11.

Wir zählen die Wochen nicht mehr. Es war Winter, als ich ankam, und bei den Einschlägen der Granaten wurden die gefrorenen Erdklumpen fast ebenso gefährlich wie die Splitter. Jetzt sind die Bäume wieder grün. Unser Leben wechselt zwischen Front und Baracken. Wir sind es teilweise schon gewohnt, der Krieg ist eine Todesursache wie Krebs und Tuberkulose, wie Grippe und Ruhr. Die Todesfälle sind nur viel häufiger, verschiedenartiger und grausamer.

Unsere Gedanken sind Lehm, sie werden geknetet vom Wechsel der Tage – sie sind gut, wenn wir Ruhe haben, und tot, wenn wir im Feuer liegen. Trichterfelder draußen und drinnen.

Alle sind so, nicht wir hier allein – was früher war, gilt nicht, und man weiß es auch wirklich nicht mehr. Die Unterschiede, die Bildung und Erziehung schufen, sind fast verwischt und kaum noch zu erkennen. Sie geben manchmal Vorteile im Ausnutzen einer Situation; aber sie bringen auch Nachteile mit sich, indem sie Hemmungen wachrufen, die erst überwunden werden müssen. Es ist, als ob wir früher einmal Geldstücke verschiedener Länder gewesen wären; man hat sie eingeschmolzen, und alle haben jetzt denselben Prägestempel. Will man Unterschiede erkennen, dann muß man schon genau das Material prüfen. Wir sind Soldaten und erst später auf eine sonderbare und verschämte Weise noch Einzelmenschen.

Es ist eine große Brüderschaft, die ein Schimmer von dem Kameradentum der Volkslieder, dem Solidaritätsgefühl von Sträflingen und dem verzweifelten Einanderbeistehen von zum Tode Verurteilten seltsam vereinigt zu einer Stufe von Leben, das mitten in der Gefahr, aus der Anspannung und Verlassenheit des Todes sich abhebt und zu einem flüchtigen Mitnehmen der gewonnenen Stunden wird, auf gänzlich unpathetische Weise. Es ist heroisch und banal, wenn man es werten wollte – doch wer will das?

Es ist darin enthalten, wenn Tjaden bei einem gemeldeten feindlichen Angriff in rasender Hast seine Erbsensuppe mit Speck auslöffelt, weil er ja nicht weiß, ob er in einer Stunde noch lebt. Wir haben lange darüber diskutiert, ob es richtig sei oder nicht. Kat verwirft es, weil er sagt, man müsse mit einem Bauchschuß rechnen, der bei vollem Magen gefährlicher sei als bei leerem.

Solche Dinge sind Probleme für uns, sie sind uns ernst, und es kann auch nicht anders sein. Das Leben hier an der Grenze des Todes hat eine ungeheuer einfache Linie, es beschränkt sich auf das Notwendigste, alles andere liegt in dumpfem Schlaf; – das ist unsere Primitivität und unsere Rettung. Wären wir differenzierter, wir wären längst irrsinnig, desertiert oder gefallen. Es ist wie eine Expedition im hohen Eise; – jede Lebensäußerung darf nur der Daseinserhaltung dienen und ist zwangsläufig darauf eingestellt. Alles andere ist verbannt, weil es unnötig Kraft verzehren würde. Das ist die einzige Art, uns zu retten, und oft sitze ich vor mir selber wie vor einem Fremden, wenn der rätselhafte Widerschein des Früher in stillen Stunden wie ein matter Spiegel die Umrisse meines jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann darüber, wie das unnennbare Aktive, das sich Leben nennt, sich angepaßt hat selbst an diese Form. Alle anderen Äußerungen liegen im Winterschlaf, das Leben ist nur auf einer ständigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, – es hat uns zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu geben, – es hat uns mit Stumpfheit durchsetzt, damit wir nicht zerbrechen vor dem Grauen, das uns bei klarem, bewußtem Denken überfallen würde, – es hat in uns den Kameradschaftssinn geweckt, damit wir dem Abgrund der Verlassenheit entgehen, – es hat uns die Gleichgültigkeit von Wilden verliehen, damit wir trotz allem jeden Moment des Positiven empfinden und als Reserve aufspeichern gegen den Ansturm des Nichts. So leben wir ein geschlossenes, hartes Dasein äußerster Oberfläche, und nur manchmal wirft ein Ereignis Funken. Dann aber schlägt überraschend eine Flamme schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.

Das sind die gefährlichen Augenblicke, die uns zeigen, daß die Anpassung doch nur künstlich ist, daß sie nicht einfach Ruhe ist, sondern schärfste Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns äußerlich in der Lebensform kaum von Buschnegern; aber während diese stets so sein können, weil sie eben so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskräfte höchstens fortentwickeln, ist es bei uns umgekehrt: unsere inneren Kräfte sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zurückentwicklung angespannt. Jene sind entspannt und selbstverständlich so, wir sind es äußerst angespannt und künstlich.

Und mit Schrecken empfindet man nachts, aus einem Traum aufwachend, überwältigt und preisgegeben der Bezauberung heranflutender Gesichte, wie dünn der Halt und die Grenze ist, die uns von der Dunkelheit trennt – wir sind kleine Flammen, notdürftig geschützt durch schwache Wände vor dem Sturm der Auflösung und der Sinnlosigkeit, in dem wir flackern und manchmal fast ertrinken. Dann wird das gedämpfte Brausen der Schlacht zu einem Ring, der uns einschließt, wir kriechen in uns zusammen und starren mit großen Augen in die Nacht.

Tröstlich fühlen wir nun den Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.


* * *

Jeder Tag und jede Stunde, jede Granate und jeder Tote wetzen an diesem dünnen Halt, und die Jahre verschleißen ihn rasch. Ich sehe, wie er allmählich schon um mich herum niederbricht. Da ist die dumme Geschichte mit Detering. Er war einer von denen, die sich sehr für sich hielten. Sein Unglück war, daß er in einem Garten einen Kirschbaum sah. Wir kamen gerade von der Front, und dieser Kirschbaum stand in der Nähe des neuen Quartiers an einer Wegbiegung überraschend in der Morgendämmerung vor uns. Er hatte keine Blätter, aber er war ein einziger weißer Blütenbusch.

Abends war Detering nicht zu sehen. Er kam schließlich 246 an und hatte ein paar Zweige mit Kirschblüten in der Hand. Wir machten uns lustig und fragten, ob er auf Brautschau wolle. Er gab keine Antwort, sondern legte sich auf sein Bett. Nachts hörte ich ihn rumoren, er schien zu packen. Ich witterte Unheil und ging zu ihm. Er tat, als wäre nichts, und ich sagte ihm:»Mach keinen Unsinn, Detering.«

»Ach wo – ich kann nur nicht schlafen.«

»Weshalb hast du denn die Kirschzweige geholt?«

»Ich werde doch wohl noch Kirschzweige holen dürfen«, antwortet er verstockt – und nach einer Weile:»Zu Hause habe ich einen großen Obstgarten mit Kirschen. Wenn die blühen, sieht das vom Heuboden aus wie ein einziges Bettlaken, so weiß. Es ist jetzt die Zeit.«

»Vielleicht gibt’s bald Urlaub. Es kann auch sein, daß du, als Landwirt, abkommandiert wirst.«

Er nickt, aber er ist abwesend. Wenn diese Bauern aufgerührt sind, haben sie einen sonderbaren Ausdruck, eine Mischung von Kuh und sehnsüchtigem Gott, halb blöde und halb hinreißend. Um ihn von seinen Gedanken abzubringen, verlange ich ein Stück Brot von ihm. Er gibt es mir ohne Einschränkung. Das ist verdächtig, denn er ist sonst knauserig. Deshalb bleibe ich wach. Es passiert nichts, er ist morgens wie sonst.

Wahrscheinlich hat er gemerkt, daß ich ihn beobachtet habe.

– Am übernächsten Morgen ist er trotzdem fort. Ich sehe es, sage jedoch nichts, um ihm Zeit zu lassen, vielleicht kommt er durch. Nach Holland haben es schon verschiedene Leute geschafft.

Beim Appell aber fällt sein Fehlen auf. Nach einer Woche hören wir, daß er gefaßt ist von den Feldgendarmen, diesen verachteten Kommißpolizisten. Er hatte die Richtung nach Deutschland genommen – das war natürlich aussichtslos -, und ebenso natürlich hatte er alles sehr dumm angefangen. Jeder hätte daraus wissen können, daß die Flucht nur Heimweh und momentane Verwirrung war. Doch was begreifen Kriegsgerichtsräte hundert Kilometer hinter der Linie davon? – Wir haben nichts mehr von Detering vernommen.


* * *

Aber auch auf andere Weise bricht es manchmal heraus, dieses Gefährliche, Gestaute – wie aus überhitzten Dampfkesseln. Da ist auch noch das Ende zu berichten, das Berger fand.

Schon lange sind unsere Gräben zerschossen, und wir haben die elastische Front, so daß wir eigentlich keinen richtigen Stellungskrieg mehr führen. Wenn Angriff und Gegenangriff hin und her gegangen sind, bleibt eine zerrissene Linie und ein erbitterter Kampf von Trichter zu Trichter. Die vordere Linie ist durchbrochen, und überall haben sich Gruppen festgesetzt, Trichternester, von denen aus gekämpft wird.

Wir sind in einem Trichter, seitlich sitzen Engländer, sie rollen die Flanke auf und gelangen hinter uns. Wir sind umzingelt. Es ist schwierig, sich zu ergeben, Nebel und Rauch schwanken über uns hin, niemand würde erkennen, daß wir kapitulieren wollen, vielleicht wollen wir es auch gar nicht, das weiß man selbst nicht in solchen Momenten. Wir hören die Explosionen der Handgranaten herankommen. Unser Maschinengewehr bestreicht den vorderen Halbkreis. Das Kühlwasser verdampft, wir reichen die Kästen eilig herum, jeder pißt hinein, so haben wir wieder Wasser und können weiterfeuern. Aber hinter uns kracht es immer näher. In einigen Minuten sind wir verloren. Da rast ein zweites Maschinengewehr auf kürzeste Entfernung los. Es steckt im Trichter neben uns, Berger hat es geholt, und nun setzt ein Gegenangriff von hinten ein, wir kommen frei und finden Verbindung nach rückwärts. Als wir nachher in einigermaßen guter Deckung sind, erzählt einer von den Essenholern, daß ein paar hundert Schritte entfernt ein verwundeter Meldehund liege.

»Wo?« fragt Berger.

Der andere beschreibt es ihm. Berger geht los, um das Tier zu holen oder es zu erschießen. Noch vor einem halben Jahr hätte er sich nicht darum gekümmert, sondern wäre vernünftig gewesen. Wir versuchen, ihn zurückzuhalten. Doch als er ernsthaft geht, können wir nur sagen:»Verrückt!« und ihn laufenlassen. Denn diese Anfälle von Frontkoller werden gefährlich, wenn man den Mann nicht gleich zu Boden werfen und festhalten kann. Und Berger ist ein Meter achtzig groß, der kräftigste Mann der Kompanie.

Er ist tatsächlich verrückt, denn er muß durch die Feuerwand;

– aber es ist dieser Blitz, der irgendwo über uns allen lauert, der in ihn eingeschlagen ist und ihn besessen macht. Bei andern ist es so, daß sie zu toben anfangen, daß sie wegrennen, ja einer war da, der sich mit Händen und Füßen und Mund immerfort in die Erde einzugraben versuchte. Es wird natürlich auch viel simuliert mit solchen Sachen, aber das Simulieren ist ja eigentlich auch schon ein Zeichen. Berger, der den Hund erledigen will, wird mit einem Beckenschuß weggeholt, und einer der Leute, die es tun, kriegt sogar dabei noch eine Gewehrkugel in die Wade.


* * *

Müller ist tot. Man hat ihm aus nächster Nähe eine Leuchtkugel in den Magen geschossen. Er lebte noch eine halbe Stunde bei vollem Verstande und furchtbaren Schmerzen. Bevor er starb, übergab er mir seine Brieftasche und vermachte mir seine Stiefel – dieselben, die er damals von Kemmerich geerbt hat. Ich trage sie, denn sie passen mir gut. Nach mir wird Tjaden sie bekommen, ich habe sie ihm versprochen.

Wir haben Müller zwar begraben können, aber lange wird er wohl nicht ungestört bleiben. Unsere Linien werden zurückgenommen. Es gibt drüben zu viele frische englische und amerikanische Regimenter. Es gibt zuviel Corned beef und weißes Weizenmehl. Und zuviel neue Geschütze. Zuviel Flugzeuge.

Wir aber sind mager und ausgehungert. Unser Essen ist so schlecht und mit so viel Ersatzmitteln gestreckt, daß wir krank davon werden. Die Fabrikbesitzer in Deutschland sind reiche Leute geworden – uns zerschrinnt die Ruhr die Därme. Die Latrinenstangen sind stets dicht gehockt voll; – man sollte den Leuten zu Hause diese grauen, gelben, elenden, ergebenen Gesichter hier zeigen, diese verkrümmten Gestalten, denen die Kolik das Blut aus dem Leibe quetscht und die höchstens mit verzerrten, noch schmerz-bebenden Lippen sich angrinsen:»Es hat gar keinen Zweck, die Hose wieder hochzuziehen -«

Unsere Artillerie ist ausgeschossen – sie hat zuwenig Munition -, und die Rohre sind so ausgeleiert, daß sie unsicher schießen und bis zu uns herüberstreuen. Wir haben zuwenig Pferde. Unsere frischen Truppen sind blutarme, erholungsbedürftige Knaben, die keinen Tornister tragen können, aber zu sterben wissen. Zu Tausenden. Sie verstehen nichts vom Kriege, sie gehen nur vor und lassen sich abschießen. Ein einziger Flieger knallte aus Spaß zwei Kompanien von ihnen weg, ehe sie etwas von Deckung wußten, als sie frisch aus dem Zuge kamen.

»Deutschland muß bald leer sein«, sagt Kat.

Wir sind ohne Hoffnung, daß einmal ein Ende sein könnte. Wir denken überhaupt nicht so weit. Man kann einen Schuß bekommen und tot sein; man kann verletzt werden, dann ist das Lazarett die nächste Station. Ist man nicht amputiert, dann fällt man über kurz oder lang einem dieser Stabsärzte in die Hände, die, das Kriegsverdienstkreuz im Knopfloch, einem sagen:»Wie, das bißchen verkürzte Bein? An der Front brauchen Sie nicht zu laufen, wenn Sie Mut haben. Der Mann ist k.v. Wegtreten!«

Kat erzählt eine der Geschichten, die die ganze Front von den Vogesen bis Flandern entlanglaufen, – von dem Stabsarzt, der Namen vorliest auf der Musterung und, wenn der Mann vortritt, ohne aufzusehen, sagt:»K. v. Wir brauchen Soldaten draußen.« Ein Mann mit Holzbein tritt vor, der Stabsarzt sagt wieder: k.v. -»Und da«, Kat hebt die Stimme,»sagt der Mann zu ihm: ›Ein Holzbein habe ich schon; aber wenn ich jetzt hinausgehe und wenn man mir den Kopf abschießt, dann lasse ich mir einen Holzkopf machen und werde Stabsarzt!‹«- Wir sind alle tief befriedigt über diese Antwort.

Es mag gute Ärzte geben, und viele sind es; doch einmal fällt bei den hundert Untersuchungen jeder Soldat einem dieser zahlreichen Heldengreifer in die Finger, die sich bemühen, auf ihrer Liste möglichst viele a. v. und g. v. in k. v. zu verwandeln.

Es gibt manche solcher Geschichten, sie sind meistens noch viel bitterer. Aber sie haben trotzdem nichts mit Meuterei und Miesmachen zu tun; sie sind ehrlich und nennen die Dinge beim Namen; denn es besteht sehr viel Betrug, Ungerechtigkeit und Gemeinheit beim Kommiß. Ist es nicht viel, daß trotzdem Regiment auf Regiment in den immer aussichtsloser werdenden Kampf geht und daß Angriff auf Angriff erfolgt bei zurückweichender, zerbröckelnder Linie?

Die Tanks sind vom Gespött zu einer schweren Waffe geworden. Sie kommen, gepanzert, in langer Reihe gerollt und verkörpern uns mehr als anderes das Grauen des Krieges.

Die Geschütze, die uns das Trommelfeuer herüberschicken, sehen wir nicht, die angreifenden Linien der Gegner sind Menschen wie wir – aber diese Tanks sind Maschinen, ihre Kettenbänder laufen endlos wie der Krieg, sie sind die Vernichtung, wenn sie fühllos in Trichter hineinrollen und wieder hochklettern, unaufhaltsam, eine Flotte brüllender, rauchspeiender Panzer, unverwundbare, Tote und Verwundete zerquetschende Stahltiere. – Wir schrumpfen zusammen vor ihnen in unserer dünnen Haut, vor ihrer kolossalen Wucht werden unsere Arme zu Strohhalmen und unsere Handgranaten zu Streichhölzern.

Granaten, Gasschwaden und Tankflottillen – Zerstampfen, Zerfressen, Tod.

Ruhr, Grippe, Typhus – Würgen, Verbrennen, Tod. Graben, Lazarett, Massengrab – mehr Möglichkeiten gibt es nicht.


* * *

Bei einem Angriff fällt unser Kompanieführer Bertinck. Er war einer dieser prachtvollen Frontoffiziere, die in jeder brenzligen Situation vorne sind. Seit zwei Jahren war er bei uns, ohne daß er verwundet wurde, da mußte ja endlich etwas passieren. Wir sitzen in einem Loch und sind eingekreist. Mit den Pulverschwaden weht der Gestank von öl oder Petroleum herüber. Zwei Mann mit einem Flammenwerfer werden entdeckt, einer trägt auf dem Rücken den Kasten, der andere hat in den Händen den Schlauch, aus dem das Feuer spritzt. Wenn sie so nahe herankommen, daß sie uns erreichen, sind wir erledigt, denn zurück können wir gerade jetzt nicht.

Wir nehmen sie unter Feuer. Doch sie arbeiten sich näher heran, und es wird schlimm. Bertinck liegt mit uns im Loch. Als er merkt, daß wir nicht treffen, weil wir bei dem scharfen Feuer zu sehr auf Deckung bedacht sein müssen, nimmt er ein Gewehr, kriecht aus dem Loch und zielt, liegend aufgestützt. Er schießt – im selben Moment schlägt eine Kugel bei ihm klatschend auf, er ist getroffen. Doch er bleibt liegen und zielt weiter – einmal setzt er ab und legt dann aufs neue an; endlich kracht der Schuß. Bertinck läßt das Gewehr fallen, sagt:»Gut«, und rutscht zurück. Der hinterste der beiden Flammenwerfer ist verletzt, er fällt, der Schlauch rutscht dem andern weg, das Feuer spritzt nach allen Seiten, und der Mann brennt.

Bertinck hat einen Brustschuß. Nach einer Weile schmettert ihm ein Splitter das Kinn weg. Der gleiche Splitter hat noch die Kraft, Leer die Hüfte aufzureißen. Leer stöhnt und stemmt sich auf die Arme, er verblutet rasch, niemand kann ihm helfen. Wie ein leerlaufender Schlauch sackt er nach ein paar Minuten zusammen. Was nützt es ihm nun, daß er in der Schule ein so guter Mathematiker war.


* * *

Die Monate rücken weiter. Dieser Sommer 1918 ist der blutigste und der schwerste. Die Tage stehen wie Engel in Gold und Blau unfaßbar über dem Ring der Vernichtung. Jeder hier weiß, daß wir den Krieg verlieren. Es wird nicht viel darüber gesprochen, wir gehen zurück, wir werden nicht wieder angreifen können nach dieser großen Offensive, wir haben keine Leute und keine Munition mehr. Doch der Feldzug geht weiter – das Sterben geht weiter – Sommer 1918 – Nie ist uns das Leben in seiner kargen Gestalt so begehrenswert erschienen wie jetzt; – der rote Klatschmohn auf den Wiesen unserer Quartiere, die glatten Käfer an den Grashalmen, die warmen Abende in den halbdunklen, kühlen Zimmern, die schwarzen, geheimnisvollen Bäume der Dämmerung, die Sterne und das Fließen des Wassers, die Träume und der lange Schlaf – o Leben, Leben, Leben!

Sommer 1918 – Nie ist schweigend mehr ertragen worden als in dem Augenblick des Aufbruchs zur Front. Die wilden und aufpeitschenden Gerüchte von Waffenstillstand und Frieden sind aufgetaucht, sie verwirren die Herzen und machen den Aufbruch schwerer als jemals!

Sommer 1918 – Nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als in den Stunden des Feuers, wenn die bleichen Gesichter im Schmutz liegen und die Hände verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch! Nicht jetzt noch im letzten Augenblick! Sommer 1918 – Wind der Hoffnung, der über die verbrannten Felder streicht, rasendes Fieber der Ungeduld, der Enttäuschung, schmerzlichste Schauer des Todes, unfaßbare Frage: Warum? Warum macht man kein Ende? Und warum flattern diese Gerüchte vom Ende auf?


* * *

Es gibt so viele Flieger hier, und sie sind so sicher, daß sie auf einzelne Leute Jagd machen wie auf Hasen. Auf ein deutsches Flugzeug kommen mindestens fünf englische und amerikanische. Auf einen hungrigen, müden deutschen Soldaten im Graben kommen fünf kräftige, frische andere im gegnerischen. Auf ein deutsches Kommißbrot kommen fünfzig Büchsen Fleischkonserven drüben. Wir sind nicht geschlagen, denn wir sind als Soldaten besser und erfahrener; wir sind einfach von der vielfachen Übermacht zerdrückt und zurückgeschoben.

Einige Regenwochen liegen hinter uns – grauer Himmel, graue zerfließende Erde, graues Sterben. Wenn wir hinausfahren, dringt uns bereits die Nässe durch die Mäntel und Kleider, – und so bleibt es die Zeit vorne auch. Wir werden nicht trocken. Wer noch Stiefel trägt, bindet sie oben mit Sandsäcken zu, damit das Lehmwasser nicht so rasch hineinläuft. Die Gewehre verkrusten, die Uniformen verkrusten, alles ist fließend und aufgelöst, eine triefende, feuchte, ölige Masse Erde, in der die gelben Tümpel mit spiralig roten Blutlachen stehen und Tote, Verwundete und Überlebende langsam versinken.

Der Sturm peitscht über uns hin, der Splitterhagel reißt aus dem wirren Grau und Gelb die spitzen Kinderschreie der Getroffenen, und in den Nächten stöhnt das zerrissene Leben sich mühsam dem Schweigen zu. Unsere Hände sind Erde, unsere Körper Lehm und unsere Augen Regentümpel. Wir wissen nicht, ob wir noch leben.

Dann stürzt die Hitze wie eine Qualle feucht und schwül in unsere Löcher, und an einem dieser Spätsommertage, beim Essenholen, fällt Kat um. Wir beide sind allein. Ich verbinde seine Wunde; das Schienbein scheint zerschmettert zu sein. Es ist ein Knochenschuß, und Kat stöhnt verzweifelt:»Jetzt noch – gerade jetzt noch -« Ich tröste ihn. »Wer weiß, wie lange der Schlamassel noch dauert! Du bist erst mal gerettet-«

Die Wunde beginnt heftig durchzubluten. Kat kann nicht allein bleiben, damit ich eine Bahre zu holen versuche. Ich weiß auch nirgendwo eine Sanitätsstation in der Nähe.

Kat ist nicht sehr schwer; deshalb nehme ich ihn auf den Rücken und gehe zurück mit ihm zum Verbandsplatz.

Zweimal machen wir Rast. Er hat starke Schmerzen durch den Transport. Wir sprechen nicht viel. Ich habe den Kragen meiner Jacke aufgemacht und atme heftig, ich schwitze, und mein Gesicht ist gedunsen von der Anstrengung des Tragens. Trotzdem dränge ich, daß wir weitergehen, denn das Terrain ist gefährlich.

»Geht’s wieder, Kat?«

»Muß wohl, Paul.«

»Dann los.«

Ich richte ihn auf, er steht auf dem unverletzten Bein und hält sich an einem Baum fest. Dann fasse ich vorsichtig das verwundete Bein, er gibt sich einen Ruck, und ich nehme auch das Knie des gesunden Beines unter den Arm. Unser Weg wird schwieriger. Manchmal pfeift eine Granate heran. Ich gehe, so schnell ich vermag, denn das Blut von Kats Wunde tropft zu Boden. Wir können uns nur schlecht schützen vor den Einschlägen, denn ehe wir Deckung nehmen, sind sie längst vorüber. Um abzuwarten, legen wir uns in einen kleinen Trichter. Ich gebe Kat Tee aus meiner Feldflasche. Wir rauchen eine Zigarette. »Ja, Kat«, sage ich trübsinnig,»nun kommen wir doch noch auseinander.«

Er schweigt und sieht mich an.

»Weißt du noch, Kat, wie wir die Gans requirierten? Und wie du mich aus dem Schlamassel holtest, als ich noch ein kleiner Rekrut und zum erstenmal verwundet war? Damals habe ich noch geweint. Kat, es sind fast drei Jahre jetzt.«

Er nickt.

Die Angst vor dem Alleinsein steigt in mir auf. Wenn Kat abtransportiert ist, habe ich keinen Freund mehr hier.

»Kat, wir müssen uns auf jeden Fall wiedersehen, wenn wirklich Frieden ist, ehe du zurückkommst.«

»Glaubst du, daß ich mit dem Knochen da noch mal k. v. werde?« fragt er bitter.

»Du wirst ihn in Ruhe ausheilen. Das Gelenk ist ja in Ordnung. Vielleicht klappt es doch damit.«

»Gib mir noch eine Zigarette«, sagt er.

»Vielleicht können wir irgend etwas später zusammen machen, Kat.«- Ich bin sehr traurig, es ist unmöglich, daß Kat – Kat, mein Freund, Kat mit den Hängeschultern und dem dünnen, weichen Schnurrbart, Kat, den ich kenne auf eine andere Weise als jeden anderen Menschen, Kat, mit dem ich diese Jahre geteilt habe -, es ist unmöglich, daß ich Kat vielleicht nicht wiedersehen soll.

»Gib mir deine Adresse für zu Hause, Kat, auf jeden Fall. Und hier ist meine, ich schreibe sie dir auf.« Den Zettel schiebe ich in meine Brusttasche. Wie verlassen ich schon bin, obschon er noch neben mir sitzt. Soll ich mir rasch in den Fuß schießen, um bei ihm bleiben zu können? Kat gurgelt plötzlich und wird grün und gelb. »Wir wollen weiter«, stammelt er.

Ich springe auf, glühend, ihm zu helfen, ich nehme ihn hoch und setze mich in Lauf, einen gedehnten, langsamen Dauerlauf, damit sein Bein nicht zu sehr schlenkert.

Mein Hals ist trocken, es tanzt mir rot und schwarz vor den Augen, als ich verbissen und ohne Gnade weiterstolpernd, endlich die Sanitätsstation erreiche.

Dort breche ich in die Knie, habe aber noch so viel Kraft, nach der Seite umzufallen, wo Kats gesundes Bein ist. Langsam richte ich mich nach einigen Minuten wieder auf. Meine Beine und meine Hände zittern heftig, ich habe Mühe, meine Feldflasche zu finden, um einen Schluck zu nehmen.

Die Lippen beben mir dabei.

Aber ich lächele – Kat ist geborgen.

Nach einer Weile unterscheide ich den verworrenen Stimmenschwall, der sich in meinem Ohr fängt.

»Das hättest du dir sparen können«, sagt ein Sanitäter.

Ich sehe ihn verständnislos an.

Er zeigt auf Kat. »Er ist ja tot.«

Ich begreife nicht. »Er hat einen Schienbeinschuß«, sage ich.

Der Sanitäter bleibt stehen. »Das auch -« Ich drehe mich um. Meine Augen sind noch immer trübe, der Schweiß ist mir jetzt von neuem ausgebrochen, er läuft über die Lider. Ich wische ihn fort und sehe zu Kat hin.

Er liegt still. »Ohnmächtig«, sage ich rasch.

Der Sanitäter pfeift leise:»Das kenne ich nun doch besser. Er ist tot. Darauf halte ich jede Wette.«

Ich schüttele den Kopf. »Ausgeschlossen! Vor zehn Minuten noch habe ich mit ihm gesprochen. Er ist ohnmächtig.«

Kats Hände sind warm, ich fasse ihn bei den Schultern, um ihn mit Tee abzureiben. Da fühle ich meine Finger naß werden. Als ich sie hinter seinem Kopf hervorziehe, sind sie blutig. Der Sanitäter pfeift wieder durch die Zähne:»Siehst du-«

Kat hat, ohne daß ich es bemerkt habe, unterwegs einen Splitter in den Kopf bekommen. Nur ein kleines Loch ist da, es muß ein ganz geringer, verirrter Splitter gewesen sein. Aber er hat ausgereicht. Kat ist tot.

Ich stehe langsam auf.

»Willst du sein Soldbuch und seine Sachen mitnehmen?« fragt der Gefreite mich. Ich nicke, und er gibt sie mir.

Der Sanitäter ist verwundert. »Ihr seid doch nicht verwandt?« Nein, wir sind nicht verwandt. Nein, wir sind nicht verwandt. Gehe ich? Habe ich noch Füße? Ich hebe die Augen, ich lasse sie herumgehen und drehe mich mit ihnen, einen Kreis, einen Kreis, bis ich innehalte. Es ist alles wie sonst. Nur der

Landwehrmann Stanislaus Katczinsky ist gestorben. Dann weiß ich nichts mehr.

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