So sagte er.«

»Wie lange ist das her?«

»Ein paar Wochen. Kurz bevor seine Schwester hier eintraf.«

Ingrey drehte die dicke, rote Schnur zwischen den Fingern und runzelte die Stirn. »Und wie ist das hier passiert?«

»Es hing von einem Balken im Schlafgemach des Prinzen. Wir fanden es, als wir … äh, eintraten.«

Ingrey hockte sich auf die Fersen. Allmählich verstand er, warum kein Geistlicher aus dem Tempel hinzugezogen worden war, der sich um die Bestattungsriten kümmern sollte. Die Farbspuren, die rote Kordel, der Eichenbalken, ein Tier, das nicht einfach getötet, sondern geopfert worden war … das alles wies darauf hin, dass sich hier jemand oberflächlich mit den alten Ketzereien befasst hatte, mit der verbotenen Waldmagie. Hatte der Siegelbewahrer davon gewusst, als er Ingrey ausgesandt hatte? Wenn dem so war, hatte er es mit keinem Anzeichen verraten. »Wer hat das Tier aufgehängt?«

Mit der Erleichterung eines Mannes, der eine Wahrheit aussprach, die ihm nicht schaden konnte, erklärte Ulkra: »Ich habe es nicht gesehen und weiß es deshalb nicht. Als wir das Mädchen hineinbrachten, lebte das Tier noch und lag friedlich angebunden in der Ecke. Keiner von uns hat danach noch etwas gesehen oder gehört. Bis die Schreie erklangen.«

»Welche Schreie?«

»Nun … die des Mädchens.«

»Was hat sie geschrien? Oder waren es …« Ingrey verstummte, bevor er nur Schreie sagte. Er hatte den Verdacht, Ulkra hätte diese Andeutung allzu bereitwillig aufgegriffen. »Was hat sie gerufen?«

»Sie rief um Hilfe.«

Ingreys lange Ledergamaschen knarrten, als er sich von dem exotisch gefleckten Tierleib abwandte und aufstand. Sein Blick nagelte Ulkra fest. »Und was habt Ihr darauf unternommen?«

Ulkra drehte den Kopf zur Seite. »Unsere Befehle lauteten, dafür zu sorgen, dass der Prinz ungestört blieb, Herr.«

»Wer hörte die Hilferufe? Ihr und …?«

»Zwei der Wachen, die auf seine Befehle warten sollten.«

»Drei kräftige Männer also, die durch Eid dem Schutz des Prinzen verpflichtet waren. Und sie standen — wo?«

Ulkras Gesicht war starr wie in Stein gemeißelt. »Im Flur. Neben seiner Tür.«

»Sie standen im Gang, keine fünf Schritte vom Mord entfernt, und taten nichts?«

»Wir haben es nicht gewagt, Herr. Denn er hat nicht gerufen. Und dann verstummten die Schreie auch schon. Wir dachten, das Mädchen hätte sich in sein … äh, Schicksal gefügt. Immerhin ging sie freiwillig hinein.«

Freiwillig? Oder verzweifelt? »Sie war keine Dienstmagd. Sie gehörte zum Gefolge von Prinz Bolesos Schwester, ein Mädchen gehobenen Standes, das immerhin von der Familie Dachswall empfohlen und dem Schutz ihres Hauses anvertraut war.«

»Prinzessin Fara persönlich hat sie ihrem Bruder überlassen, als er um das Mädchen bat, Herr.«

Gezwungenermaßen, besagte der Klatsch, den Ingrey gehört hatte. »Wodurch sie zu einer Angehörigen dieses Haushaltes wurde. Oder nicht?«

Ulkra zuckte zurück.

»Sogar ein einfacher Dienstbote verdient eine bessere Behandlung durch seine Herrschaft.«

»Jeder angetrunkene Herr kann einen Diener schlagen und sich bei der Wucht des Hiebes verschätzen«, behauptete Ulkra standhaft. Der Tonfall klang für Ingrey einstudiert. Wie oft während der letzten sechs Monate hatte Ulkra in der Stille der Nacht versucht, sich selbst mit dieser Entschuldigung zu überzeugen?

Der hässliche Mord an einem Dienstboten war der Grund dafür, dass Prinz Boleso ins Exil auf dieses entlegene Felsennest geschickt worden war. Die bekannte Jagdleidenschaft des Prinzen machte diese Verbannung als Strafe zweifelhaft; aber zumindest sorgte sie dafür, dass die Kirche dem königlichen Siegelbewahrer Hetwar nicht länger im Nacken saß. Für ein Verbrechen war es eine zu geringe Sühne, aber eine deutlich zu strenge Maßnahme für einen bloßen Unfall. Ingrey hatte in Lord Hetwars Auftrag am Morgen nach der Tat dieses Schlachthaus untersucht, bevor der Raum gesäubert worden war. Seiner Ansicht nach war weder »Mord« noch »Unfall« die angemessene Bezeichnung für die Tat.

»Aber nicht jeder Herr würde sich dann an dem Opfer vergreifen und es häuten und in Stücke schneiden, Ulkra. Hinter dieser Untat steckte mehr als Trunkenheit. Es war Wahnsinn, und wir alle wussten es.« Nach dieser nächtlichen Raserei hatten der König und sein Hofstaat sich in ihrem Urteil beeinflussen lassen, nicht zum Wohle des Prinzen, sondern aus Treue zum königlichen Hause und aus Sorge um dessen Ansehen. Und dieses Unheil war nun die Folge davon.

Man hatte Boleso in einem weiteren halben Jahr zurück bei Hofe erwartet — gebührend geläutert. Doch Prinzessin Fara hatte die Reise von den Landgütern ihres kurgräflichen Ehemannes ans Krankenlager ihres Vaters unterbrochen, und wie Ingrey vermutete, hatte der gelangweilte Boleso ein Auge auf ihr hübsches Kammerfräulein geworfen. Die schlechten Neuigkeiten erreichten unmittelbar nach der Prinzessin die königliche Halle in Ostheim, und in Faras Gefolge kursierten die unterschiedlichsten Versionen der Geschichte: Entweder hatte das verfluchte Mädchen seine Tugend aus Angst vor der aufdringlichen Wollust des Prinzen aufgegeben oder aus Berechnung dem eigenen Ehrgeiz geopfert. Man konnte sich aussuchen, welchem Gerücht man glauben wollte.

Wenn es Berechnung gewesen war, so war sie auf furchtbare Weise fehlgeschlagen. Ingrey seufzte. »Zeigt mir das Schlafgemach des Prinzen.«

Das Gemach des verstorbenen Prinzen lag hoch oben im Bergfried. Der kurze Flur davor war düster. Ingrey stellte sich Bolesos Leute vor, wie sie sich am äußersten Ende des Ganges im flackernden Kerzenschein zusammendrängten und darauf warteten, dass die Schreie verstummten. Er biss die Zähne zusammen. Die massive Zimmertür besaß auf der Innenseite einen hölzernen Riegel sowie ein Eisenschloss.

Die Einrichtung war karg und rustikal: ein Himmelbett, gerade lang genug für den Prinzen, Truhen, der Ständer mit seiner zweitbesten Rüstung in einer Ecke. Eine Vielzahl kleiner Teppiche lag auf den breiten Bodendielen verstreut, und einer davon zeigte einen großen dunklen Fleck. Die spärliche Ausstattung ließ ausreichend Platz für eine Verfolgungsjagd. Das Opfer konnte Haken schlagen und davonhetzen, bis es schließlich atemlos gestellt wurde. In die Enge getrieben würde es sich herumdrehen und …

Die Fenster zur Rechten des Rüstungsständers waren schmal und bestanden aus dicken Butzenscheiben in einer Bleifassung. Ingrey öffnete die Fensterflügel, stieß die Schlagläden auf und schaute auf die waldbedeckte Hügellandschaft jenseits der Felsspitze. In dem verhangenen Licht stiegen Nebelfetzen wie Geisterflüsse aus den Schluchten empor. Am Talgrund war ein schlichtes Bauerndorf aus dem Wald geschlagen worden, zweifellos die Quelle von Nahrung, Dienern und Feuerholz für die Burg — alles so derb und einfach wie der Ort selbst.

Der Sturz vom Fensterbrett hinunter auf die Pflastersteine war tödlich, der Sprung bis zu den Wällen jenseits des Hofes unmöglich, selbst für jemanden, der schlank genug war, um sich durch die Öffnung zu winden. Bei Dunkelheit und Regen. Nein, auf diesem Weg war keine Flucht möglich, außer in den Tod. Doch vom Fenster aus lag der Rüstungsständer in Reichweite einer verängstigten Beute und ihrer tastenden Finger, nur eine halbe Drehung entfernt. Eine Streitaxt, der Griff mit Gold und rotem Kupfer eingelegt, befand sich noch dort.

Sein Gegenstück, ein passender Kriegshammer, lag auf dem zerwühlten Bett. Der kantige eiserne Kopf — ähnlich einer Tierpranke — war mit geronnenem Blut verschmiert, ebenso der fleckige Bettvorleger. Mit der Handfläche maß Ingrey den Hammerkopf aus und bemerkte die Übereinstimmung mit den Verletzungen, die er gerade gesehen hatte. Der Hammer war beidhändig geführt worden, mit der ganzen Kraft des Entsetzens, wenn auch nur mit der Kraft einer Frau. Der Prinz, halb benommen — halb wahnsinnig? — war offensichtlich weiter auf sie eingedrungen. Der zweite Schlag war wuchtiger gewesen.

Ingrey schlenderte durch das Gemach, betrachtete alles und blickte dann zu den Dachbalken empor. Ulkra, mit der einen Hand die andere umklammernd, wich ihm aus. Genau über dem Bett baumelte eine zerfranste rote Schnur. Ingrey stieg auf den Bettrahmen, zog das Gürtelmesser und reckte sich hinauf, um die Schnur abzuschneiden und in sein Wams zu stecken.

Er sprang hinunter und wandte sich dem besorgt abwartenden Ulkra zu. »Boleso soll in Ostheim beerdigt werden. Kümmert Euch darum, dass seine Wunden und der Leib gründlich gewaschen werden, und legt ihn für den Transport in Salz. Treibt einen Karren auf und ein Gespann — bei diesen schlammigen Straßen besser zwei Paar Pferde — mit einem fähigen Kutscher. Die Wache des Prinzen soll ihn begleiten. Ihre Unfähigkeit kann ihm nicht weiter schaden. Säubert das Gemach, bringt die Burg in Ordnung und ernennt einen Verwalter. Dann kommt mit den anderen Angehörigen des Haushalts und den Wertgegenständen nach.« Ingreys Blick schweifte durchs Zimmer. Hier gab es nichts weiter … »Verbrennt den Leopard. Zerstreut seine Asche.«

Ulkra schluckte heftig und nickte. »Wann wollt Ihr uns verlassen, Herr? Bleibt Ihr über Nacht?«

Sollten die Gefangene und er mit dem langsamen Leichenzug reisen oder sich lieber beeilen? Er wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen; die Anspannung hier ließ seine Nackenmuskeln schmerzen. Doch der Herbst nahte, und das Tageslicht nahm stetig ab. Der Tag war bereits zur Hälfte verstrichen. »Ich muss zuerst mit der Gefangenen sprechen, ehe ich das entscheiden kann. Bringt mich zu ihr.«

Es war nur ein Katzensprung den Flur entlang zu einem fensterlosen, aber trockenen Lagerraum. Kein Verlies, gewiss, aber auch kein Gästezimmer. Die Auswahl dieses Gefängnisses zeugte von einer tiefen Unsicherheit über den Status seiner Bewohnerin. Ulkra klopfte an die Tür und rief: »Werte Dame? Ihr habt einen Besucher.« Dann schloss er die Tür auf und öffnete sie. Ingrey trat ein.

Aus der Dunkelheit glühte ihm ein Augenpaar entgegen, wie das einer Raubkatze, versteckt im Dickicht eines raunenden Waldes. Ingrey schreckte zurück, und seine Hand fuhr zum Schwertgriff. Die Klinge klirrte und war bereits zur Hälfte blankgezogen, als Ingreys Musikantenknochen gegen den Türpfosten schlug und brennender Schmerz von der Schulter bis in die Fingerspitzen schoss. Er trat zurück, um ausholen und zuschlagen zu können.

Bestürzt umklammerte Ulkra seinen Unterarm. Der Haushofmeister blickte ihn befremdet an.

Ingrey stockte und riss sich ruckartig los, damit Ulkra sein Zittern nicht bemerkte. Mit aller Macht hielt er das wilde Verlangen nieder, das durch seine Glieder tobte, und verfluchte von neuem sein Vermächtnis. Er war schon lange nicht mehr davon überrascht worden, schon seit … seit langer Zeit. Ich stelle mich dir entgegen, innerer Wolf. Du wirst nicht die Oberhand gewinnen. Er schob die Klinge zurück in die Schwertscheide, drückte sie fest, löste langsam die Finger vom Heft und presste die Handfläche glatt gegen den lederumhüllten Oberschenkel.

Er starrte abermals in die kleine Kammer und mahnte sich zur Vernunft. Aus den Schatten erhob sich die Silhouette einer jungen Frau von einem strohgefüllten Lager am Boden. Bettzeug war ausreichend vorhanden, eine daunengefüllte Steppdecke, dazu eine Schale mit einem Wasserkrug sowie ein abgedeckter Nachttopf. Für ihre Bedürfnisse war ausreichend gesorgt. Diese Zelle diente vorerst der sicheren Verwahrung, noch nicht der Bestrafung.

Ingrey befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Ich kann Euch in diesem finsteren Winkel nicht erkennen.« Und was ich gesehen habe, kann ich nicht akzeptieren. »Kommt näher zum Licht.«

Sie hob das Kinn, schüttelte die dunkle Haarmähne zurück und bewegte sich vorwärts. Sie trug ein elegantes Leinenkleid, blassgelb gefärbt und am geschwungenen Ausschnitt mit Blumen bestickt — wenn es auch kein Hofkleid war, dann sicherlich das Gewand einer Jungfer von Stand. Eine Reihe dunkelbrauner Spritzer lief schräg darüber. Als sie ins Licht trat, schimmerte ihr zunächst schwarzes, zerzaustes Haar rötlich. Leuchtend braune Augen schauten auf Ingrey, sahen aber nicht zu ihm auf. Ingrey war ein kräftiger, mittelgroßer Mann; das Mädchen war hoch gewachsen und ebenso groß wie er.

Haselnussbraune Augen, die bei dieser Beleuchtung fast bernsteinfarben aussahen, mit einem schwarzen Ring um die Iris. Sie glommen nicht grün. Nicht …

Mit einem argwöhnischen Seitenblick auf Ingrey stellte Ulkra sie einander vor, so förmlich wie als Haushofmeister des Prinzen bei einer festlichen Gesellschaft. »Lady Ijada, dies ist Lord Ingrey von Wolfengrund aus dem Gefolge von Lord Hetwar, dem königlichen Siegelbewahrer. Er wird Euch in Gewahrsam nehmen. Lord Ingrey — Lady Ijada dy Castos, von Seiten ihrer Mutter her mit der Familie von Dachswall verwandt.«

Ingrey stutzte. Bei den fünf Göttern. Eine Lady Ijada, irgendeine unbedeutende Erbin der Dachswall-Sippe — das war alles gewesen, was Hetwar über sie hatte verlauten lassen. »Das ist doch ein Familienname aus Ibra.«

»Aus Chalion«, verbesserte sie ihn kühl. »Mein Vater war Kapitelherr beim Orden des Sohnes und Kommandant einer Ordensburg in den westlichen Feuchtmarschen des Weald, als ich noch ein Kind war. Er heiratete eine Wealdländerin aus der Familie von Dachswall.«

»Und sie sind … verstorben?«, riet Ingrey.

Ijada legte den Kopf schief und entgegnete mit eisiger Ironie: »Sonst wäre wohl besser für meinen Schutz gesorgt gewesen.«

Sie war weder durcheinander noch weinte sie, zumindest hatte sie in jüngster Zeit keine Träne vergossen. Auch wirkte sie keinesfalls verwirrt. Vier Tage in der kleinen Kammer hatten ihr anscheinend geholfen, die Gedanken zu ordnen und sich zu sammeln. Doch ihre Stimme klang angespannt, und ein schwacher Unterton verriet Angst oder Zorn. Ingrey blickte sich suchend in dem kahlen Raum um und schaute dann zu Ulkra. »Führt uns zu einem Ort, wo wir sitzen und reden können. Ein wenig abseits und erleuchtet.«

»Hm … hm …« Nach einer kurzen Denkpause winkte Ulkra sie mit sich. Er wandte dem Mädchen ohne Zögern den Rücken zu, fiel Ingrey auf. Sie war also keine Gefangene, die sich wehrte, biss oder kratzte. Sie folgte Ingrey ruhigen Schrittes.

Am Ende des nächsten Korridors wies Ulkra auf einen Erker mit Blick auf die Rückseite der Burg. »Wie wäre es hiermit, Herr?«

»Das ist gut.« Ingrey stockte, als Lady Ijada anmutig die Röcke lupfte und sich auf der blank polierten Holzbank unter dem Fenster niederließ. Sollte er Ulkra als Zeugen dabehalten oder ihn entlassen, um einer freimütigen Aussage willen? Musste er damit rechnen, dass das Mädchen erneut gewalttätig wurde? Das ungebetene Bild von Ulkra, wie er sich in dem Gang über ihnen in der Finsternis zusammenkauerte und darauf wartete, dass die Schreie verstummten, plagte Ingrey. »Ihr könnt Euch wieder Euren Pflichten zuwenden, Haushofmeister. Ich erwarte Euch in einer halben Stunde zurück.«

Ulkra verharrte unschlüssig und blickte mit finsterer Miene auf das Mädchen. Dann aber verbeugte er sich und verschwand. Bolesos Gefolgsleute waren es nicht gewohnt, die Anweisungen eines Vorgesetzten zu hinterfragen, befand Ingrey. Oder vielleicht war der Prinz einfach jeden, der so etwas wagte, auf die eine oder andere Weise losgeworden, und dies waren nur die Übriggebliebenen. Bodensatz. Abschaum.

Ein bisschen unsicher, weil die Länge der Bank nur wenig Platz zwischen ihnen ließ, setzte Ingrey sich neben Lady Ijada. Auf den ersten Blick hatte er sie für hübsch gehalten, doch jetzt erkannte er, dass dieses Urteil voreilig gewesen war: Das Mädchen war eine strahlende Schönheit! Wenn Boleso nicht ebenso blind wie verrückt geworden war, musste sie ihm auf Anhieb aufgefallen sein. Eine großzügige Stirn, eine gerade Nase, ein schön geformtes Kinn … Ein bläulicher, runder Fleck prangte über einer ihrer Wangen, und ein Muster aus violetten Druckstellen umkränzte ihren schlanken Hals.

Ingrey hob die Hand und tastete sanft über die Verfärbungen. Sie zuckte ein wenig zurück, erduldete dann aber die Berührung. Wie es schien, waren Bolesos Hände ein wenig größer als seine gewesen. Die Haut unter seinen Fingern war warm, bezaubernd, erregend. Ein goldener Schleier schien seine Sinne zu vernebeln. Sein Griff wurde fester — und dann riss er die Hände fort. Ihr erschrockenes Aufkeuchen verbarg seinen erstickten Schreckenslaut. Er presste die Hände auf die Knie. Was war denn das …?

Um seine eigene Verwirrung zu überspielen, stieß er hervor: »Ich bin ein Beauftragter des königlichen Siegelbewahrers. Ich habe ihm alles zu vermelden, was ich hier sehe oder höre. Sagt mir die Wahrheit über das, was an diesem Ort geschehen ist. Beginnt am Anfang.«

Sie lehnte sich zurück, und ihr erstauntes Blinzeln verwandelte sich in einen durchdringenden Blick. Er fing ihren Duft auf, weder Parfüm noch Blut, sondern den einer erwachsenen Frau. Angesichts ihres Starrens fragte er sich zum ersten Mal, wie er für sie wohl aussehen und riechen musste. Pferdegeruch, kaltes Eisen und schweißgetränktes Leder, ein stoppelbärtiges Kinn. Erschöpft, beladen mit Schwert und Dolch und gefahrvollen Pflichten. Warum schreckte sie nicht heftiger vor ihm zurück?

»Welcher Anfang?«, wollte sie wissen.

Einen Moment lang war er aus dem Konzept gebracht. »Ich würde sagen, von Eurer Ankunft hier in Keilerkopf an.« Gab es einen anderen Beginn? Auf diese Frage sollte er später noch einmal zurückkommen.

Sie schluckte und sammelte sich. »Als die Prinzessin ihre Reise antrat«, begann sie, »hatte sie es sehr eilig, die Residenz ihres Vaters zu erreichen. Sie nahm nur wenige Gefolgsleute mit. Unterwegs wurde sie krank. Nichts Bemerkenswertes, doch ihr monatliches Unwohlsein geht mit schrecklichen Kopfschmerzen einher, und wenn sie währenddessen nicht an einem stillen Ort ausruht, geht es ihr ziemlich schlecht. Deshalb machten wir einen Abstecher hierher, denn es war die nächste Zuflucht, und Prinzessin Fara wünschte ihren Bruder zu treffen. Ich glaube, sie erinnerte sich aus früheren Tagen an ihn, als er jünger war und weniger … schwierig.«

Wie taktvoll. Ingrey wusste nicht recht, ob die Wortwahl diplomatisch gemeint war, oder ein Beispiel für trockenen Humor darstellte. Es ist Vorsicht, befand er dann mit einem Blick auf ihren reservierten, bedachtsamen Gesichtsausdruck. Es war der Verstand, nicht der Witz, der sie die Worte wählen ließ.

»Wir wurden gut aufgenommen. Der Empfang entsprach vielleicht nicht dem, was Fara anderswo gewohnt war, aber durchaus den Möglichkeiten dieses Ortes.«

»Seid Ihr Prinz Boleso zuvor schon einmal begegnet?«

»Nein. Ich stehe erst seit einigen Monaten in Diensten von Prinzessin Fara. Eine Tante hat mich empfohlen …« Sie stockte, fuhr dann fort: »Auf den ersten Blick wirkte alles vollkommen normal. Wie man es in einem fürstlichen Jagdschloss erwarten kann. Die Tage waren ruhig, denn der Prinz lud Faras Wachen zur Jagd ein. An den Abenden aber lärmten Prinz Boleso und seine Leute und tranken sehr viel, doch die Prinzessin schloss sich ihnen nicht an, da sie in ihren Gemächern das Bett hütete. Zweimal wurde ich nach unten geschickt, um Faras Beschwerden über den Lärm auszurichten, aber keiner schenkte meinen Worten Beachtung.

Draußen im Hof, direkt unter ihrem Fenster, hetzten sie die Hunde auf einen wilden Eber, den sie gefangen hatten, und wetteten auf den Ausgang des Kampfes. Bolesos Jagdmeister sorgte sich sehr um seine Hunde. Ich wünschte, der Graf von Rossfluten wäre dort gewesen. Er hätte sie mit einem einzigen Wort zum Schweigen gebracht. Er kann sehr gebieterisch auftreten, wenn es ihm beliebt. Wir verbrachten drei Tage hier auf der Burg, bis die Prinzessin wieder reisen konnte.«

»Hat Boleso Euch den Hof gemacht? «

Sie presste die Lippen zusammen. »Ich habe jedenfalls nichts dergleichen bemerkt. Er war bei allen Hofdamen seiner Schwester gleichermaßen unbeliebt. Ich wusste nichts von seiner … Aufmerksamkeit, wenn das der richtige Ausdruck ist, bis zu dem Morgen, an dem wir aufbrechen wollten.«

Sie schluckte erneut. »Meine Herrin, Prinzessin Fara, sagte mir dann, dass ich bleiben sollte. Es wäre gewiss nicht mein Herzenswunsch, aber auf lange Sicht sicher nicht mein Schaden. Man würde später einen anderen Ehemann für mich finden. Ich flehte sie an, mich nicht hier zurückzulassen. Sie sah mir nicht einmal in die Augen. Sie meinte, es sei kein schlechter Handel — er wäre sogar besser als viele andere, und ich solle doch an meine Zukunft denken. Dies Opfer wäre vergleichbar mit der Treue, die ein Mann seinem Fürsten schulde, nur eben auf eine Weise, wie nur Frauen sie ihm leisten könnten. Ich antwortete, ich könnte mir nicht vorstellen, dass viele Männer so etwas … nun ja, ich fürchte, ich habe etwas sehr Ungehobeltes gesagt.

Danach wollte Fara nicht mehr mit mir reden. Sie ritten davon und ließen mich zurück. Ich wollte nicht ihre Stiefel umklammern und sie anbetteln, aus Furcht, die Männer des Prinzen könnten sich über mich lustig machen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als müsse sie ihre Würde wie ein zerfetztes Schultertuch um sich festhalten.

»Ich redete mir ein, dass sie vielleicht Recht hatte. Dass es nicht schlimmer war wie jedes andere Schicksal. Boleso war weder hässlich noch entstellt oder alt. Oder krank.«

Ungewollt verglich Ingrey sich selbst mit dieser Aufzählung. Zumindest von diesen Makeln traf keiner auf ihn zu, hoffte er jedenfalls. Obwohl man diese Liste gewiss noch erweitern konnte. Befleckt, kam ihm in den Sinn.

»Erst als die anderen mich verlassen hatten, erkannte ich, wie verrückt er wirklich war. Und da war es zu spät.«

»Was ist geschehen?«

»Bei Anbruch der Nacht führten sie mich zu seinen Gemächern und stießen mich hinein. Er wartete schon auf mich. Boleso trug ein locker fallendes Gewand, doch darunter war er nackt. Sein Körper war überall mit Zeichen bemalt, in Waid, Krapprot und Safrangelb. Alte Symbole, wie man sie manchmal noch auf uralten hölzernen Fundamenten eingeschnitzt sieht, oder wie man sie bei vergessenen Heiligtümern im Wald findet. Der Leopard war in einer Ecke festgebunden und betäubt.

Boleso sagte … es zeigte sich … es schien so, als hätte er sich doch nicht in mich verliebt. Sein Antrieb war nicht einmal Begierde. Er brauchte einfach nur eine Jungfrau für das Ritual, das er entdeckt oder selbst ersonnen hatte. Ich bin mir nicht sicher, denn er wirkte sehr durcheinander. Und ich war die einzig verfügbare Jungfrau, da die beiden anderen Hofdamen seiner Schwester verheiratet oder verwitwet waren.

Ich wollte ihn davon abbringen. Es sei Ketzerei, hielt ich Boleso vor, eine abscheuliche Sünde und gegen die Gesetze seines eigenen Vaters. Ich würde fortlaufen und allen davon erzählen. Er antwortete, dass er dann die Hunde auf mich hetzen würde und sie mich in Stücke rissen, wie sie es mit dem Schwein getan hatten. Ich drohte, zum Geistlichen des Dorfes zu gehen. Er meinte, dieser Mann wäre bloß ein Akolyth und außerdem ein Feigling. Und dann drohte er, jeden umzubringen, der mich aufnähme. Sogar den Akolythen. Er hatte keine Angst vor der Kirche; sie sei praktisch das Eigentum der Hirschendorns, sagte er, und er könne jederzeit für ein Almosen einen Geistlichen kaufen.

Das Ritual sollte die Seele des Leoparden einfangen, so wie es angeblich bei den alten Stammeskriegern geschehen war. Es könne heutzutage unmöglich Erfolg haben, wandte ich ein. Er jedoch erwiderte, er hätte es bereits mehrere Male zuvor getan … und er hatte vor, die Seelen eines jeden Totemtieres der alten Sippen zu binden. Er dachte, das würde ihm irgendeine Macht über das Weald verschaffen.«

Erschrocken stieß Ingrey hervor: »Die alten Krieger des Weald nahmen nur eine einzige Tierseele in sich auf, nur eine während ihres ganzen Lebens. Und selbst dabei riskierten sie, dem Wahnsinn zu verfallen oder Schlimmeres.« Wie ich zu meinem Leidwesen selbst erfahren habe.

Ijadas samtige Stimme wurde schneller, und atemlos fuhr sie fort: »Er zog den Leoparden mit der Würgeschlinge empor. Dann schlug er mich und warf mich aufs Bett. Ich wehrte mich. Er murmelte leise vor sich hin, Zaubersprüche oder Worte im Wahn — vielleicht beides, ich weiß es nicht. Doch ich glaubte ihm, dass er so etwas schon einmal getan hatte, denn sein Verstand war eine einzige heulende Menagerie. Der Todeskampf des Leoparden lenkte Boleso ab, und ich konnte mich unter ihm hervorwinden. Ich versuchte zu fliehen, konnte aber nirgendwohin. Die Tür war verschlossen, und den Schlüssel trug er am Leib.«

»Habt Ihr um Hilfe gerufen?«

»Ich glaube schon, aber ich weiß es nicht mehr. Meine Kehle war hinterher rau, also muss ich wohl gerufen haben. Das Fenster bot keine Fluchtmöglichkeit. Der Wald dahinter dehnte sich endlos in der Dunkelheit. Ich rief den Geist meines Vaters und seinen Gott, damit sie mir aus der Finsternis zur Hilfe kamen.«

Ingrey musste daran denken, dass Ijada in einer solchen Not besser ihre rechtmäßige Beschützerin hätte anrufen sollen, die Frühlingstochter, der die Jungfräulichkeit heilig war. Es war ungewöhnlich für eine Frau, Hilfe beim Herbstsohn zu suchen, dem Bruder der göttlichen Tochter. Obwohl jetzt Seine Jahreszeit ist. Der Herr des Herbstes war der Gott der Jünglinge, der Ernte und der Jagd, der Kameradschaft und des Krieges. Und auch der Gott der Kriegswaffen?

»Ihr habt Euch umgedreht«, sagte Ingrey, »und den Griff des Hammers unter Eurer Hand gespürt.«

Die haselbraunen Augen wurden größer. »Woher wisst Ihr das?«

»Ich habe das Gemach gesehen.«

»Oh.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich habe zugeschlagen. Boleso sprang auf mich oder … oder taumelte in meine Richtung, und ich traf ihn erneut. Er stürzte und stand nicht wieder auf. Aber er war noch nicht tot. Sein Körper zuckte noch, als ich in seiner Robe nach dem Schlüssel tastete. Ich wurde deshalb beinahe ohnmächtig, kippte um, fing mich aber irgendwie mit Händen und Knien am Boden ab, und der Raum wurde dunkel. Ich … es … Schließlich gelang es mir, die Tür aufzuschließen, und ich rief Bolesos Männer herein.«

»Wie haben sie reagiert? Waren sie wütend?«

»Eher verängstigt, würde ich sagen. Sie stritten lange miteinander und beschuldigten sich gegenseitig, ebenso wie mich und jeden anderen, der ihnen einfiel. Sogar Boleso. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie beschlossen, mich einzusperren und einen Boten fortzuschicken.«

»Und was habt Ihr gemacht?«

»Ich saß die meiste Zeit auf dem Boden, denn es ging mir nicht gut. Sie haben mir diese dummen Fragen gestellt. Hatte ich ihn getötet? Was dachten sie denn? Glaubten sie, er hätte sich selbst den Hammer auf den Kopf gehauen? Ich war froh, als sie mich endlich in diese Kammer sperrten. Ich glaube, nicht einmal Ulkra ist aufgefallen, dass ich die Tür von der Innenseite aus verriegeln konnte.«

So ruhig er konnte, fragte Ingrey: »Konnte Boleso seine Vergewaltigung vollenden?«

Sie hob den Kopf. Ihre Augen blitzten. »Nein.«

Aus ihrer Stimme sprach die Wahrheit und eine Art von unsicherem Triumph. In der größten Not, von allen verlassen, die sie beschützen sollten, hatte sie herausgefunden, dass sie sich selbst nicht aufgeben musste. Eine nachhaltige Lektion. Eine gefährliche Lektion.

Auf die gleiche, betont unbeteiligte Weise fragte er: »Führte er das Ritual zu Ende?«

Diesmal zögerte sie. »Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher … was er erreichen wollte.« Sie blickte hinunter auf ihren Schoß. Ihre Hände waren krampfhaft umeinander geschlossen. »Was wird jetzt geschehen? Ritter Ulkra sagte, Ihr würdet mich in Gewahrsam nehmen und fortbringen. Wohin?«

»Ostheim.«

»Gut«, stieß sie mit unerwarteter Inbrunst hervor. »Der Tempel dort wird mir gewiss beistehen.«

»Ihr habt keine Angst wegen Eures Prozesses?«

»Prozess? Ich habe mich nur selbst verteidigt. Man hat mich verraten und diesem Schrecken ausgeliefert!«

»Einigen mächtigen Leuten«, stellte er in immer noch ruhigem Tonfall fest, »wird es vielleicht nicht gefallen, wenn Ihr in aller Öffentlichkeit solche Behauptungen aufstellt. Denkt nach. Zunächst einmal habt Ihr keinen Beweis für eine versuchte Vergewaltigung. Ein halbes Dutzend Männer können bezeugen, dass Ihr scheinbar bereitwillig zu Boleso gegangen seid.«

»Es war bereitwillig, in Anbetracht der anderen Möglichkeiten — einer Flucht in die Wälder, beispielsweise, um mich dort von wilden Tieren zerreißen zu lassen oder jeden, der mir helfen wollte, einem gewaltsamen Tod zu überantworten.« Sie starrte ihn an. »Glaubt Ihr mir etwa nicht?«

»O doch!« O doch. »Aber ich bin nicht Euer Richter.«

Sie runzelte die Stirn, und man sah einen schmalen Streifen, wo sie die Zähne gegen die blutleere Unterlippe drückte. Dann straffte sie sich wieder. »Selbst wenn es keine Zeugen für die versuchte Vergewaltigung gibt, so gibt es doch Zeugnis für das widerrechtliche Ritual. Alle haben den Leoparden gesehen. Sie haben die geheimnisvollen Zeichen auf dem Leib des Prinzen erblickt. Das sind keine bloßen Behauptungen, sondern greifbare Dinge.«

Nicht mehr. Wenn sie nicht unschuldig war, so war sie zumindest sehr naiv. Lady Ijada, Ihr habt keine Ahnung, wem Ihr entgegentretet.

Schritte erklangen auf den Dielen, und als Ingrey aufschaute, sah er Ulkra näher kommen. Der Ritter brachte das Kunststück zuwege, bedrohlich und kriecherisch zugleich zu wirken.

»Wie lauten Eure Wünsche?«, fragte er unruhig.

Irgendwo anders zu sein, und irgendetwas anderes zu tun, dachte Ingrey.

Er hatte mehr als zwei Tage im Sattel verbracht und war einfach zu müde, um heute auch nur eine Meile weiterzureiten. Boleso würde es auch nicht eilig haben, zu seiner Beerdigung zu kommen und sich dem göttlichen Ratschluss zu stellen. Außerdem war Ingrey nicht gerade begierig darauf, dieses verfluchte, arglose Mädchen vor das irdische Gericht zu bringen. Sie hatte nicht genug Angst vor den wahren Gefahren. Mochten die fünf Götter ihr beistehen, aber sie schien sich vor gar nichts zu fürchten.

»Gebt Ihr mir Euer Wort, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, wenn ich Eure Haft erleichtere?«

»Natürlich«, erwiderte sie, als wäre sie überrascht, dass er überhaupt gefragt hatte.

Ingrey winkte dem Haushofmeister. »Besorgt ihr ein standesgemäßes Zimmer. Gebt ihr ihre Habseligkeiten zurück. Und treibt eine angemessene Zofe auf, die Lady Ijada aufwarten und ihr beim Packen helfen kann — falls sich an diesem Ort so jemand finden lässt. Morgen, beim ersten Tageslicht, brechen wir zusammen mit Bolesos Leichnam nach Ostheim auf.«

»Ja, Herr«, sagte Ulkra und neigte den Kopf, in stillem Einverständnis und mit einem Hauch von Erleichterung.

Dann kam Ingrey noch ein Gedanke. »Sind irgendwelche Mitglieder des Haushalts nach Bolesos Tod geflohen?«

»Nein, Herr. Warum wollt Ihr das wissen?«

Ingrey wich der Frage mit einer unbestimmten Geste aus, und Ulkra bedrängte ihn nicht weiter.

Leder knarrte, als Ingrey sich erhob, doch er hatte das Gefühl, als würden seine Muskeln noch lauter protestieren als die feuchten Gamaschen. Lady Ijada dankte ihm mit einem Knicks und schritt hinter dem Haushofmeister her. An der Treppe blickte sie über die Schulter zurück und bedachte ihn mit einem ernsten Blick voller Vertrauen.

Es war seine Pflicht, sie nach Ostheim zu bringen. Mehr nicht. Sie direkt in die Hände derer auszuliefern, die … ihrem Fall nicht freundlich gesonnen waren. Abwechselnd spannten seine Finger sich um den Schwertgriff und lösten sich wieder.

Mehr nicht.

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