Kapitel Sechs

Ingrey erwachte schweißgebadet aus einem Albtraum, an den er sich nur noch schwach erinnern konnte. Er blinzelte im Morgenlicht, das flach durch das Gaubenfenster in seine kleine, jedoch abgeschiedene Schlafkammer hoch unter dem Dach des Gasthauses einfiel. Morgendämmerung. Zeit aufzustehen.

Die Bewegung weckte den Schmerz in seinem überbeanspruchten Leib, und das schien so ziemlich jeden Muskel zu betreffen, den er besaß. Hastig ließ er sich wieder zurücksinken, aber das brachte keine Erleichterung. Behutsam wandte er den Kopf, während der brennende Schmerz in seinem Hals wühlte, und beäugte die Falle, die er am Boden vor der Tür aus Geschirr aufgestapelt hatte. Der wacklige Haufen wirkte unversehrt. Ein gutes Zeichen.

Die Verbände an den Gelenken und um die rechte Hand hielten noch, auch wenn sie von bräunlichem Blut durchtränkt waren. Ingrey bewegte prüfend die Finger. Nun. Der gestrige Abend war also kein Traum gewesen, trotz der albtraumhaften Visionen, die er mit sich gebracht hatte. Als die Erinnerungen zurückkehrten, verkrampfte sich sein Magen vor Sorge.

Ächzend kämpfte er sich wieder hoch, kroch aus dem Bett und taumelte zum Waschtisch. Mit der Linken spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, fühlte sich danach aber auch nicht munterer. Er zog die Hose an, setzte sich auf die Bettkante und versuchte es mit den Stiefeln. Sie ließen sich nicht über die geschwollenen Knöchel ziehen. Ingrey gab auf und ließ die Stiefel zu Boden gleiten. Bedächtig sank er wieder auf die zerwühlten Laken nieder. Irgendwie schien man den Verstand in seinem Kopf durch ein Summen ersetzt zu haben.

Er blieb eine weitere Zeitspanne liegen, die vielleicht der halben Drehung eines Stundenglases entsprach, dem Kriechen der sonnenhellen Vierecke auf der Wand nach zu urteilen. Das Einzige, was sein Verstand in dieser Zeit hervorbrachte, war ein erbitterter Groll gegen die nutzlosen Stiefel.

Die Tür knarrte in den Angeln; das Klappern des Geschirrstapels wurde von Ritter Gescas erschrockenen Flüchen übertönt. Ingrey blickte aus zusammengekniffenen Augen zur Tür. Gesca machte ein verwirrtes Gesicht und suchte sich einen Weg zwischen umherspringenden Bechern und Tellern hindurch. Der Offizier war reisefertig angekleidet, trug Stiefel und Reithose und Hetwars schieferblauen Wappenrock. Er hatte sich den feierlichen Umständen ihrer Reise entsprechend zurechtgemacht: Sein dunkelblondes Haar war gekämmt, sein freundliches Gesicht frisch rasiert. Bestürzt blickte er auf Ingrey. »Lord Ingrey?«

»Ah. Gesca. Wie geht es unserem Schweine-Jungen heute Morgen?«

Gesca schüttelte den Kopf und schien sich nicht zwischen Sorge und Zorn entscheiden zu können. »Gegen Mitternacht ließ der Wahn nach. Wir haben ihn zu Bett gebracht.«

»Gib Acht, dass er der Gelehrten Hallana nicht zu nahe kommt oder sie gar noch einmal beleidigt.«

»Ich glaube nicht, dass das ein Problem sein wird.« Mit besorgtem Blick musterte er die Verbände und Schrammen. »Was ist gestern mit Euch geschehen, Lord Ingrey?«

Ingrey zögerte. »Was erzählt man sich denn?«

»Man sagt, ihr hättet Euch mit dieser Zauberin für einige Stunden eingeschlossen, als plötzlich ein großes Spektakel aus dem Gemach zu vernehmen war … ein Heulen und Poltern, das unten den Putz von der Decke rieseln ließ, und Geschrei. Es hörte sich an, als würde irgendjemand umgebracht.«

Beinahe …

»Die Zauberin kam später mit ihren Dienern heraus, als wäre gar nichts geschehen. Ihr seid humpelnd abgezogen, habt aber kein Wort gesprochen.«

So gut er konnte, rief Ingrey sich die Entschuldigungen ins Gedächtnis, die Hallana durch die Tür gerufen hatte. »Ja. Ich hatte gerade einen Schinken in der Hand und ein Tranchiermesser, und dann stolperte ich über einen Stuhl.« Nein, sie hatte nicht von einem Stuhl gesprochen. »Habe den Tisch umgekippt. Mich in die Hand geschnitten, als ich gestürzt bin.«

Gesca blickte noch verwirrter, als er sich vorzustellen versuchte, wie so etwas zu der eigentümlichen Anordnung von Verbänden und Verletzungen führen konnte, die Ingrey zeigte. »Nun, wir sind gleich bereit, Prinz Bolesos Sarg wieder aufzuladen. Der Geistliche von Rottwall will ihn noch segnen. Könnt Ihr reiten? Nach Eurem Unfall?« Er dachte einen Augenblick nach und berichtigte sich dann: »Unfällen.«

Sehe ich so schlimm aus? »Hast du dem Botenreiter des Tempels meine Nachricht an Lord Hetwar übergeben?«

»Ja. Die Botin ist mit dem ersten Tagesritt aufgebrochen.«

»Dann … sag den Männern, sie können wegtreten. Ich warte auf Befehle. Die brauchen ohnehin Zeit. Wir nehmen uns einen Tag, um die Pferde ausruhen zu lassen.«

Gesca antwortete mit einer zustimmenden Geste, doch in seinen Augen war die Frage zu lesen, warum Ingrey während zweier langer Tage Mensch und Tier bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angetrieben hatte, nur um die so gewonnene Zeit nun müßig zu verschwenden. Er hob das Geschirr auf und stellte es auf dem Waschtisch ab, dann ging er nach einem weiteren verwirrten Blick auf Ingrey hinaus.

Ingrey hatte sein letztes Schreiben an Lord Hetwar gestern aufgesetzt, unmittelbar nach ihrer Ankunft. Darin hatte er das Eintreffen des Leichenzuges in Rottwall gemeldet und zugleich darauf gedrängt, in seinem Kommando abgelöst zu werden. Als Vorwand hatte er angegeben, dass er nicht in der Lage sei, das nötige Zeremoniell für die Überführung des prinzlichen Leichnams gewährleisten zu können.

Zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes hatte Ingrey natürlich noch nichts über die Tempelzauberin schreiben können, oder zu den späteren Ereignissen in dieser Stube im Obergeschoss. Aber er hatte auch nicht den Vorfall am Fluss erwähnt, oder überhaupt etwas über seine Gefangene berichtet. Voll Unbehagen wurde er sich seiner Pflicht bewusst, dem Siegelbewahrer wahrheitsgemäß Bericht zu erstatten, doch diese Empfindung lag nun im Widerstreit mit seinen Ängsten. Mit Ängsten und mit Zorn. Wer hat mir diesen grotesken Bann auferlegt, und wie? Warum wollte man mich zu einem willenlosen Werkzeug machen?

Und kann das wieder geschehen?

Obwohl die Angst seinen Zorn weiter anstachelte, empfand er jetzt zusätzliche Furcht vor seinem eigenen Ärger. Es schnürte ihm die Kehle zu und ließ seine Schläfen pochen. Er lag auf dem Rücken und versuchte, sich wieder an die Übungen zu erinnern, mit denen er unter heiligen Qualen in Birkenhain gelernt hatte, seinen Wolf zu zähmen. Nach und nach zwang er die schmerzenden Muskeln, sich wieder zu entspannen.

Gestern Abend war sein Wolf entfesselt worden. Er selbst hatte ihn entfesselt. War er heute Morgen wieder gebunden? Und wenn nicht … was dann? Ungeachtet der Schmerzen in seinem Leib fühlte er sich nicht viel anders als an jedem anderen Morgen während seines Lebens als Erwachsener. War also sein unentschlossenes Zögern hier in Rottwall nur eine alte Gewohnheit, oder war es vernünftig? War es einfach nur umsichtig, wenn er in seiner gegenwärtigen, gefährlichen Ahnungslosigkeit nicht weiter nach Ostheim ziehen wollte? Seine körperlichen Verletzungen waren eine glaubwürdige Ausrede, hinter der er sich verstecken konnte. Aber war es die Tarnung eines Jägers oder die Zuflucht eines Feiglings? Seine Gedanken drehten sich wie in einem Käfig.

Ein weiteres Klopfen an der Tür unterbrach die Unruhe, in die er sich allmählich hineinsteigerte. Eine scharfe Frauenstimme fragte: »Lord Ingrey? Ich muss Euch sprechen.«

»Ah, Hergi. Komm herein.« Zu spät erinnerte Ingrey sich daran, dass er noch gar kein Hemd angezogen hatte. Aber vermutlich war sie ohnehin eine heilkundige Schwester aus dem Orden der Mutter und keine schamhafte Jungfrau. Trotzdem wäre es höflich, wenn er sich zumindest aufsetzte.

»Hm.« Sie kniff die Lippen zusammen, als sie neben seine Bettstatt trat und ihn musterte, mit einem gelassenen, fachkundigen Funkeln in den Augen. »Ritter Gesca hat nicht übertrieben. Nun, es hilft alles nichts: Ihr müsst aufstehen. Die gelehrsame Dame will mit Eurer Gefangenen sprechen, bevor sie abreist, und ich will sie so schnell wie möglich wieder auf dem Heimweg sehen. Wir hatten schon genug Ärger auf der Hinreise; vor der Rückfahrt graut mir bereits. Kommt schon. Ach du meine Güte. Moment mal, zuerst machen wir am besten …«

Schwungvoll stellte sie die Ledertasche auf dem Waschtisch ab und wühlte darin. Schließlich brachte sie eine kantige, blaue Glasflasche zum Vorschein und zog den Korken heraus. Sie schüttete trüben Sirup auf einen Löffel, und als Ingrey sich auf einen Ellbogen aufstützte und fragte: »Was ist das?«, schob sie ihm den Löffel auch schon in den Mund. Die Flüssigkeit schmeckte grauenhaft. Eingeschüchtert von ihrem entschlossenen Blick, schluckte er runter.

»Ein Auszug aus Mohn und Weidenrinde, Weingeist und ein paar anderen hilfreichen Dingen.« Sie musterte ihn von oben bis unten, schürzte die Lippen und verabreichte ihm einen weiteren Löffel. Dann nickte sie knapp und verkorkte die Flasche wieder. »Das sollte reichen.«

Ingrey schluckte die Medizin und auch das, was daraufhin aus seinem Magen wieder hochkam. »Das ist ja abscheulich!«

»Ihr werdet Eure Meinung schnell genug ändern, das verspreche ich Euch. Und nun schauen wir mal, wie sich meine Arbeit noch so macht.«

Mit geübten Bewegungen wickelte sie die Verbände ab, besah sich die Wunden, trug Salbe auf und legte frische Verbände an; sie beschmierte die Naht zwischen seinen Haaren mit irgendetwas, das brannte; dann kämmte sie ihn, wusch ihm den Oberkörper, rasierte ihn und schlug seine Hände beiseite, als er sich selbst zurechtmachen wollte. »Ihr werdet meine neuen Verbände gleich wieder nass machen! Und wehrt Euch nicht ständig. Ich dulde nicht, dass wir wegen Euch noch später hier wegkommen.«

Schon seit seinem sechsten Lebensjahr war er nicht mehr auf diese Weise von einer Frau angekleidet worden, doch seine Schmerzen verebbten und wichen wohliger Mattigkeit. Er setzte sich nicht mehr zur Wehr. Benommen dämmerte ihm, dass die Entschlossenheit, mit der sie hier zu Werke ging, nichts mit ihm zu tun hatte.

»Geht es der Gelehrten Hallana gut? Nach gestern Abend?«, fragte er vorsichtig.

»Der Säugling dreht sich. Kann einen Tag dauern oder eine Woche. Aber zwischen hier und Neresblatt liegen fünfundzwanzig Meilen Straße, und ich wünschte mir, die Herrin wäre jetzt schon sicher zu Hause. Nur dass wir uns richtig verstehen, Lord Ingrey: Lasst es Euch bloß nicht einfallen, irgendetwas zu unternehmen, was sie hier aufhält. Was immer sie von Euch verlangt, gebt es ihr ohne lange Diskussionen. Wenn’s Euch recht ist.« Sie schnaufte grimmig.

»Jawohl, Herrin«, sagte Ingrey demütig. Nach einem kurzen Blinzeln setzte er hinzu: »Der Trank scheint sehr gut zu wirken. Kann ich die Flasche behalten?«

»Nein.« Sie kniete bei seinen Füßen nieder. »Oh. Eure Stiefel passen nicht mehr, oder? Habt Ihr auch andere Schuhe dabei …?« Rücksichtslos wühlte sie in seinen Satteltaschen, bis sie schließlich ein Paar abgetragener Schnürstiefel fand, die sie ihm über die Füße zerrte. »Und jetzt auf mit Euch!«

Der Schmerz, als sie an seinen Armen zog, wirkte seltsam fern, wie Nachrichten aus einem anderen Land. Unbarmherzig zerrte sie ihn durch die Tür.


Die Zauberer-Heilkundige wartete bereits in der Schankstube von Ijadas Gasthaus am anderen Ende der Hauptstraße von Rottwall. Mit Blick auf die Verbände fragte Hallana höflich: »Ich hoffe, Ihr habt Euch heute Morgen schon ein wenig erholt …?«

»Ja, danke. Eure Medizin hat mir sehr geholfen. Obwohl es ein eigenartiges Frühstück abgab.« Er lächelte sie an — ein wenig benebelt, wie er befürchtete.

»Oh. Das ist es.« Sie wandte sich Hergi zu. »Wie viel …?« Hergi streckte zwei Finger in die Höhe. Die Geistliche hob die Augenbrauen. Ingrey wusste nicht, ob diese Geste einen Tadel oder Billigung ausdrückte, denn Hergi zuckte zur Antwort nur die Achseln.

Ingrey folgte den beiden Frauen erneut die Treppe hinauf, und die Zofe ließ sie, wenn auch ein wenig misstrauisch, in die Stube vor. Ingrey hielt verstohlen nach Spuren seiner gestrigen Raserei Ausschau, fand aber nur noch einige schwache Blutflecken und Kerben auf den Dielenbrettern. Ijada hörte sie hereinkommen und trat aus dem Schlafgemach. Sie trug dasselbe graublaue Reitkleid wie gestern, hatte aber ihre Stiefel gegen leichtere Lederschuhe getauscht. Voller Unbehagen musterte Ingrey ihr blasses Gesicht. Sie erwiderte den Blick nüchtern und nachdenklich.

Mit noch größerem Unbehagen prüfte Ingrey seine eigenen, veränderten Wahrnehmungen. Ijada kam ihm heute … anders vor. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Mehr traf es besser. Sie strahlte eine Kraft und Schwere aus, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein berauschender, warmer Duft ging von ihr aus, wie von trockenem Gras im Sonnenlicht. Unwillkürlich öffneten sich seine Lippen, um diesen Sonnen-Duft besser schmecken zu können — ein vergebliches Bemühen, denn er wurde nicht mit der Luft herangetragen.

Auch Hallana hatte mehr als nur einen Hauch des Übernatürlichen an sich, eine Schwindel erregende Geschäftigkeit, die zum Teil von ihrer Schwangerschaft herrührte, in erster Linie aber von einem gedämpften Wirbel, der so roch wie ein Windstoß nach einem Blitzschlag. Ingrey ging davon aus, dass es sich dabei um ihren Dämon handelte.

Die beiden gewöhnlichen Frauen, Hergi und die Zofe, wirkten im Vergleich plötzlich dünn und flach und trocken, wie Strichzeichnungen auf Papier.

Die Gelehrte Hallana umarmte Ijada und drückte ihr einen Brief in die Hand.

»Ich muss bald aufbrechen, sonst kommen wir nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit an«, sagte die Geistliche. »Ich wünschte, ich könnte dich stattdessen begleiten. Das alles ist so beunruhigend, vor allem …« Sie nickte in Ingreys Richtung und erinnerte damit an den Bann, unter dem er gestanden hatte. Ingrey konnte bei ihren Worten nur zustimmend nicken. »Das allein würde es schon zu einer Angelegenheit der Kirche machen, auch ohne … nun, nicht so wichtig. Mögen die fünf Götter deine Reise behüten. Ich habe hier ein Schreiben für den Leiter meines Ordens in Ostheim, in dem ich ihn darum bitte, sich mit deinem Fall zu beschäftigen. Mit etwas Glück kann er da weitermachen, wo ich nun abbrechen muss.« Mit einem misstrauischen Zug um den Mund blickte sie wieder zu Ingrey. »Ich lege es auch in Eure Verantwortung, Lord Ingrey, dafür zu sorgen, dass dieser Brief seinen Empfänger erreicht, und niemand anderen.«

Er öffnete die Hand zu einer unbestimmten Geste der Bestätigung, und Hallana kniff die Lippen noch fester zusammen. In Hetwars Diensten hatte er gelernt, Briefe zu öffnen und abzuschreiben, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie diese Fertigkeiten auch bei ihm vermutete. Und doch war der Bastard der Gott der Spione; was für Fertigkeiten mochte da eine Seiner Zauberinnen beherrschen? Und an welche ihrer beiden Kirchen wollte sie sich wenden? Wenn sie allerdings das Schreiben mit einem Zauber geschützt hatte, konnte Ingrey ihn selbst mit seinen neu erwachten Fähigkeiten nicht wahrnehmen.

»Gelehrte …« Ijadas Stimme klang plötzlich dünn und unsicher. Gelehrte, nicht Liebe Hallana, bemerkte Ingrey. Hergi stand schon wachsam bereit, ihre Herrin hinauszugeleiten. Sie verzog verärgert das Gesicht, als die Geistliche sich wieder umwandte.

»Ja, Kind?«

»Nein … macht Euch keine Gedanken. Es ist nichts. Närrisches Zeug.«

»Vielleicht lässt du lieber mich das beurteilen.« Hallana ließ sich auf einem Stuhl nieder und legte auffordernd den Kopf schief.

»Letzte Nacht hatte ich einen sehr eigenartigen Traum.« Ijada trat unruhig vor und zurück; dann ließ sie sich auf dem Fenstersitz nieder. »Einen neuen.«

»Wie eigenartig?«

»Ungewöhnlich lebendig. Als ich am Morgen aufwachte, hatte ich ihn noch lebhaft vor Augen, während meine anderen Träume verblassten.«

»Erzähl weiter.« Hallanas Gesicht wirkte wie aus Holz geschnitzt, so angespannt hörte sie zu.

»Er war kurz, nur das Aufblitzen einer Vision. Mir war, als sähe ich eine Art … ich weiß nicht. Einen Spuk, in Gestalt eines Hengstes, so schwarz wie Ruß und ohne Glanz oder Schimmer. Er galoppierte, aber sehr langsam. Seine Nüstern waren glühend rot und qualmten; Flammen leckten ihm von Mähne und Schweif. Die Hufe schlugen Funken und hinterließen feurige Abdrücke, die alles am Weg zu Asche verbrannten. Wolken aus Asche und Schatten. Und der Reiter war ebenso dunkel wie das Tier.«

»Hm. War der Reiter ein Mann oder eine Frau?«

Ijada legte die Stirn in Falten. »Das scheint mir nicht die richtige Frage zu sein. Die Beine des Reiters krümmten sich um den Pferdeleib und wurden zu dessen Rippen, als wären sie beide miteinander verwachsen. In der Linken hielt er eine Leine. Am Ende der Leine lief ein großer Wolf.«

Hallanas Augenbrauen zuckten hoch, und sie warf Ingrey einen kurzen Blick zu. »Hast du diesen Wolf erkannt?«

»Ich bin mir nicht sicher. Sein Fell war dunkel, mit silbergrauen Spitzen, genau wie bei …« Ihre Stimme erstarb. Sie nahm sich zusammen und fuhr lauter fort: »Zumindest in meinem Traum kam er mir bekannt vor.« Ihre haselnussbraunen Augen bohrten sich in Ingreys, und zu seinem Unbehagen kehrte auch ihr nüchterner Gesichtsausdruck zurück. »Aber diesmal war es ein vollständiger Wolf. Er trug ein Stachelhalsband, mit den Spitzen nach innen. Blut spritzte von seinen Pfoten, während er lief, und hinterließ bei jedem Schritt schwarze Schlammflecken in der Asche. Und dann nahmen Asche und Schatten mir den Atem, und ich sah gar nichts mehr.«

Die Gelehrte Hallana schürzte die Lippen. »Meine Güte, Kind! Lebhaft, in der Tat. Darüber muss ich erst einmal nachdenken.«

»Glaubst du, dieser Traum könnte eine Bedeutung haben? Oder ist es nur eine Nachwirkung von …« Sie wies in den Raum und meinte damit offenbar die bizarren Geschehnisse, die sich am gestrigen Abend hier abgespielt hatten. Dann warf sie Ingrey unter halb geschlossenen Augenlidern einen Seitenblick zu.

»Bedeutungsvolle Träume«, erklärte Hallana, und ihre Stimme nahm einen leicht lehrerhaften Tonfall ein, »können eine Prophezeiung sein, eine Warnung oder eine Anweisung. Hast du vielleicht irgendein Empfinden, was davon dein Traum gewesen sein mag?«

»Nein. Er war sehr kurz, wie ich schon sagte. Wenn auch intensiv.«

»Was hast du dabei empfunden? Nicht nach dem Aufwachen, sondern während des Traumes? Hattest du Angst?«

»Nicht direkt. Jedenfalls nicht um mich selbst. Ich war eher wütend … fühlte mich aufgehalten, so als wolle ich sie einholen, könnte es aber nicht.«

Einen Moment schwiegen sie alle. Dann fragte Ijada unsicher: »Hochwürden? Was soll ich tun?«

Hallana wirkte abwesend, schien sich jetzt aber ein unechtes Lächeln abringen zu wollen. »Nun … Gebete schaden nie.«

»Das hört sich nicht nach einer Antwort an.«

»In deinem Fall ist es das vielleicht. Und das ist keine Beschwichtigung.«

Ijada rieb sich die Stirn, als hätte sie dort Schmerzen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch mehr von diesen Träumen will.«

Ingrey hätte auch am liebsten gefleht, Hochwürden, was soll ich tun? Aber was hätte sie ihm darauf schon antworten können? Hier abzuwarten wie ein erstarrtes Kaninchen? Das würde doch nur dazu führen, dass Ostheim zu ihm kam. Weiterreisen, wie es ihm seine Pflicht gebot? Gewiss konnte eine Geistliche nichts anderes empfehlen. Fliehen oder Ijadas Flucht in die Wege leiten? Würde sie sich überhaupt darauf einlassen?

Er hatte ihr schon einmal die Flucht angeboten, in jenem dichten Wald am Flussufer. Vernünftigerweise hatte sie das abgelehnt. Aber was, wenn er das Unternehmen besser vorbereitete? Eine nächtliche Flucht, ohne dass Ingreys Herren einen Hinweis darauf erhielten, wie oder von wem sie ein Pferd bekommen hatte, Geld und Ausrüstung … und eine Eskorte? Darüber müssen wir noch mal reden. Oder konnte er sie der Zauberin übergeben, ihrer Freundin — um sie insgeheim nach Neresblatt schaffen zu lassen? Wenn eine solche Zuflucht allerdings möglich wäre, hätte Hallana sie gewiss schon selbst vorgeschlagen. Er unterbrach seinen schon angesetzten, fragenden Laut wieder und übertönte ihn mit einem Husten. Er wollte sich nicht mit einer Empfehlung zum Gebet abspeisen lassen.

Hergi half ihrer Herrin wieder auf die Füße.

»Eine sichere Reise, Hochwürden«, sagte Ijada. Sie bedachte die Schwangere mit einem schiefen Lächeln. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du dich meinetwegen womöglich in Gefahr gebracht hast.«

»Nicht deinetwegen, Liebes«, entgegnete Hallana. »Zumindest nicht nur deinetwegen. Das alles ist verworrener, als ich erwartet hätte. Ich sehne mich schon nach einem Rat meines lieben Oswins. Er ist so ein gewitzter Denker.«

»Oswin?«, fragte Ijada.

»Mein Ehemann.«

»Augenblick mal«, sagte Ijada und riss die Augen auf. »Doch wohl nicht … dieser Oswin? Unser Oswin, der Gelehrte Oswin, aus der Burg in den Feuchtmarschen? Diese pingelige Bohnenstange? Nur Arme und Beine, mit einem Hals wie ein Reiher, der gerade einen Frosch verschluckt?«

»Eben der.« Oswins Gemahlin wirkte nicht verärgert über diese wenig schmeichelhafte Beschreibung ihres Angetrauten. Der angespannte Zug um ihren Mund löste sich. »Er ist mit dem Alter besser geworden, das kann ich dir versichern. Damals war er noch sehr unreif. Und ich, nun, ich habe mich möglicherweise auch ein wenig gebessert.«

»Von allen Wundern kann ich das noch am wenigsten glauben! Ihr beide habt euch doch die ganze Zeit nur gestritten!«

»Nur über theologische Fragen … meistens jedenfalls«, erwiderte Hallana milde. »Weil uns das beiden am Herzen lag.« In einer unausgesprochenen Erinnerung zuckten ihre Mundwinkel nach oben. »Und die eine gemeinsame Leidenschaft führte zu weiteren. Er folgte mir zurück ins Weald, als seine Dienstzeit zu Ende ging — vermutlich nur, weil er unbedingt das letzte Wort haben wollte. Und er versucht es immer noch. Jetzt arbeitet er als Lehrer und führt weiterhin gerne Streitgespräche — das ist seine größte Leidenschaft. Es wäre grausam von mir, würde ich sie ihm verweigern.«

»Der gelehrte Herr kann schon mit Worten umgehen«, bestätigte Hergi. »Da freu ich mich nicht eben darauf, wenn ich Euch nicht sicher und zeitig zurückbringe, wie ich es ihm versprochen habe.«

»Ja, ja, meine liebe Hergi.« Lächelnd wandte die Zauberin sich um und verließ das Gemach, fürsorglich geleitet von ihrer Dienstbotin.

Ingrey schaute zu Lady Ijada, die ihrer Freundin hinterhersah. Bedauern lag auf ihren Zügen. Sie wurde auf seinen Blick aufmerksam und rang sich ein schwaches Lächeln ab. Er fühlte sich seltsam berührt und erwiderte das Lächeln.

»Oh«, sagte sie und legte sich die Hand auf den Mund.

»Was, oh?«, fragte er verwirrt.

»Ihr könnt ja lächeln!« Aus ihrem Tonfall ließ sich entnehmen, dass das für sie einem Wunder gleichkam, als hätte er plötzlich Flügel ausgebreitet und wäre zur Decke emporgeflattert. Er sah nach oben und stellte sich eben diesen Anblick vor. Der geflügelte Wolf. Was? Er schüttelte den Kopf, um diese unpassenden Gedanken zu vertreiben, aber davon wurde ihm nur schwindlig. Vielleicht war es besser, dass Hergi die blaue Flasche wieder mitgenommen hatte.

Ijada trat an das Fenster zur Straße, und Ingrey kam zu ihr. Gemeinsam beobachteten sie, wie Hergi ihre Herrin wieder in den Wagen packte, unter Bernans besorgten Blicken. Das Rad war inzwischen repariert. Der Knecht oder Schmied oder was auch immer er war, nahm die Zügel auf, schnalzte in Richtung der stämmigen Pferde, und der Wagen rumpelte die Straße entlang und außer Sicht. Hinter ihnen in der Stube konnte man die Zofe hantieren hören. Sie packte eine Tasche aus, die offenbar schon für die Reise vorbereitet war, doch aufgrund Ingreys Anweisung noch nicht verladen — ebenso wie Bolesos Sarg.

Er stand dicht hinter Ijada und blickte über ihre Schulter. Mit Leichtigkeit hätte er ihr die Hand in den Nacken legen können, wo das Haar von einem Netz zusammengehalten wurde und die blasse Haut freigab. Eine lose Strähne dort erzitterte in seinem Atemzug, und doch trat sie nicht von ihm fort. Sie wandte sich allerdings um und schaute ihn an. In ihrem Gesicht zeigte sich keine Furcht, keine Ablehnung, nur intensive Aufmerksamkeit.

Und doch hatte sie nicht nur dieses andere abscheuliche Ding gesehen, sondern auch seinen Wolf. Seine Heimsuchung, die Wildheit, die drohend in ihm verborgen lag, war für sie nun nicht mehr ein bloßes Gerücht oder irgendwelcher Klatsch, sondern ein unmittelbares Erleben. Unbestreitbar. Sie bestreitet nichts. Weshalb zuckt sie nicht vor mir zurück?

Seine Wahrnehmung wirbelte durcheinander. Umgekehrt: Was empfindest du in Bezug auf ihre Katze? Er hatte sie ebenfalls gesehen, in dieser anderen Wirklichkeit, so deutlich wie sie seine wölfische Seite wahrgenommen hatte. Logischerweise sollte ihre Heimsuchung der seinen entsprechen, und doch hatte ein Gott sie des Nachts aufgesucht, und die bloße Berührung Seines Mantels schien einen Hauch der Ekstase zu versprechen. All die theologischen Theorien der Geistlichen, die Ingrey sich hatte anhören müssen, verblassten vor einer überwältigenden Tatsache, die sich gerade eben dem Zugriff seines Verstandes entzog. Die Tierseele in ihrem Innern hatte strahlend schön gewirkt. Wie es schien, hatte der Schrecken heute mit einem Mal eine neue und verlockende Seite gewonnen, die Ingrey nie zuvor darin vermutet hätte.

»Lord Ingrey«, sagte sie, und ihre leise Stimme versetzte sein Blut in Wallung. »Ich würde gerne dem Rat der Gelehrten Hallana folgen und mich zum Gebet in den Tempel zurückziehen.« Sie warf ihrer Zofe einen argwöhnischen Blick zu. »Allein.«

Sein Verstand setzte sich wieder in Bewegung. Es wäre vollkommen unverdächtig, wenn er seine Gefangene ohne ihre Aufpasserin in den Tempel begleitete. Zu dieser Stunde würde das Gebäude beinahe menschenleer sein, und sie konnten ungestört miteinander reden. »Niemand könnte etwas einwenden, wenn ich Euch zum Altar der Götter geleite, damit Ihr dort um ihre Gnade bitten könnt, verehrte Dame.«

Sie verzog das Gesicht. »Um Gerechtigkeit bitten würde es besser treffen.«

Er trat ein wenig von ihr fort und nickte zustimmend. Dann wandte er sich um und gab ihrer Zofe zu verstehen, dass sie sich in der nächsten Stunde ihren eigenen Angelegenheiten widmen konnte. Dann führte er Ijada aus der Stube.

Auf der Straße legte Ijada die Hand auf Ingreys Ellbogen und suchte sich bedächtig ihren Weg über die feuchten Pflastersteine. Sie schaute ihn nicht an. Schließlich ragte der Tempel vor ihnen auf, errichtet aus den grauen Steinen dieser Gegend und in Größe, Bauweise und Festigkeit typisch für die Regierungszeit von Audars Enkel, bevor die darthacischen Eroberer unter Beweis stellten, dass sie sich auch in blutigen Bürgerkriegen selbst zugrunde richten konnten.

Sie schritten an den eisernen Toren vorbei in den hoch ummauerten, stillen Tempelbezirk und unter das gewaltige, säulengetragene Vordach.

Die Innenräume waren kühl und dämmrig, verglichen mit dem hellen Morgen draußen, und eng umgrenzte Streifen aus Sonnenlicht fielen durch die runden Fenster, die hoch unter der Decke lagen. Drei oder vier Personen hielten sich im Schrein der Mutter auf, kniend oder flach auf dem Boden liegend. Ijadas Griff an Ingreys Arm versteifte sich kurz, und er folgte ihrem Blick durch den Torbogen in den Schrein des Vaters. Dort stand Bolesos Sarg aufgebockt, mit Brokatstoff zugedeckt und bewacht von Angehörigen der Bürgerwehr von Rottwall. Aber sowohl der Schrein der Tochter wie auch der des Sohnes waren zu dieser frühen Stunde leer, und Ijada wandte sich dem des Sohnes zu.

Anmutig fiel sie vor dem Altar auf die Knie. Ingrey folgte ihrem Beispiel — deutlich weniger anmutig — und hockte sich dann auf die Fersen. Die Fliesen waren kalt und hart. Stille entstand, während Ijada den Blick nach oben wandte. Bereitete sie in Gedanken ihre Gebete vor?

»Was glaubt Ihr«, begann Ingrey leise, »wird mit Euch geschehen, wenn Ihr Ostheim erst erreicht habt? Was habt Ihr vor?«

Ihr Blick wanderte zu ihm, auch wenn sie den Kopf nicht bewegte. Mit demselben Unterton wie er erwiderte sie: »Ich glaube, ich werde befragt … von den Justizräten des Königs oder den Ermittlern der Kirche oder von beiden. Man sollte gewiss erwarten, dass die Ermittler der Kirche an dem Fall Interesse zeigen werden, wenn man bedenkt, was vor kurzem geschehen ist, und was Hallanas Brief noch aussagen wird. Ich werde ihnen die Wahrheit sagen, denn sie ist meine beste Verteidigung.« Ein ironisches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Außerdem ist sie leichter im Gedächtnis zu behalten.«

Ingrey seufzte tief. »Wie stellt Ihr Euch Ostheim vor?«

»Ich bin nie dort gewesen. Aber ich nehme an, es ist ein großartiger Ort. Der Hof des Königs dürfte der glanzvolle Mittelpunkt der Stadt sein, obgleich Prinzessin Fara mir auch von den Hafenanlagen, den Glashütten und den Tempelschulen erzählt hat, und es soll ja auch eine königliche Akademie geben. Gärten und Paläste. Hervorragende Schneider. Skriptorien und Goldschmiede und alle Arten von Kunsthandwerk. Es werden dort Schauspiele aufgeführt, und nicht nur zu den Feiertagen, sondern auch vor den hohen Herrschaften in ihren Häusern.«

Ingrey lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung: »Habt Ihr jemals gesehen, wie ein Schwarm von Geiern um den Kadaver eines großen, gefährlichen Tieres kreist, um einen Stier oder einen Bären, der noch nicht ganz verendet ist? Die meisten halten sich zurück und warten, aber einige wagen sich schon vor, um am Fleisch zu picken und zu reißen und sich dann wieder in Sicherheit zu bringen. Und sie alle rücken näher, während der Tag verstreicht und der Anblick der kreisenden Geier noch entferntere Verwandtschaft anlockt, alle rasend vor Sorge, die besten Stücke zu versäumen, wenn am Ende alle zum letzten Ausweiden herabstoßen.«

Vor Abscheu kniff sie die Lippen zusammen. Endlich blickte sie ihn an, und in ihrem Gesicht stand eine Frage zu lesen: Und weiter?

»In diesen Tagen«, Ingrey dämpfte seine Stimme, »gleicht Ostheim eher diesem Bild. Verratet mir doch, Lady Ijada: Was glaubt Ihr, wer zum nächsten Geheiligten König erwählt wird?«

Sie blinzelte. »Ich vermute, der Fürstmarschall Biast.« Bolesos älterer und geistig gesünderer Bruder, der sich zurzeit unter der Anleitung der militärischen Berater seines Vaters an der Nordwestgrenze seinen Rang verdiente.

»Das haben viele andere auch vermutet, bis der Geheiligte König von dieser zehrenden Krankheit befallen und dann vom Schlagfluss niedergestreckt wurde. Hetwar ist überzeugt davon: Hätte der Schlag den König erst fünf Jahre später getroffen, hätte er Biasts Wahl noch zu Lebzeiten sichern können. Oder wenn der alte Mann rasch gestorben wäre … dann hätte Biast, getragen von der Trauer, durchmarschieren können, ehe seine Gegenspieler sich gesammelt hätten.

Nur wenige hätten mit diesem gegenwärtigen, schleichenden Tod gerechnet oder haben sich darauf vorbereitet. Er hält den König nun schon seit Monaten umschlungen und verschafft den Schlimmsten wie den Besten die Zeit und einen Anlass, etwas zu unternehmen, Pläne zu schmieden, sich verstohlen untereinander zu beraten. In Versuchung zu geraten.« Die Sippe derer von Hirschendorn hielt die Königswürde nun schon seit fünf Generationen. Viele der anderen Sippen waren der Ansicht, nun wären allmählich sie an der Reihe, den Thron zu beanspruchen.

»Wer wird es dann werden?«

»Wenn der Geheiligte König heute Abend sterben würde, könnte nicht einmal Hetwar sagen, wer nächste Woche gewählt wird. Und wenn Hetwar es nicht weiß, dann weiß es vermutlich niemand. Aber die Muster der Bestechungen und die Gerüchte ließen Hetwar annehmen, dass Boleso als Überraschungskandidat auftreten sollte.«

Empört blickte sie auf. »Ein schlechter Kandidat!«

»Ein dummer und leicht zu beeinflussender Kandidat. Ideal aus der Sicht gewisser Leute. Ich war immer schon der Ansicht, dass diese Leute sich nicht ganz darüber im Klaren sind, wie gefährlich sein sprunghafter Geist Boleso inzwischen gemacht hatte. Vermutlich hätten sie noch Zeit gefunden, ihren Erfolg zu bedauern. Und das war, noch bevor ich von des Prinzen Umtrieben im Übernatürlichen wusste.« Ingrey blickte düster drein. Hatte Hetwar von Bolesos blasphemischem Treiben gewusst? »Der Siegelbewahrer war besorgt genug, mich mit einer Spende von hunderttausend Kronen zum Erzprälaten und geistlichen Kurfürsten von Wassergipfel zu schicken, um dessen Stimme für Biast zu sichern. Seine Eminenz verstand es, mir in ebenso höflichen wie nichtssagenden Worten zu danken. So empfand ich es zumindest.«

»Der Siegelbewahrer hat einen Erzprälaten bestochen?«

Ingrey zuckte beim Tonfall ihrer Stimme zusammen, der so voller naiver Bestürzung war. »Das einzig Ungewöhnliche an dieser Zahlung war meine Gegenwart. Normalerweise greift Hetwar auf meine Dienste zurück, wenn er Drohungen überbringen möchte. Darauf verstehe ich mich gut. Besonders viel Freude macht es mir, wenn man versucht, dann mir selbst zu drohen oder mich zu bestechen. Es ist ein Vergnügen, sie erst in einen Hinterhalt zu führen und dann zur Erleuchtung zu bringen. Ich nehme an, im Fall des Erzprälaten sollte ich eine doppelte Botschaft überbringen … jedenfalls wirkte er nervös genug dafür. Eine Tatsache, die Hetwar zur Kenntnis genommen hat.«

»Vertraut Euch der Siegelmeister?«

»Manchmal ja, manchmal nein.« Jetzt, zum Beispiel? »Er weiß, wie neugierig ich bin, und so füttert er mich manchmal mit kleinen Bissen. Aber ich dränge ihn nicht dazu. Dann würde ich gar nichts bekommen.«

Ingrey atmete tief durch. »Da Ihr meine Andeutungen nicht beherzigt habt, werde ich es Euch deutlicher erklären. Ihr habt nicht nur Eure Tugend verteidigt, dort oben über den Zinnen von Burg Keilerkopf. Und Ihr habt auch nicht nur die königliche Familie beleidigt, indem Ihr aus dem Ableben ihres Sprösslings einen öffentlichen Skandal gemacht habt. Ihr habt außerdem eine politische Intrige hintertrieben, für die irgendjemand bereits Hunderttausende Kronen und Monate verstohlener Vorbereitungen aufgewendet hat. Und für die außerdem unerlaubte Magie der gefährlichsten Art zur Anwendung kam.

Aus dem mir auferlegten Bann schließe ich, dass es irgendwo in Ostheim einen mächtigen Mann geben muss oder auch mehrere Männer, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Ihr die Wahrheit über Boleso verbreiten könnt. Der erste Versuch, Euch unauffällig aus dem Weg zu räumen, ist gescheitert. Ich nehme an, der nächste Versuch wird ein wenig auffälliger ausfallen.

Hattet Ihr Euch etwa einen heroischen Auftritt vor einem Justizrat oder Ermittler ausgemalt, der ebenso tapfer und aufrichtig für die Gerechtigkeit eintritt wie Ihr selbst? Es mag solche Männer geben, ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch versprechen, dass Ihr nur der anderen Sorte begegnen werdet.«

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie entschlossen das Kinn vorgeschoben hatte.

»Ich bin verärgert«, sagte er schließlich. »Ich weigere mich, dabei mitzumachen. Ich kann Eure Flucht in die Wege leiten. Und diesmal trockenen Fußes, mit Geld und ohne hungrige Bären. Heute Nacht noch, wenn Ihr es wünscht.« Damit war der bisher nur gedachte Verrat offen ausgesprochen. Während das Schweigen drückender wurde, blickte er auf den Boden zwischen seinen Knien.

Ihre Stimme war so leise, dass sie zitterte. »Wie bequem für Euch. Auf diese Weise müsstet Ihr Euch niemandem widersetzen oder um der Ehre willen jemandem unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sagen. Ihr könnt in allem so weitermachen wie bisher.«

Sein Kopf fuhr herum. Er war kreidebleich.

»Wohl kaum«, erwiderte er. »Auch ich trage jetzt eine Zielscheibe auf dem Rücken.« Er verzog die Lippen zu einem Grinsen.

»Und das erheitert Euch?«

»Es erregt zumindest mein Interesse.«

Ijada pochte mit den Fingernägeln auf die Fliesen. Es hörte sich an wie das ferne Klacken von Klauen. »So viel zur hohen Politik. Und was ist mit der fortgeschrittenen Theologie?«

»Der was?«

»Ich fühlte einen Gott an mir vorüberziehen, Ingrey! Warum?«

Er machte den Mund auf. Zögerte.

In demselben zornigen Flüstern fuhr sie fort: »Mein Leben lang habe ich gebetet, doch nie eine Antwort erhalten. Ich habe kaum noch an die Götter geglaubt — und wenn, dann nur, um Sie für Ihre Gleichgültigkeit zu verfluchen. Sie haben meinen Vater verraten, der Ihnen sein ganzes Leben lang treu gedient hat. Und meine Mutter haben Sie ebenfalls verraten. Oder Sie waren zu machtlos, um ihr Leben zu retten, was ebenso schlimm ist oder gar noch schlimmer. Wenn ein Gott zu mir gekommen ist, dann ist er ganz gewiss nicht wegen mir gekommen! An welche Stelle setzt Ihr das bei Euren Berechnungen?«

»Die hohe Politik bei Hofe«, antworte Ingrey bedächtig, »ist so gottlos, wie ich es mir nur vorstellen kann. Wenn Ihr weiterhin nach Ostheim reiten wollt, dann reitet Ihr in den Tod. Der Märtyrertod mag eine Ehre sein, Selbstmord aber ist eine Sünde.«

»Und wohin reitet Ihr, Lord Ingrey?«

»Ich habe Lord Hetwar als Schutzherrn.« Glaube ich. »Euch wird niemand beistehen.«

»Nicht jeder Geistliche im Tempel von Ostheim kann bestechlich sein. Und ich habe noch die Sippe meiner Mutter!«

»Der Graf von Dachswall war bei der Versammlung zugegen, die mich ausgeschickt hat. Seid Ihr Euch so sicher, dass er dort war, um Eure Interessen wahrzunehmen? Ich nicht.«

Sie raffte ihre Kleider um sich. »Ich werde nun um göttlichen Rat beten«, verkündete sie. »Ihr mögt still sein.« In einer Geste tiefster Demut warf sie sich flehentlich flach auf den Boden, die Arme ausgestreckt und das Gesicht von ihm abgewendet.

Ingrey legte sich auf den Rücken, blickte zur Kuppeldecke empor und fühlte sich verärgert, benommen und ein wenig übel. Er fürchtete, dass die Wirkung von Hergis Trank allmählich nachließ. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und schweiften dann ab, doch eine fromme Andacht wollte sich nicht einstellen. Müde schloss er die Augen.

Nach einer unbestimmten Zeitspanne hörte er Ijada bissig fragen: »Betet Ihr oder schlaft Ihr? Und was es auch sein mag — seid Ihr damit fertig?«

Blinzelnd schlug er die Augen auf und sah sie über sich stehen. Offensichtlich hatte er geschlafen, denn er hatte nicht gehört, wie sie aufgestanden war. »Zu Eurer Verfügung, verehrte Dame.« Er versuchte, sich zu erheben, unterdrückte einen Aufschrei und ließ sich vorsichtig zurücksinken.

»Nun, das überrascht mich nicht. Habt Ihr Euch hinterher mal angesehen, was Ihr mit diesen bedauernswerten Ketten gemacht habt?« Verärgert hielt sie ihm die Hand hin; Neugierig auf ihre Stärke umfasste er mit beiden Händen ihr Handgelenk. Ijada lehnte sich zurück, wie ein Seemann, der an einem Tau zerrt, und er kam schließlich auf die Füße.

Als sie unter dem Säulendach hervor in die Herbstsonne traten, fragte Ingrey: »Und was für einen Rat habt Ihr als Antwort auf all Eure Gebete erhalten, verehrte Dame?«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Keinen. Dafür sind meine Gedanken nicht mehr so wirr. So war die stille Andacht nicht völlig vergebens.« Sie warf ihm einen undeutbaren Seitenblick zu. »Es ist nur … Es will mir einfach nicht in den Kopf …«

»Ja?«

Sie platzte heraus: »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Hallana Oswin geheiratet hat!«


Sie fanden Ijadas Zofe in der Schankstube des Gasthofes vor. Sie saß dort mit Ritter Gesca in einer Ecke. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt. Krüge und eine Platte mit Brotkrümeln, Käserinden und Apfelresten standen zwischen ihnen auf dem Tisch. Der Spaziergang über die sonnengewärmten Straßen hatte Ingreys steife Muskeln ein wenig gelockert.

»Gesca.« Ingrey nickte in Richtung Speiseplatte und erinnerte sich daran, dass er selbst heute noch nichts gegessen hatte. »Wie ist das Essen hier?«

»Der Käse ist hervorragend. Aber haltet Euch von dem Bier fern — es ist sauer geworden!«

Ijada riss die Augen auf, verkniff sich aber jede Bemerkung.

»Ah. Danke für die Warnung.« Er beugte sich vor und schnappte sich die letzte Brotkruste. »Und was habt ihr beide so beredet?«

Die Zofe wirkte erschrocken, doch Gesca erwiderte nur: »Ich habe Ingrey-Geschichten erzählt.« Sein Tonfall war ein wenig herausfordernd.

»Ingrey-Geschichten?«, wiederholte Ijada. »Gibt es viele davon?«

Ingrey verzog das Gesicht.

Gesca fühlte sich von der Nachfrage ermutigt und grinste. »Ich habe gerade die Geschichte erzählt, wie Hetwars Tross von den Räubern überfallen wurde, auf der Rückreise von Darthaca im Wald von Aldenna, und wie Ihr Euch dabei Euren Platz in Hetwars Gefolge verdient habt. Es war übrigens mein gutes Wort beim Siegelmeister, das dafür sorgte.«

»Ach ja?« Ingrey versuchte, sich darüber klar zu werden, ob Gesca nervös herumplapperte oder nicht. Und wenn ja, warum?

»Wir waren ein großer Trupp«, fuhr Gesca an die Frauen gewandt fort, »und gut bewaffnet, aber unsere Gegner waren eine Schar von Gesetzlosen, die in die Wälder geflohen und deren Anzahl auf mehr als zweihundert Mann angewachsen war, zumeist entlassene Soldaten, Herumtreiber und Deserteure. Sie waren eine Plage für das ganze Umland. Vermutlich sahen wir reich genug aus, dass sie den Überfall wagten. Ich war unmittelbar hinter Ingrey, als sie über uns herfielen. Sie haben rasch ihren Fehler erkannt. Verblüffende Fechtkunst.«

»Ich bin nicht so gut«, wandte Ingrey ein. »Sie waren so schlecht

»Ich habe nicht ›gut‹ gesagt, ich sagte ›verblüffend‹. Ich habe schon Meisterfechter gesehen, und das seid Ihr so wenig wie ich. Aber als deutlich wurde, dass niemand Euch bezwingen könnte, solange Ihr nur Platz genug habt, eine Klinge zu schwingen, kam dieser bärenhafte Bursche heran und wollte Euch in ein Handgemenge verwickeln. Ich war zu diesem Zeitpunkt etwa fünfzehn Schritte entfernt und hatte selbst alle Hände voll zu tun, aber trotzdem … Ihr habt Euer Schwert in die Luft geworfen, den Kerl am Kopf gepackt und ihm den Hals gebrochen. Dann habt Ihr das Schwert wieder aufgefangen, Euch umgewandt und den Räuber enthauptet, der von hinten an Euch herankam. Und das alles in einer einzigen, fließenden Bewegung!«

Ingrey erinnerte sich nicht mehr an diesen Augenblick, obwohl er den Angriff als solchen natürlich noch sehr gut im Gedächtnis hatte. Zumindest den Anfang und das Ende des Kampfes. »Gesca, du erfindest Geschichten, um aufzuschneiden!« Gesca war beinahe zehn Jahre älter als Ingrey. Vielleicht war das Geschäker mit einer farblosen Zofe mittleren Alters für ihn nicht so abwegig, wie es Ingrey vorkam.

»Ha! Würde ich mir Lügengeschichten zum Angeben ausdenken, würde sie von meinen eigenen Taten erzählen! Jedenfalls, das war der Zeitpunkt, wo der Rest der Bande die Flucht ergriff. Den Langsamsten habt Ihr noch niedergehauen …« Gesca verstummte, und Ingrey wusste warum: Er war wieder zur Besinnung gekommen, als er gerade damit beschäftigt gewesen war, der Reihe nach alle Verwundeten zu erschlagen. Rot bis zu den Ellbogen, von einem erstickenden Geruch nach Blut umhüllt. Gesca, wie er ihn mit entsetztem Gesicht an den Schultern gepackt und gerufen hatte: Ingrey! Um des Vaters willen, lass ein paar zum Aufhängen übrig!

Gesca überspielte sein Zögern, indem er einen weiteren Schluck Bier nahm und sich offenbar zu spät daran erinnerte, dass es verdorben war. Er schluckte es trotzdem herunter, verzog das Gesicht und wischte sich den Mund ab. »Und das war der Zeitpunkt, wo ich Hetwar empfohlen habe, Euch dauerhaft in seine Wache aufzunehmen. Das war natürlich purer Eigennutz von mir. Ich wollte sicherstellen, dass Ihr mir in einem Kampf niemals gegenübersteht.« Gesca lächelte zu ihm auf, doch seine Augen lächelten nicht mit.

Ingreys Lächeln war ebenso ernst. Feinsinnige Andeutungen, Gesca? Das passt nicht zu dir. Was versuchst du mir zu sagen?

Allmählich kehrte der Kopfschmerz zurück, der ihn heimsuchte, seit er vorgestern gegen den Felsen gestoßen war. Ingrey beschloss, sich zurück zu seinem eigenen Gasthaus zu begeben und sich Essen zu besorgen. Er empfahl Ijada wieder der Obhut ihrer Zofe und wies die Frauen an, weiterhin ihre Gemach verschlossen zu halten. Dann zog er sich zurück.

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