Kapitel Elf

Als Ingrey dem Flur zur Seitentür auf den Tempelhof folgte, gellte ein Entsetzensschrei zwischen den Mauern wider. Er beschleunigte seine Schritte, erst von Neugier, dann von Besorgnis getrieben, als weitere Schreie folgten. Bestürzte Rufe wurden laut. Ingrey fasste nach dem Griff seines Schwertes und stürmte auf den Platz. Seine Blicke zuckten hin und her auf der Suche nach der Ursache des Aufruhrs.

Ein absonderliches Getümmel drängte sich durch den Torbogen, der zum Schrein des Vaters führte. Zuvorderst kam der große Eisbär. Zwischen den Kiefern hielt er den Fuß des Verstorbenen, einem bejahrten Mann, der die Kleidung eines wohlhabenden Kaufmanns trug. Als der Bär knurrte und den Kopf schüttelte, wurde der steife Leichnam hin- und hergeschleudert wie eine große Puppe. Am Ende der Silberkette, die am Halsband des Bären befestigt war, stolperte der Tierpfleger. Einige der mutigeren oder verzweifelteren Trauergäste liefen hinterdrein und riefen dem Pfleger wild durcheinander Ratschläge zu.

Der verängstigte Pfleger rückte näher an den Bären heran, zerrte an der Kette, griff dann nach dem Arm des Leichnams und zog. Der Bär erhob sich halb auf die Hinterbeine und schlug mit einer mächtigen Pranke zu. Der Tierpfleger taumelte zurück, kreischte lauthals und hielt sich die Seite. Rote Tropfen fielen zu Boden.

Ingrey zog das Schwert und stürmte vor. Schliddernd kam er vor dem wütenden Tier zum Stehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Fürst Jokol, der von seinem Begleiter zurückgehalten wurde und auf ihn zustürzen wollte. »Nein, nein, nein!«, rief der Rothaarige besorgt. »Fafa dachte doch nur, sie bringen ihm etwas zu Fressen! Nein, tut ihm nichts!«

Mit ihm, erkannte Ingrey, meinte Jokol den Bären

Der Bär ließ seine Beute fallen und richtete sich auf. Richtete sich höher auf. Und noch höher … Ingrey legte den Kopf in den Nacken und riss die Augen auf beim Anblick der gewaltigen Kiefer, der breiten Schultern und der riesigen Pranken mit den gefährlich aussehenden Krallen, die über ihm schwebten.

Alles um ihn her schien sich zu verlangsamen. Ingreys Sinne schärften sich im düsteren Frohlocken des Wolfes, der aufstieg und die Oberhand über ihn gewann, als würde er vom Herzen in seinen aufgewühlten Verstand gepumpt. Der Lärm im Innenhof wurde zu einem fernen Grollen. Das Schwert in Ingreys Hand fühlte sich gewichtslos an; die Spitze hob sich und schwang dann glitzernd zu einer Ausholbewegung zurück. Schon sah Ingrey im Geiste, wie der Stahl in das Herz des Bären drang und wieder hervorkam, ehe das Tier — gefangen in jener anderen, trägeren Zeit — reagieren konnte.

Und dann fühlte er mehr, als dass er es sah, dass der Bär göttliches Licht versprühte, wie die Funken einer Katze, wenn sie an einem finsteren Winterabend gestreichelt wurde. Die Schönheit dieses Lichts verwirrte Ingrey und brannte ihm in den Augen. Seine geschärften Sinne streckten sich danach, griffen nach dem entschwindenden Gott — und plötzlich fand sein Verstand sich in dem des Bären wieder.

Er sah sich selbst, perspektivisch verkürzt: Das überlagerte Bild eines in Leder gehüllten Mannes mit Schwert und eines großen, schattenhaften Wolfes mit glänzendem, silberspitzigem Fell, von dem eine Aureole aus Licht ausging. Wie sein eigenes Herz nach dem göttlichen Licht strebte, so strebten die benommenen Sinne des Bären zu ihm, und einen Augenblick lang entstand zwischen diesen drei Punkten ein vollendeter Kreis.

Eine belustigte Stimme in seinem Innern murmelte: »Wie ich sehe, hat der Welpe meines Bruders sich entwickelt. Gut. Mach ruhig weiter …« Ingreys Verstand schien unter der Last und dem Druck dieser Worte zu explodieren.

Einen Moment lang teilte er die verschwommenen, wortlosen Erinnerungen des Bären. Die vorangegangene Prozession in die Halle des Vaters, mit den anderen Tieren um ihn her. Die Aufregung des Pflegers, der Gestank seiner Angst, aber auch der vertraute Geruch und die Stimme im Hintergrund, die ihm Halt und Ruhe in dieser verwirrenden Welt aus Stein boten. Stimmen, deren monotones Summen um ihn her immer weiter und weiter ging … und dann dehnte sich sein Bärenherz und verging unter der alles überwältigenden Ankunft des Gottes, gefolgt von einer glücklichen Gewissheit, mit der er auf die Bahre zustrebte. Und dann Verwirrung und Schmerz. Der kleine Mann, der am Ende seiner Kette hing, zerrte ihn zurück, riss an dem Halsband, bestrafte ihn für das, was er tat, versagte ihm sein Glück. In dem Bemühen, seine gottgegebene Aufgabe zu vollenden, sprang er vor. Weitere der winzigen Gestalten liefen ihm in den Weg. Wilder Zorn stieg in seinem Geist auf wie eine Woge, und er packte diesen kalten, eigentümlich riechenden Klumpen aus Fleisch und tappte damit auf das lachende Licht zu, das ihn rief und überall und nirgends zugleich war.

Die gewaltige Kreatur knurrte vor Schmerz und Zorn, ragte wie ein Berg aus Fell und Muskeln über Ingrey auf.

Ingrey schien tief in seine Brust, seinen Bauch, seine Eingeweide zu greifen und brachte ein einziges Wort hervor: »Platz!« Der Befehl flog gleichsam durch die Luft, mit der Wucht eines Steines, von einem Katapult abgefeuert.

Die Schwertspitze beschrieb einen Bogen und wies in funkelndem Halbkreis zum Pflaster vor seinen Füßen. Die Schnauze des Bären folgte der Bewegung nach unten, und weiter nach unten, bis das riesige Tier vor Ingreys Stiefeln kauerte und die Schnauze gegen die Steine presste, die Pranken dicht an den Kopf gelegt. Seine fülligen Hüften ragten hinter ihm empor. Die gelblichen Augen blickten ihn in bärenhaftem Erstaunen und Ehrfurcht an.

Ingrey sah sich finster um, bis er den geweihten Tierpfleger erblickte, der auf Händen und Knien davonkroch. Seine Gewänder waren blutig, die Augen bei Ingreys Anblick noch furchtsamer aufgerissen als zuvor beim Anblick des Bären. Die Klauen hatten seine Rippen kaum gestreift, sonst hätte der Hieb ihm durchaus die Eingeweide herausreißen können. Die Wut des Bären brodelte noch immer in Ingreys Verstand. Mit einem Scheppern ließ er das Schwert zu Boden fallen, ging zu dem Mann, hob ihn vorn an der Kleidung hoch und rammte ihn gegen den Sockel des heiligen Herdfeuers. Der Mann war so groß wie Ingrey und in den Hüften noch breiter, doch in Ingreys Griff schien er zu schweben. Ingrey beugte ihn zurück über die Feuersglut. Die Füße des Tierpflegers zappelten, und sein Kreischen wurde schriller und verstummte dann.

»Was hat man dir bezahlt, um den Segen deines Gottes zu hintertreiben? Wer hat diesen Frevel begangen?«, rief Ingrey dem Pfleger in das verzerrte Gesicht.

»Es … es tut mir Leid!«, wimmerte der Tierpfleger. »Arpan hat gesagt … hat gesagt, es würde niemandem schaden …«

»Er lügt!«, rief der Pfleger in den Farben des Vaters. Er zerrte den verängstigten grauen Hund an der Leine hinter sich her, in einem weiten Bogen um den immer noch am Boden kauernden Bären.

Die Augen des weiß gekleideten Tierpflegers blickten wie gebannt auf die von Ingrey, die nur Zentimeter vor seinem Gesicht schwebten. Er holte tief Luft und rief: »Ich gestehe! Tut es nicht …«

Was nicht tun? Mühsam beherrscht richtete Ingrey sich auf, öffnete die Hände und ließ den Mann wieder auf die Füße fallen. Doch er sank zu Boden, mit weichen Knien, bis er als blutiges Bündel schluchzend am Fuß des Sockels kauerte.

»Nij, du Dummkopf!«, rief der Pfleger des Vaters. »Halt die Klappe!«

»Ich konnte nicht anders!«, erwiderte der Tierpfleger des Bastards unter Tränen. Er duckte sich von Ingrey weg. »Seine Augen glänzten silbern, und seine Stimme trug einen furchtbaren Zauber in sich!«

»Dann hast du ihm hoffentlich gut zugehört«, sagte eine kalte Stimme an Ingreys Seite.

Ingrey zuckte zurück und bemerkte den Gelehrten Lewko, der außer Atem neben ihm stand und sich das Durcheinander anschaute. Seine fest zusammengebissenen Zähne verrieten seine Verärgerung.

Ingrey atmete tief durch und versuchte verzweifelt, seinen rasenden Puls zu mäßigen, die Zeit in ihren normalen Gang zurückzuzwingen und seine geschärften Sinne zu beruhigen. Licht, Schatten, Farben, Geräusche — all das prasselte auf ihn ein wie Axthiebe, und die Menschen um ihn her glosten wie Feuer. Allmählich wurde ihm bewusst, wie viele Menschen ihn anstarrten, die Münder weit aufgerissen: ungefähr dreißig Trauergäste, der Geistliche, der die Andacht geleitet hatte, alle fünf geweihten Tierpfleger, Prinz Jokol und sein sprachloser Freund und jetzt auch noch der Gelehrte Lewko, der nicht im mindesten sprachlos wirkte.

Ich habe meinen Wolf losgelassen, stellte Ingrey benommen fest. Vor vierzig Zeugen, mitten auf dem Hof des großen Tempels von Ostheim.

Aber zumindest habe ich den weißen Gott damit erheitert …

»Hochwürden. Hochwürden, helft mir. Gnade …«, murmelte der verwundete Tierpfleger, kroch zu Lewkos Füßen und griff nach dem Saum seines Gewandes. Das aber schien Lewkos Ärger nur weiter zu entfachen.

Ein Dutzend Leute rief nun durcheinander und beschuldigte sich gegenseitig der Bestechung und Erpressung, während die Trauergäste sich in zwei Lager spalteten. Anscheinend stand eine Erbschaft auf dem Spiel, den Wortfetzen nach zu urteilen, die Ingrey vernahm, obwohl dieser Teil der Auseinandersetzung sich sogleich mit anderem alten Groll mischte, mit Kränkungen und gegenseitiger Abneigung. Der bedauernswerte Geistliche, der die Bestattungszeremonie geleitet hatte, versuchte vergeblich, für Ruhe zu sorgen, während er gleichzeitig dem Tierpfleger mit Bestrafung drohte. Doch als er in beidem nicht weiterkam, suchte er sich ein leichteres Opfer für seinen Zorn.

Er wirbelte zu Fürst Jokol herum und wies mit zitternder Hand auf den Bären. »Nehmt das Untier zurück«, keifte er.

»Schafft es sofort aus dem Tempel! Und kehrt nicht wieder zurück!«

Der hünenhafte Rothaarige schien den Tränen nahe zu sein. »Aber man hat mir einen Geistlichen versprochen! Wenn ich keinen mit zurück auf meine Insel bringe, wird meine liebliche Breiga mich nicht heiraten!«

Ingrey schob sich mit vorgerecktem Kinn dazwischen und legte alle Autorität des meistgefürchteten Schwertarms von Siegelmeister Hetwar in seine Stimme. »Der Tempel von Ostheim wird Euch einen Missionar im Austausch für Eure Silberbarren geben, Fürst.« Eisig ließ er den Blick auf dem aufgebrachten Geistlichen ruhen.

Mit einer Stimme, die verglichen mit allen anderen Anwesenden beispiellose Gelassenheit erkennen ließ, sagte der Gelehrte Lewko: »Die Kirche wird alles zum Rechten wenden, Fürst, wenn wir erst einmal diesen bedauernswerten internen Fehler hier ausgebügelt haben. Es hat den Anschein, als wäre Euer großartiger Bär das Opfer gottloser Machenschaften. Doch könnt Ihr für den Augenblick Fafa auf Eurem Schiff in sichere Verwahrung nehmen?«

An Ingrey gewandt fügte er halblaut hinzu: »Und Ihr, Lord Ingrey, würdet mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Ihr mitgeht und dafür Sorge tragt, dass sie beide dort ankommen, ohne unterwegs irgendwelche kleinen Kinder zu fressen.«

Ingrey empfand unbeschreibliche Erleichterung bei dem Gedanken, von hier zu entkommen. »Gewiss, Hochwürden.«

Mit gesenkten Augenlidern fügte Lewko hinzu: »Und kümmert Euch darum.«

Ingrey folgte dem Blick. Frisches Blut tropfte in einem dunklen Rinnsal unter dem fleckigen Verband an seiner Rechten hervor und rann die Finger hinunter. Vermutlich war eine halb verheilte Wunde aufgeplatzt, als er den schuldigen Tierpfleger so grob angefasst hatte. Er hatte gar nichts davon gespürt.

Er blickte wieder auf und fand sich selbst von lodernden blauen Augen fixiert. Jokol beugte den Kopf zu einem hastigen, geflüsterten Wortwechsel mit seinem braunhaarigen Begleiter.

Dann sah er wieder auf und bedachte zuerst Lewko, dann Ingrey mit einem knappen Nicken. »Ja. Den mögen wir, was, Ottovin?« Er versetzte seinem Gefährten einen Stoß in die Rippen, der einen schwächer gebauten Mann zu Boden gestreckt hätte, stapfte dann zu seinem Bären hinüber und hob die Silberkette auf. »Komm, Fafa.«

Der Bär winselte und schob sich ein wenig über den Boden, verblieb aber in seiner zusammengekauerten Haltung.

Lewko legte die Hand auf Ingreys Schulter. Fast unhörbar hauchte er ihm ins Ohr: »Lasst ihn wieder aufstehen, Lord Ingrey. Ich glaube, er hat sich beruhigt.«

»Ich …« Ingrey trat dichter an den Bären heran, hob sein Schwert auf und steckte es wieder in die Scheide. Der Bär schob sich noch ein wenig weiter und drückte die schwarze Nase gegen Ingreys Stiefel. Mitleid erregend blickte er zu ihm auf. Ingrey schluckte und brachte mit krächzender Stimme hervor: »Auf.«

Nichts geschah. Der Bär wimmerte.

Ingrey griff tief, sehr tief in jenen Grund in seinem Innern und brachte das Wort noch einmal hervor — doch diesmal als Wort von Gewicht, ein knurrender Laut, der seine Knochen vibrieren ließ: »Auf!«

Das große Tier trottete zu seinem Herrn, und Jokol fiel auf die Knie und streichelte den riesigen Bären, zauste mit den Händen durch den dichten Pelz am Nacken, flüsterte beruhigende Koseworte in einer Sprache, die Ingrey nicht verstand. Der Eisbär rieb den Kopf am bestickten Kittel des Fürsten und verschmierte Speichel und weiße Haare darauf.

»Komm, mein Freund. Fafas Freund!«, sagte Jokol und erhob sich mit einer ausladenden Geste zu Ingrey. »Komm, teile eine Schale mit mir.« Er schüttelte kurz die Silberkette. Sein Blick glitt über die immer noch streitende Menge hinweg, und mit einem verächtlichen Schnauben wandte er sich dem Ausgang zu. Ottovin verzog das Gesicht und folgte. Ingrey beeilte sich, sie einzuholen, und achtete darauf, dass Jokol zwischen ihm und dem Bären blieb.

Das kurze, eigenartige Defilee zog aus dem Tempel und überließ es dem Gelehrten Lewko, mit der Unruhe fertig zu werden, die sie zurückließen. Ingrey hörte Lewkos scharfe Stimme, die an den immer noch wehklagenden Tierpfleger und jeden anderen in Hörweite gerichtet war: »… dann muss es eine Täuschung durch das Licht gewesen sein.« Als Ingrey ein letztes Mal über die Schulter blickte, kreuzte sich sein Blick mit dem Lewkos, und dessen Lippen bildeten das Wort Morgen. Ingrey fand dieses Versprechen beunruhigend, aber glaubwürdig.

Seine Augen glänzten silbern, und seine Stimme trug einen furchtbaren Zauber in sich … Ingrey durchfuhr ein vertrauter Schmerz, und er erkannte, dass er mit seinem noch nicht verheilten Rücken einige unkluge Dinge angestellt hatte, ebenso mit der Hand. Nur das Klingeln in seinen Ohren und die Enge in seiner rauen Kehle waren neu.

Unangenehme Erinnerungen an all die Qualen, die er in Birkenhain hatte erdulden müssen, stiegen in ihm auf. Wie sein Kopf in den Birkbach getaucht wurde und seine Lungen vor Schmerzen zu bersten drohten. In der atemlosen Kälte hatte er nicht mal einen Schrei hervorgebracht. Von allen Schindereien, die man an ihm ausprobiert hatte, war diese die wirksamste gewesen; deshalb hatten seine ratlosen Betreuer auch oft davon Gebrauch gemacht, bis er wieder bei Sinnen gewesen war. Die Kraft seines Schweigens, die so verbissen gewirkt hatte, als er ein Kind gewesen war, war in diesem eisigen Strom geschmiedet und gehärtet worden, bis sie stärker war als seine Peiniger, stärker als seine Furcht vor dem Tod.

Er löste sich von diesen beunruhigenden Erinnerungen und widmete sich der Aufgabe, die Seeleute zurück zum Hafen der Königsstadt zu bringen und dabei die am wenigsten bevölkerten Gassen auszuwählen. Lewkos Besorgnis wirkte kaum noch wie ein Scherz, als sie einen Rattenschwanz aufgeregter Kinder hinter sich herzogen, die auf den Bären zeigten und aufgeregt riefen und schwatzten. Jokol grinste ihnen zu. Ingrey schaute finster drein und verscheuchte die Kinder. Allmählich schwächten seine übernatürlich geschärften Sinne sich ab, und auch sein Herz beruhigte sich wieder. Jokol und Ottovin unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache und warfen Ingrey häufig Blicke zu.

Jokol ließ sich zurückfallen und ging neben Ingrey her. »Ich danke dir, weil du dem armen Fafa geholfen hast, Lord, Lord Ingriry. Ingorry?«

»Ingrey.«

Jokol verzog entschuldigend das Gesicht. »Ich fürchte, in eurer Sprache bin ich sehr dumm. Nun, meine Zunge wird lernen.«

»Ihr sprecht sehr gut Wealdisch«, stellte Ingrey taktvoll fest. »Mein Darthacan ist kaum besser, und Eure Sprache beherrsche ich überhaupt nicht.«

»Ah, Darthacan.« Jokol zuckte die Achseln. »Eine schwere Sprache.« Er kniff die blauen Augen zusammen. »Schreibst du?«

»Ja.«

»Das ist gut. Ich kann es nicht.« Der hünenhafte Mann seufzte trübsinnig. »Da drin zerbrechen alle Federn.« Er streckte seine massige Hand aus, damit Ingrey sie betrachten konnte. Ingrey nickte und bemühte sich, ein wenig Mitgefühl zu zeigen. Er hatte nicht den geringsten Zweifel an Jokols Worten.

Sie folgten dem langsamen Trott des Eisbären und erreichten schließlich das Tor in den Mauern der Königsstadt, das hinaus auf den steinernen Uferdamm führte, von wo man zu den hölzernen Anlagestellen gelangte. Ein Wald von Masten und Spieren zeichnete sich als schwarzes, verflochtenes Netz vor dem helleren Abendhimmel ab. Die Lastkähne der Flussschiffer waren größtenteils flach und einfach gebaut. Doch zwischen ihnen sah man auch einige schnittige Fahrzeuge, die von der Mündung des Storchenflusses heraufgefahren waren. Oberhalb von Ostheim gab es keine Schiffe, denn zwischen den Anhöhen bildeten sich unüberwindliche Stromschnellen. Allerdings ließ man regelmäßig Holz und andere Waren mit Flößen oder in Fässern den Fluss hinabtreiben, wann immer das Wasser hoch genug stand.

Jokols Schiff lag der Länge nach festgemacht an einem Steg und bot einen völlig ungewohnten Anblick. Es war gut vierzig Fuß lang, in der Mitte gerundet und ausladend wie die Hüften einer Frau. An beiden Enden lief es spitz zu, in jeweils einem hoch aufgeschwungenen Bug, der mit ineinander greifenden Seevögeln beschnitzt war. Es besaß nur ein einzelnes Deck. Während der Reise waren die Passagiere offensichtlich schutzlos den Elementen ausgesetzt. Im Augenblick allerdings war über der hinteren Hälfte ein großes Zelt aufgestellt worden.

Für den Fluss sah das Schiff groß genug aus, doch es erschien Ingrey aberwitzig, sich in so einem winzigen Gefährt hinaus aufs Meer zu wagen. Es wirkte sogar noch kleiner, als der Bär an Bord trottete, umherschnüffelte und sich dann mit einem tiefen, erschöpften Seufzer mitten auf Deck zu Boden fallen ließ, wo sich offenbar sein gewohnter Aufenthaltsort befand. Das Boot schaukelte heftig und beruhigte sich dann wieder, während Jokol die Kette an einen Haken am Mast befestigte. Mit einem besorgten Lächeln bedeutete Ottovin Ingrey, auf die wackelige Planke zu treten, die als Landungssteg diente, und sprang dann hinter ihm aufs Deck. In der Dämmerung schimmerten die Lampen aus dem Zelt einladend, und Ingrey fühlte sich an die kleinen Holzbötchen erinnert, die er und sein Vater mit Kerzen bestückt zum Tag des Sohnes auf dem Birkbach hatten schwimmen lassen … in glücklicheren Zeiten, bevor die Wölfe ihre Welt verschlungen hatten.

Vielleicht zwei Dutzend Besatzungsmitglieder hießen ihren Fürsten glücklich willkommen, und den Bären vielleicht nicht glücklich, aber zumindest als vertrauten Anblick. Sie alle sahen kräftig aus, wenn auch keiner so groß war wie ihr Anführer: Die meisten waren jung, doch einige zeigten ein verwittertes Aussehen. Ein paar trugen ihr Haar zu Pferdeschwänzen zurückgebunden, andere geflochten, und einer hatte sich den Kopf rasiert. Nach seiner blassen, rot gefleckten Kopfhaut zu urteilen konnte es allerdings auch ein verzweifelter Versuch sein, irgendwelches Ungeziefer loszuwerden. Keiner von ihnen war schlecht gekleidet, und niemand war schlecht ausgerüstet, wie Ingrey mit raschem Blick auf die Waffen feststellte, die ordentlich mitsamt den Rudern entlang der Bordwand verstaut waren. Diener, Krieger, Seeleute, Ruderer? Alle Männer hier taten alle Arbeiten, nahm Ingrey an. Bei rauer See gab es auf diesem Boot keinen Platz für sinnlose Unterscheidungen.

Jetzt, wo der Bär abgeliefert war, dachte Ingrey über seinen Rückzug nach. Doch als Hetwars Dienstmann sollte er wohl besser Prinz Jokols Schale annehmen, damit er für keine Beleidigung sorgte, die auf den Siegelbewahrer zurückfallen konnte. Er ging davon aus, dass es sich nur um eine kurze Förmlichkeit handelte. Jokol lud Ingrey in das Zelt ein, das eine geräumige Halle bildete. Es war aus Wolle gefertigt, die man mit Fett gegen Wasser abgedichtet hatte. Ingrey sagte sich, dass seine Nase sich bald an den Geruch gewöhnen würde. Zwei Tischplatten waren im Innern aufgebockt worden, mit Bänken davor, und eine weitere Bank stand an der Seite. Dorthin führte Jokol Ingrey und setzte sich dann an seine Seite, während Ottovin auf der anderen Platz nahm. Die übrigen Männer schwärmten umher und verteilten rasch Bestecke und Essen.

Ein rotblonder junger Mann mit üppigem roten Vollbart verbeugte sich vor den dreien und verteilte hölzerne Schalen. Ein weiterer Mann kam mit einem Krug hinterher, aus dem er eine trübe Flüssigkeit ausschenkte, erst dem Gast, dann dem Fürsten und dann Ottovin. Ein dunstiger Hauch stieg von dem Gebräu auf. Ottovin, dessen Wealdisch holpriger war als das Jokols, gab Ingrey zu verstehen — unterstrichen von verwirrenden Gesten —, dass dieser Trunk aus Stutenmilch gemacht war oder vielleicht aus Pferdeblut. Oder Pferdepisse, befand Ingrey nach dem ersten Schluck. Wenn dieses Geräusch ein Wiehern hatte sein sollen, hatten Pferde jedenfalls irgendetwas damit zu tun. Nun, er würde diese eine Schale der Höflichkeit halber herunterwürgen und sich dann verabschieden. Er konnte auf seine Pflicht gegenüber Hetwar verweisen und sich höflich zurückziehen.

Am anderen Ende des Zeltes wurden eine Feuerpfanne und eine provisorische Küche aufgestellt. Der Geruch nach gebratenem Fleisch ließ Ingrey das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Bald werden wir viel essen«, versicherte Jokol ihm mit dem Lächeln des eifrigen Gastgebers.

Ingrey würde irgendwann etwas essen müssen, so viel war sicher; außerdem schien es eine gewagte Ausschweifung zu sein, unmittelbar vor einer Unterredung mit dem Siegelbewahrer dieses scharfe Gebräu auf nüchternen Magen zu trinken. Er nickte. Jokol klopfte ihm auf den Rücken und grinste.

Jokols Lächeln verschwand, als sein Auge auf Ingreys blutige Rechte fiel. Der Fürst fasste einen seiner Begleiter am Ärmel und flüsterte ihm einen Befehl zu. Kurz darauf kam einer der älteren Männer mit einer Waschschüssel, Tüchern und einem Packen herbei. Er verbannte Ottovin von der Bank und gab Ingrey zu verstehen, dass er ihm die verletzte Hand reichen solle. Als er die schmutzige Bandage abnahm, zuckte der Mann beim Anblick des neuen Risses und der älteren, dunkelroten Schürfwunden zusammen. Ottovin, der sich über sie beugte, um zuzusehen, pfiff kurz und sagte irgendetwas, das Jokol in helles Gelächter ausbrechen ließ. Jokol reichte Ingrey höflich die Trinkschale an, bevor der grauhaarige Krieger erneut an seinem Fleisch herumstocherte und nähte. Als die Hand verbunden war, packte der Bursche die Ausrüstung wieder zusammen und verschwand mit einem Nicken. Ingrey kämpfte gegen das starke Bedürfnis an, in einem Schwindelanfall den Kopf nach vorn zwischen die Knie sinken zu lassen. Es war offensichtlich, dass er im Augenblick nirgendwo hingehen würde.

Wie versprochen gab es bald Essen, und zwar reichlich. Zum Glück gehörte kein Dörrfisch dazu, auch kein steinhartes, haltbares Brot oder irgendwelche andere abstoßende Seefahrerkost. Stattdessen schien man die Zutaten des Mahls frisch auf dem Markt gekauft zu haben. Die Köche der edlen Häuser von Ostheim brachten vielleicht raffiniertere Speisen zustande, aber das Essen war gut, weit besser als die Lagerküche, die Ingrey erwartet hatte. Er widmete dem Mahl die Aufmerksamkeit, die es verdiente, und schaffte es nicht, den Burschen abzuwehren, der ihm immer wieder das Trinkgefäß nachfüllte, sobald es halb leer war.

Es war Nacht geworden, als die Männer sich ernsthaft den Versuchen ihrer vergnügten Kameraden widersetzten, neue Speisen auf ihre Teller zu laden. Ingreys Plan, durch die Zeit und das Essen so weit auszunüchtern, dass er aufstehen und den Palast des Siegelbewahrers aufsuchen konnte, brauchte noch mehr Zeit. Oder weniger Essen … Die Lampen strahlten hell auf die geröteten, schimmernden Gesichter ringsum.

Aus einem Stimmengewirr trat schließlich ein einzelner Mann hervor und richtete eine Bitte an den Fürsten. Dieser lächelte und schüttelte den Kopf, schien sich dann aber auf einen Kompromiss einzulassen, für den er wohl irgendwie Ottovin ausliefern musste.

»Sie wollen Geschichten«, flüsterte Jokol Ingrey zu, während Ottovin aufstand, einen bestiefelten Fuß auf die Bank setzte und sich räusperte. »Wir werden heute Nacht viele hören.«

Inzwischen wurde ein neues Getränk angeboten. Ingrey nippte vorsichtig daran. Dieses hier schmeckte nach Kiefernnadeln und Lampenöl, und selbst Jokols Männer tranken es aus kleinen Gläsern.

Ottovin setzte zu einem Vortrag an, in der volltönenden Redeweise der Inseln, die von einem abwechslungsreichen Versmaß getragen zwischen den Zeltplanen umherzuspringen schien. Irritierenderweise schien der Dialekt gerade so weit von Ingreys Verständnis entfernt zu liegen, dass er dann und wann ein bekanntes Wort aus dem Strom emportauchen hörte, insgesamt dem Vortrag aber doch nicht folgen konnte. Ob es dem Wealdischen verwandte Begriffe oder nur zufällige Klangähnlichkeiten waren, wusste Ingrey nicht zu sagen.

»Er erzählt die Geschichte von Yetta und den drei Kühen«, flüsterte Jokol Ingrey zu. »Sie ist sehr beliebt.«

»Könnt Ihr sie mir übersetzen?«, flüsterte Ingrey zurück.

»O nein!«

»Zu schwierig?«

Jokol blickte verlegen drein und errötete. »Zu unanständig.«

»Was? Und auf dem Gebiet fehlt Euch der Wortschatz?«

Jokol kicherte fröhlich, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Im Takt von Ottovins Stimme klopfte er sich mit der Hand aufs Knie. Ingrey erkannte, dass er soeben einen Scherz zustande gebracht hatte. Über alle sprachlichen Hürden hinweg. Und ohne jemanden zu beleidigen. Er lächelte benommen und nahm einen weiteren Schluck von den flüssigen Kiefernnadeln. Die Männer, die sich auf den Bänken drängten oder am Rand des Zeltes aufgereiht standen, lachten dröhnend, und Ottovin verbeugte sich und nahm wieder Platz. Dann holte er das versäumte Trinken nach; anscheinend war es üblich, den Becher auf einen Zug zu lehren. Die Seeleute applaudierten und riefen nach ihrem Fürsten, der schließlich nachgab und sich erhob. Nach kurzem Scharren und Murmeln wurde es so still im Zelt, dass Ingrey die Wellen des Flusses leise gegen die Bordwand schlagen hörte.

Jokol holte tief Luft und begann. Nach den ersten Sätzen erkannte Ingrey, dass er einer Versdichtung lauschte, die aus Stabreimen bestand. Einige Minuten später wurde ihm klar, dass es weder ein kurzer noch einfacher Vortrag werden würde.

»Es ist eine Heldengeschichte«, vertraute Ottovin Ingrey im üblichen Flüstern an. »In letzter Zeit hört man von ihm nur noch Geschichten mit Liebe.«

Das Geräusch von Jokols Stimme lullte Ingrey ein wie das Schaukeln eines Bootes, einer Wiege oder eines Pferdes. Der Rhythmus geriet nie ins Stocken, nie schien er innehalten zu müssen, um nach einem Wort oder einem Ausdruck zu suchen. Mitunter kicherten seine Zuhörer, manchmal schnappten sie nach Luft, aber meistens saßen sie mit offenem Mund da wie verzaubert. Das Lampenlicht spielte über ihre Gesichter und brachte die Augen zum Glänzen.

»Hat er das alles auswendig gelernt?«, flüsterte Ingrey verwundert. Als Ottovin ihn verständnislos ansah, wiederholte er mit einer Geste gegen seine Stirn: »Sind die Worte alle in seinem Kopf?«

Ottovin lächelte stolz. »Die und noch hundertmal hundert mehr. Warum nennen wir ihn denn Schädelspalter? Er lässt unsere Köpfe bersten mit seinen Geschichten. Meine Schwester Breiga wird die glücklichste aller Frauen, ja.«

Ingrey lehnte sich auf der Bank zurück und schluckte ein paar weitere Kiefernnadeln. Dabei dachte er über die Fallstricke der Sprache nach. Und über voreilige Annahmen.

Nach einer verblüffend langen Zeit kam Jokol zum Ende, begleitet vom begeisterten Applaus seiner Männer. Sie jubelten, als er seinen Schnaps hinunterstürzte. Er grinste verlegen und winkte ab, als sie sofort mehr hören wollten und lautstark darüber diskutierten, was als Nächstes folgen sollte. »Bald, bald! Bald bin ich wieder für euch da«, versprach er, legte den Finger auf die Lippen und setzte sich kurz hin. Er lächelte abwesend.

Einer der anderen Männer ergriff nun das Wort, wenn auch diesmal nicht in Versform. Dem Gejohle nach zu urteilen war es wieder eine Geschichte, die Fürst Jokol aus Schüchternheit nicht übersetzen würde.

»Ah«, sagte Jokol und beugte sich zu Ingrey hinüber, um ihm nachzuschenken. »Du wirkst nicht mehr so niedergeschlagen. Gut! Nun werde ich dich ehren und Ingorrys Geschichte erzählen.«

Er stand wieder auf, schien sich zu sammeln, und sein Gesicht sah plötzlich feierlich aus. Wieder deklamierte er seine Verse, ernst und mitunter sogar düster, den gebannten Blicken seiner Zuhörer nach zu urteilen. Ingrey erkannte sofort, dass Jokol die Geschichte der gestörten Trauerfeier zum Besten gab, wie Ingrey den Bären gerettet und den Tumult beendet hatte, denn Ingreys Name, in Jokols eigentümlicher Aussprache, und der Name von Fafa waren oft herauszuhören. Auch die Bezeichnungen für die Götter waren sehr eindeutig. Und, zu Ingreys Entsetzen, ebenfalls das Wort Zauber. Den misstrauischen Blicken der Männer nach zu urteilen, die zu Ingrey schweiften, bedeutete dieser Ausdruck in der Sprache der Inseln so ziemlich dasselbe wie im Weald.

Ingrey musterte Jokol erneut und überlegte, was für eine Art Mann eine abendliche Katastrophe bis Mitternacht zu einer Heldendichtung umformen konnte. Und aus dem Stegreif vortragen. Oder vielleicht keine Heldendichtung, sondern eher eine Lagerfeuergeschichte — die Art, mit der man die erschreckten Zuhörer ins Bett jagte, aber vom Schlaf fernhielt … Wenn der Klang der Stimme etwas über den Inhalt der Worte aussagte, hatte Jokol bei der ganzen Sache mehr mitbekommen, als Ingrey sich hätte vorstellen können. Obwohl er selbst, als es geschah, nicht ganz bei Sinnen gewesen war. Allerdings schienen in dieser Geschichte keine Wölfe vorzukommen.

Als Jokol diesmal fertig war, folgte kein wilder Applaus, eher ein ehrfurchtsvolles Seufzen. Es ging in ein Gemurmel über, das wohl einen Kommentar ausdrückte und auch — einzelnen Stimmen aus der letzten Reihe nach zu urteilen — eine wohlwollende Kritik von Jokols Geschichte. Jokols Lächeln wirkte diesmal verschmitzt, als er sein Glas hinunterkippte.

Daraufhin verteilte sich die Feier, und es wurden wieder Essen und Getränke herumgereicht. Einige Männer packten ihre Decken aus und ließen sich in irgendwelchen Winkeln nieder. Sie drehten sich auf die Seite und schnarchten los, ungerührt vom Lärm um sie her. Ingrey fragte sich, ob sie bei Stürmen auf hoher See ebenso schliefen. Ottovin erwies sich als fähiger Unterführer und verhinderte ein mögliches Unglück, indem er lebende Ziele für den trunkenen Wettbewerb im Axtwerfen verbot. Jokol reckte sich und ölte seine beanspruchte Stimme mit einem weiteren Schnaps. Er lächelte Ingrey zu, mit einer Neugier, die Ingrey in vollem Maße erwiderte.

»Morgen Abend«, erklärte Jokol, »müssen sie sich eine Liebesgeschichte anhören, zu Ehren meiner lieblichen Breiga. Du bist ein junger Bursche wie ich, Lord Ingorry. Liebst du auch jemanden?«

Ingrey blinzelte ein wenig eulenhaft. Zögerte. Sagte schließlich: »Ja. Ja, das tue ich.« Saß erschrocken da, als er hörte, wie diese Worte aus seinem Mund kamen, hier, an diesem Ort. Verflucht sei diese Pferdepisse.

»Ah! Das ist gut. Glücklicher Mann! Aber du lächelst nicht. Liebt sie dich nicht?«

»Ich … weiß nicht. Aber wir haben andere Probleme.«

Jokol runzelte die Stirn. »Die Eltern wollen nicht?«, erkundigte er sich verständnisvoll.

»Nein, das ist es nicht. Es … ihr … droht vielleicht die Todesstrafe.«

Erschüttert fuhr Jokol zurück. »Nein! Wofür?«

Es lag an seiner trunkenen Benommenheit, entschied Ingrey, dass ihm dieser südländische Verrückte wie ein geeigneter Beichtvater vorkam, wie ein brüderlicher Vertrauter, mit dem er die geheimsten Ängste teilen konnte. Vielleicht … vielleicht würde sich morgen niemand mehr an die Worte erinnern, die hier gesprochen wurden. »Habt Ihr vom Tod des Prinzen Boleso gehört, dem Sohn des Geheiligten Königs?«

»O ja.«

»Sie hat ihm mit seinem eigenen Kriegshammer den Schädel eingeschlagen.« Da ihm dies als Erklärung nicht angemessen erschien, fügte er hinzu: »Er hatte gerade versucht, sie zu vergewaltigen.« Er sah im Augenblick keine Möglichkeit, die übersinnlichen Verwicklungen auch noch zu erklären.

Jokol stieß einen leisen Pfiff aus und schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Das ist eine schlimme Geschichte. Und doch klingt es nach einem guten, starken Mädchen. Meine liebliche Breiga und Ottovin haben einmal zwei Pferdediebe erschlagen, die auf den Hof ihres Vaters kamen. Ottovin war damals noch kleiner.«

So viel zu den Beichten. »Wie ging es aus?«

»Nun, ich habe um ihre Hand angehalten.« Jokol grinste. »Es waren meine Pferde. Das Wergeld für die Diebe wurde gemindert, wegen ihrer ehrlosen Tat. Den Betrag habe ich dem Brautpreis zugeschlagen, um ihrem Vater zu gefallen.« Wohlwollend schaute er zu Ottovin hinüber — seinem künftigen Schwager? —, der kurz zuvor von der Bank gerutscht war und jetzt halb darüber lag. Er hatte den Kopf auf den Arm gelegt und schnarchte leise.

»Im Weald ist die Rechtsprechung nicht so einfach.« Ingrey seufzte. »Und das Wergeld für einen Prinzen übersteigt meine Möglichkeiten bei weitem.«

»Ihr besitzt kein Land, Lord Ingorry?«, fragte Jokol mit interessiertem Blick.

»Nein. Ich habe nur meinen Schwertarm. Soweit noch intakt.« Missmutig beugte Ingrey seine bandagierte Rechte. »Mehr habe ich nicht aufzubieten.«

»Ich glaube, eines mehr habt Ihr doch, Ingorry.« Jokol tippte sich an die Seite seines Kopfes. »Ich habe ein gutes Ohr. Ich weiß, was ich gehört habe, als mein Fafa vor dir auf die Knie sank.«

Ingrey erstarrte. Im ersten Augenblick wollte er alles abstreiten, doch unter Jokols scharfem Blick erstarben ihm die Worte auf den Lippen. Trotzdem musste er weiteren Klatsch über dieses Thema verhindern, wie gut die Geschichte auch sein mochte. »Das«, er drückte seine Hand gegen die Lippen und legte sie dann auf sein Herz, um anzudeuten, was er nicht laut auszusprechen wagte, »muss unter uns bleiben, oder die Kirche wird mich ächten.«

Jokol schürzte die Lippen, richtete sich ein wenig weiter auf und blickte finster drein, während er diese Worte verarbeitete.

Ingreys leicht verflüssigte Gedanken schwappten in seinem Kopf herum und spülten eine neue Furcht an die Gestade seines Bewusstseins. Jokols Gesicht zeigte keine Spur von Entsetzen oder Abscheu, wohl aber von größtem Interesse. Und doch würde selbst das beste Ohr nicht wiedererkennen, was es nie zuvor gehört hatte. »Das hier, früher«, er berührte seine Kehle und fuhr dann mit der Hand hinunter zu seinem Körper, »habt Ihr je etwas Ähnliches gehört?«

»O ja.« Jokol nickte.

»Wie? Wo?«

Jokol zuckte die Achseln. »Als ich die singende Frau vom Waldrand bat, meine Reise zu segnen, gab sie mir Worte in genauso einer Zauberstimme.«

Die Formulierung schien durch Ingreys Kopf zu gleiten, stechend wie der Duft von Kiefernnadeln. Die singende Frau vom Waldrand. Die singende Frau vom … Und doch wirkte Jokol vom Übernatürlichen unberührt. Er war nicht von dämonischen Ausdünstungen umgeben, keine Tierseele lag in ihm verborgen, und es hatte sich auch kein Bann wie ein zerstörerischer Parasit an ihn gehangen. Er erwiderte Ingreys Blick mit einer freundlichen Offenheit, die man leicht — und verhängnisvollerweise — mit Dummheit verwechseln konnte.

Ein dumpfer Knall klang vom Deck außerhalb des Zeltes, gefolgt vom hellen Klirren von Kettengliedern, einem tiefen Grollen und einem unterdrückten Schrei.

»Zumindest Fafa verschläft seine Wache nicht«, stellte Jokol zufrieden fest und erhob sich. Er stieß Ottovin mit der Stiefelspitze an, doch sein künftiger Verwandter murmelte nur etwas Unverständliches und bewegte sich kaum. Jokol schob eine kräftige Hand unter Ingreys Ellbogen und drückte ihn hoch.

»Ich brauche keine …«, setzte Ingrey an. »Holla.« Das Deck des Schiffes rollte und schwankte unter seinen Füßen, obwohl die Seitenwände des Zeltes in der windstillen und wellenlosen Nacht schlaff herabhingen. Die Lampen waren tief heruntergebrannt. Jokols Mundwinkel zuckten. Liebenswürdig hielt er Ingrey am Arm und geleitete ihn auf die Zeltklappe zu. Sie traten in die goldgerahmten Schatten der Nacht hinaus und fanden dort Fafa vor, der schnüffelnd und an der straff gespannten Kette zerrend vor einer reglosen Gestalt stand, die sich an eine Ruderbank drückte.

Jokol murmelte seinem Haustier beruhigende Worte in seiner eigenen Sprache zu, und der Bär verlor das Interesse an seiner Beute und ließ sich wieder am Mast nieder. Ingrey taumelte, als das Schiff diesmal wirklich schaukelte, und Jokol hielt ihn fester.

»Lord Ingrey«, erklang Gescas erstickte Stimme aus der Dunkelheit. Er räusperte sich, richtete sich wieder auf und trat in das orangerote Licht der Laterne, die an einem Haken neben dem Laufsteg hing. Er wirkte ein wenig blass um die Nase, als er wieder zu Fafa schaute.

»Oh«, sagte Ingrey. »Gesca. Pass auf den Bären auf. Ja. Ich war gerade zu Lord Hewwar unterwegs, Het-war.«

Gesca gewann seine Würde zurück und antwortete in frostigem Tonfall: »Lord Hetwar ist bereits zu Bett gegangen. Er hat mir aufgetragen, Euch wissen zu lassen — wenn ich Euch erst einmal gefunden habe —, dass Ihr als Erstes morgen früh bei ihm vorsprechen sollt.«

»Oh«, murmelte Ingrey. Autsch. »Dann sollte ich wohl erst mal was schlafen, stimmt’s?«

»Solange Ihr könnt«, sagte Gesca.

»Ein Freund?«, wollte Jokol mit einem Nicken zu Gesca wissen.

»Mehr oder weniger«, erwiderte Ingrey und fragte sich, was von beidem zutraf. Doch Jokol schien ihn beim Wort zu nehmen und übergab Ingrey in die Obhut des Offiziers. »Ich brauche keine …«

»Lord Ingorry, ich danke dir für deine Gesellschaft. Und auch für alles andere. Wer meinen Ottovin von der Bank trinken kann, ist auf meinem Schiff stets willkommen. Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal in Ostheim.«

»Ihr … ich auch. Und Grüße an den lieben Fafa.« Er tastete mit seiner tauben Zunge nach weiteren geeigneten, fürstlichen Abschiedsworten, doch Gesca schob ihn bereits auf den Laufsteg zu.

Der Steg erwies sich als Herausforderung, denn er war von derselben Schaukelbewegung erfasst wie das Schiff, nur dass er sehr viel schmaler war. Nach kurzem Nachdenken löste Ingrey dieses Problem, indem er auf allen vieren darüber kroch. Nachdem er auf der anderen Seite angekommen war, ohne in den Storchenfluss zu fallen, blieb er triumphierend auf dem Anleger sitzen.

»Siehst du?«, ließ er Gesca wissen. »Bin nicht so betrunken. Jokol ist ‘n Fürst, weißt du. ‘s alles für die Diplomatie!«

Mit einem Knurren zerrte Gesca Ingrey auf die Füße und legte sich dessen Arm über die Schulter. »Großartig. Das alles könnt Ihr morgen dem Siegelmeister erklären. Ich möchte gern schlafen gehen. Los jetzt.«

Ingrey fühlte sich im Kopf ein wenig nüchterner, auch wenn sein Körper noch hinterherhinkte. Eine Zeit lang war er voll und ganz damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während sie erst durch die Tore gingen und sich dann einen Weg durch die dunklen Gassen der Königsstadt suchten.

In verärgertem Tonfall erklärte Gesca: »Ich habe in der ganzen Stadt nach Euch gesucht. Beim Haus ließ man mich wissen, Ihr wärt zum Tempel gegangen. Im Tempel hieß es, ein Pirat hätte Euch davongeschleppt.«

»Nein. Schlimmer.« Ingrey kicherte. »Ein Poet.«

Gesca fuhr herum. Selbst in der Dunkelheit konnte Ingrey erkennen, dass der Offizier ihn anblickte, als hätte er sich soeben den Kopf verkehrt herum auf die Schultern gesetzt.

»Drei Leute dort haben erzählt, Ihr hättet einen riesigen Eisbären verzaubert. Einer hielt es für ein Wunder des Bastards. Zwei andere waren davon überzeugt, dass es nichts dergleichen war.«

Ingrey erinnerte sich an die Stimme in seinem Kopf und erschauderte. »Du weißt, was für Gerüchte in einer aufgeregten Menschenmenge entstehen können.« Allmählich fühlte er sich wieder ein wenig sicherer auf den Füßen und nahm den Arm von Gescas Schulter. Wie auch immer: Solange er nicht wieder mitten in einer Bestattungszeremonie einem bedrohlichen Bären gegenüberstand, war es sehr unwahrscheinlich, dass so etwas noch einmal geschah. Jetzt gab es keine göttliche Stimme mehr, die ihn erschütterte, und Tiere waren ohnehin etwas ganz anderes als Menschen. »Du solltest nicht so leichtgläubig sein, Gesca. Es ist ja nicht so, als könnte ich einfach sagen«, er tastete tief in seinem Innern nach jenem kraftvollen, leisen Grollen, »halt, und du müsstest dann plötzlich …«

Ingrey bemerkte, dass er alleine unterwegs war.

Er fuhr herum. Gesca stand wie erstarrt im schwachen Licht einer Wandlaterne.

Ingreys Magen krampfte sich zusammen. »Gesca! Das ist nicht lustig!« Wütend kehrte er um. »Hör auf damit.« Er stieß Gesca vor die Brust. Der Mann wankte leicht, bewegte sich aber nicht. Er streckte seine verbundene Hand aus — sie zitterte und berührte Gesca am Kinn. »Machst du dich über mich lustig?«

Gescas Augen, vor Entsetzen weit aufgerissen, waren das Einzige, das sich an dem Mann bewegte — und das auch nur zu einem Blinzeln.

Ingrey befeuchtete sich die Lippen und trat zurück. Seine Kehle war ihm beinahe zu eng geworden, um überhaupt ein Wort hervorbringen zu können. Er musste zweimal tief Luft holen, ehe er erneut und mit Mühe die Stimme in seinem Innern erwecken konnte: »Geh.«

Die Lähmung löste sich. Gesca schnappte nach Luft, wich taumelnd an die nächste Wand zurück und zog blank. Keuchend starrten sie beide einander an. Ingrey fühlte sich plötzlich allzu nüchtern. Beruhigend hielt er die offenen Hände an der Seite und betete, dass Gesca sich nicht auf ihn stürzte.

Langsam steckte Gesca das Schwert wieder ein. Nach einem Augenblick sagte er mit belegter Stimme: »Das Haus Eurer Gefangenen liegt gleich hinter dieser Ecke. Tesko wartet dort bereits, um Euch zu Bett zu bringen. Schafft Ihr es allein bis dort?«

Ingrey schluckte. Er brachte kaum mehr als ein Flüstern hervor. »Ich glaube schon.«

»Gut. Gut.« Gesca wich an der Hauswand entlang zurück und wandte sich dann um, um rasch durch die Schatten davonzuschreiten, wobei er mehrere Male über die Schulter blickte.

Mit zusammengebissenen Zähnen eilte Ingrey in die andere Richtung. Er wagte kaum Luft zu holen, als er um die nächste Ecke bog. Eine Lampe hing an einem Träger neben der Tür des schmalen Hauses und wies ihm den Heimweg.

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