Es ist beschwerlich, die einzelne Laus zu töten, wenn man Hunderte hat. Die Tiere sind etwas hart, und das ewige Knipsen mit den Fingernägeln wird langweilig. Tjaden hat deshalb den Deckel einer Schuhputzschachtel mit Draht über einem brennenden Kerzenstumpf befestigt. In diese kleine Pfanne werden die Läuse einfach hineingeworfen – es knackt, und sie sind erledigt.
Wir sitzen rundherum, die Hemden auf den Knien, den Oberkörper nackt in der warmen Luft, die Hände bei der Arbeit. Haie hat eine besonders feine Art von Läusen: sie haben ein rotes Kreuz auf dem Kopf. Deshalb behauptet er, sie aus dem Lazarett in Thourhout mitgebracht zu haben, sie seien von einem Oberstabsarzt persönlich. Er will auch das sich langsam in dem Blechdeckel ansammelnde Fett zum Stiefelschmieren benutzen und brüllte eine halbe Stunde lang vor Lachen über seinen Witz. Doch heute hat er wenig Erfolg; etwas anderes beschäftigt uns zu sehr.
Das Gerücht ist Wahrheit geworden. Himmelstoß ist da. Gestern ist er erschienen, wir haben seine wohlbekannte Stimme schon gehört. Er soll zu Hause ein paar junge Rekruten zu kräftig im Sturzacker gehabt haben. Ohne daß er es wußte, war der Sohn des Regierungspräsidenten dabei. Das brach ihm das Genick.
Hier wird er sich wundern. Tjaden erörtert seit Stunden alle Möglichkeiten, wie er ihm antworten will. Haie sieht nachdenklich seine große Flosse an und kneift mir ein Auge. Die Prügelei war der Höhepunkt seines Daseins; er hat mir erzählt, daß er noch manchmal davon träumt.
Kropp und Müller unterhalten sich. Kropp hat als einziger ein Kochgeschirr voll Linsen erbeutet, wahrscheinlich bei der Pionierküche. Müller schielt gierig hin, beherrscht sich aber und fragt:»Albert, was würdest du tun, wenn jetzt mit einemmal Frieden wäre?«
»Frieden gibt’s nicht!« äußert Albert kurz.
»Na, aber wenn -«, beharrt Müller,»was würdest du machen?«
»Abhauen!« knurrt Kropp.
»Das ist klar. Und dann?«
»Mich besaufen«, sagt Albert.
»Rede keinen Quatsch, ich meine es ernst -«
»Ich auch«, sagt Albert,»was soll man denn anders machen.«
Kat interessiert sich für die Frage. Er fordert von Kropp seinen Tribut an den Linsen, erhält ihn, überlegt dann lange und meint:»Besaufen könnte man sich ja, sonst aber auf die nächste Eisenbahn – und ab nach Muttern. Mensch, Frieden, Albert -«
Er kramt in seiner Wachstuchbrieftasche nach einer Fotografie und zeigt sie stolz herum. »Meine Alte!« Dann packt er sie weg und flucht:»Verdammter Lausekrieg -«
»Du kannst gut reden«, sage ich. »Du hast deinen Jungen und deine Frau.«
»Stimmt«, nickt er,»ich muß dafür sorgen, daß sie was zu essen haben.«
Wir lachen. »Daran wird’s nicht fehlen, Kat, sonst requierierst du eben.«
Müller ist hungrig und gibt sich noch nicht zufrieden. Er schreckt Haie Westhus aus seinen Verprügelträumen. »Haie, was würdest du denn machen, wenn jetzt Frieden wäre?«
»Er müßte dir den Arsch vollhauen, weil du hier von so etwas überhaupt anfängst«, sage ich,»wie kommt das eigentlich?«
»Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach?« antwortet Müller lakonisch und wendet sich wieder an Haie Westhus.
Es ist zu schwer auf einmal für Haie. Er wiegt seinen sommersprossigen Schädel:»Du meinst, wenn kein Krieg mehr ist?«
»Richtig. Du merkst auch alles.«
»Dann kämen doch wieder Weiber, nicht?«- Haie leckt sich das Maul. »Das auch.«
»Meine Fresse noch mal«, sagt Haie, und sein Gesicht taut auf,»dann würde ich mir so einen strammen Feger schnappen, so einen richtigen Küchendragoner, weißt du, mit ordentlich was dran zum Festhalten, und sofort nichts wie ‘rin in die Betten! Stell dir mal vor, richtige Federbetten mit Sprungmatratzen, Kinners, acht Tage lang würde ich keine Hose wieder anziehen.«
Alles schweigt. Das Bild ist zu wunderbar. Schauer laufen uns über die Haut. Endlich ermannt sich Müller und fragt:»Und danach?«
Pause. Dann erklärt Haie etwas verzwickt:»Wenn ich Unteroffizier wäre, würde ich erst noch bei den Preußen bleiben und kapitulieren.«»Haie, du hast glatt einen Vogel«, sage ich. Er fragt gemütlich zurück:»Hast du schon mal Torf gestochen? Probier’s mal.«
Damit zieht er seinen Löffel aus dem Stiefelschaft und langt damit in Alberts Eßnapf.
»Schlimmer als Schanzen in der Champagne kann’s auch nicht sein«, erwiderte ich.
Haie kaut und grinst:»Dauert aber länger. Kannst dich auch nicht drücken.«
»Aber, Mensch, zu Hause ist es doch besser, Haie.«»Teils, teils«, sagt er und versinkt mit offenem Munde in Grübelei.
Man kann auf seinen Zügen lesen, was er denkt. Da ist eine arme Moorkate, da ist schwere Arbeit in der Hitze der Heide vom frühen Morgen bis zum Abend, da ist spärlicher Lohn, da ist ein schmutziger Knechtsanzug -»Hast beim Kommiß in Frieden keine Sorgen«, teilt er mit,»jeden Tag ist dein Futter da, sonst machst du Krach, hast dein Bett, alle acht Tage reine Wäsche wie ein Kavalier, machst deinen Unteroffiziersdienst, hast dein schönes Zeug; – abends bist du ein freier Mann und gehst in die Kneipe.«
Haie ist außerordentlich stolz auf seine Idee. Er verliebt sich darin. »Und wenn du deine zwölf Jahre um hast, kriegst du deinen Versorgungsschein und wirst Landjäger. Den ganzen Tag kannst du Spazierengehen.« Er schwitzt jetzt vor Zukunft. »Stell dir vor, wie du dann traktiert wirst. Hier einen Kognak, da einen halben Liter. Mit einem Landjäger will doch jeder gutstehen.«»Du wirst ja nie Unteroffizier, Haie«, wirft Kat ein. Haie blickt ihn betroffen an und schweigt. In seinen Gedanken sind jetzt wohl die klaren Abende im Herbst, die Sonntage in der Heide, die Dorfglocken, die Nachmittage und Nächte mit den Mägden, die Buchweizenpfannkuchen mit den großen Speckaugen, die sorglos verschwatzten Stunden im Krug – Mit soviel Phantasie kann er so rasch nicht fertig werden; deshalb knurrt er nur erbost:»Was ihr immer für Blödsinn zusammenfragt.«
Er streift sein Hemd über den Kopf und knöpft den Waffenrock zu.
»Was würdest du machen, Tjaden?« ruft Kropp.
Tjaden kennt nur eins. »Aufpassen, daß mir Himmelstoß nicht durchgeht.«
Er möchte ihn wahrscheinlich am liebsten in einen Käfig sperren und jeden Morgen mit einem Knüppel über ihn herfallen. Zu Kropp schwärmt er:»An deiner Stelle würde ich sehen, daß ich Leutnant würde. Dann kannst du ihn schleifen, daß ihm das Wasser im Hintern kocht.«
»Und du, Detering?« forscht Müller weiter. Er ist der geborene Schulmeister mit seiner Fragerei.
Detering ist wortkarg. Aber auf dieses Thema gibt er Antwort. Er sieht in die Luft und sagt nur einen Satz:»Ich würde gerade noch zur Ernte zurechtkommen.« Damit steht er auf und geht weg.
Er macht sich Sorgen. Seine Frau muß den Hof bewirtschaften. Dabei haben sie ihm noch zwei Pferde weggeholt. Jeden Tag liest er die Zeitungen, die kommen, ob es in seiner oldenburgischen Ecke auch nicht regnet. Sie bringen das Heu sonst nicht fort.
In diesem Augenblick erscheint Himmelstoß. Er kommt direkt auf unsere Gruppe zu. Tjadens Gesicht wird fleckig. Er legt sich längelang ins Gras und schließt die Augen vor Aufregung.
Himmelstoß ist etwas unschlüssig, sein Gang wird langsamer. Dann marschiert er dennoch zu uns heran. Niemand macht Miene, sich zu erheben. Kropp sieht ihm interessiert entgegen.
Er steht jetzt vor uns und wartet. Da keiner etwas sagt, läßt er ein »Na?« vom Stapel.
Ein paar Sekunden verstreichen; Himmelstoß weiß sichtlich nicht, wie er sich benehmen soll. Am liebsten möchte er uns jetzt im Galopp schleifen. Immerhin scheint er schon gelernt zu haben, daß die Front kein Kasernenhof ist. Er versucht es abermals und wendet sich nicht mehr an alle, sondern an einen, er hofft, so leichter Antwort zu erhalten. Kropp ist ihm am nächsten. Ihn beehrt er deshalb. »Na, auch hier?«
Aber Albert ist sein Freund nicht. Er antwortet knapp:»Bißchen länger als Sie, denke ich.« Der rötliche Schnurrbart zittert. »Ihr kennt mich wohl nicht mehr, was?« Tjaden schlägt jetzt die Augen auf. »Doch.«
Himmelstoß wendet sich ihm zu:»Das ist doch Tjaden, nicht?«
Tjaden hebt den Kopf.
»Und weißt du, was du bist?«
Himmelstoß ist verblüfft. »Seit wann duzen wir uns denn? Wir haben doch nicht zusammen im Chausseegraben gelegen.«
Er weiß absolut nichts aus der Situation zu machen. Diese offene Feindseligkeit hat er nicht erwartet. Aber er hütet sich vorläufig; sicher hat ihm jemand den Unsinn von Schüssen in den Rücken vorgeschwätzt.
Tjaden wird auf die Frage nach dem Chausseegraben vor Wut sogar witzig.
»Nee, das warst du alleine.«
Jetzt kocht Himmelstoß auch. Tjaden kommt ihm jedoch eilig zuvor. Er muß seinen Spruch loswerden. »Was du bist, willst du wissen? Du bist ein Sauhund, das bist du! Das wollt’ ich dir schon lange mal sagen.« Die Genugtuung vieler Monate leuchtet ihm aus den blanken Schweinsaugen, als er den Sauhund hinausschmettert.
Auch Himmelstoß ist nun entfesselt:»Was willst du Mistköter, du dreckiger Torfdeubel? Stehen Sie auf, Knochen zusammen, wenn ein Vorgesetzter mit Ihnen spricht!«
Tjaden winkt großartig. »Sie können rühren, Himmelstoß. Wegtreten.«
Himmelstoß ist ein tobendes Exerzierreglement. Der Kaiser könnte nicht beleidigter sein. Er heult:»Tjaden, ich befehle Ihnen dienstlich: Stehen Sie auf!«
»Sonst noch was?« fragt Tjaden.
»Wollen Sie meinem Befehl Folge leisten oder nicht?«
Tjaden erwidert gelassen und abschließend, ohne es zu wissen, mit dem bekanntesten Klassikerzitat. Gleichzeitig lüftet er seine Kehrseite.
Himmelstoß stürmt davon:»Sie kommen vors Kriegsgericht!«
Wir sehen ihn in der Richtung zur Schreibstube verschwinden.
Haie und Tjaden sind ein gewaltiges Torfstechergebrüll. Haie lacht so, daß er sich die Kinnlade ausrenkt und mit offenem Maul plötzlich hilflos dasteht. Albert muß sie ihm mit einem Faustschlag erst wieder einsetzen.
Kat ist besorgt. »Wenn er dich meldet, wird’s böse.«»Meinst du, daß er es tut?« fragt Tjaden. »Bestimmt«, sage ich.
»Das mindeste, was du kriegst, sind fünf Tage Dicken«, erklärt Kat.
Das erschüttert Tjaden nicht. »Fünf Tage Kahn sind fünf Tage Ruhe.«
»Und wenn du auf Festung kommst?« forscht der gründlichere Müller.
»Dann ist der Krieg für mich so lange aus.«
Tjaden ist ein Sonntagskind. Für ihn gibt es keine Sorgen. Mit Haie und Leer zieht er ab, damit man ihn nicht in der ersten Aufregung findet.
Müller ist noch immer nicht zu Ende. Er nimmt sich wieder Kropp vor. »Albert, wenn du nun tatsächlich nach Hause kämst, was würdest du machen?«
Kropp ist jetzt satt und deshalb nachgiebiger. »Wieviel Mann wären wir dann eigentlich in der Klasse?« Wir rechnen: von zwanzig sind sieben tot, vier verwundet, einer in der Irrenanstalt. Es kämen höchstens also zwölf Mann zusammen.
»Drei sind davon Leutnants«, sagt Müller. »Glaubst du, daß sie sich von Kantorek anschnauzen ließen?«
»Wir glauben es nicht; wir würden uns auch nicht mehr anschnauzen lassen.«
»Was hältst du eigentlich von der dreifachen Handlung im Wilhelm Tell?« erinnert sich Kropp mit einem Male und brüllt vor Lachen.
»Was waren die Ziele des Göttinger Hainbundes?« forscht auch Müller plötzlich sehr streng.
»Wieviel Kinder hatte Karl der Kühne?« erwidere ich ruhig.
»Aus Ihnen wird im Leben nichts, Bäumer«, quäkt Müller.
»Wann war die Schlacht bei Zama?« will Kropp wissen.
»Ihnen fehlt der sittliche Ernst, Kropp, setzen Sie sich, drei minus -«, winke ich ab.
»Welche Aufgaben hielt Lykurgus für die wichtigsten im Staate?« wispert Müller und scheint an einem Kneifer zu rücken.
»Heißt es: Wir Deutsche fürchten Gott, sonst niemand in der Welt, oder wir Deutsche…?« gebe ich zu bedenken.
»Wieviel Einwohner hat Melbourne?« zwitschert Müller zurück.
»Wie wollen Sie bloß im Leben bestehen, wenn Sie das nicht wissen?« frage ich Albert empört.
»Was versteht man unter Kohäsion?« trumpft der nun auf.
Von dem ganzen Kram wissen wir nicht mehr allzuviel. Er hat uns auch nichts genutzt. Aber niemand hat uns in der Schule beigebracht, wie man bei Regen und Sturm eine Zigarette anzündet, wie man ein Feuer aus nassem Holz machen kann – oder daß man ein Bajonett am besten in den Bauch stößt, weil es da nicht festklemmt wie bei den Rippen.
Müller sagt nachdenklich:»Was nutzt es. Wir werden doch wieder auf die Schulbank müssen.«
Ich halte es für ausgeschlossen. »Vielleicht machen wir ein Notexamen.«
»Dazu brauchst du Vorbereitung. Und wenn du es schon bestehst, was dann? Student sein ist nicht viel besser. Wenn du kein Geld hast, mußt du auch büffeln.«
»Etwas besser ist es. Aber Quatsch bleibt es trotzdem, was sie dir da eintrichtern.«
Kropp trifft unsere Stimmung:»Wie kann man das ernst nehmen, wenn man hier draußen gewesen ist.«
»Aber du mußt doch einen Beruf haben«, wendet Müller ein, als wäre er Kantorek in Person.
Albert reinigt sich die Nägel mit dem Messer. Wir sind erstaunt über dieses Stutzertum. Aber es ist nur Nachdenklichkeit. Er schiebt das Messer weg und erklärt:»Das ist es ja. Kat und Detering und Haie werden wieder in ihren Beruf gehen, weil sie ihn schon vorher gehabt haben. Himmelstoß auch. Wir haben keinen gehabt. Wie sollen wir uns da nach diesem hier«- er macht eine Bewegung zur Front -»an einen gewöhnen?«
»Man müßte Rentier sein und dann ganz allein in einem Walde wohnen können -«, sage ich, schäme mich aber sofort über diesen Größenwahn.
»Was soll das bloß werden, wenn wir zurückkommen?« meint Müller, und selbst er ist betroffen.
Kropp zuckt die Achseln. »Ich weiß nicht. Erst mal da sein, dann wird sich’s ja zeigen.«
Wir sind eigentlich alle ratlos. »Was könnte man denn machen?« frage ich.
»Ich habe zu nichts Lust«, antwortet Kropp müde. »Eines Tages bist du doch tot, was hast du da schon? Ich glaube nicht, daß wir überhaupt zurückkommen.«
»Wenn ich darüber nachdenke, Albert«, sage ich nach einer Weile und wälze mich auf den Rücken,»so möchte ich, wenn ich das Wort Friede höre, und es wäre wirklich so, irgend etwas Unausdenkbares tun, so steigt es mir zu Kopf. Etwas, weißt du, was wert ist, daß man hier im Schlamassel gelegen hat. Ich kann mir bloß nichts vorstellen. Was ich an Möglichem sehe, diesen ganzen Betrieb mit Beruf und Studium und Gehalt und so weiter – das kotzt mich an, denn das war ja immer schon da und ist widerlich. Ich finde nichts – ich finde nichts, Albert.«
Mit einemmal scheint mir alles aussichtslos und verzweifelt.
Kropp denkt ebenfalls darüber nach. »Es wird überhaupt schwer werden mit uns allen. Ob die sich in der Heimat eigentlich nicht manchmal Sorgen machen deswegen? Zwei Jahre Schießen und Handgranaten – das kann man doch nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher.«
Wir stimmen darin überein, daß es jedem ähnlich geht; nicht nur uns hier; überall, jedem, der in der gleichen Lage ist, dem einen mehr, dem andern weniger. Es ist das gemeinsame Schicksal unserer Generation.
Albert spricht es aus. »Der Krieg hat uns für alles verdorben.«
Er hat recht. Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.
Die Schreibstube wird lebendig. Himmelstoß scheint sie alarmiert zu haben. An der Spitze der Kolonne trabt der dicke Feldwebel. Komisch, daß fast alle etatsmäßigen Feldwebel dick sind.
Ihm folgt der rachedürstende Himmelstoß. Seine Stiefel glänzen in der Sonne.
Wir erheben uns. Der Spieß schnauft:»Wo ist Tjaden?«
Natürlich weiß es keiner. Himmelstoß glitzert uns böse an.
»Bestimmt wißt ihr es. Wollt es bloß nicht sagen. Raus mit der Sprache.«
Der Spieß sieht sich suchend um; Tjaden ist nirgendwo zu erblicken. Er versucht es andersherum. »Ihn zehn Minuten soll Tjaden sich auf der Schreibstube melden.« Damit zieht er davon, Himmelstoß in seinem Kielwasser.
»Ich habe das Gefühl, daß mir beim nächsten Schanzen eine Drahtrolle auf die Beine von Himmelstoß fallen wird«, vermutet Kropp.
»Wir werden an ihm noch viel Spaß haben«, lacht Müller. Das ist nun unser Ehrgeiz: einem Briefträger die Meinung stoßen. – Ich gehe in die Baracke und sage Tjaden Bescheid, damit er verschwindet.
Dann wechseln wir unsern Platz und lagern uns wieder, um Karten zu spielen. Denn das können wir: Kartenspielen, fluchen und Krieg führen. Nicht viel für zwanzig Jahre – zuviel für zwanzig Jahre.
Nach einer halben Stunde ist Himmelstoß erneut bei uns.
Niemand beachtet ihn. Er fragt nach Tjaden. Wir zucken die Achseln.
»Ihr solltet ihn doch suchen«, beharrt er.
»Wieso ihr?« erkundigt sich Kropp.
»Na, ihr hier -«
»Ich möchte Sie bitten, uns nicht zu duzen«, sagt Kropp wie ein Oberst.
Himmelstoß fällt aus den Wolken. »Wer duzt euch denn?«
»Sie!«
»Ich?«
»Ja.«
Es arbeitet in ihm. Er schielt Kropp mißtrauisch an, weil er keine Ahnung hat, was der meint. Immerhin traut er sich in diesem Punkte nicht ganz und kommt uns entgegen. »Habt ihr ihn nicht gefunden?«
Kropp legt sich ins Gras und sagt:»Waren Sie schon mal hier draußen?«
»Das geht Sie gar nichts an«, bestimmt Himmelstoß. »Ich verlange Antwort.«
»Gemacht«, erwidert Kropp und erhebt sich. »Sehen Sie mal dorthin, wo die kleinen Wölkchen stehen. Das sind die Geschosse der Flaks. Da waren wir gestern. Fünf Tote, acht Verwundete. Dabei war es eigentlich ein Spaß. Wenn Sie nächstens mit ‘rausgehen, werden die Mannschaften, bevor sie sterben, erst vor Sie hintreten, die Knochen zusammenreißen und zackig fragen: Bitte wegtreten zu dürfen! Bitte abkratzen zu dürfen! Auf Leute wie Sie haben wir hier gerade gewartet.«
Er setzt sich wieder, und Himmelstoß verschwindet wie ein Komet.
»Drei Tage Arrest«, vermutet Kat.
»Das nächstemal lege ich los«, sage ich zu Albert.
Aber es ist Schluß. Dafür findet abends beim Appell eine Vernehmung statt. In der Schreibstube sitzt unser Leutnant Bertinck und läßt einen nach dem andern rufen.
Ich muß ebenfalls als Zeuge erscheinen und kläre auf, weshalb Tjaden rebelliert hat. Die Bettnässergeschichte macht Eindruck. Himmelstoß wird herangeholt und ich wiederhole meine Aussagen. »Stimmt das?« fragt Bertinck Himmelstoß.
Der windet sich und muß es schließlich zugeben, als Kropp die gleichen Angaben macht.
»Weshalb hat denn niemand das damals gemeldet?« fragt Bertinck.
Wir schweigen; er muß doch selbst wissen, was eine Beschwerde über solche Kleinigkeiten beim Kommiß für Zweck hat. Gibt es beim Kommiß überhaupt Beschwerden? Er sieht es wohl ein und kanzelt Himmelstoß zunächst ab, indem er ihm noch einmal energisch klarmacht, daß die Front kein Kasernenhof sei. Dann kommt in verstärktem Maße Tjaden an die Reihe, der eine ausgewachsene Predigt und drei Tage Mittelarrest erhält. Kropp diktiert er mit einem Augenzwinkern einen Tag Arrest.
»Geht nicht anders«, sagt er bedauernd zu ihm. Er ist ein vernünftiger Kerl.
Mittelarrest ist angenehm. Das Arrestlokal ist ein früherer Hühnerstall; da können beide Besuch empfangen, wir verstehen uns schon darauf, hinzukommen. Dicker Arrest wäre Keller gewesen. Früher wurden wir auch an einen Baum gebunden, doch das ist jetzt verboten. Manchmal werden wir schon wie Menschen behandelt. Eine Stunde nachdem Tjaden und Kropp hinter ihren Drahtgittern sitzen, brechen wir zu ihnen auf. Tjaden begrüßt uns krähend. Dann spielen wir bis in die Nacht Skat. Tjaden gewinnt natürlich, das dumme Luder.
Beim Aufbrechen fragt Kat mich:»Was meinst du zu Gänsebraten?«
»Nicht schlecht«, finde ich.
Wir klettern auf eine Munitionskolonne. Die Fahrt kostet zwei Zigaretten. Kat hat sich den Ort genau gemerkt. Der Stall gehört einem Regimentsstab. Ich beschließe, die Gans zu holen, und lasse mir Instruktionen geben. Der Stall ist hinter der Mauer, nur mit einem Pflock verschlossen. Kat hält mir die Hände hin, ich stemme den Fuß hinein und klettere über die Mauer. Kat steht unterdessen Schmiere.
Einige Minuten bleibe ich stehen, um die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann erkenne ich den Stall. Leise schleiche ich mich heran, taste den Pflock ab, ziehe ihn weg und öffne die Tür.
Ich unterscheide zwei weiße Flecke. Zwei Gänse, das ist faul: faßt man die eine, so schreit die andere. Also beide – wenn ich schnell bin, klappt es.
Mit einem Satz springe ich zu. Eine erwische ich sofort, einen Moment später die zweite. Wie verrückt haue ich die Köpfe gegen die Wand, um sie zu betäuben. Aber ich muß wohl nicht genügend Wucht haben. Die Biester räuspern sich und schlagen mit Füßen und Flügeln um sich. Ich kämpfe erbittert, aber, Donnerwetter, was hat so eine Gans für Kraft! Sie zerren, daß ich hin und her taumele. Im Dunkel sind diese weißen Lappen scheußlich, meine Arme haben Flügel gekriegt, beinahe habe ich Angst, daß ich mich zum Himmel erhebe, als hätte ich ein paar Fesselballons in den Pfoten.
Da geht auch schon der Lärm los; einer der Hälse hat Luft geschnappt und schnarrt wie eine Weckuhr. Ehe ich mich versehe, tappt es draußen heran, ich bekomme einen Stoß, liege am Boden und höre wütendes Knurren. Ein Hund.
Ich blicke zur Seite; da schnappt er schon nach meinem Halse. Sofort liege ich still und ziehe vor allem das Kinn an den Kragen.
Es ist eine Dogge. Nach einer Ewigkeit nimmt sie den Kopf zurück und setzt sich neben mich. Doch wenn ich versuche, mich zu bewegen, knurrt sie. Ich überlege. Das einzige, was ich tun kann, ist, daß ich meinen kleinen Revolver zu fassen kriege. Fort muß ich hier auf jeden Fall, ehe Leute kommen. Zentimeterweise schiebe ich die Hand heran. Ich habe das Gefühl, daß es Stunden dauert. Immer eine leise Bewegung und ein gefährliches Knurren; Stilliegen und erneuter Versuch. Als ich den Revolver in der Hand habe, fängt sie an zu zittern. Ich drücke sie auf den Boden und mache mir klar: Revolver hochreißen, schießen, ehe er zufassen kann, und türmen.
Langsam hole ich Atem und werde ruhiger. Dann halte ich ‘ die Luft an, zucke den Revolver hoch, es knallt, die Dogge spritzt jaulend zur Seite, ich gewinne die Tür des Stalles und purzele über eine der geflüchteten Gänse. Im Galopp greife ich schnell noch zu, schmeiße sie mit einem Schwung über die Mauer und klettere selbst hoch. Ich bin noch nicht hinüber, da ist die Dogge auch schon wieder munter und springt nach mir. Rasch lasse ich mich fallen. Zehn Schritt vor mir steht Kat, die Gans im Arm. Sowie er mich sieht, laufen wir.
Endlich können wir verschnaufen. Die Gans ist tot, Kat hat das in einem Moment erledigt. Wir wollen sie gleich braten, damit keiner etwas merkt. Ich hole Töpfe und Holz aus der Baracke, und wir kriechen in einen kleinen verlassenen Schuppen, den wir für solche Zwecke kennen. Die einzige Fensterluke wird dicht verhängt. Eine Art Herd ist vorhanden, auf Backsteinen liegt eine eiserne Platte. Wir zünden ein Feuer an.
Kat rupft die Gans und bereitet sie zu. Die Federn legen wir sorgfältig beiseite. Wir wollen uns zwei kleine Kissen daraus machen mit der Aufschrift:»Ruhe sanft im Trommelfeuer!«
Das Artilleriefeuer der Front umsummt unsern Zufluchtsort. Lichtschein flackert über unsere Gesichter, Schatten tanzen auf der Wand. Manchmal ein dumpfer Krach, dann zittert der Schuppen. Fliegerbomben. Einmal hören wir gedämpfte Schreie. Eine Baracke muß getroffen sein. Flugzeuge surren; das Tacktack von Maschinengewehren wird laut. Aber von uns dringt kein Licht hinaus, das zu sehen wäre.
So sitzen wir uns gegenüber, Kat und ich, zwei Soldaten in abgeschabten Röcken, die eine Gans braten, mitten in der Nacht. Wir reden nicht viel, aber wir sind voll zarterer Rücksicht miteinander, als ich mir denke, daß Liebende es sein können. Wir sind zwei Menschen, zwei winzige Funken Leben, draußen ist die Nacht und der Kreis des Todes. Wir sitzen an ihrem Rande, gefährdet und geborgen, über unsere Hände trieft Fett, wir sind uns nahe mit unseren Herzen, und die Stunde ist wie der Raum: überflackert von einem sanften Feuer, gehen die Lichter und Schatten der Empfindungen hin und her. Was weiß er von mir – was weiß ich von ihm, früher wäre keiner unserer Gedanken ähnlich gewesen – jetzt sitzen wir vor einer Gans und fühlen unser Dasein und sind uns so nahe, daß wir nicht darüber sprechen mögen.
Es dauert lange, eine Gans zu braten, auch wenn sie jung und fett ist. Wir wechseln uns deshalb ab. Einer begießt sie, während der andere unterdessen schläft. Ein herrlicher Duft verbreitet sich allmählich.
Die Geräusche von draußen werden zu einem Band, zu einem Traum, der aber die Erinnerung nicht ganz verliert. Ich sehe im Halbschlaf Kat den Löffel heben und senken, ich liebe ihn, seine Schultern, seine eckige, gebeugte Gestalt – und zu gleicher Zeit sehe ich hinter ihm Wälder und Sterne, und eine gute Stimme sagt Worte, die mir Ruhe geben, mir, einem Soldaten, der mit seinen großen Stiefeln und seinem Koppel und seinem Brotbeutel klein unter dem hohen Himmel den Weg geht, der vor ihm liegt, der rasch vergißt und nur selten noch traurig ist, der immer weitergeht unter dem großen Nachthimmel. Ein kleiner Soldat und eine gute Stimme, und wenn man ihn streicheln würde, könnte er es vielleicht nicht mehr verstehen, der Soldat mit den großen Stiefeln und dem zugeschütteten Herzen, der marschiert, weil er Stiefel trägt, und alles vergessen hat außer dem Marschieren. Sind am Horizont nicht Blumen und eine Landschaft, die so still ist, daß er weinen möchte, der Soldat? Stehen dort nicht Bilder, die er nicht verloren hat, weil er sie nie besessen hat, verwirrend, aber dennoch für ihn vorüber? Stehen dort nicht seine zwanzig Jahre?
Ist mein Gesicht naß, und wo bin ich? Kat steht vor mir, sein riesiger gebückter Schatten fällt über mich wie eine Heimat. Er spricht leise, er lächelt und geht zum Feuer zurück.
Dann sagt er:»Es ist fertig.«
»Ja, Kat.«
Ich schüttele mich. In der Mitte des Raumes leuchtet der braune Braten. Wir holen unsere zusammenklappbaren Gabeln und unsere Taschenmesser heraus und schneiden uns jeder eine Keule ab. Dazu essen wir Kommißbrot, das wir in die Soße tunken. Wir essen langsam, mit vollem Genuß.
»Schmeckt es, Kat?«
»Gut! Dir auch?«
»Gut, Kat.«
Wir sind Brüder und schieben uns gegenseitig die besten Stücke zu. Hinterher rauche ich eine Zigarette, Kat eine Zigarre. Es ist noch viel übriggeblieben.
»Wie wäre es, Kat, wenn wir Kropp und Tjaden ein Stück brächten?«
»Gemacht«, sagt er. Wir schneiden eine Portion ab und wickeln sie sorgfältig in Zeitungspapier. Den Rest wollen wir eigentlich in unsere Baracke tragen, aber Kat lacht und sagt nur:»Tjaden.«
Ich sehe es ein, wir müssen alles mitnehmen. So machen wir uns auf den Weg zum Hühnerstall, um die beiden zu wecken. Vorher packen wir noch die Federn weg. Kropp und Tjaden halten uns für eine Fata Morgana. Dann knirschen ihre Gebisse. Tjaden hat einen Flügel mit beiden Händen wie eine Mundharmonika im Munde und kaut. Er säuft das Fett aus dem Topf und schmatzt:»Das vergesse ich euch nie!«
Wir gehen zu unserer Baracke. Da ist der hohe Himmel wieder mit den Sternen und der beginnenden Dämmerung, und ich gehe darunter hin, ein Soldat mit großen Stiefeln und vollem Magen, ein kleiner Soldat in der Frühe – aber neben mir, gebeugt und eckig, geht Kat, mein Kamerad.
Die Umrisse der Baracke kommen in der Dämmerung auf uns zu wie ein schwarzer, guter Schlaf.