Der Leichenzug, wenn man es als solchen bezeichnen konnte, rumpelte aus dem Burgtor hinaus in den Morgennebel. Ingrey hatte jeweils sechs Wachen vor und hinter dem Gefährt postiert, das man mit Wohlwollen einen Bauernkarren nennen konnte. Auf dem Karren lag ein hastig zusammengezimmerter, länglicher Kasten, in dem Bolesos Leiche auf grob zerstoßenem Salz gebettet war. Normalerweise diente es dazu, Wildbret einzupökeln — nun diente es dem Prinzen als Ruhelager.
In einem traurigen Versuch, die angemessene Förmlichkeit zuwege zu bringen, hatte Ulkra ein Hirschfell aufgetrieben und über den Sarg gebreitet. Ein paar spärliche Tücher um die Pfosten an den Ecken der Ladefläche ersetzten Behänge. Was immer die Wachen sonst noch unternommen hatten, um ihre Ausrüstung für den traurigen Anlass herzurichten — es ging in den feuchten Nebelschwaden unter. Ingreys Aufmerksamkeit galt eher den Seilen, die den Kasten an Ort und Stelle hielten.
Als Fuhrmann hatte Ulkra einen ansässigen Freisassen einberufen, dem auch der Wagen und das Gespann gehörten. Der Mann hatte die robusten Pferde bei den ersten schwierigen Kurven und Unebenheiten der schmalen Straße gut im Griff. Seine Ehefrau betätigte neben ihm mit grimmigem Gesicht, aber kundiger Hand die hölzerne Bremse, die kreischend gegen das Rad drückte, während der Wagen abwärtsrollte. Die gesetzte, ältere Frau diente auch als Anstandsdame für die Gefangene; nach Ingreys Dafürhalten war sie für diese Aufgabe besser geeignet als das schmuddelige, verängstigte junge Dienstmädchen, das Ulkra zuerst vorgeschlagen hatte. Außerdem sorgte der Ehemann wiederum zusätzlich für ihren Schutz: Ingrey vertraute den eigenen Leuten, erinnerte sich aber noch gut an den Innenriegel von Ijadas erstem Gefängnis. Er war sich ziemlich sicher, dass diese Vorsichtsmaßnahme kein Versehen von Ulkra gewesen war.
Die weißen Mauern und kegelförmigen Schieferdächer der Burg verschwanden wie Traumgesichte hinter den nebelverhangenen Bäumen, und die Straße wurde für ein kurzes Stück breiter und verlief gerader. Zwei Krieger aus Ingreys eigener Schar bildeten die Nachhut. Er grüßte sie mit einem stummen Salut, und ebenso still wurde der Gruß erwidert. Dann trieb er sein Pferd vorwärts, am Wagen und seinen Bewachern vorbei. An der Spitze ritten zwei weitere von Ingreys Männern, und zwischen ihnen Lady Ijada.
Die Gefangene saß auf ihrem eigenen Pferd. Ingrey wusste nicht, ob das Tier aus den Ställen derer von Rossfluten stammte oder Ijadas Familie gehörte, doch es war ein edler, prächtiger Brauner mit gutem Körperbau und geschmeidigen Bewegungen. Er schüttelte den Kopf und schnaubte vor Energie, und seine Ohren zuckten aufgeregt. Würde sie ihrem Pferd die Hacken in die Weichen schlagen und eine Flucht querfeldein versuchen, wäre sie nicht so leicht einzuholen. Allerdings machte sie im Augenblick keinerlei Anstalten dazu. Sie saß leicht im Sattel und zog nur gelegentlich am Zügel, um das Tier davon abzuhalten, an den anderen Pferden vorbeizuziehen.
An diesem Morgen trug Lady Ijada ein Reitkleid, wie eine Adlige es zur Jagd anziehen würde, mit einer rotbraunen Jacke, die mit Kupferfäden durchwirkt war, und polierten Stiefeln, die unter dem Saum des Reitkleides blitzten. Ihr dunkles Haar war streng zurückgekämmt und mit einem gehäkelten Haarnetz im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst. Ein dünnes Halstuch verdeckte so gerade eben die rötlichen Würgemale, die Bolesos Finger hinterlassen hatten.
Ingrey sah keinen Grund zu höflicher Konversation mit seiner Gefangenen, und so schenkte er ihr bloß ein höfliches Nicken und setzte sich an die Spitze der Kolonne. Schweigend ritt er eine Weile dahin. Das Tröpfeln aus den Zweigen im nassen Wald und das melodische Gurgeln kleiner Bäche, die durch ausgehöhlte Baumstämme unter dem Weg hindurchplätscherten, kam ihm laut vor, trotz der ächzenden Wagenräder und dem Stampfen von Hufen hinter ihm. Nach einer letzten steilen Kehre wurde die Straße eben, und sie ließen das Laubdach hinter sich und tauchten in eine unerwartete Flut von Licht.
Die Sonne schien durch eine Lücke in der Bergkette im Osten. Ihr Strahlen verwandelte die feuchte Luft in wogendes Gold und ließ die fernen Anhöhen grün aufglühen. Ein einsamer Rauchfaden stieg aus dem dichten Wald empor — das einzige Zeichen einer menschlichen Gegenwart in dem Streifen zwischen dem Weiler und seinen Feldern. Vermutlich waren dort einige Köhler am Werke.
Der plötzliche Ausblick erleichterte Ingrey nicht. Stattdessen blickte er finster auf die schlammige Straße vor ihnen und lenkte das Pferd dann zur Seite, um zu prüfen, ob auch das hintere Ende des Leichenzuges ohne Zwischenfall aus dem Wald kam. Er drehte sich um und stellte fest, dass er neben Lady Ijada ritt.
Sie ließ den Blick schweifen. Stilles Vergnügen sprach aus ihren Augen, die in diesem neuen Licht goldbraun leuchteten. »Wie die Hügel strahlen! Ich liebe die Wälder zwischen den rauen Bergen und dem bewirtschafteten Land.«
»Die Gegend hier ist schwierig und gefährlich zum Reisen«, stellte Ingrey fest, »doch die Wege werden besser, wenn wir diese Einöde erst hinter uns gelassen haben.«
Bei seinen sauertöpfischen Worten legte sie den Kopf schief. »Dieser Landstrich gefällt Euch nicht? Dann würdet Ihr meine Erbgüter gewiss für ein Ödland halten. Sie liegen westlich von hier, in den Marschlanden, wo die Berge flacher werden.« Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort:
»Mein Stiefvater teilt allerdings Eure Ansichten, was solche einsamen Gegenden angeht. Doch er ist als Stadtmensch geboren und Bauleiter des Tempels in Dachsbrücken. Er sieht Bäume am liebsten in Form von Dachsparren oder zu Toren und Gerüsten verarbeitet. Er meint, ich solle lieber mein Gesicht zur Aussteuer machen als die verwunschenen Wälder meiner Erbgüter.« Plötzlich verzog sie das Gesicht, und das Leuchten in ihren Augen erlosch. »Er hat sich so für mich gefreut, als eine meiner Tanten aus der Dachswall-Sippe mir eine Stelle im angesehenen Haushalt der Rossflutens verschafft hat. Und jetzt das.«
»Glaubte er, Ihr könntet Euch unter dem Schutz der Prinzessin einen Ehemann angeln?«
»So etwas in der Art, ja. Es sollte eine einzigartige Gelegenheit für mich sein.« Sie zuckte die Achseln. »Seither habe ich gelernt, dass die hohen Herrschaften sich eher noch mehr für die Mitgift interessieren als andere Männer. Ich hätte damit rechnen …« Sie presste die Lippen zusammen. »Ich hätte mit einem überheblichen Verführer gerechnet. Aber diese ketzerische Zauberei und der heulende Wahnsinn haben mich überrumpelt.«
Zum ersten Mal fragte sich Ingrey, ob Ijada vielleicht tatsächlich den Blick eines Ehemannes auf sich gezogen hatte — den des Grafen von Rossfluten. Dieser war bereits seit vier Jahren mit der Tochter des Geheiligten Königs verheiratet, und es gab bisher keine Kinder. Steckte hinter dieser Kinderlosigkeit vielleicht mehr als bloßes Unglück?
Auf alle Fälle wäre es ein guter Grund für die Prinzessin gewesen, ihre Zofe bei erster Gelegenheit loszuwerden. Und wenn sie eifersüchtig genug auf die liebreizende Rivalin gewesen war, hatte es Prinzessin Fara vielleicht auch nichts ausgemacht, Ijada einem unangenehmen Schicksal zu überlassen. Hatte Fara gewusst, was ihr Bruder vorhatte? Abgesehen von der offensichtlichen Vergewaltigung?
Welcher Anfang?, hatte Lady Ijada gestern gefragt. Als gäbe es davon ein Dutzend, unter denen man nach Belieben auswählen konnte.
»Was haltet Ihr von Graf Rossfluten?«, fragte Ingrey so beiläufig wie möglich. Der Graf hatte Grundbesitz, entstammte einer alten Familie, doch seine bemerkenswerteste Macht war im Augenblick zweifellos seine Stellung als weltlicher Kurfürst: Seine Stimme war eine von dreizehn, die über den nächsten Geheiligten König entscheiden würden. Obwohl solche politischen Überlegungen bestimmt über den Horizont dieser jungen Frau hinausgingen, wie klug sie auch sein mochte.
Jetzt schürzte sie die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn. Sie sah weder erschrocken noch auf irgendeine Weise verlegen aus. »Ich bin mir nicht sicher, was ich von ihm halten soll. Er ist ein seltsamer … Mann. Ich hätte fast ›junger Mann‹ gesagt, aber er kommt mir ehrlich gesagt gar nicht jung vor. Ich denke, es liegt zum Teil an seinen zu früh ergrauten Haaren. Er ist sehr intelligent, manchmal schon unangenehm scharfsinnig. Und launisch. Manchmal läuft er tagelang schweigend umher, als wäre er vollkommen in seine eigene Welt versunken. Dann wagt niemand, ihn anzusprechen, nicht einmal die Prinzessin.
Zuerst dachte ich, es läge an seinen kleinen, wisst Ihr, Missbildungen, dem Rückgrat und dem seltsam geformten Gesicht. Doch er scheint sich wegen seines Körpers keinerlei Gedanken zu machen. Auf keinen Fall wird er davon behindert.« Sie schaute mit verspäteter Vorsicht zu Ingrey hinüber. »Kennt Ihr ihn gut?«
»Nicht, seit wir erwachsen sind«, erwiderte Ingrey. »Ich bin eng mit ihm verwandt, über seine verstorbene Mutter. Als wir beide noch Kinder waren, bin ich ihm einige Male begegnet.« Ingrey erinnerte sich an den jungen Lord Wenzel von Rossfluten: ein schmächtiger, ungeschickter Junge mit ewig feuchtem Mund, der nicht allzu klug wirkte. Vielleicht lag es an seiner Schüchternheit, dass er kaum den Mund aufbekam. Doch als Kind hatte Ingrey wenig Mitgefühl empfunden für einen kleineren Vetter, der nicht mithalten konnte. Er hatte gar nicht erst versucht, ihn in seine Spiele mit einzubeziehen. Aber glücklicherweise, wie er im Nachhinein feststellen musste, hatte Ingrey ihn auch nicht gequält. »Sein Vater und der meine starben im Abstand von nur wenigen Monaten.«
Der bejahrte Graf von Rossfluten war allerdings schnell gestorben, und zwar auf annehmbare Weise an einem gewöhnlichen Schlaganfall. Nicht in der Blüte seiner Jahre, bellend und mit Schaum vorm Mund, während seine fiebrigen Schreie durch die Gänge der Burg hallten, als würden sie aus einem tiefen Abgrund der Qualen emporsteigen … Ingrey unterdrückte die Erinnerung.
Sie blinzelte in seine Richtung. »Was war Euer Vater für ein Mann?«
»Er war der Burgvogt von Birkenhain, unter der Herrschaft des alten Grafen Kasgut von Wolfengrund.« Und ich bin es nicht. Würde das ihrem wachen Verstand auffallen, oder würde sie einfach davon ausgehen, er wäre bloß ein jüngerer Sohn? »Birkenhain beherrscht das Tal des Birkbachs, wo er in die Lure fließt.« Was genau genommen ihre Frage nicht beantwortete. Wie waren sie nur auf dieses unheilvolle Thema gekommen? Ihm wurde klar, dass ihr Tonfall auf gleiche Weise neutral geklungen hatte wie seine Suggestivfrage nach Rossfluten.
»So viel habe ich schon von Ritter Ulkra erfahren.« Sie tat einen tiefen Atemzug und schaute zwischen den Ohren ihres Pferdes hindurch nach vorne. »Außerdem erzählte er von Gerüchten, nach denen Euer Vater am Biss eines tollwütigen Wolfes starb, dessen Seele er stehlen wollte. Und dass er auch Euch einen Wolfsgeist gegeben hat, der sich jedoch als verdorben erwies und Euch sehr krank machte. Und deswegen hätte man um Euer Leben und Euren Verstand gebangt, und Birkenhain fiel an Euren Onkel, nicht an Euch. Später jedoch wäret Ihr auf Wunsch Eurer Familie auf Pilgerfahrt gegangen und hättet dabei Linderung erfahren. Ich habe mich gefragt, ob das wahr sein mag und warum Euer Vater so etwas Fahrlässiges hätte tun sollen?«
Erst nachdem dieser ganze Tratsch aus ihr hervorgesprudelt war, wandte sie ihm wieder das Gesicht zu. Ihre Augen blickten bang und forschend zugleich.
Ingreys Pferd schnaubte und schüttelte den Kopf, als er derb am Zügel zerrte. Er lockerte den festen Griff und einen Moment später auch seine aufeinandergebissenen Zähne. Schließlich knurrte er: »Ulkra ist eine Klatschbase. Das ist eine üble Schwäche.«
»Er hat Angst vor Euch.«
»Nicht genug, wie es aussieht.« Ingrey zog sein Pferd herum und gab vor, den Zug zu inspizieren. Dann ritt er auf der gegenüberliegenden Seite wieder zur Spitze der Kolonne zurück. Allein. Sie blickte ihn an, als er vorbeiritt, und öffnete den Mund, doch er beachtete sie nicht.
Es war nicht so einfach, den Leichenzug über die schlammige Straße aus dem Tal hinauszubringen. Diese Aufgabe lenkte Ingrey weit genug ab, dass er wieder zur Ruhe kam. Oder zumindest gab es genug anderes, worüber er sich ärgern konnte, um seine ursprüngliche Wut zu ersetzen.
An einem steilen Abhang gerieten die Hufe des schnaufenden Gespanns ins Rutschen, und der Karren schlitterte seitwärts auf eine jäh abfallende Kante zu. Die Frau des Wagenlenkers kreischte eine Warnung. Ingrey sprang vom Pferd und brachte einige geistesgegenwärtige Wachen dazu, sich zusammen mit ihm gegen den Rand und die Rückseite des Wagens zu stemmen und ihn durch den Schlamm von dem Schwindel erregenden Felssturz fortzuschieben.
Das kostete Ingrey eine gezerrte Schulter und eine Menge Dreck auf den Gamaschen. Kurz war er versucht, einfach aufzugeben und den Wagen der Schlucht zu überlassen. Er stellte sich vor, wie der Karren hinabstürzte und auseinanderbrach, wie der Sarg auf die Felsblöcke prallte und aufsprang und Bolesos nackter Leib dann in einem Schwall von Salz seinem gerechten Schicksal entgegenfiel.
Aber der Wagen würde zwangsläufig die beiden treuen Zugtiere mit sich reißen, und sie verdienten es nicht, des Prinzen Los zu teilen. Außerdem stand Ingrey selbst zwischen Wagen und Abgrund und würde gleichfalls hinabgerissen und beim ersten Aufschlag zerquetscht werden. Dann würden seine guten Ledergamaschen als Taschen für seine zermalmten Überreste herhalten müssen … Dieser schauerliche Gedanke heiterte ihn ausreichend auf, sodass er hinterher zwar atemlos, aber in wiederhergestellter guter Laune aufs Pferd stieg.
Mittags machten sie auf einer großen Lichtung Halt, gleich neben der Straße an einem alten Brunnen, der um eine Quelle herum errichtet worden war. Seine Männer wickelten das Brot und den kalten Braten aus, den der Koch der Burg vorbereitet hatte. Ingrey selbst allerdings schätzte die verbleibende Entfernung ab und sorgte sich mehr um die Pferde.
Das Gespann war schlammverkrustet und verschwitzt, also schickte er dem Kutscher ein paar verdrießlich dreinblickende Männer aus Bolesos Gefolge zur Hilfe, um den Tieren das Geschirr abzunehmen und sie trockenzureiben, ehe sie gefüttert wurden. Die schlimmsten Steigungen hatten sie hinter sich, und Ingrey kam zu dem Schluss, dass die Pferde nach einer angemessenen Rast noch bis zum Einbruch der Nacht durchhalten würden. Und bis dahin wollte er die Stadt und den bedeutenden Tempel von Riedenswooge erreicht haben, wo sie ein angemesseneres Transportmittel beschlagnahmen und den Bauernkarren zurückschicken konnten.
Ein fürstlicheres Transportmittel, verbesserte sich Ingrey. Er war geneigt, den Ausdruck »angemessen« eher für das jetzige Gefährt zu reservieren — einen früheren Mistkarren.
In der Nähe von Ostheim würde er einen Boten vorausschicken und eine Ablösung für die Führung des Leichenzuges erbitten. Sollten sich doch diejenigen um prunkvollere und edlere Feierlichkeiten kümmern, denen der Prinz etwas bedeutet hatte. Oder zumindest dessen Rang und die Gelegenheit zur protzigen Selbstdarstellung, die sich anlässlich einer solchen Parade bot. Vielleicht sollte er den Reiter gleich heute Abend aussenden.
Er wusch sich die Hände im Ablauf des Brunnens und nahm von seinem Truppführer Gesca ein Stück Brot mit einer dicken Scheibe Wildbret entgegen. Kauend blickte er sich nach der Gefangenen und ihrer Zofe um.
Die Frau des Gespannführers war mit den Proviantkörben beim Wagen beschäftigt, und Lady Ijada spazierte über die Lichtung. In diesem Gewand brauchte sie bloß in den Wald zu huschen und wäre einen Augenblick später zwischen den mächtigen Baumstämmen verschwunden. Stattdessen betrachtete sie neugierig einen Stein der bröckeligen Brunnenfassung und suchte sich einen Weg dorthin, wo Ingrey auf einem gewaltigen, umgestürzten Baumstamm saß.
»Seht!«, sagte sie und streckte ihm den glitzernden, grauen Mauerstein entgegen.
Ingrey betrachtete ihn. Auf einer Seite des Steins war ein Spiralmuster in die verwitterte Oberfläche geritzt.
»Das ist eines der Symbole, die Boleso auf seinen Körper gemalt hat. Mit Färberröte um den Bauchnabel. Habt Ihr es dort gesehen?«
»Nein«, gestand Ingrey. »Seine Leiche war zu diesem Zeitpunkt schon gewaschen worden.«
»Oh«, meinte sie bestürzt. »Nun, es war dort.«
»Ich zweifele nicht an Euren Worten.« Obwohl andere das vielleicht tun werden. War ihr das inzwischen auch bewusst geworden?
Sie blickte sich auf der Lichtung um. »Was denkt Ihr? War dieser Ort früher ein Waldheiligtum?«
»Sehr wahrscheinlich.«Er folgte ihrem Blick und betrachtete die Baumstümpfe und die Größe der Stämme genauer. Welchen heiligen oder unheiligen Zwecken diese Lichtung ursprünglich auch einmal gedient haben mochte, die letzten Rodungen stammten anscheinend von einfachen umherziehenden Holzfällern. »Der Quellbrunnen deutet darauf hin. Dieser Platz wurde gerodet, verlassen und danach mehr als einmal wieder frei geschlagen.« Womöglich dem Auf und Ab des Krieges folgend, in dem Audar der Große und die darthacischen Quintarier vor 400 Jahren das Weald zum ersten Mal erobert und den Waldketzereien der alten Sippen ein Ende bereitet hatten.
»Ich frage mich, wie die alten Zeremonien wirklich gewesen sein mögen«, überlegte sie. »Die Geistlichen wettern gegen die Tieropfer, aber eigentlich … Als Kind, in der Ordensburg meines Vaters, bin ich einige Male mit … mit einer Freundin zu den Herbstfeiern der Sumpfleute gegangen. Die Leute vom Fenn sind nicht vom gleichen Volk wie die Alten Wealdländer, und sie sprechen auch nicht deren Sprache. Und doch empfand ich es fast so wie eine Reise in die Vergangenheit des Weald. Am ehesten ähnelte es noch einer ausgelassenen Feier mit geröstetem Fleisch unter freiem Himmel. Gewiss, es gab ein paar Rituale, ehe die Tiere geschlachtet wurden, und die Sumpfleute sangen dazu. Aber wir beten über dem zubereiteten Fleisch, und sie taten es halt vorher. Wo ist da der Unterschied?«
Sie dachte einen Augenblick nach und fügte dann einschränkend hinzu: »So sah es zumindest meine Freundin. Der Geistliche aus der Burg war da anderer Ansicht, aber die beiden waren selten einer Meinung. Ich denke, es machte ihr einfach Spaß, ihn zu ärgern.«
Nun, die Einwände der quintarischen Geistlichen galten nicht der Speisefolge: Die Sippen des Alten Weald hatten nicht nur das Fleisch der heiligen Tiere zu sich genommen, sondern ihre Stammeszauberer hatten auch die Seelen der Opfertiere auf ihre Kriegsherren übertragen. Das sollte den Geist ihrer Anführer schärfer und wilder machen — aber es sorgte zugleich dafür, dass ihre Seelen verunreinigt waren und am Ende des Lebens von den Göttern nicht erreicht werden konnten. Ingrey bezweifelte allerdings, dass bei der Feier, die Ijada erlebt hatte, irgendetwas anderes als Fleisch verzehrt worden war: Sonst hätte das Mädchen wohl kaum zusehen dürfen. »Man sagt, die Sumpfleute würden sich mit Blut bemalen.«
»Nun«, entgegnete sie nachdenklich, »das stimmt so weit. Auf jeden Fall rannte jeder hinter dem anderen her, und sie bespritzten sich gegenseitig und lachten dabei lauthals. Es war eine sehr schmutzige und alberne Angelegenheit, und es roch auch ziemlich. Aber es fällt mir schwer, darin etwas Böses zu sehen. Aber natürlich hat dieser Stamm keine Menschen geopfert.« Sie blickte über die Lichtung, als würden sich vor ihrem inneren Auge die Geisterbilder einer solch üblen Mordtat formen.
»Allerdings«, sagte Ingrey nüchtern. »Genau das war der springende Punkt zwischen den darthacischen Quintariern und den Alten Wealdländern.« Obwohl beide Seiten dieselben fünf Götter verehrt hatten. »Als daher Audar, der so genannte Große, viertausend wealdische Kriegsgefangene auf dem Blutfeld dahinschlachtete, da betete er nicht, so sagt man. Und ich nehme an, das machte es zu einer anständigen, quintarischen Tat und ließ es nicht zu einer Ketzerei werden. Es war vielleicht ein Verbrechen, aber kein Menschenopfer. Das ist einer dieser feinen theologischen Unterschiede.«
Das Gemetzel an einer ganzen Generation junger Totemkrieger hatte jedenfalls dem wealdischen Widerstand gegen die östlichen Eindringlinge das Genick gebrochen. Während der nächsten 150 Jahre hatte man die Wealdländer und ihre Religion mit Gewalt nach darthacischem Vorbild umgeformt, bis Audars gewaltiges Reich in den blutigen Auseinandersetzungen seiner deutlich weniger »großen« Nachfolger zerbrach. Der orthodoxe Quintarismus überlebte jedoch das Reich, das ihn genährt hatte. Auch im erneuerten Weald blieben die verbotenen Tierriten und die Legendengesänge der Waldstämme verloren und vergessen — von bäuerischem Aberglauben, Kinderreimen und Gespenstergeschichten abgesehen.
Oder vielmehr nicht ganz vergessen, nicht von Jedermann. Was hast du dir nur dabei gedacht, Vater? Warum hast du mich mit dieser verderbten Blasphemie beladen? Was hast du vorgehabt? Die alte, schmerzliche und unbeantwortete Frage … Ingrey vertrieb sie aus seinen Gedanken.
»Ich würde sagen, wir sind nun alle Neue Wealdländer«, überlegte Ijada. Sie berührte ihr typisch darthacisches, dunkles Haar und nickte in Richtung auf Ingreys Schopf. »Heute hat fast jede wealdländische Sippe auch darthacische Vorfahren. Und so haben wir die Sünden Audars und die der alten Stämme geerbt. Soweit ich weiß, war auch mein Vater aus Chalion zum Teil darthacischer Herkunft. Die Adligen in seiner Heimat sind wirklich ein gut durchmischter Haufen, so sagte er immer, auch wenn sie sich viel auf ihre Stammbäume einbilden.«
Ingrey biss vom Fleisch ab, kaute und schwieg.
»Als Euer Vater Euch den Wolfsgeist gab«, setzte sie an, »wie …«
»Ihr solltet essen«, unterbrach er sie mit vollem Mund. »Wir haben noch einen langen Ritt vor uns.« Er stand auf und entfernte sich Richtung Wagen und Proviantkörbe. Eigentlich wollte er keinen Nachschlag, aber er wollte sich auch kein weiteres Geplapper anhören.
Ingrey suchte sich einen Apfel heraus, der nicht allzu wurmstichig war, und knabberte langsam daran, während er umherschlenderte. Solange die Rast dauerte, hielt er sich immer auf der anderen Seite der Lichtung auf, so weit von Ijada entfernt wie möglich.
Am Nachmittag wichen die zerklüfteten Berghänge sanfteren Steigungen, und immer öfter passierte der Leichenzug kleine Weiler mit ausgedehnten Feldern. Die Sonne fächerte bereits schräg durch die Wipfel der Bäume, als sie auf ein unerwartetes Hindernis trafen: Eine felsige Furt, die auf dem Hinweg nur knietief gewesen war, war von den Regenfällen angeschwollen, und nun wälzte sich dort ein schlammiger und übervoller Strom.
Ingrey zügelte sein Pferd und dachte über das Problem nach. Der Wagen mit Bolesos Sarg war nicht durch eine Bespannung oder Teer abgedichtet worden. Also war kaum damit zu rechnen, dass er zu stark ins Schwimmen geriet, vom Wasser fortgedrückt wurde und die Pferde von den Beinen riss. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er Wasser zog und versank.
Ingrey postierte Berittene mit Seilen an den vier Ecken des Karrens, wo sie helfen sollten, das Gefährt durch die Gefahr zu bugsieren. Dann gab er dem Gespannführer ein Zeichen, die erschöpften Zugtiere mit größtmöglicher Geschwindigkeit voranzutreiben. Das Wasser schäumte den Pferden bis gegen den Bauch und hob die Räder des Wagens vom Boden an, doch die Posten hielten ihn auf Kurs, und die ganze Seilschaft gelangte glücklich ans andere Ufer. Erst dann ließ Ingrey Lady Ijada vor sich ins Wasser reiten.
Kurz blickte er auf und vergewisserte sich, dass der Wagen am gegenüberliegenden Ufer gut vorankam. Doch im selben Augenblick sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung, und sein Blick zuckte zurück: Ijadas Fuchsstute rutschte aus, suchte im Wasser nach Halt und kippte dann kopfüber in den Fluss. Lady Ijada wurde von der Strömung fortgerissen, ehe sie auch nur aufschreien konnte. Ingrey fluchte, dann trieb er sein Pferd in die Fluten. Hektisch sah er hin und her, suchte dunkles Haar oder dahintreibenden braunen Stoff inmitten des schäumenden, trüben Stroms. Ihre Kleidung würde sich gewiss vollsaugen und die Röcke sie hinunterziehen … da!
Das kalte Wasser zerrte an seinen Beinen, als er das Pferd den Fluss entlang zwang. Ein dunkler Kopf tauchte vor drei runden Felsen auf, die aus dem kochenden Schwall ringsum ragten. Ijada streckte den Arm aus, fand Halt …
»Festhalten!«, rief Ingrey. »Ich bin gleich bei Euch!«
Lady Ijada zog sich mit beiden Armen bäuchlings auf den Felsen hinauf, wand sich und kletterte weiter. Als Ingrey sein schnaubendes Pferd neben sie gebracht hatte, stand sie schon aufrecht, tropfend und keuchend. Er bekam noch mit, wie ihr Pferd ein Stück weiter vorn ans Ufer gespült wurde, wo es sich auf die Beine kämpfte, durch den Matsch stolperte und dann mit einem Satz zwischen den Bäumen verschwand. Ingrey schickte dem Tier eine stumme Verwünschung hinterher und winkte einem seiner Leute, es wieder einzufangen.
Er achtete nicht darauf, ob man ihm gehorchte, denn gerade kam er auf Armlänge an Lady Ijada heran. Er beugte sich in ihre Richtung vor, und sie neigte sich zu ihm hin …
Dunkelroter Nebel umwallte in diesem Moment seinen Verstand und trübte seinen Blick. Als er ihre Hände fasste, kippte er ins Wasser und riss sie von ihrem sicheren Platz herunter. Er musste sie hinabdrücken … und schmeckte selbst Wasser. Er spuckte, keuchte und ging wieder unter. Ohne Orientierung wirbelte er hin und her. Ein weit entfernter Teil seines Verstandes schrie innerlich: Was tust du denn, Dummkopf! Er musste sie hinabdrücken …
Die Gewalt des Wassers schmetterte seinen Schädel gegen etwas Hartes, und sternförmige grüne Funken überstrahlten den roten Nebel. Seine Gedanken erloschen.
Verzweifelt nach Atem ringend kam er wieder zu Bewusstsein. Eine eisige Brise schlug ihm ins Gesicht. Irgendwer hielt seinen Kopf über Wasser, und er konnte gerade gut genug atmen, um Luft und Wasser zugleich auszuhusten. Ingrey schlug mit allen Gliedmaßen um sich und fühlte sich dabei so kraftlos und schwer, als schwimme er in Öl.
»Hört auf, Euch zu wehren!«, fuhr Lady Ijada ihn an. Irgendetwas zog sich um seinen Hals zusammen, und nach einem Moment der Verwirrung wurde ihm klar, dass es wohl ihr Arm war. Er musste sie retten, ertränken, retten …
Sie kann schwimmen. Mit dieser verspäteten Einsicht erlahmten auch seine eigenen panischen Bewegungen, wenn auch nur durch den Schreck. Nun gut, er konnte auch schwimmen, auf gewisse Weise. Er hatte schon mal einen Schiffsuntergang überlebt, indem er sich, zugegeben, hauptsächlich an Dingen festgehalten hatte, die auf dem Wasser trieben. Das Einzige, was hier im Wasser trieb, schien Lady Ijada zu sein. Aber das Gewicht seiner Waffen und Stiefel musste sie beide hinunterziehen — seine Füße trafen auf irgendetwas. Die Strömung spuckte sie in einen Rückstrudel, das Flussufer wurde flacher, und dann zerrte sie ihn an das rettende Ufer.
Er entwand sich ihrem Griff und kroch auf Händen und Knien über die Felsen zur moosbewachsenen Böschung. Das Wasser strömte rosafarben aus seinen Haaren und wurde noch röter. Er schüttelte es aus den Augen und blickte triefnass umher.
Die Wälder standen an dieser Stelle dicht und verwoben. Ingrey wusste nicht genau, wie weit flussab sie getrieben waren, doch die Furt, der Karren und seine Leute waren nirgendwo zu sehen. Er zitterte vor plötzlicher Schwäche — eine Nachwirkung des Stoßes gegen den Kopf.
Ijada erhob sich. Wasser strömte aus ihren Kleidern. Sie wankte aus dem Fluss zu ihm hin und streckte die Hand aus, doch Ingrey schreckte zurück. Er legte die Arme um einen schlanken Baum, teils, um sich daran festzuhalten, teils auch, um …
»Fasst mich nicht an!«
»Was? Lord Ingrey, Ihr blutet …«
»Kommt nicht näher!«
»Lord Ingrey, wenn Ihr nur …«
Seine Stimme überschlug sich. »Mein Wolf will Euch umbringen. Er hat sich losgerissen! Bleibt weg!«
Sie verharrte und starrte ihn an. Ihre Frisur war an einigen Stellen gelöst, und Wasser tröpfelte glitzernd aus den Haaren, plätscherte stumm in den Moosteppich zu ihren Füßen — gleichmäßig und hypnotisch wie eine fremdartige Wasseruhr.
»Dreimal«, keuchte er heiser. »Das war jetzt das dritte Mal. Begreift Ihr denn nicht, dass ich gerade versucht habe, Euch zu ertränken? Ich hatte es davor schon zweimal probiert: Als ich Euch das erste Mal gesehen habe und mein Schwert zückte, da wollte ich Euch auf der Stelle durchbohren. Dann, als wir beieinander saßen, stand ich kurz davor, Euch zu erwürgen.«
Sie war bleich, nachdenklich und aufmerksam. Sie rannte nicht kreischend davon. Er wünschte sich, dass sie fortliefe — kreischend oder nicht. So lange sie nur schneller rannte als er.
»Lauft!«
Stattdessen trieb sie ihn fast in den Wahnsinn, indem sie sich gegen einen mächtigen Baumstamm lehnte und die gluckernden Stiefel auszog. Erst nachdem sie den zweiten ausgekippt hatte, sprach sie wieder: »Das war nicht Euer Wolf.«
Ingrey hatte immer noch ein Läuten im Kopf, vom Schlag gegen den Felsen. Das Flusswasser, das er geschluckt hatte, rumorte unangenehm in seinen Eingeweiden, und er stand kurz davor, sich zu erbrechen. Er begriff nicht, was sie meinte. »Was?«
»Es war nicht Euer Wolf.« Sie stellte den zweiten Stiefel neben den ersten und erklärte mit gleichförmiger Stimme: »Auf gewisse Weise kann ich den Wolf riechen. Ich rieche ihn nicht wirklich, aber mir fällt keine andere Möglichkeit ein, es zu beschreiben.«
»Er … Ich habe versucht, Euch umzubringen!«
»Es war nicht Euer Wolf. Und Ihr wart es auch nicht. Es war alle drei Male dieser andere Geruch.«
Nun machte er große Augen, und alle Worte erstarben ihm auf der Zunge.
»Ihr habt nie gefragt, wohin der Geist von Bolesos Leopard verschwand, Lord Ingrey.«
»Er kam zu mir.« Für einen wortlosen, eindringlichen Augenblick verschmolzen ihre braunen Augen mit den seinen.
»Ich … es … entschuldigt bitte«, stieß Ingrey dann mit belegter Stimme hervor. »Ich muss mich jetzt übergeben.«
Er zog sich hinter den Baum zurück, an den er sich bisher geklammert hatte — auch wenn der schmale Stamm ihm keine große Rückzugsmöglichkeit verschaffte. Er hätte sich gerne eingeredet, dass der Würgekrampf ihm Zeit verschaffte, seine fünf Sinne wieder zusammenzukriegen. Aber anscheinend war sein Verstand über die ganze Meile entlang des Flusses verstreut worden, und seinen klaren Kopf schien man ertränkt zu haben — und zwar nicht in Wein. So blieb ihm nur die Strafe, nicht aber der Lohn.
Er stolperte um den Baum zurück zum Ufer, wo Ijada gelassen die Jacke auswrang. Er gab auf und ließ sich schwer auf einem gestürzten, moosbewachsenen Stamm nieder. Der Stamm war feucht, aber Ingrey war noch feuchter, und seine nasse Lederkleidung rutschte und quietschte.
Sie sah für ihn nicht anders aus als vorher. Nun ja, durchweicht und ein wenig verwildert, aber immer noch spielte das Licht auf ihrer Gestalt, als wäre die Sonne ihr Liebhaber. Ingrey nahm keine Katzenform in ihrem Schatten wahr. Er roch nichts als sich selbst, eine Übelkeit erregende Mischung aus nassem Leder, Öl, Schweiß und Pferdegeruch.
»Ich weiß nicht, ob Boleso es so geplant hatte, dass ich den Leoparden bekam«, fuhr sie in dem gleichen, ausdruckslosen Tonfall fort, nicht abgeschreckt von der widerwärtigen Unterbrechung. »Das Tier kam zu mir, als ich Bolesos sterbenden Leib berührte und den Schlüssel suchte. Seine anderen Tierseelen blieben an ihn gefesselt und gingen mit ihm — vielleicht, weil er sie schon länger besaß oder weil das letzte Ritual nicht abgeschlossen war. Der Geist des Leoparden war verängstigt und außer sich. Er verkroch sich in meinem Geist, doch ich konnte ihn fühlen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, oder was er wohl tun konnte. Bolesos Männer waren Dummköpfe. Ich habe ihnen nichts erzählt, und niemand fragte.«
»Eure Verteidigung … das könnte Eure Verteidigung sein!«, warf er in plötzlichem Übereifer ein. »Die Raserei des Leopardengeistes hat den Prinzen getötet, nicht Ihr. Ihr wart von dem Tiergeist besessen. Das alles ist ein Unfall gewesen.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Nein«, widersprach sie. »Ich habe es Euch doch gerade gesagt. Der Leopard kam erst zu mir, als Boleso schon im Sterben lag.«
»Ja, aber Ihr könntet es andersherum erzählen. Es gibt niemanden, der Euch widersprechen könnte.«
Sie blickte ihn gekränkt an.
Ich fürchte, darauf müssen wir später noch einmal zurückkommen. Ingrey machte eine müde Geste. »Also gut. Und dann …?«
»In dieser Nacht, in meiner Zelle, hatte ich äußerst lebhafte Träume. Sonnige Wälder, kühle Täler. Ich wälzte mich mit anderen jungen Kätzchen in goldfarbenem Gras. Sie waren gefleckt und weich, doch sie hatten scharfe Zähne. Fremde Männer. Netze, Käfige, Ketten, Halsbänder. Eine Schiffsreise, dann eine Fahrt mit einem Wagen. Mehr Menschen, grausam oder freundlich. Einsamkeit. Es kamen keine Worte in diesen Träumen vor. Sie bestanden bloß aus Gefühlen und Bildern und starken Witterungen. Ein ganzer Schwall von Gerüchen, ein neuer Erdteil voller Düfte.
Zuerst glaubte ich, ich würde wahnsinnig, aber dann kam ich damit zurecht. Diese Kammer war auf gewisse Weise auch nur ein anderer Käfig; grausame und freundliche Menschen brachten Nahrung und machten sauber. Es war vertraut. Beruhigend.
In der zweiten Nacht träumte ich wieder den Leopardentraum. Aber diesmal …« Ihre Stimme zitterte. Wurde fester. »Diesmal fühlte ich eine Präsenz. Im dunklen Wald war nichts zu sehen, aber die Düfte waren wundervoll, weitaus schöner als jedes Parfüm. Jeder gute Geruch von Forst und Feld im Herbst. Äpfel und Wein, Fleisch am Spieß, knisternde Blätter und klarer blauer Himmel. Ich roch die herbstlichen Sterne und wollte aufschreien ob ihrer Schönheit. Der Geist des Leoparden streckte sich voller Freude, wie ein Hund, der seinen Herrn begrüßt, oder eine Katze, die sich an die Rocksäume ihrer Herrin drückt. Er schnurrte und buckelte und gab eifrige Laute von sich.
Danach schien der Geist des Leoparden ruhiger zu sein, nicht länger verängstigt oder ungestüm. Seither liegt er zufrieden da und wartet. Nein, er ist mehr als zufrieden — freudig. Ich habe keine Ahnung, worauf er wartet.«
»Eine Präsenz«, wiederholte Ingrey. »Kam ein … glaubt Ihr, es war ein Gott, der in der Dunkelheit zu Euch kam?«
Zweifelte er daran? »Strahlend« hatte Ingrey sie genannt, und er hatte es mit einem Sinn wahrgenommen, den er nur allzu gern verleugnete — und der nichts mit gewöhnlichem Sehen zu tun hatte. Selbst in diesen ersten, verwirrenden Augenblicken hatte er mehr darin erkannt als eine rein äußerliche Schönheit.
Doch mit einem Mal wurde Ijadas Gesicht grimmig, und sie stieß zwischen den Zähnen hervor: »Sie kam nicht zu mir, sie kam zu der verwünschten Katze. Ich bettelte darum, dass diese Präsenz zu mir käme. Aber das tat sie nicht.« Ihre Stimme wurde langsamer. »Vielleicht konnte sie es nicht. Ich bin keine Heilige, die bereit wäre, einen Gott in sich aufzunehmen.«
Ingrey harkte mit unruhigen Fingern durch das Moos. Seine aufgeplatzte Kopfhaut blutete endlich nicht mehr in seine Augenbrauen. »Wie es heißt, haben die alten Wealdländer durch ihre Tiergeister auch mit den Göttern gesprochen. Das hört man allerdings nicht von den quintarischen Geistlichen.«
Ijada presste die Zähne zusammen und blickte ihn an. Das Sengen in ihren Augen ließ ihn zurückzucken. Erst jetzt, und nur in diesem kurzen Augenblick merkte er, wie viel Entsetzen sie von Anfang an hinter ihrem beherrschten Auftreten verborgen gehalten hatte. »Verflucht, Ingrey, Ihr müsst es mir erzählen, Ihr müsst reden, sonst werde ich tatsächlich noch wahnsinnig. Wie seid Ihr zu Eurem Wolf gekommen?«
Sie fragte nicht aus Neugier, getrieben von der Lust am Klatsch. Es war das verzweifelte Bedürfnis, mehr über das eigene Schicksal zu erfahren! Und was hätte er selbst nicht vor so langer Zeit für einen erfahrenen Mentor gegeben, für einen Ratgeber, der ihm in der ersten Verwirrung hätte sagen können, wie er weitermachen sollte? Oder auch nur für einen gleichfalls verwirrten Gefährten, jemanden, der seine Erfahrungen teilte und der ihm vertraute, anstatt ihn zu verleugnen oder verrückt, befleckt oder verdammt zu nennen. Und all die Dinge, die er nicht einmal einer mitleidigen Seele hätte anvertrauen können, hatte Ijada selbst erlebt!
Es fühlte sich immer noch so an, als würde er mühsam Eimer um Eimer aus dem Brunnen seiner Erinnerung schöpfen, mit einem Seil, das ihm die Hände versengte. Er knirschte mit den Zähnen und begann:
»Ich war ungefähr vierzehn. Das alles stürzte ohne Warnung auf mich ein. Man brachte mich ohne Vorbereitung zu der Zeremonie. Mein Vater war schon seit einigen Tagen oder Wochen wegen etwas beunruhigt gewesen, aber er hatte mit niemandem darüber reden wollen. Er stiftete einen Tempelzauberer zu dem Ritus an. Ich weiß nicht, wer die Wölfe einfing, oder wie. Der Zauberer verschwand direkt danach — ob aus Angst, weil er das Ritual verpfuscht hatte, oder weil er uns vorsätzlich betrogen hatte, fand ich nie heraus. Es ging mir damals auch nicht gut genug, um Nachforschungen anzustellen.«
»Ein Zauberer?«, griff sie seine Worte auf und lehnte sich gegen einen gewaltigen Baumstamm. »Ich habe bei Boleso keinen Zauberer bemerkt. Er müsste ihn schon versteckt gehalten haben. Und wenn Boleso selbst von einem Dämon befallen war, so habe ich keine Anzeichen dafür gesehen. Wie auch? Man kann es eben nicht wahrnehmen, es sei denn, man wäre von den Göttern berührt oder selbst ein Zauberer.«
»Nein, man hätte im Tempel …« Ingrey verstummte. »Im Tempel von Ostheim hätte man gemerkt, wenn er sich einen Dämon eingefangen hätte. Dort muss es Leute geben, die feinfühlig genug dafür sind. Doch wenn er erst in jüngster Zeit davon befallen wurde, seit er im Exil lebt … dann ist er vielleicht noch niemandem begegnet, der die Gabe hatte, den Dämon zu erkennen.«
Doch was auch immer mit Boleso gewesen war, es musste schon angefangen haben, bevor er seinen Diener erschlagen hatte.
»Ich habe keine Ahnung, welche Kräfte ihm sein persönlicher Tierpark verliehen hat«, meinte Ijada. »Ich erkenne jetzt Dinge, die ich nicht mit meinen Augen sehe. Der Leopard scheint mir eine bestimmte Art von Gespür oder Wahrnehmung zu gewähren, aber«, sie ballte enttäuscht die Faust, »nicht durch Worte. Warum unterstützt Euch Euer Wolf nicht auf die gleiche Weise?«
Weil ich seit mehr als zehn Jahren damit beschäftigt bin, ihn zu beschneiden und zu fesseln. Und ich dachte inzwischen, ich wäre in Sicherheit, aber Eure Fragen ängstigen mich mehr als der Wolf in mir. »Ihr habt behauptet, da wäre etwas, ein anderer … Geruch, nicht ich oder mein Wolf, sondern etwas anderes.«
Sie blickte ihn unglücklich an. Zwei Falten bildeten sich zwischen ihren Augenbrauen, als suche sie nach Worten für etwas, das sich mit Sprache allein nicht beschreiben ließ. »Es scheint, als könne ich Seelen riechen. Oder der Leopard kann es und gibt es bruchstückhaft an mich weiter. Ich rieche Ulkra und weiß, dass ich ihn nicht fürchten muss. Aber einige andere Männer aus Bolesos Gefolge — ich weiß, dass ich ihnen besser aus dem Weg gehen sollte. Eure Seele ist wie gespalten: Da seid Ihr, und etwas darunter. Etwas Dunkles, Altes, Verstaubtes. Es rührt sich nicht.«
»Mein Wolf?« Aber sein Wolf war ein Jungtier gewesen.
»Ich … vielleicht. Aber da ist noch ein dritter Geruch. Er umschlingt Euch wie eine schmarotzende Kletterpflanze. Es hat Ranken und Wurzeln in Euren Geist geschlagen, um sich selbst zu ernähren, und pulsiert vor Euren Säften. Es flüstert. Ich denke, es ist ein Zauber oder ein Bann.«
Für einen Moment schwieg Ingrey und sah an sich herunter. Wie konnte sie unterscheiden, was in ihm war? Sein Wolfsgeist war sicherlich auch eine Art Schmarotzer. »Ist es immer noch da?«
»Ja.«
Seine Stimme klang erstickt. »Dann könnte ich im nächsten unachtsamen Moment wieder versuchen, Euch umzubringen.«
»Vielleicht.« Sie kniff die Augen zusammen und weitete die Nüstern, als suche sie eine Wahrnehmung, die nichts mit den Sinnesorganen des Körpers zu tun hatte. Ebenso aussichtslos wie der Versuch, mit den Händen zu sehen oder mit den Ohren zu schmecken … »Solange es nicht ausgejätet wird.«
Seine Stimme wurde noch leiser. »Warum lauft Ihr nicht fort? Ihr solltet fliehen.«
»Versteht Ihr denn nicht? Ich muss zum Tempel von Ostheim. Ich muss Hilfe suchen. Und Ihr bringt mich so schnell dorthin, wie es nur möglich ist.«
»Die Geistlichen waren mir nie eine Hilfe«, stellte Ingrey verbittert fest. »Sonst wäre ich nicht immer noch heimgesucht. Jahrelang habe ich mich abgemüht — den Rat von Theologen eingeholt, von Zauberern, sogar von Heiligen. Ich bin den ganzen Weg nach Darthaca gereist, um dort einen Heiligen des Bastards aufzusuchen, der angeblich Dämonen aus der Seele von Menschen vertreiben und damit abtrünnige Zauberer entmachten kann. Doch selbst er konnte den Wolfsgeist nicht von mir lösen. Weil, so erklärte er mir, der Wolf aus dieser Welt kommt und nicht aus der anderen. Und hierüber hat sogar der Bastard keine Macht, auch wenn er über eine Unzahl Unheil stiftender Dämonen gebietet und sie nach seinem Willen zusammenrufen oder entlassen kann.
Wenn sogar die Heiligen keine Hilfe gewähren können, muss die gewöhnliche Tempelobrigkeit erst recht nutzlos bleiben. Und schlimmer als nutzlos, eine Gefahr! Der Tempel von Ostheim ist das Werkzeug der Mächtigen, und wie es aussieht, habt Ihr die Mächtigen verärgert.«
Sie musterte ihn eindringlich. »Wer hat Euch diesen Bann auferlegt? Muss es denn jemand Mächtiges gewesen sein?«
Er machte den Mund auf und schloss ihn wieder. »Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß es nicht. Es verschwimmt alles, wenn ich darüber nachdenke. Wenn ich nicht gerade daran erinnert werde, vergesse ich zwischendurch sogar, dass ich Euch töten wollte. Eine kurze Unaufmerksamkeit von mir könnte tödlich für Euch enden.«
»Dann werde ich Euch daran erinnern«, kündigte sie an. »Es sollte leichter sein, jetzt, wo wir beide davon wissen.«
Als er den Mund aufmachte, um zu protestieren, hörte er ein krachendes Geräusch im Wald. Ein Mann rief: »Lord Ingrey?«, und ein anderer: »Ich habe beim Fluss Stimmen gehört … hier entlang …«
»Sie kommen!« Er kämpfte sich auf die Füße, schwankte vor Benommenheit und streckte flehend die Hände zu ihr aus. »Flieht! Ehe sie uns entdecken.«
»Etwa so?«, empörte sie sich und strich mit der Hand über ihr nasses Reitkleid, wies auf die bloßen Füße. »Bis auf die Knochen durchweicht, ohne Geld, ohne Waffen, ohne Hilfe soll ich also in den Wald laufen und … was? Mich von einem Bären fressen lassen?«
Sie reckte entschlossen das Kinn vor. »Nein. Boleso kommt aus Ostheim. Euer Bann kommt aus Ostheim. Dort müssen wir dem Übel auf den Grund gehen. Ich werde mich nicht davon abhalten lassen …«
»Irgendjemand dort will Euch töten, um Euer Schweigen sicherzustellen. Er hat es bereits versucht. Er würde vielleicht auch mich umbringen.«
»Dann solltet Ihr besser nicht darüber schwatzen, solange jedermann zuhören kann.«
»Ich schwatze nicht«, erwiderte er erbost, aber dann waren auch schon ihre Retter heran: zwei von Ingreys Leuten zu Pferd, die sich den Weg durchs Unterholz freischlugen. Jetzt wollte er mit ihr reden und konnte es nicht.
»Herr!«, rief Ritter Gesca froh. »Ihr habt sie gerettet!« Da Ijada diese Fehleinschätzung nicht korrigierte, tat Ingrey es auch nicht. Er wich ihrem Blick aus und ging seinen Leuten entgegen.