Wir müssen nach vorn zum Schanzen. Beim Dunkelwerden rollen die Lastwagen an. Wir klettern hinauf. Es ist ein warmer Abend, und die Dämmerung erscheint uns wie ein Tuch, unter dessen Schutz wir uns wohl fühlen. Sie verbindet uns; sogar der geizige Tjaden schenkt mir eine Zigarette und gibt mir Feuer.
Wir stehen nebeneinander, dicht an dicht, sitzen kann niemand. Das sind wir auch nicht gewöhnt. Müller ist endlich mal guter Laune; er trägt seine neuen Stiefel.
Die Motoren brummen an, die Wagen klappern und rasseln. Die Straßen sind ausgefahren und voller Löcher. Es darf kein Licht gemacht werden, deshalb rumpeln wir hinein, daß wir fast aus dem Wagen purzeln. Das beunruhigt uns nicht weiter. Was kann schon passieren; ein gebrochener Arm ist besser als ein Loch im Bauch, und mancher wünscht sich geradezu eine solch gute Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
Neben uns fahren in langer Reihe die Munitionskolonnen. Sie haben es eilig, überholen uns fortwährend. Wir rufen ihnen Witze zu, und sie antworten.
Eine Mauer wird sichtbar, sie gehört zu einem Hause, das abseits der Straße liegt. Ich spitze plötzlich die Ohren. Täusche ich mich? Wieder höre ich deutlich Gänsegeschnatter. Ein Blick zu Katczinsky – ein Blick von ihm zurück; wir verstehen uns.
»Kat, ich höre da einen Kochgeschirraspiranten -«
Er nickt. »Wird gemacht, wenn wir zurück sind. Ich weiß hier Bescheid.«
Natürlich weiß Kat Bescheid. Er kennt bestimmt jedes Gänsebein in zwanzig Kilometer Umkreis. Die Wagen erreichen das Gebiet der Artillerie. Die Geschützstände sind gegen Fliegersicht mit Büschen verkleidet, wie zu einer Art militärischem Laubhüttenfest. Diese Lauben sähen lustig und friedlich aus, wenn ihre Insassen keine Kanonen wären.
Die Luft wird diesig von Geschützrauch und Nebel. Man schmeckt den Pulverqualm bitter auf der Zunge. Die Abschüsse krachen, daß unser Wagen bebt, das Echo rollt tosend hinterher, alles schwankt. Unsere Gesichter verändern sich unmerklich. Wir brauchen zwar nicht, in die Gräben, sondern nur zum Schanzen, aber in jedem Gesicht steht jetzt: hier ist die Front, wir sind in ihrem Bereich. Es ist das noch keine Angst. Wer so oft nach vorn gefahren ist wie wir, der wird dickfellig. Nur die jungen Rekruten sind aufgeregt. Kat belehrt sie:»Das war ein 30,5. Ihr hört es am Abschuß; – gleich kommt der Einschlag.«
Aber der dumpfe Hall der Einschläge dringt nicht herüber. Er ertrinkt im Gemurmel der Front. Kat horcht hinaus:»Die Nacht gibt es Kattun.« Wir horchen alle. Die Front ist unruhig. Kropp sagt:»Die Tommys schießen schon.«
Die Abschüsse sind deutlich zu hören. Es sind die englischen Batterien, rechts von unserm Abschnitt. Sie beginnen eine Stunde zu früh. Bei uns fingen sie immer erst Punkt zehn Uhr an.
»Was fällt denn denen ein«, ruft Müller,»ihre Uhren gehen wohl vor.«
»Es gibt Kattun, sag ich euch, ich spüre es in den Knochen.« Kat zieht die Schultern hoch.
Neben uns dröhnen drei Abschüsse. Der Feuerstrahl schießt schräg in den Nebel, die Geschütze brummen und rumoren. Wir frösteln und sind froh, daß wir morgen früh wieder in den Baracken sein werden.
Unsere Gesichter sind nicht blasser und nicht röter als sonst; sie sind auch nicht gespannter oder schlaffer, und doch sind sie anders. Wir fühlen, daß in unserm Blut ein Kontakt angeknipst ist. Das sind keine Redensarten; es ist Tatsache. Die Front ist es, das Bewußtsein der Front, das diesen Kontakt auslöst. Im Augenblick, wo die ersten Granaten pfeifen, wo die Luft unter den Abschüssen zerreißt, ist plötzlich in unsern Adern, unsern Händen, unsern Augen ein geducktes Warten, ein Lauern, ein stärkeres Wachsein, eine sonderbare Geschmeidigkeit der Sinne. Der Körper ist mit einem Schlage in voller Bereitschaft.
Oft ist es mir, als wäre es die erschütterte, vibrierende Luft, die mit lautlosem Schwingen auf uns überspringt; oder als wäre es die Front selbst, von der eine Elektrizität ausstrahlt, die unbekannte Nervenspitzen mobilisiert. Jedesmal ist es dasselbe: wir fahren ab und sind mürrische oder gutgelaunte Soldaten; – dann kommen die ersten Geschützstände, und jedes Wort unserer Gespräche hat einen veränderten Klang. – Wenn Kat vor den Baracken steht und sagt:»Es gibt Kattun -«, so ist das eben seine Meinung, fertig; – wenn er es aber hier sagt, so hat der Satz eine Schärfe wie ein Bajonett nachts im Mond, er schneidet glatt durch die Gedanken, er ist näher und spricht zu diesem Unbewußten, das in uns aufgewacht ist, mit einer dunklen Bedeutung,»es gibt Kattun«-. Vielleicht ist es unser innerstes und geheimstes Leben, das erzittert und sich zur Abwehr erhebt.
Für mich ist die Front ein unheimlicher Strudel. Wenn man noch weit entfernt von seinem Zentrum im ruhigen Wasser ist, fühlt man schon die Saugkraft, die einen an sich zieht, langsam, unentrinnbar, ohne viel Widerstand.
Aus der Erde, aus der Luft aber strömen uns Abwehrkräfte zu, – am meisten von der Erde. Für niemand ist die Erde so viel wie für den Soldaten. Wenn er sich an sie preßt, lange, heftig, wenn er sich tief mit dem Gesicht und den Gliedern in sie hineinwühlt in der Todesangst des Feuers, dann ist sie sein einziger Freund, sein Bruder, seine Mutter, er stöhnt seine Furcht und seine Schreie in ihr Schweigen und ihre Geborgenheit, sie nimmt sie auf und entläßt ihn wieder zu neuen zehn Sekunden Lauf und Leben, faßt ihn wieder, und manchmal für immer.
Erde – Erde – Erde -!
Erde, mit deinen Bodenfalten und Löchern und Vertiefungen, in die man sich hineinwerfen, hineinkauern kann! Erde, du gabst uns im Krampf des Grauens, im Aufspritzen der Vernichtung, im Todesbrüllen der Explosionen die ungeheure Widerwelle gewonnenen Lebens! Der irre Sturm fast zerfetzten Daseins floß im Rückstrom von dir durch unsre Hände, so daß wir die geretteten in dich gruben und im stummen Angstglück der überstandenen Minute mit unseren Lippen in dich hineinbissen! – Wir schnellen mit einem Ruck in einem Teil unseres Seins beim ersten Dröhnen der Granaten um Tausende von Jahren zurück. Es ist der Instinkt des Tieres, der in uns erwacht, der uns leitet und beschützt. Er ist nicht bewußt, er ist viel schneller, viel sicherer, viel unfehlbarer als das Bewußtsein. Man kann es nicht erklären. Man geht und denkt an nichts – plötzlich liegt man in einer Bodenmulde, und über einen spritzen die Splitter hinweg; – aber man kann sich nicht entsinnen, die Granate kommen gehört oder den Gedanken gehabt zu haben, sich hinzulegen. Hätte man sich darauf verlassen sollen, man wäre bereits ein Haufen verstreutes Fleisch. Es ist das andere gewesen, diese hellsichtige Witterung in uns, die uns niedergerissen und gerettet hat, ohne daß man weiß, wie. Wenn sie nicht wäre, gäbe es von Flandern bis zu den Vogesen schon längst keine Menschen mehr.
Wir fahren ab als mürrische oder gutgelaunte Soldaten, – wir kommen in die Zone, wo die Front beginnt, und sind Menschentiere geworden.
Ein dürftiger Wald nimmt uns auf. Wir passieren die Gulaschkanonen. Hinter dem Walde steigen wir ab. Die Wagen fahren zurück. Sie sollen uns morgens vor dem Hellwerden wieder abholen.
Nebel und Geschützrauch stehen in Brusthöhe über den Wiesen. Der Mond scheint darauf. Auf der Straße ziehen Truppen. Die Stahlhelme schimmern mit matten Reflexen im Mondlicht. Die Köpfe und die Gewehre ragen aus dem weißen Nebel, nickende Köpfe, schwankende Gewehrläufe.
Weiter vorn hört der Nebel auf. Die Köpfe werden hier zu Gestalten; – Röcke, Hosen und Stiefel kommen aus dem Nebel wie aus einem Milchteich. Sie formieren sich zur Kolonne. Die Kolonne marschiert, geradeaus, die Gestalten schließen sich zu einem Keil, man erkennt die einzelnen nicht mehr, nur ein dunkler Keil schiebt sich nach vorn, sonderbar ergänzt aus den im Nebelteich heranschwimmenden Köpfen und Gewehren. Eine Kolonne – keine Menschen.
Auf einer Querstraße fahren leichte Geschütze und Munitionswagen heran. Die Pferde haben glänzende Rücken im Mondschein, ihre Bewegungen sind schön, sie werfen die Köpfe, man sieht die Augen blitzen. Die Geschütze und Wagen gleiten vor dem verschwimmenden Hintergrund der Mondlandschaft vorüber, die Reiter mit ihren Stahlhelmen sehen aus wie Ritter einer vergangenen Zeit, es ist irgendwie schön und ergreifend.
Wir streben dem Pionierpark zu. Ein Teil von uns ladet sich gebogene, spitze Eisenstäbe auf die Schultern, der andere steckt glatte Eisenstöcke durch Drahtrollen und zieht damit ab. Die Lasten sind unbequem und schwer. Das Terrain wird zerrissener. Von vorn kommen Meldungen durch:»Achtung, links tiefer Granattrichter«-»Vorsicht, Graben«- Unsere Augen sind angespannt, unsere Füße und Stöcke fühlen vor, ehe sie die Last des Körpers empfangen. Mit einmal hält der Zug; – man prallt mit dem Gesicht gegen die Drahtrolle des Vordermannes und schimpft. Einige zerschossene Wagen sind im Wege. Ein neuer Befehl. »Zigaretten und Pfeifen aus.«- Wir sind dicht an den Gräben.
Es ist inzwischen ganz dunkel geworden. Wir umgehen ein Wäldchen und haben dann den Frontabschnitt vor uns. Eine Ungewisse, rötliche Helle steht am Horizont von einem Ende zum andern. Sie ist in ständiger Bewegung, durchzuckt vom Mündungsfeuer der Batterien. Leuchtkugeln steigen darüber hoch, silberne und rote Bälle, die zerplatzen und in weißen, grünen und roten Sternen niederregnen. Französische Raketen schießen auf, die in der Luft einen Seidenschirm entfalten und ganz langsam niederschweben. Sie erleuchten alles taghell, bis zu uns dringt ihr Schein, wir sehen unsere Schatten scharf am Boden. Minutenlang schweben sie, ehe sie ausgebrannt sind. Sofort steigen neue hoch, überall, und dazwischen wieder die grünen, roten und blauen.
»Schlamassel«, sagt Kat.
Das Gewitter der Geschütze verstärkt sich zu einem einzigen dumpfen Dröhnen und zerfällt dann wieder in Gruppeneinschläge. Die trockenen Salven der Maschinengewehre knarren. Über uns ist die Luft erfüllt von unsichtbarem Jagen, Heulen, Pfeifen und Zischen. Es sind kleinere Geschosse; – dazwischen orgeln aber auch die großen Kohlenkästen, die ganz schweren Brocken durch die Nacht und landen weit hinter uns. Sie haben einen röhrenden, heiseren, entfernten Ruf, wie Hirsche in der Brunft, und ziehen hoch über dem Geheul und Gepfeife der kleineren Geschosse ihre Bahn.
Die Scheinwerfer beginnen den schwarzen Himmel abzusuchen. Sie rutschen darüber hin wie riesige, am Ende dünner werdende Lineale. Einer steht still und zittert nur wenig. Sofort ist ein zweiter bei ihm, sie kreuzen sich, ein schwarzes Insekt ist zwischen ihnen und versucht zu entkommen: der Flieger. Er wird unsicher, geblendet und taumelt.
Wir rammen die Eisenpfähle in regelmäßigen Abständen fest. Immer zwei Mann halten eine Rolle, die andern spulen den Stacheldraht ab. Es ist der ekelhafte Draht mit den dichtstehenden, langen Stacheln. Ich bin das Abrollen nicht mehr gewöhnt und reiße mir die Hand auf.
Nach einigen Stunden sind wir fertig. Aber wir haben noch Zeit, bis die Lastwagen kommen. Die meisten von uns legen sich hin und schlafen. Ich versuche es auch. Doch es wird zu kühl. Man merkt, daß wir nahe am Meere sind, man wacht vor Kälte immer wieder auf.
Einmal schlafe ich fest. Als ich plötzlich mit einem Ruck hochfliege, weiß ich nicht, wo ich bin. Ich sehe die Sterne, ich sehe die Raketen und habe einen Augenblick den Eindruck, auf einem Fest im Garten eingeschlafen zu sein. Ich weiß nicht, ob es Morgen oder Abend ist, ich liege in der bleichen Wiege der Dämmerung und warte auf weiche Worte, die kommen müssen, weich und geborgen – weine ich? Ich fasse nach meinen Augen, es ist so wunderlich, bin ich ein Kind? Sanfte Haut; – nur eine Sekunde währt es, dann erkenne ich die Silhouette Katczinskys. Er sitzt ruhig, der alte Soldat, und raucht eine Pfeife, eine Deckelpfeife natürlich. Als er bemerkt, daß ich wach bin, sagt er nur:»Du bist schön zusammengefahren. Es war nur ein Zünder, er ist da ins Gebüsch gesaust.«
Ich setze mich hoch, ich fühle mich sonderbar allein. Es ist gut, daß Kat da ist. Er sieht gedankenvoll zur Front und sagt:»Ganz schönes Feuerwerk, wenn’s nicht so gefährlich wäre.«
Hinter uns schlägt es ein. Ein paar Rekruten fahren erschreckt auf. Nach ein paar Minuten funkt es wieder herüber, näher als vorher. Kat klopft seine Pfeife aus. »Es gibt Zunder.«
Schon geht es los. Wir kriechen weg, so gut es in der Eile geht. Der nächste Schuß sitzt bereits zwischen uns. Ein paar Leute schreien. Am Horizont steigen grüne Raketen auf. Der Dreck fliegt hoch, Splitter surren. Man hört sie noch aufklatschen, wenn der Lärm der Einschläge längst wieder verstummt ist.
Neben uns liegt ein verängstigter Rekrut, ein Flachskopf. Er hat das Gesicht in die Hände gepreßt. Sein Helm ist weggepurzelt. Ich fische ihn heran und will ihn auf seinen Schädel stülpen. Er sieht auf, stößt den Helm fort und kriecht wie ein Kind mit dem Kopf unter meinen Arm, dicht an meine Brust. Die schmalen Schultern zucken. Schultern, wie Kemmerich sie hatte. Ich lasse ihn gewähren. Damit der Helm aber wenigstens zu etwas nutze ist, packe ich ihn auf seinen Hintern, nicht aus Blödsinn, sondern aus Überlegung, denn das ist der höchste Fleck. Wenn da zwar auch dickes Fleisch sitzt, Schüsse hinein sind doch verflucht schmerzhaft, außerdem muß man monatelang im Lazarett auf dem Bauch liegen und nachher ziemlich sicher hinken.
Irgendwo hat es mächtig eingehauen. Man hört Schreien zwischen den Einschlägen.
Endlich wird es ruhig. Das Feuer ist über uns hinweggefegt und liegt nun auf den letzten Reservegräben. Wir riskieren einen Blick. Rote Raketen flattern am Himmel. Wahrscheinlich kommt ein Angriff.
Bei uns bleibt es ruhig. Ich setze mich auf und rüttele den Rekruten an der Schulter. »Vorbei, Kleiner! Ist noch mal gutgegangen.«
Er sieht sich verstört um. Ich rede ihm zu:»Wirst dich schon gewöhnen.«
Er bemerkt seinen Helm und setzt ihn auf. Langsam kommt er zu sich. Plötzlich wird er feuerrot und hat ein verlegenes Aussehen. Vorsichtig langt er mit der Hand nach hinten und sieht mich gequält an. Ich verstehe sofort: Kanonenfieber. Dazu hatte ich ihm eigentlich den Helm nicht gerade dorthingepackt – aber ich tröste ihn doch:»Das ist keine Schande, es haben schon ganz andere Leute als du nach ihrem ersten Feuerüberfall die Hosen voll gehabt. Geh hinter den Busch da und schmeiß deine Unterhose weg. Erledigt -«
Er trollt sich. Es wird stiller, doch das Schreien hört nicht auf. »Was ist los, Albert?« frage ich.
»Drüben haben ein paar Kolonnen Volltreffer gekriegt.«
Das Schreien dauert an. Es sind keine Menschen, sie können nicht so furchtbar schreien.
Kat sagt:»Verwundete Pferde.«
Ich habe noch nie Pferde schreien gehört und kann es kaum glauben. Es ist der Jammer der Welt, es ist die gemarterte Kreatur, ein wilder, grauenvoller Schmerz, der da stöhnt. Wir sind bleich. Detering richtet sich auf. »Schinder, Schinder! Schießt sie doch ab!«
Er ist Landwirt und mit Pferden vertraut. Es geht ihm nahe. Und als wäre es Absicht, schweigt das Feuer jetzt beinahe. Um so deutlicher wird das Schreien der Tiere. Man weiß nicht mehr, woher es kommt in dieser jetzt so stillen, silbernen Landschaft, es ist unsichtbar, geisterhaft, überall, zwischen Himmel und Erde, es schwillt unermeßlich an – Detering wird wütend und brüllt:»Erschießt sie, erschießt sie doch, verflucht noch mal!«
»Sie müssen doch erst die Leute holen«, sagt Kat. Wir stehen auf und suchen, wo die Stelle ist. Wenn man die Tiere erblickt, wird es besser auszuhalten sein. Meyer hat ein Glas bei sich. Wir sehen eine dunkle Gruppe Sanitäter mit Tragbahren und schwarze, größere Klumpen, die sich bewegen. Das sind die verwundeten Pferde. Aber nicht alle. Einige galoppieren weiter entfernt, brechen nieder und rennen weiter. Einem ist der Bauch aufgerissen, die Gedärme hängen lang heraus. Es verwickelt sich darin und stürzt, doch es steht wieder auf.
Detering reißt das Gewehr hoch und zielt. Kat schlägt es in die Luft. »Bist du verrückt -?« Detering zittert und wirft sein Gewehr auf die Erde. Wir setzen uns hin und halten uns die Ohren zu. Aber dieses entsetzliche Klagen und Stöhnen und Jammern schlägt durch, es schlägt überall durch.
Wir können alle etwas vertragen. Hier aber bricht uns der Schweiß aus. Man möchte aufstehen und fortlaufen, ganz gleich wohin, nur um das Schreien nicht mehr zu hören. Dabei sind es doch keine Menschen, sondern nur Pferde. Von dem dunklen Knäuel lösen sich wieder Tragbahren. Dann knallen einzelne Schüsse. Die Klumpen zucken und werden flacher. Endlich! Aber es ist noch nicht zu Ende. Die Leute kommen nicht an die verwundeten Tiere heran, die in ihrer Angst flüchten, allen Schmerz in den weit aufgerissenen Mäulern, Eine der Gestalten geht aufs Knie, ein Schuß – ein Pferd bricht nieder, – noch eins. Das letzte stemmt sich auf die Vorderbeine und dreht sich im Kreise wie ein Karussell, sitzend dreht es sich auf den hochgestemmten Vorderbeinen im Kreise, wahrscheinlich ist der Rücken zerschmettert. Der Soldat rennt hin und schießt es nieder. Langsam, demütig rutscht es zu Boden.
Wir nehmen die Hände von den Ohren. Das Schreien ist verstummt. Nur ein langgezogener, ersterbender Seufzer hängt noch in der Luft. Dann sind wieder nur die Raketen, das Granatensingen und die Sterne da – und das ist fast sonderbar.
Detering geht und flucht:»Möchte wissen, was die für Schuld haben.« Er kommt nachher noch einmal heran. Seine Stimme ist erregt, sie klingt beinahe feierlich, als er sagt:»Das sage ich euch, es ist die allergrößte Gemeinheit, daß Tiere im Krieg sind.«
Wir gehen zurück. Es ist Zeit, zu unseren Wagen zu gelangen. Der Himmel ist eine Spur heller geworden. Drei Uhr morgens. Der Wind ist frisch und kühl, die fahle Stunde macht unsere Gesichter grau.
Wir tappen uns vorwärts im Gänsemarsch durch die Gräben und Trichter und gelangen wieder in die Nebelzone. Katczinsky ist unruhig, das ist ein schlechtes Zeichen. »Was hast du, Kat?« fragt Kropp.
»Ich wollte, wir wären erst zu Hause.«- Zu Hause – er meint die Baracken.
»Dauert nicht mehr lange, Kat.«
Er ist nervös.
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht -«
Wir kommen in die Laufgräben und dann in die Wiesen. Das Wäldchen taucht auf; wir kennen hier jeden Schritt Boden. Da ist der Jägerfriedhof schon mit den Hügeln und den schwarzen Kreuzen.
In diesem Augenblick pfeift es hinter uns, schwillt, kracht, donnert. Wir haben uns gebückt – hundert Meter vor uns schießt eine Feuerwolke empor.
In der nächsten Minute hebt sich ein Stück Wald unter einem zweiten Einschlag langsam über die Gipfel, drei, vier Bäume segeln mit und brechen dabei in Stücke. Schon zischen wie Kesselventile die folgenden Granaten heran – scharfes Feuer -»Deckung!« brüllt jemand -»Deckung!«- Die Wiesen sind flach, der Wald ist zu weit und gefährlich; – es gibt keine andere Deckung als den Friedhof und die Gräberhügel. Wir stolpern im Dunkel hinein, wie hingespuckt klebt jeder gleich hinter einem Hügel.
Keinen Moment zu früh. Das Dunkel wird wahnsinnig. Es wogt und tobt. Schwärzere Dunkelheiten als die Nacht rasen mit Riesenbuckeln auf uns los, über uns hinweg. Das Feuer der Explosionen überflackert den Friedhof.
Nirgendwo ist ein Ausweg. Ich wage im Aufblitzen der Granaten einen Blick auf die Wiesen. Sie sind ein aufgewühltes Meer, die Stichflammen der Geschosse springen wie Fontänen heraus. Es ist ausgeschlossen, daß jemand darüber hinwegkommt.
Der Wald verschwindet, er wird zerstampft, zerfetzt, zerrissen. Wir müssen hier auf dem Friedhof bleiben.
Vor uns birst die Erde. Es regnet Schollen. Ich spüre einen Ruck. Mein Ärmel ist aufgerissen durch einen Splitter. Ich balle die Faust. Keine Schmerzen. Doch das beruhigt mich nicht, Verletzungen schmerzen stets erst später. Ich fahre über den Arm. Er ist angekratzt, aber heil. Da knallt es gegen meinen Schädel, daß mir das Bewußtsein verschwimmt. Ich habe den blitzartigen Gedanken: Nicht ohnmächtig werden!, versinke in schwarzem Brei und komme sofort wieder hoch. Ein Splitter ist gegen meinen Helm gehauen, er kam so weit her, daß er nicht durchschlug. Ich wische mir den Dreck aus den Augen. Vor mir ist ein Loch aufgerissen, ich erkenne es undeutlich. Granaten treffen nicht leicht in denselben Trichter, deshalb will ich hinein. Mit einem Satze schnelle ich mich lang vor, flach wie ein Fisch über den Boden, da pfeift es wieder, rasch krieche ich zusammen, greife nach der Deckung, fühle links etwas, presse mich daneben, es gibt nach, ich stöhne, die Erde zerreißt, der Luftdruck donnert in meinen Ohren, ich krieche unter das Nachgebende, decke es über mich, es ist Holz, Tuch, Deckung, Deckung, armselige Deckung vor herabschlagenden Splittern.
Ich öffne die Augen, meine Finger halten einen Ärmel umklammert, einen Arm. Ein Verwundeter? Ich schreie ihm zu, keine Antwort – ein Toter. Meine Hand faßt weiter, in Holzsplitter, da weiß ich wieder, daß wir auf dem Friedhof liegen.
Aber das Feuer ist stärker als alles andere. Es vernichtet die Besinnung, ich krieche nur noch tiefer unter den Sarg, er soll mich schützen, und wenn der Tod selber in ihm liegt.
Vor mir klafft der Trichter. Ich fasse ihn mit den Augen wie mit Fäusten, ich muß mit einem Satz hinein. Da erhalte ich einen Schlag ins Gesicht, eine Hand klammert sich um meine Schulter – ist der Tote wieder erwacht? – Die Hand schüttelt mich, ich wende den Kopf, in sekundenkurzem Licht starre ich in das Gesicht Katczinskys, er hat den Mund weit offen und brüllt, ich höre nichts, er rüttelt mich, nähert sich; in einem Moment Abschwellen erreicht mich seine Stimme:»Gas – Gaaas – Gaaas! – Weitersagen!«
Ich reiße die Gaskapsel heran. Etwas entfernt von mir liegt jemand. Ich denke an nichts mehr als an dies: Der dort muß es wissen:»Gaaas – Gaaas -!«
Ich rufe, schiebe mich heran, schlage mit der Kapsel nach ihm, er merkt nichts – noch einmal, noch einmal – er duckt sich nur – es ist ein Rekrut – ich sehe verzweifelt nach Kat, er hat die Maske vor – ich reiße meine auch heraus, der Helm fliegt beiseite, sie streift sich über mein Gesicht, ich erreiche den Mann, am nächsten liegt mir seine Kapsel, ich fasse die Maske, schiebe sie über seinen Kopf, er greift zu – ich lasse los – und liege plötzlich mit einem Ruck im Trichter.
Der dumpfe Knall der Gasgranaten mischt sich in das Krachen der Explosivgeschosse. Eine Glocke dröhnt zwischen die Explosionen, Gongs, Metallklappern künden überallhin – Gas – Gas – Gaas – Hinter mir plumpst es, einmal, zweimal. Ich wische die Augenscheiben meiner Maske vom Atemdunst sauber. Es sind Kat, Kropp und noch jemand. Wir liegen zu viert in schwerer, lauernder Anspannung und atmen so schwach wie möglich.
Die ersten Minuten mit der Maske entscheiden über Leben und Tod: ist sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem Lazarett: Gaskranke, die in tagelangem Würgen die verbrannten Lungen stückweise auskotzen.
Vorsichtig, den Mund auf die Patrone gedrückt, atme ich. Jetzt schleicht der Schwaden über den Boden und sinkt in alle Vertiefungen. Wie ein weiches, breites Quallentier legt er sich in unseren Trichter, räkelt sich hinein. Ich stoße Kat an: es ist besser herauszukriechen und oben zu liegen, als hier, wo das Gas sich am meisten sammelt. Doch wir kommen nicht dazu, ein zweiter Feuerhagel beginnt. Es ist, als ob nicht mehr die Geschosse brüllen; es ist, als ob die Erde selbst tobt.
Mit einem Krach saust etwas Schwarzes zu uns herab. Hart neben uns schlägt es ein, ein hochgeschleuderter Sarg. Ich sehe Kat sich bewegen und krieche hinüber. Der Sarg ist dem vierten in unserem Loch auf den ausgestreckten Arm geschlagen. Der Mann versucht, mit der andern Hand die Gasmaske abzureißen. Kropp greift rechtzeitig zu, 67 biegt ihm die Hand hart auf den Rücken und hält sie fest.
Kat und ich gehen daran, den verwundeten Arm frei zu machen. Der Sargdeckel ist lose und geborsten, wir können ihn leicht abreißen, den Toten werfen wir hinaus, er sackt nach unten, dann versuchen wir, den unteren Teil zu lockern.
Zum Glück wird der Mann bewußtlos, und Albert kann uns helfen. Wir brauchen nun nicht mehr so behutsam zu sein und arbeiten, was wir können, bis der Sarg mit einem Seufzer nachgibt unter den daruntergesteckten Spaten. Es ist heller geworden. Kat nimmt ein Stück des Deckels, legt es unter den zerschmetterten Arm, und wir binden alle unsere Verbandspäckchen darum. Mehr können wir im Moment nicht tun.
Mein Kopf brummt und dröhnt in der Gasmaske, er ist nahe am Platzen. Die Lungen sind angestrengt, sie haben nur immer wieder denselben heißen, verbrauchten Atem, die Schläfenadern schwellen, man glaubt zu ersticken – Graues Licht sickert zu uns herein. Wind fegt über den Friedhof. Ich schiebe mich über den Rand des Trichters. In der schmutzigen Dämmerung liegt vor mir ein ausgerissenes Bein, der Stiefel ist vollkommen heil, ich sehe das alles ganz deutlich im Augenblick. Aber jetzt erhebt sich wenige Meter weiter jemand, ich putze die Fenster, sie beschlagen mir vor Aufregung sofort wieder, ich starre hinüber – der Mann dort trägt keine Gasmaske mehr.
Noch Sekunden warte ich – er bricht nicht zusammen, er blickt suchend umher und macht einige Schritte – der Wind hat das Gas zerstreut, die Luft ist frei – da zerre ich röchelnd ebenfalls die Maske weg und falle hin, wie kaltes Wasser strömt die Luft in mich hinein, die Augen wollen brechen, die Welle überschwemmt mich und löscht mich dunkel aus.
Die Einschläge haben aufgehört. Ich drehe mich zum Trichter und winke den andern. Sie klettern herauf und reißen sich die Masken herunter. Wir umfassen den Verwundeten, einer nimmt seinen geschienten Arm. So stolpern wir hastig davon.
Der Friedhof ist ein Trümmerfeld. Särge und Leichen liegen verstreut. Sie sind noch einmal getötet worden; aber jeder von ihnen, der zerfetzt wurde, hat einen von uns gerettet.
Der Zaun ist verwüstet, die Schienen der Feldbahn drüben sind aufgerissen, sie starren hochgebogen in die Luft. Vor uns liegt jemand. Wir halten an, nur Kropp geht mit dem Verwundeten weiter.
Der am Boden ist ein Rekrut. Seine Hüfte ist blutverschmiert; er ist so erschöpft, daß ich nach meiner Feldflasche greife, in der ich Rum mit Tee habe. Kat hält meine Hand zurück und beugt sich über ihn:»Wo hat’s dich erwischt, Kamerad?«
Er bewegt die Augen; er ist zu schwach zum Antworten.
Wir schneiden vorsichtig die Hose auf. Er stöhnt. »Ruhig, ruhig, es wird ja besser -«
Wenn er einen Bauchschuß hat, darf er nichts trinken. Er hat nichts erbrochen, das ist günstig. Wir legen die Hüfte bloß. Sie ist ein einziger Fleischbrei mit Knochensplittern. Das Gelenk ist getroffen. Dieser Junge wird nie mehr gehen können.
Ich wische ihm mit dem befeuchteten Finger über die Schläfe und gebe ihm einen Schluck. In seine Augen kommt Bewegung. Jetzt erst sehen wir, daß auch der rechte Arm blutet.
Kat zerfasert zwei Verbandspäckchen so breit wie möglich, damit sie die Wunde decken. Ich suche nach Stoff, um ihn lose darüberzuwickeln. Wir haben nichts mehr, deshalb schlitze ich dem Verwundeten das Hosenbein weiter auf, um ein Stück seiner Unterhose als Binde zu verwenden. Aber er trägt keine.
Ich sehe ihn genauer an: es ist der Flachskopf von vorhin.
Kat hat inzwischen aus den Taschen eines Toten noch Päckchen geholt, die wir vorsichtig an die Wunde schieben. Ich sage dem Jungen, der uns unverwandt ansieht:»Wir holen jetzt eine Bahre.«
Da öffnet er den Mund und flüstert:»Hierbleiben -« Kat sagt:»Wir kommen ja gleich wieder. Wir holen für dich eine Bahre.«
Man kann nicht erkennen, ob er verstanden hat; er wimmert wie ein Kind hinter uns her:»Nicht weggehen -« Kat sieht sich um und flüstert:»Sollte man da nicht einfach einen Revolver nehmen, damit es aufhört?« Der Junge wird den Transport kaum überstehen, und höchstens kann es noch einige Tage mit ihm dauern. Alles bisher aber wird nichts sein gegen diese Zeit, bis er stirbt. Jetzt ist er noch betäubt und fühlt nichts. In einer Stunde wird er ein kreischendes Bündel unerträglicher Schmerzen werden. Die Tage, die er noch leben kann, bedeuten für ihn eine einzige rasende Qual. Und wem nützt es, ob er sie noch hat oder nicht – Ich nicke. »Ja, Kat, man sollte einen Revolver nehmen.«
»Gib her«, sagt er und bleibt stehen. Er ist entschlossen, ich sehe es. Wir blicken uns um, aber wir sind nicht mehr allein. Vor uns sammelt sich ein Häuflein, aus den Trichtern und Gräbern kommen Köpfe.
Wir holen eine Bahre.
Kat schüttelt den Kopf. »So junge Kerle«- Er wiederholt es:»So junge, unschuldige Kerle -«
Unsere Verluste sind geringer, als anzunehmen war: fünf Tote und acht Verwundete. Es war nur ein kurzer Feuerüberfall. Zwei von unseren Toten liegen in einem der aufgerissenen Gräber; wir brauchen sie bloß zuzubuddeln. Wir gehen zurück. Schweigend trotten wir im Gänsemarsch hintereinander her. Die Verwundeten werden zur Sanitätsstation gebracht. Der Morgen ist trübe, die Krankenwärter laufen mit Nummern und Zetteln, die Verletzten wimmern. Es beginnt zu regnen. Nach einer Stunde haben wir unsere Wagen erreicht und klettern hinauf. Jetzt ist mehr Platz als vorher da. Der Regen wird stärker. Wir breiten Zeltbahnen aus und legen sie auf unsere Köpfe. Das Wasser trommelt darauf nieder. An den Seiten fließen die Regensträhnen ab. Die Wagen platschen durch die Löcher, und wir wiegen uns im Halbschlaf hin und her.
Zwei Mann vorn im Wagen haben lange gegabelte Stücke bei sich. Sie achten auf die Telefondrähte, die quer über die Straße hängen, so tief, daß sie unsere Köpfe wegreißen können. Die beiden Leute fangen sie mit ihren gegabelten Stöcken auf und heben sie über uns hinweg. Wir hören ihren Ruf:»Achtung – Draht«, und im Halbschlaf gehen wir in die Kniebeuge und richten uns wieder auf. Monoton pendeln die Wagen, monoton sind die Rufe, monoton rinnt der Regen. Er rinnt auf unsere Köpfe und auf die Köpfe der Toten vorn, auf den Körper des kleinen Rekruten mit der Wunde, die viel zu groß für seine Hüfte ist, er rinnt auf das Grab Kemmerichs, er rinnt auf unsere Herzen.
Ein Einschlag hallt irgendwo. Wir zucken auf, die Augen sind gespannt, die Hände wieder bereit, um die Körper über die Wände des Wagens in den Straßengraben zu werfen.
Es kommt nichts weiter. – Monoton nur die Rufe:»Achtung
– Draht«- wir gehen in die Knie, wir sind wieder im Halbschlaf.