Kapitel Dreizehn

Der Pförtner ließ Ingrey wieder in die Diele. Sein Blick wanderte zur Decke. Ijada war oben; vermutlich hatte sie sich, wie angeordnet, mit ihrer Zofe eingeschlossen. Ingrey kam in den Sinn, dass Rossflutens Personal und ein angeschlagener Schwertkämpfer möglicherweise ausreichten, um ein fügsames und naives Mädchen an der Flucht zu hindern, dass sie aber eine kläglich unzureichende Streitmacht darstellten, wenn ein Angriff abgewehrt werden musste. Ingrey konnte vielleicht ein paar Angreifer zurückschlagen, doch ein hinreichend entschlossener Feind musste nur genug Männer ausschicken, und es wäre klar, wie die Sache enden würde.

Bei einem tückischen Angriff mit übernatürlichen Mitteln war der Ausgang nicht so offensichtlich. Konnte er sich mit der Zauberstimme zur Wehr setzen? Das Summen der höchst fragwürdigen Macht in seinem Blut beunruhigte ihn noch immer. Der Graf von Rossfluten kannte anscheinend das genaue Ausmaß von Ingreys neuen Fähigkeiten, auch wenn Ingrey selbst nichts darüber wusste. Wenzel hatte verdeckt die Möglichkeit einer Art Ausbildung zur Sprache gebracht, und das brachte Ingrey noch mehr ins Grübeln.

Der Pförtner brachte ein leicht zerknittertes Stück Papier zum Vorschein. »Ein Tempelbote hat das für Euch abgegeben, Herr.«

Ingrey erbrach das Siegel und fand eine kurze Nachricht vom Gelehrten Lewko vor, in großen, sauberen Buchstaben: Anscheinend wird meine Zeit heute von internen Kirchenangelegenheiten in Anspruch genommen, und zwar in Bezug auf jene Unkorrektheiten, die Ihr gestern aufgedeckt habt, wofür ich Euch noch einmal danken möchte. Ich werde Euch und Lady Ijada aufsuchen, sobald ich es nach der morgigen Bestattung des Prinzen einrichten kann.

Ingrey konnte sich gut vorstellen, dass man die Pflichtvergessenheit der Akolythen dringend noch vor dem morgigen Staatsbegräbnis berichtigen wollte. Vielleicht lag es nicht nur an seiner Vorstellungskraft, dass er zwischen den knappen Zeilen eine deutliche Verärgerung herauszulesen glaubte. Erleichterung und Enttäuschung vermischten sich in seinem Innern. Lewko beunruhigte ihn, aber er konnte sich keinen Besseren vorstellen, um nach der lachenden Stimme zu fragen, die er gestern während des Getümmels auf dem Tempelhof in seinem Kopf vernommen hatte. Obwohl seine größte Hoffnung — dass Lewko ihm versichern würde, es müsse sich um ein Hirngespinst gehandelt haben — ihm immer aussichtsloser erschien.

Er stieg zu seinen Gemächern empor und ließ sich von Tesko den blutdurchtränkten Verband wechseln. Dann schickte er ihn mit seinem Stadtgewand fort, um es von den Blutflecken reinigen zu lassen. Die neuen Nähte hielten noch; frischer Schorf hatte sich gebildet. Diese Verletzung, die nicht heilen wollte, bereite ihm zunehmend Sorge. Für die fortwährenden Blutungen boten sich stets auch natürliche Erklärungen an, und die meisten hingen mit seiner eigenen Sorglosigkeit zusammen. Es war nur seine eigene nervöse Vorstellungskraft, die ihm diese Vorfälle allmählich als unheilige Trankopfer erscheinen ließ. Und wenn kleine Zaubereien kleine Blutopfer erfordern, was benötigt dann ein großer Zauber?

Das Bett lockte, und er ließ sich hineinsinken. Der Gedanke ans Essen verursachte ihm immer noch Abscheu, aber Schlaf würde vielleicht heilsam wirken. Kaum hatte er sich hingelegt, wirbelten seine Gedanken auch schon wieder durcheinander. Von Anfang an hatte er angenommen, dass die Beweggründe von Ijadas mutmaßlichem Attentäter politischer Natur waren oder dass er aus Rache für Bolesos Tod handelte. Vielleicht entstanden solche Überlegungen, weil er bereits so lange in Hetwars Gefolge diente. Und doch, wenn er versuchte, mit seinen Gedanken auszugreifen, wurde alles nur unklarer. Von Tag zu Tag weiß ich weniger. Wohin würde diese Entwicklung ihn führen? In ein trübes Dasein als Dorftrottel? Seine abwegigen Vorstellungen verloren sich schließlich in benommener Erschöpfung.


Er schlief länger, als er vorgehabt hatte; danach aber fühlte er sich, als hätte er seinem Körper lange überfällige Schulden zurückgezahlt. Neu beflügelt ließ er von Tesko die Anordnung nach unten schicken, dass das Abendessen für ihn und seine Gefangene im Salon im Erdgeschoss aufgetragen werden sollte. Er legte wieder seine Stadtkleidung an, kämmte sich, grübelte darüber nach, weshalb er kein Lavendelwasser besaß, fragte sich, ob er Tesko morgen ausschicken sollte, um welches zu kaufen, putzte sich die Zähne und rasierte sich zum zweiten Mal an diesem Tag, während draußen die Dunkelheit hereinbrach. Dann holte er tief Luft und stieg die Treppen hinunter.

Er betrat den Salon und traf Ijada bereits dort an. Sie stand im Schein der Wandleuchter, in dem weizengelben Kleid, das aussah wie Kerzenlicht selbst. Beim Klang seiner Schritte wandte sie sich um, und ein verlockendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

Er konnte schlecht über sie herfallen wie ein hungriger Wolf, vor allem deshalb nicht, weil diese verdammte Zofe und Aufpasserin unmittelbar neben ihr stand, die Hände und die Lippen fest zusammengepresst. Bestürzt stellte er fest, dass der Tisch für drei Personen gedeckt war. Rossflutens Zofe war gewiss auch Rossflutens Spionin. Und die Anstandsdame einfach fortzuschicken, mochte nicht abschätzbare Gefahren mit sich bringen.

Ungeachtet seiner im Fluss befindlichen Loyalitäten ging er davon aus, dass er auf den eigenen Ruf ebenso achten musste wie auf den von Ijada, wollte er nicht riskieren, seines Postens enthoben zu werden. Doch er konnte ein Lächeln wagen — und das tat er auch. Er konnte ebenfalls riskieren, ihre Hand zu berühren — wenn auch nur zu einem höflichen Handkuss. Der Duft ihrer Haut schien all seine Sinne anzuregen. Ihre bloße Intensität drohte ihn in dieser Nähe schier zu überwältigen.

Sie erwiderte den Druck seiner Hand verzweifelt; ihre Nägel stachen in seine Haut. Nur so konnte sie ihn wissen lassen: Ich fühle es auch. Er schob ihr den Stuhl zurecht, und ein Diener trug das Essen auf.

»Ich glaube, ich sehe Euch heute zum ersten Mal nicht in Reitkleidung, Lord Ingrey.«

Er berührte den kostbaren schwarzen Stoff seines Wamses. »Lady Hetwar trägt Sorge, dass die Männer ihres Gemahls dem Haus keine Unehre bereiten.«

»Dann hat sie einen ausgezeichneten Blick dafür.«

»Ach? Gut.« Ingrey schaffte es, seinen Wein zu trinken, ohne sich zu verschlucken. »Gut.« Er dachte an zu viele Dinge gleichzeitig: seine Erregung; die politischen und körperlichen Gefahren ihrer gegenwärtigen Lage; die Erschütterung durch den mystischen Kuss gestern Abend auf der Treppe. Ihm fiel Essen von der Gabel, und er versuchte verstohlen, es wieder von seinem Schoß zu bergen.

»Der Gelehrte Lewko ist nicht erschienen.«

»Oh. Ja. Er hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Er will morgen vorbeischauen, nach der Bestattung.«

»Hat sich mit Eurem Eisbären noch etwas ergeben? Oder bezüglich Eures Piraten?«

»Noch nicht. Auch wenn die Gerüchte inzwischen schon Lord Hetwar erreicht haben.«

»Und wie verlief das Gespräch mit dem Siegelbewahrer?«

Er neigte den Kopf. »Was glaubt Ihr?« Hast du gefühlt, wo ich bin und was ich empfinde, so wie ich bei dir?

Sie nickte leicht als Erwiderung und erklärte zögernd: »Angespannt. Unsicher. Es gab … einen Zwischenfall.« Ihr Blick schien seine Haut durchdringen zu wollen. Sie schaute die Zofe an, die kauend zuhörte.

»Das ist richtig.« Er holte tief Luft. »Ich glaube, man kann Siegelmeister Hetwar vertrauen. Er interessiert sich allerdings einzig und allein für die politischen Aspekte. Fürstmarschall Biast war ebenfalls zugegen, womit ich nicht gerechnet hätte. Er ließ sich nicht gleich für den Gedanken an ein Wergeld erwärmen, aber zumindest hatte ich Gelegenheit, ihn auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen.«

Sie schob mit der Gabel einige Nudeln über den Teller. »Ich glaube, die Götter interessieren sich nicht sonderlich für Politik. Nur für Seelen. Schaut auf die Seelen, Lord Ingrey, wenn Ihr wissen wollt, was die Götter vorhaben.«

Ingrey war sich der finster dreinblickenden Zofe bewusst und wechselte das Thema. Im Plauderton fragte er nach Ijadas Tag, und sie berichtete ihm von einem alten Buch mit häuslichen Ratschlägen, offenbar die einzige Lektüre, die hier zu finden gewesen war. Danach geriet die Unterhaltung eine Weile ins Stocken. Das entsprach nicht gerade dem, was er erhofft hatte, aber zumindest waren sie beide im selben Raum. Vielleicht sollte ich ein wenig anspruchsvoller sein.

Ein kräftiges Klopfen an der Eingangstür, die Schritte des Pförtners, Stimmen. Ingrey spannte sich an und stellte fest, dass er sein Schwert oben zurückgelassen hatte und nur das Gürtelmesser mit sich führte. Als er Wenzels Stimme erkannte, entspannte er sich ein wenig. Er erhob sich, als der Kurgraf in die Stube trat. Auch die Zofe kam eiligst auf die Füße und knickste ehrerbietig.

»Ingrey. Lady Ijada.« Wenzel nickte ihnen zu. Er trug ein vollständiges höfisches Trauergewand, das ein wenig verschmutzt von der Reise wirkte. Er sah müde, ja erschöpft aus. Mit einem Auge erfasste er die Anzahl der Stühle. »Du kannst dich zurückziehen«, ließ er die Zofe wissen. »Nimm deinen Teller mit.«

Die Frau knickste erneut und verließ eilig den Raum. Man musste sie nicht erst auffordern, die Tür hinter sich zu schließen — zumindest Wenzel musste das nicht.

»Habt Ihr schon etwas gegessen?«, fragte Lady Ijada zuvorkommend.

»Das ein oder andere.« Er winkte ab. »Nur ein wenig Wein, bitte.«

Sie schenkte ihm aus der Karaffe ein. Er nahm den Becher entgegen, lehnte sich im Stuhl zurück, streckte die Beine aus und legte den Kopf in den Nacken. »Geht es Euch gut, Lady Ijada? Tragen meine Leute für Euer Wohlergehen Sorge?«

»Ja, vielen Dank. Zumindest für mein körperliches Wohlergehen. Was mir fehlt, sind die Neuigkeiten.«

Wenzel hob wieder den Kopf. »Es gibt keine Neuigkeiten, zumindest nicht für Euren Fall. Boleso ist in der Tempelstadt angekommen, wo sein Leichnam heute Nacht aufgebahrt bleibt. Morgen um diese Zeit wird dieses Schauspiel sein Ende finden.« Er verzog das Gesicht.

Und das Schauspiel von Ijadas Prozess wird seinen Anfang nehmen? »Ich habe nachgedacht. Wenzel …« Kurz und bündig legte Ingrey erneut seine Vorstellungen von einem Wergeld dar. »Wenn Ihr wirklich die Ehre Eures Hauses wiederherstellen wollt, Vetter, könnte das zumindest eine Möglichkeit sein. Wenn man sowohl die Hirschendorns wie auch die Dachswalls überzeugen könnte. Und ich möchte darauf hinweisen, dass Ihr besonders geeignet wärt, so etwas zu bewerkstelligen.«

Wenzel bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. »Ich habe das Gefühl, Ihr seid nicht eben ein unvoreingenommener Kerkermeister.«

»Hättet Ihr einen solchen Kerkermeister haben wollen, hättet Ihr ihn gewiss auftreiben können«, erwiderte Ingrey trocken.

Wenzel hob den Becher zu einem leicht spöttischen Salut und trank. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wo wir gerade von indirekten Hinweisen sprechen … Ich nehme an, die Tatsache, dass ich noch nicht für meine Heimsuchung festgesetzt wurde, erlaubt mir die Schlussfolgerung, dass ihr bislang über unsere Geheimnisse Stillschweigen bewahrt habt?«

»Ich habe es bisher geschafft, bei meinen Unterredungen Euren Namen nicht zu erwähnen. Ich weiß allerdings nicht, wie lange ich dazu noch in der Lage sein werde. Leider habe ich im Tempel ein wenig ungelegene Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Habt Ihr schon von dem Eisbären gehört?«

Wenzel kräuselte die Lippen. »Da der Leichenzug heute arm an Andacht war, aber reich an Geschwätz, ja. Die Geschichten, die mir zu Ohren kamen, waren lebhaft, widersprüchlich und unklar. Vermutlich war ich der einzige Zuhörer, der die Ereignisse wirklich verstehen konnte. Ich gratuliere Euch. Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr diese Fähigkeit so bald entdeckt.«

»Mein Wolf hat noch nie auf diese Weise zu mir gesprochen.«

»Die erhabenen Tiere haben keine Sprache. Diese Ausgestaltung muss von dem Menschen kommen. Das Ganze ist anders als jedes der Teile für sich. Sie verändern einander, während sie verschmelzen.«

Ingrey dachte einen Augenblick über diese Bemerkung nach und fand sie inhaltsschwer, aber beunruhigend nebulös. Er beschloss, die andere Stimme nicht zu erwähnen.

»Außerdem«, fügte Wenzel hinzu, »war Euer Wolf zuvor tatsächlich gebunden. In Eurem Innern verwahrt, doch von Euch geschieden. In dieser Frage hat sich weder die Kirche geirrt noch ich, so viel kann ich Euch versichern. Was mir ein Rätsel bleibt, ist der Umstand, wie er sich befreien konnte.« Fragend hob Wenzel die Brauen.

Ingrey beschloss, nicht darauf einzugehen. »Was sonst kann es … kann ich … könnten wir noch tun?«

»Die Zauberstimme ist tatsächlich eine große und raffinierte Macht, näher an der Essenz des Ganzen, als Ihr wisst.«

»Da ich so gut wie gar nichts weiß, ist das nicht schwer zu erraten, Wenzel.«

Wenzel zuckte die Achseln. »Aber natürlich geboten die Schamanen der Waldland-Stämme noch über andere Fähigkeiten. Visionen, die niemals trogen. Heilkräfte über die Wunden des Körpers und des Geistes, über Fieber und Krankheiten des Blutes. Mitunter konnten sie Menschen folgen, deren Geist in tiefster Finsternis versunken war, und sie zurückbringen. Manchmal konnten sie ihre Kräfte auch zum gegenteiligen Zwecke gebrauchen: Sie konnten ihre Opfer in eine solche Finsternis stürzen oder eine Heilung hintertreiben, bis hin zum Tod. Und es gab Zaubereien, die noch düsterer waren und mitunter sogar Menschenopfer erforderten.«

Beispielsweise das Auferlegen eines Bannes?, fragte sich Ingrey.

»Bedeutsame Kräfte«, fuhr Wenzel leiser fort, »und doch … selbst in den Tagen größten Glanzes und größter Bedrängnis waren diese Kräfte des Alten Weald nicht bedeutsam genug. Hoffnungslos in der Minderzahl, wurden die Schamanen und die Totemkrieger des Alten Weald von ihren unerbittlichen Feinden niedergeworfen. Lasst Euch das zur Mahnung gereichen, Ingrey. Wir sind in dieser Angelegenheit viel zu sehr auf uns allein gestellt. Nur in der Verborgenheit können wir Sicherheit gewinnen.«

Ijada holte tief Luft und wagte einzuwenden: »Ich habe gehört, dass Audar der Große die Zaubereien des Weald allein mit der Macht des Schwertes überwinden konnte, während seines letzten Vorstoßes. Mit Schwert und Tapferkeit.«

Wenzel schnaubte. »Darthacische Lügen. Er hatte alle Tempelzauberer und Heilige versammelt, die Darthaca aufbieten konnte. Der Verrat der Götter selbst war nötig, um uns Am Heiligen Baum zu Fall zu bringen.«

Ingrey erriet, worauf Ijada hinauswollte, und folgte ihrem Fingerzeig. »Ja, was weiß Eure Bibliothek auf Burg Rossfluten über das Blutfeld zu berichten, das in den darthacischen Chroniken nicht zu finden ist?«

Wenzels Mundwinkel hoben sich zu einem unheimlichen Lächeln: »Genug um zu wissen, dass alles, was in der heutigen verwahrlosten Zeit gelehrt wird, nur Lügenmärchen sind.«

»Nun, an was für unheiligen Riten auch immer die Wealdländer sich dort versucht haben, Audar hat gewonnen«, wandte Ingrey ein. »Das ist keine Lüge.«

Verärgert hob Wenzel die Schultern. »Nicht unheilig, sondern eine große, wenn auch verzweifelte Tat! Das Weald war auf das Bitterste bedrängt. Im Verlauf der vorangegangenen Generationen hatten wir die Hälfte unseres Landes an Darthaca verloren. Die tapfersten unserer jungen Männer starben zuhauf unter darthacischen Speeren.«

»Die militärischen Schriften, die ich gelesen habe, sind sich alle einig, dass Audars Armee besser organisiert, ausgebildet und geführt war. Und sein Tross war nach den Maßstäben der damaligen Zeit ein Wunderwerk«, stellte Ingrey fest. »Fast in Marschgeschwindigkeit bauten sie sich ihre eigenen Straßen durch den Wald.«

»So schnell wohl kaum, aber in der Tat: Ihr Vorstoß in jedes Stammesgebiet vollzog sich mit der Heftigkeit einer alles verzehrenden Seuche. Da ihnen all die eigenen Mittel zu Gebote standen und dazu die Hälfte der unseren bereits in die Hände gefallen war, reichte Mut allein nicht aus, um ihren Vormarsch aufzuhalten. Der Geheiligte König in jenen Tagen — der letzte wahre gesalbte Diener unseres Volkes, und zufällig einer meiner Rossfluten-Vorfahren — versammelte sich mit sämtlichen Schamanen aller Sippen, die er aufbieten konnte. Gemeinsam ersannen sie ein großes Ritual, das ihre Totemkrieger unbezwingbar machen sollte.

Machtvolle Männer, die man nicht verwunden oder töten konnte, sollten sich den Darthacaniern zur Schlacht stellen und sie auf immerdar über den Fluss Lure hinaus zurückwerfen. Männer, deren Körper und Geist an das heilige Weald selbst gebunden sein sollten, die von der Lebenskraft des Weald erhalten wurden, bis der Sieg errungen war. Die Legendenlieder, die sie ersannen, um den magischen Bund zu knüpfen, sollten sich über drei Tage hinziehen; all die Stimmen sollten sich zu einer vereinen, zu einem Chor von einzigartiger Herrlichkeit, größer und in höherem Maße Eins als alles, was je zuvor versucht worden war. Sie beschworen die Stärke des Waldes selbst.«

Ijada lauschte atemlos und flüsterte: »Was ist schiefgelaufen?«

Wenzel schüttelte den Kopf und presste die Lippen so fest aufeinander, dass alles Blut daraus wich. »Es wäre geglückt, hätte Audar es nicht mit Hilfe seiner Zauberer und der Götter geschafft, zu früh über uns zu kommen. Ein Gewaltmarsch von beispielloser Geschwindigkeit führte ihn durch die Wälder und über die Berge, und dann, anstatt seinen Männern Ruhe zu gönnen und auf das Tageslicht zum Angriff zu warten, wagte er den sofortigen Angriff im Dunkel. Es war die Nacht des zweiten Tages während des großen Rituals, und wir waren überrascht und verwundbar. Die Schamanen der Stämme waren erschöpft und ausgelaugt von ihren Mühen, der König war schon gebunden, doch die Krieger noch nicht zur Gänze.«

»Ihr … wir haben trotzdem gekämpft?«, fragte sie.

»Oh, mit größter Erbitterung! Aber Audar hatte Truppen in dreifacher Stärke der unseren zusammengezogen. Ich … niemand hätte vermutet, dass er so viele Männer in so kurzer Zeit über eine so große Strecke heranführen könnte.«

»Trotzdem muss es schwierig gewesen sein, Krieger zu bezwingen, deren Wunden auf magische Weise wieder heilten. Wie konnte das gelingen?«

»Wenn man alle Leiber in der einen Grube verscharrt und sämtliche Köpfe in einer anderen, eine halbe Meile entfernt, sterben selbst Männer mit solch übernatürlichen Kräften. Den Geheiligten König, die Nabe des Zaubers, töteten sie als Ersten, wenn auch nicht durch Enthauptung, wie ich Euch versichern kann. Sie brachen ihm die Gliedmaßen und warfen ihn in die erste Grube. Dann häuften sie die geköpften Leiber all seiner Getreuen über ihn. Es zog sich über Stunden hin, bis er starb, und am Ende erstickte er — ertrank im Blut seines geliebten Volkes.« Wenzels Augen funkelten im Kerzenlicht.

»Audars Männer arbeiteten die ganze Nacht und den ganzen Tag«, fuhr er fort, »rot bis zu den Hüften und halb wahnsinnig ob dieser Aufgabe. Einige brachen zusammen, aus Grauen vor den eigenen Taten … Sie saßen da und wiegten sich und jammerten. Sie erschlugen alle, derer sie Am Heiligen Baum habhaft werden konnten, ob sie sich nun ergaben oder Widerstand leisteten: Schamanen, Totemkrieger, unschuldige Trossknechte, Männer, Frauen und Kinder. Sie gingen kein Wagnis ein. Sie rissen ein jedes Bauwerk nieder, töteten jedes Tier, fällten den Opferbaum und verbrannten ihn.

Den ältesten Sohn und gesegneten Erben des Geheiligten Königs enthaupteten sie zuletzt, am Ende des folgenden Tages, nachdem er alles mitangesehen hatte. Als in den Grenzen jenes heiligen Ortes außer den Bäumen nichts Lebendes mehr geblieben war, zogen sie sich zurück und versperrten den Zugang. Als wollten sie ihre Schuld mit uns zusammen vergraben. Und der Regen fiel und der Schnee ungezählter Winter, und Menschen starben und vergaßen den Ort am Heiligen Baum und all die Herrlichkeit, die dort ein Ende gefunden hatte.«

Ingrey stellte fest, dass er beinahe das Atmen vergessen hatte, so gebannt war er von Wenzels leidenschaftlicher Darstellung dieser alten Geschichte. Was für Enthüllungen würde Wenzel sich sonst noch entlocken lassen? »Wie es hieß, war Audar wütend über die Vertragsverletzungen der Stämme, und hinterher bedauerte er das Gemetzel. Er hinterlegte gewaltige Opfergaben im Tempel, um für seine Seele die Vergebung zu erflehen.«

»Sein Tempel«, stieß Wenzel höhnisch hervor. »Er nahm mit der Linken, was er mit der Rechten gab. Und ein erzwungener Vertrag ist kein gültiger Vertrag, sondern Raub. Die Übergriffe der Darthacanier wollten kein Ende nehmen, und ihre Verträge waren selbstsüchtige Lügen.«

»Ich weiß nicht.« Ingrey versuchte, nüchtern zu bleiben. »Aus den Chroniken geht deutlich genug hervor, dass die Darthacanier nicht von Anfang an daran gedacht haben, das Weald zu erobern. Im Verlauf zweier Generationen sind sie immer weiter hineingerutscht. Wann immer sie zur Ruhe kamen, hatten sie nur wieder eine neue Grenze zu verteidigen, und die ungebärdigen Stämme zermürbten ihre Stellungen. So mussten sie ihre Vorposten noch weiter nach vorne legen, um die Grenze zu schützen, und das ganze Spiel begann von neuem.«

»Ihr seid selbst ein halber Darthacanier, Ingrey«, stellte Wenzel fest.

»Das sind heutzutage die meisten von uns.«

»Ja. Ich weiß.«

»Doch einige Stammeskrieger entkamen zur Grenze«, sagte Ijada und musterte Wenzel. Ihre Hände lagen angespannt auf dem Schoß. »Sie kämpften weiter, unsere Ahnen. Wir schlugen zurück, und schließlich trugen wir den Sieg davon. Das Weald wurde erneuert.«

Wenzel schnaubte. »Audars Reich zerfiel unter den Zwistigkeiten und den Dummheiten seiner Urenkel, nicht durch irgendeine Tugend, die dem Weald geblieben war. Was anderthalb Jahrhunderte später hier wieder aufgebaut wurde, war nur noch ein Schatten des Alten Weald, ein Zerrbild, seines Innersten und seiner Schönheiten beraubt, ein Abdruck im Morast der darthacischen quintarischen Orthodoxie. Die Männer, die diese Parodie des geheiligten Königtums wieder ins Leben riefen, glaubten daran, dass sie etwas wiederherstellten. Aber sie wussten nicht einmal, was sie verloren hatten.

Die großen freien Tage, die Tage des Waldes, waren vorüber, unter einem Netz von Straßen gefangen, von Mühlen gegeißelt, niedergehauen mitsamt der Bäume, die den Städten hatten weichen müssen, erdrückt von der Last der steinernen Tempel Audars. Einhundertfünfzig Jahre voller Tränen und Mühen und Blut — für nichts! Sie beglückwünschten einander schon selbstgefällig, diese neuen Sippenführer, die mächtigen reichen Kurgrafen — und die geistlichen Kurfürsten, was für ein Hohn! Aber ihr ruhmvoller Thron barg gar nichts, außer dem Arsch, der darauf saß. Sie hätten wehklagen sollen über die Asche ihrer Vergangenheit, an jenem Tag des endgültigen Verrates.«

Endlich schien Wenzel auf die weit aufgerissenen Augen seiner beiden Zuhörer aufmerksam zu werden. »Pfui! So endet also die Lehrstunde, Kinder.« Er stieß den Atem aus. »Ich werde trübsinnig. Es war ein unschöner Tag und viel zu lang. Ich sollte nach Hause gehen. Zu meiner Frau.«

Tonlos presste Ijada hervor: »Wie nimmt sie das alles auf?«

»Nicht so gut«, räumte Wenzel ein.

Ingrey machte sich plötzlich Sorgen, was für ein Zug gegen Ijada wohl aus dieser Richtung erfolgte. Prinzessin Fara war eine Hirschendorn, die mit Geld möglicherweise nicht zufrieden war und Blut wollte, um damit die Schuld von den eigenen Händen zu waschen. Und Fara fand gewiss nicht nur bei Wenzel Gehör, sondern auch bei ihrem Bruder Biast.

Wenzel schob den Stuhl zurück, rieb sich den Nasenrücken und stand auf. Seine Augen waren von dunklen Ringen umgeben, wie Ingrey auffiel. Und sie wirkten viel zu alt für sein Gesicht.

Ingrey geleitete ihn zum Ausgang. Dann kehrte er in den Salon zurück und schloss die Tür, ehe die Zofe wieder auftauchen konnte. Ijada runzelte die Stirn, als er neben ihr Platz nahm.

»Ich frage mich«, sagte sie, »was Wenzel für Träume hatte.«

»Hm?«

Sie klopfte mit zwei Fingern gegen die Tischkante. »Er sprach über das Blutfeld nicht wie einer, der davon gelesen oder gehört hat. Er sprach darüber, als hätte er es selbst gesehen.«

»Genau wie du, meinst du? Wenn auch zu einer anderen Zeit.«

»Mein Traum spielte in der Gegenwart, glaube ich. Warum sollte er von der Vergangenheit träumen? Warum sollte er überhaupt von meinen Kriegern träumen?«

»Er hält sie anscheinend für seine Krieger. Seinem Vater sagte man eine Besessenheit für die Geschichte des Weald nach. Seinem Großvater ebenfalls, glaube ich; zumindest erinnere ich mich an einige Bemerkungen meines Vaters und meiner Tante, die darauf hindeuten. Als Kind teilte er diese Leidenschaft seiner Ahnen nicht. Ich konnte jedenfalls nichts dergleichen feststellen. Aber vielleicht ließ er sich davon anstecken, nachdem er später ihre Schriften studiert hat. Er muss verzweifelt versucht haben, irgendeine Erklärung für das zu finden, was mit ihm geschehen war.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Hast du seit deiner Ankunft hier noch einmal vom Wehen Wald geträumt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es gab keinen Grund. Die Aufgabe, worin immer sie bestand, war vollbracht. Es musste nicht wiederholt werden. Nichts davon ist seither schwächer geworden oder hat sich verändert.« Ihr Blick schweifte zu seinem Gesicht. »Bis du hinzugekommen bist.«

In dieser kurzen, vertraulichen Zeitspanne fühlte Ingrey sich beim Gedanken an einen neuerlichen Kuss zwischen Furcht und Verlangen hin und her gerissen. Er schob seine verbundene Hand über die ihre. Auf ihren sinnverwirrenden Lippen zeigte sich ein dankbares Lächeln.

Dann kniff sie die Augen zusammen. »Schamane. Totemkrieger. Bannerträger. Am Heiligen Baum. Warum sollten all diese Sinnbilder des Alten Weald jetzt und hier wieder zum Leben erwachen? Wir drei sind auf so vielerlei Weise verbunden … du und Wenzel durch Blutsverwandtschaft und eine alte Tragödie, er und ich durch kürzliche Ereignisse, du und ich durch …« Sie sog die Luft ein. »Wir sollten versuchen, es herauszufinden.«

»Wir sollten versuchen, am Leben zu bleiben, Ijada!«

»Ich bin mir nicht so sicher«, erwiderte Ijada, »dass es hier darum geht, am Leben zu bleiben.«

Er umklammerte ihre Hand, obwohl ihm dabei der Schmerz durch die schlecht verheilten Verletzungen fuhr. »Jetzt werde nur nicht seltsam!«

»Warum nicht? Glaubst du etwa, die Todessehnsucht wäre allein deine Aufgabe?« In plötzlicher Belustigung blickte sie auf. »Ich muss zugeben, es steht dir gut. Ungerechterweise.« Sie beugte sich zu ihm, und er erstarrte zwischen Entzücken und Entsetzen, als ihre Lippen die seinen berührten. Diesmal blieb es eine Berührung von Fleisch und Fleisch, ein flüchtiger Eindruck von Wärme.

Bevor er sich in einer Queste nach dem heiligen Feuer auf sie stürzen konnte, öffnete sich mit einem leisen Schnappen die Tür. Die Zofe trat ein und betrachtete sie ernst. Widerwillig ließ Ingrey Ijadas Hand los und setzte sich zurück. Ihm wurde bewusst, wie rasch sein Atem ging.

Die Zofe deutete einen Knicks an. »Ich bitte um Vergebung, Herr. Aber der Graf hat mich angewiesen, stets in der Nähe meiner Herrin zu bleiben.«

»Ich bin ihm für seine Sorge sehr zu Dank verpflichtet«, erwiderte Ijada. Ihre Stimme war so ausdruckslos, dass nicht einmal Ingrey mit Gewissheit sagen konnte, ob die Worte aufrichtig gemeint waren oder spöttisch. Sie nahm ihren Becher auf, leerte ihn und setzte ihn wieder ab. »Sollen wir uns wieder in unser langweiliges Gemach zurückziehen?«

»Wenn es Euch recht ist, Herrin. Der Graf hat es so gesagt.«

Unter der trägen Halsstarrigkeit der Frau nahm Ingrey ein echtes Unbehagen wahr. Allein die weltliche Macht des Kurgrafen musste ausreichen, um sein Gesinde einzuschüchtern. Aber spürten sie auch seine anderen Kräfte — oder hatten sie diese bereits selbst zu spüren bekommen?

»Vielleicht ist es klug, wenn wir heute zeitig zu Bett gehen«, räumte Ingrey widerwillig ein. »Ich muss Lord Hetwar morgen früh zu der Bestattungszeremonie begleiten.«

Ijada nickte und stand auf. »Ich würde mich freuen, wenn Ihr mich später aufsuchen könntet, um mir davon zu berichten.«

»Gewiss, Lady Ijada.«

Er blickte ihr hinterher, wie sie den Salon verließ. Es lag nur an seiner überreizten Vorstellungskraft, dass der Raum ihm dunkler vorkam, nachdem sie ihn verlassen hatte.

Загрузка...