Die Baracken im Heidelager kenne ich noch. Hier hat Himmelstoß Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt, wie immer. Nur einige der Leute habe ich früher flüchtig gesehen.
Den Dienst mache ich mechanisch. Abends bin ich fast stets im Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht jedoch ein Klavier da, auf dem ich gern ‘ spiele. Zwei Mädchen bedienen, eins davon ist jung. Das Lager ist von hohen Drahtzäunen umgeben. Wenn wir spät aus dem Soldatenheim kommen, müssen wir Passierscheine haben. Wer sich mit dem Posten versteht, kriecht natürlich auch so durch.
Zwischen Wacholderbüschen und Birkenwäldern üben wir jeden Tag Kompanieexerzieren in der Heide. Es ist zu ertragen, wenn man nicht mehr verlangt. Man rennt vorwärts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel und Blüten der Heide hin und her. Der klare Sand ist, so dicht am Boden gesehen, rein wie in einem Laboratorium, aus vielen kleinsten Kieseln gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben. Aber das schönste sind die Wälder mit ihren Birkenrändern. Sie wechseln jeden Augenblick die Farbe. Jetzt leuchten die Stämme im hellsten Weiß, und seidig und luftig schwebt zwischen ihnen das pastellhafte Grün des Laubes; – im nächsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau, das silbrig vom Rande her streicht und das Grün forttupft; – aber sogleich vertieft es sich an einer Stelle fast zu Schwarz, wenn eine Wolke über die Sonne geht. Und dieser Schatten läuft wie ein Gespenst zwischen den nun fahlen Stämmen entlang, weiter über die Heide zum Horizont, – inzwischen stehen die Birken schon wie festliche Fahnen mit weißen Stangen vor dem rotgoldenen Geloder ihres sich färbenden Laubes.
Ich verliere mich oft an dieses Spiel zartester Lichter und durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos überhöre; – wenn man allein ist, beginnt man die Natur zu beobachten und zu lieben. Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wünsche ihn auch nicht über das normale Maß hinaus. Man ist zuwenig miteinander bekannt, um mehr zu tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier zu spielen oder zu mauscheln. Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist von uns zwar durch Drahtwände getrennt, trotzdem gelingt es den Gefangenen doch, zu uns herüberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ängstlich, dabei haben die meisten Barte und sind groß; dadurch wirken sie wie verprügelte Bernhardiner.
Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren die Abfalltonnen. Man muß sich vorstellen, was sie da finden. Die Kost ist bei uns schon knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckrüben, in sechs Teile geschnitten und in Wasser gekocht, Mohrrübenstrünke, die noch schmutzig sind; fleckige Kartoffeln sind große Leckerbissen, und das Höchste ist dünne Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
Trotzdem wird natürlich alles gegessen. Wenn wirklich einer mal so reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die es ihm gern abnehmen. Nur die Reste, die der Löffel nicht mehr erreicht, werden ausgespült und in die Abfalltonnen geschüttet. Dazu kommen dann manchmal einige Steckrübenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
Dieses dünne, trübe, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie schöpfen es gierig aus den stinkenden Tonnen und tragen es unter ihren Blusen fort.
Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauerngesichter, breite Stirnen, breite Nasen, breite Lippen, breite Hände, wolliges Haar. Man müßte sie zum Pflügen und Mähen und Apfelpflücken verwenden. Sie sehen noch gutmütiger aus als unsere Bauern in Friesland.
Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr Betteln um etwas Essen zu sehen. Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so viel, daß sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja längst nicht satt zu essen. Sie haben Ruhr, mit ängstlichen Blicken zeigen manche verstohlen blutige Hemdzipfel heraus. Ihre Rücken, ihre Nacken sind gekrümmt, die Knie geknickt, der Kopf blickt schief von unten herauf, wenn sie die Hand ausstrecken und mit den wenigen Worten, die sie kennen, betteln, – betteln mit diesen weichen, leisen Bässen, die wie warme Öfen und Heimatstuben sind.
Es gibt Leute, die ihnen einen Tritt geben, daß sie umfallen; – aber das sind nur wenig. Die meisten tun ihnen nichts, sie gehen an ihnen vorbei. Mitunter, wenn sie sehr elend sind allerdings, gerät man darüber in Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen wollten, – was für ein Jammer in zwei so kleinen Flecken sitzen kann, die man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen alles, was sie haben, gegen Brot ein. Es gelingt ihnen manchmal, denn sie haben gute Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen Schaftstiefel ist wunderbar weich, wie Juchten. Die Bauernsöhne bei uns, die von zu Hause Fettigkeiten geschickt erhalten, können sie sich leisten. Der Preis für ein Paar Stiefel ist ungefähr zwei bis drei Kommißbrote oder ein Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
Aber fast alle Russen haben längst ihre Sachen abgegeben, die sie hatten. Sie tragen nur noch erbärmliches Zeug und versuchen kleine Schnitzereien und Gegenstände, die sie aus Granatsplittern und Stücken von kupfernen Führungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen natürlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Mühe gemacht haben – sie gehen für ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zäh und schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stück Brot oder Wurst so lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier blaß wird und die Augen verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken 174 ihre Beute mit all der Umständlichkeit, deren sie fähig sind, holen ihr dickes Taschenmesser heraus, schneiden langsam und bedächtig für sich selber einen Ranken Brot von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stück von der harten guten Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu sehen, man möchte ihnen auf die dicken Schädel trommeln. Sie geben selten etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.
Ich bin öfter auf Wache bei den Russen. In der Dunkelheit sieht man ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke Störche, wie große Vögel. Sie kommen dicht an das Gitter heran und legen ihre Gesichter dagegen, die Finger sind in die Maschen gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander. So atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wäldern herkommt.
Selten sprechen sie, und dann nur wenige Worte. Sie sind menschlicher und, ich möchte fast glauben, brüderlicher zueinander als wir hier. Aber das ist vielleicht nur deshalb, weil sie sich unglücklicher fühlen als wir. Dabei ist für sie doch der Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu warten, ist ja auch kein Leben.
Die Landsturmleute, die sie bewachen, erzählen, daß sie anfangs lebhafter waren. Sie hatten, wie das immer ist, Verhältnisse untereinander, und es soll oft mit Fäusten und Messern dabei zugegangen sein. Jetzt sind sie schon ganz stumpf und gleichgültig, die meisten onanieren nicht einmal mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft so schlimm ist, daß sie es sogar barackenweise tun.
Sie stehen am Gitter; manchmal schwankt einer fort, dann ist bald ein anderer an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne betteln um das Mundstück einer ausgerauchten Zigarette.
Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Barte wehen im Winde. Ich weiß nichts von ihnen, als daß sie Gefangene sind, und gerade das erschüttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; – wüßte ich mehr von ihnen, wie sie heißen, wie sie leben, was sie erwarten, was sie bedrückt, so hätte meine Erschütterung ein Ziel und könnte zu Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen.
Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein Befehl könnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstück von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser höchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre höchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den Apostelbärten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schüler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch würden wir wieder auf sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wären.
Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als Daseinsmöglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine Aufgabe für das Leben nachher, würdig der Jahre des Grauens?
Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe sie den Russen. Sie verneigen sich und zünden sie an. Nun glimmen in einigen Gesichtern rote Punkte. Sie trösten mich; es sieht aus, als wären es kleine Fensterchen in dunklen Dorfhäusern, die verraten, daß dahinter Zimmer voll Zuflucht sind.
Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe begraben; es sterben ja jetzt fast täglich welche. Ich bin gerade auf Wache, als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral, sie singen vielstimmig, und es klingt, als wären es kaum noch Stimmen, als wäre es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
Die Beerdigung geht schnell.
Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den Birkenwäldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzählt, daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hört, daß ich etwas Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt. Die andern setzen sich und lehnen die Rücken an das Gitter. Er steht und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie die Augen schließen, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus und lächelt mich an.
Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit.
Es sind dunkle Hügel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein schlankes Mädchen darüber und ist hell und allein. Die Stimmen hören auf, und die Geige bleibt – sie ist dünn in der Nacht, als friere sie; man muß dicht danebenstehen, es wäre in einem Raum wohl besser; – hier draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
Ich bekomme keinen Urlaub über Sonntag, weil ich ja erst größeren Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein Vater und meine älteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
Die Stunden quälen sich hin; wir wissen nicht, worüber wir reden sollen. So sprechen wir über die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs, sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnächst operiert. Die Ärzte hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehört, daß Krebs geheilt worden ist.
»Wo liegt sie denn?« frage ich.
»Im Luisenhospital«, sagt mein Vater.
»In welcher Klasse?«
»Dritter. Wir müssen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hätte sie etwas Unterhaltung. Es ist auch billiger.«
»Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts schlafen kann.«
Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen, wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld für uns gekostet, und das Leben meines Vaters ist eigentlich darüber hingegangen. »Wenn man bloß wüßte, wieviel die Operation kostet«, sagt er.
»Habt ihr nicht gefragt?«
»Nicht direkt, das kann man nicht – wenn der Arzt dann unfreundlich wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll.«
Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar darüber; aber die andern, die es nicht nötig haben, die finden es selbstverständlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt auch nicht unfreundlich sein.
»Die Verbände hinterher sind auch so teuer«, sagt mein Vater.
»Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?« frage ich.
»Mutter ist schon zu lange krank.«
»Habt ihr denn etwas Geld?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Aber ich kann jetzt wieder Überstunden machen.«
Ich weiß: er wird bis zwölf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karten beziehen. Hinterher wird er ein Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
Um ihn etwas aufzuheitern, erzähle ich ihm einige Geschichten, die mir gerade einfallen, Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln, die irgendwann mal ‘reingelegt wurden.
Nachher bringe ich beide zur Bahnstation. Sie geben mir ein Glas Marmelade und ein Paket Kartoffelpuffer, die meine Mutter noch für mich gebacken hat.
Dann fahren sie ab, und ich gehe zurück.
Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Puffer und esse davon. Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu geben. Dann fällt mir ein, daß meine Mutter sie selbst gebacken hat und daß sie vielleicht Schmerzen gehabt hat, während sie am heißen Herd stand. Ich lege das Paket zurück in meinen Tornister und nehme nur zwei Stück davon mit zu den Russen.