Roger Zelazny Im Zeichen des Einhorns

1

Ich ignorierte den fragenden Blick des Pferdeknechts, als ich das unheimliche Bündel zu Boden senkte und das Tier in seine Obhut gab. Mein Umhang vermochte die Beschaffenheit des Gebildes nicht zu verhüllen, als ich es mir über die Schulter warf und auf den Hintereingang des Palasts zustapfte. Die Hölle würde bald ihren Tribut fordern.

Ich ging um das Übungsfeld herum und schlug mich zu dem Pfad durch, der zum Südteil des Palastgartens führte. Weniger Zeugen. Natürlich würde man mich entdecken, was hier aber nicht so unangenehm war wie auf der Vorderseite, wo immer Betrieb herrschte. Verdammt!

Und noch einmal: verdammt! Sorgen hatte ich meiner Ansicht nach wirklich genug. Doch wer viel hat, bekommt noch immer mehr hinzu. Eine geistige Form von Zins und Zinseszins, nehme ich an.

Am anderen Ende des Gartens, bei den Brunnen, lungerten ein paar Nichtstuer herum. Wächter bewegten sich durch die Büsche, die den Weg säumten. Die Männer sahen mich kommen, steckten kurz die Köpfe zusammen und wandten dann beflissen den Blick ab. Klug gehandelt.

Ich war noch keine ganze Woche wieder hier. Die meisten Probleme noch ungelöst. Der Hof von Amber voller Unruhe und Mißtrauen. Und jetzt das: ein Todesfall, der den kurzen, unglücklichen Anlauf Corwins I. – das bin ich – zur Herrschaft noch mehr gefährden konnte.

Ich mußte etwas in Gang bringen, das ich gleich hätte einleiten sollen. Aber schließlich war von Anfang an so unheimlich viel zu tun gewesen. Immerhin hatte ich nicht dagesessen und Däumchen gedreht. Ich hatte mir Prioritäten gesetzt und entsprechend gehandelt. Jetzt aber . . .

Ich durchquerte den Garten und trat aus dem Schatten in das schräg einfallende Sonnenlicht hinaus, schritt auf die breite, geschwungene Treppe zu. Als ich den Palast betrat, salutierte ein Wächter. Ich nahm den hinteren Aufgang, stieg in die erste Etage hinauf, dann in die zweite.

Von rechts trat mein Bruder Random aus seinen Räumen.

»Corwin!« sagte er mit prüfendem Blick in mein Gesicht. »Was ist los? Ich habe dich vom Balkon aus gesehen, und . . .«

»Hinein«, sagte ich und machte eine Bewegung mit den Augen. »Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten, und zwar sofort.«

Er zögerte und starrte auf meine Last.

»Gehen wir zwei Türen weiter, ja?« sagte er. »Ich habe Vialle hier.«

»Gut.«

Er ging voraus und öffnete die Tür. Ich betrat das kleine Wohnzimmer, wählte eine passend erscheinende Stelle und ließ den Körper fallen.

Random starrte auf das Bündel.

»Was erwartest du von mir?« fragte er.

»Pack das gute Stück nur aus«, sagte ich. »Schau´s dir an.«

Er kniete nieder, öffnete den Mantel und schlug den Stoff zurück.

»Tot«, bemerkte er. »Wo liegt das Problem?«

»Du hast dir das Ding nicht richtig angeschaut«, sagte ich. »Zieh mal ein Augenlid hoch, öffne den Mund und sieh dir die Zähne an. Betaste die Spitzen auf den Handrücken. Zähle die Gelenke in den Fingern. Und dann berichte mir von dem Problem.«

Er kam meinen Wünschen nach. Als er die Hände erreichte, hielt er inne und nickte.

»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

»Erinnere dich laut.«

»Vor langer Zeit, in Floras Haus . . .«

»Ja, dort habe ich so ein Wesen zum erstenmal gesehen«, sagte ich. »Aber die Kerle waren hinter dir her. Bis heute weiß ich nicht, warum.«

»Das ist richtig«, bemerkte er. »Ich hatte nie Gelegenheit, dir davon zu erzählen. So lange sind wir seither nicht zusammen gewesen. Seltsam . . . Woher kommt der Bursche?«

Ich zögerte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihm seine Geschichte abzuringen und ihm meine zu erzählen. Schließlich gewann meine Geschichte, weil sie mir noch sehr frisch im Gedächtnis war.

Ich seufzte und ließ mich in einen Sessel fallen.

»Wir haben gerade einen weiteren Bruder verloren«, begann ich. »Caine ist tot. Ich bin leider ein bißchen zu spät gekommen. Dieses Ding – dieses Wesen – hat es getan. Ich wollte es lebend fangen, du weißt, warum. Aber es wehrte sich erstaunlich heftig, und da hatte ich keine andere Wahl.«

Er pfiff leise durch die Zähne und setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl.

»Ich verstehe«, sagte er leise.

Ich musterte ihn eingehend. Lauerte da nicht ein schwaches Lächeln in den Kulissen, bereit, sich dem meinen anzuschließen? Durchaus möglich.

»Nein«, sagte ich entschieden. »Wenn es anders wäre, hätte ich dafür gesorgt, daß meine Unschuld weit weniger in Zweifel gezogen werden könnte. Ich sage dir, was wirklich geschehen ist.«

»Also schön«, sagte er. »Wo ist Caine jetzt?«

»Er liegt unter einer Erdschicht in der Nähe des Einhornwäldchens.«

»Das allein sieht ziemlich verdächtig aus«, sagte er. »Oder wird so aussehen – für die anderen.«

Ich nickte.

»Ich weiß. Doch ich mußte die Leiche verstecken und sie irgendwie bedecken. Ich konnte ihn nicht einfach herbringen und all die neugierigen Fragen auf mich einprasseln lassen. Nicht, solange da noch wichtige Tatsachen auf mich warten – in deinem Kopf.«

»Gut«, sagte Random. »Ich weiß nicht, wie wichtig sie sind, aber sie stehen dir natürlich zur Verfügung. Doch laß mich nicht in der Luft hängen, ja? Wie ist das alles passiert?«

»Es war unmittelbar nach dem Mittagessen«, sagte ich. »Ich hatte mit Gérard unten am Hafen gesessen. Anschließend holte mich Benedict durch einen Ruf mit seiner Trumpfkarte nach oben. In meinem Zimmer fand ich einen Zettel vor, den man offenbar unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Darin wurde ich für später am Nachmittag zu einer privaten Zusammenkunft in das Einhornwäldchen gebeten. Die Unterschrift lautete: ›Caine‹.«

»Hast du den Zettel noch?«

»Ja.« Ich holte das Papier aus der Tasche und reichte es ihm. »Hier.«

Er studierte den Text und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Könnte seine Handschrift sein – wenn er es sehr eilig hatte. Aber ich glaube nicht, daß sie es ist.«

Ich zuckte die Achseln, nahm den Zettel wieder an mich, faltete ihn zusammen und steckte ihn ein.

»Wie auch immer – ich versuchte, ihn durch seinen Trumpf zu erreichen, um mir den Ritt zu ersparen. Doch er war nicht empfangsbereit. Ich vermutete, er wollte seinen Aufenthaltsort geheimhalten, wenn die ganze Sache so wichtig war. Ich holte mir also ein Pferd und ritt los.«

»Hast du jemandem gesagt, wohin du wolltest?«

»Keiner Menschenseele. Allerdings beschloß ich, das Pferd ein bißchen auszureiten, und hatte ein ganz schönes Tempo drauf. Den Mord selbst habe ich nicht gesehen; aber als ich das Wäldchen erreichte, sah ich ihn schon am Boden liegen. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, und in einiger Entfernung bewegte sich etwas in den Büschen. Ich ritt den Kerl nieder, sprang ihm in den Nacken, kämpfte mit ihm und mußte ihn schließlich töten, weil er sich wehrte wie der Teufel. Dabei ist kein Wort gefallen.«

»Bist du sicher, daß du den Richtigen erwischt hast?«

»So sicher, wie man in einer solchen Situation sein kann. Seine Spur führte zu Caine. Er hatte frisches Blut an der Kleidung.«

»Vielleicht sein eigenes.«

»Schau ihn dir genauer an – er hat überhaupt keine Wunden. Ich habe ihm das Genick gebrochen. Natürlich fiel mir ein, wo ich seinesgleichen schon mal gesehen hatte. Deshalb habe ich ihn direkt zu dir gebracht. Doch ehe du mir mehr darüber erzählst, noch eine Kleinigkeit, gewissermaßen die Krönung der Sache.« Ich zog die zweite Nachricht aus der Tasche und übergab sie ihm. »Das Geschöpf hatte das hier bei sich. Ich vermute, es hatte den Zettel Caine abgenommen.«

Random las und gab mir das Blatt mit einem Nicken zurück.

»Von dir an Caine, mit der Bitte um ein Treffen. Ja, ich verstehe. Überflüssig anzumerken . . .«

»Ja, überflüssig anzumerken«, fiel ich ihm ins Wort, »daß die Schrift tatsächlich ein bißchen wie die meine aussieht – jedenfalls auf den ersten Blick.«

»Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn du als erster im Wäldchen eingetroffen wärst.«

»Wahrscheinlich gar nichts«, sagte ich. »Lebendig und unter Verdacht – so will man mich offenbar haben. Das Problem bestand darin, uns in der richtigen Reihenfolge dorthin zu holen – und ich habe mich doch nicht ausreichend beeilt, um zu verpassen, was auf mich warten sollte.«

Er nickte.

»In Anbetracht des knappen Zeitplans«, sagte er, »muß es sich um jemanden handeln, der an Ort und Stelle ist, hier im Palast. Hast du zu diesem Punkt irgendwelche Vorstellungen?«

Ich lachte leise und griff nach meiner Zigarette. Ich zündete sie an und setzte mein Lachen fort.

»Ich bin gerade erst nach Amber zurückgekommen. Du bist die ganze Zeit hier gewesen«, sagte ich. »Wer haßt mich hier zur Zeit am meisten?«

»Corwin, das ist eine unangenehme Frage«, stellte er fest. »Jeder hat irgend etwas gegen dich. Auf den ersten Blick würde ich Julian oben auf die Liste setzen. Doch scheint das hier nicht zu funktionieren.«

»Warum nicht?«

»Er und Caine sind gut miteinander ausgekommen. Das geht schon seit Jahren so. Sie sind füreinander eingestanden, sind oft zusammen gewesen. Eine ziemlich dicke Freundschaft. Julian ist verschlossen und kleinkrämerisch und so unangenehm wie eh und je. Doch wenn er überhaupt jemanden mochte, dann Caine. Ich glaube nicht, daß er ihm so etwas angetan hätte, auch wenn es darum ging, dich zu treffen. Sicher wären ihm andere Möglichkeiten eingefallen, wenn es ihm nur darauf angekommen wäre.«

Ich seufzte. »Wer steht als nächster auf der Liste?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Also gut. Was meinst du, wie wird man auf die Sache reagieren?«

»Du sitzt in der Klemme, Corwin. Alle werden glauben, du hättest ihn getötet, gleichgültig, was du sagt.«

Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den Toten. Random schüttelte den Kopf.

»Das kann genausogut ein armer Bursche sein, den du als Sündenbock aus den Schatten geholt hast.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Seltsam, meine Rückkehr nach Amber. Ich traf zum genau richtigen Augenblick ein, um eine günstige Ausgangsposition zu erringen.«

»Einen günstigeren Augenblick kann man sich nicht vorstellen«, stimmte mir Random zu. »Um dein Ziel zu erreichen, brauchtest du nicht einmal Eric zu töten. Das war ein großes Glück für dich.«

»Ja. Dennoch ist es kein großes Geheimnis, daß dies genau in meiner Absicht gelegen hat, und es dauert bestimmt nicht lange, bis meine Truppen – schwerbewaffnete Ausländer, die hier einquartiert sind – Ressentiments auslösen. Nur die drohende Gefahr von außen hat mich bisher davor bewahrt. Und dann die Dinge, die ich vor meiner Rückkehr getan haben soll – beispielsweise der Mord an Benedicts Dienstboten. Und jetzt dies . . .«

»Ja«, sagte Random. »Das habe ich kommen sehen, als du mir davon erzähltest. Als du und Bleys vor Jahren euren Angriff gegen die Stadt vortrugt, hat Gérard einen Teil der Flotte abkommandiert und euch damit den Weg geebnet. Caine dagegen griff mit seinen Schiffen an und zersprengte eure Streitmacht. Nachdem er nun nicht mehr ist, wirst du vermutlich Gérard zum Befehlshaber der ganzen Flotte machen.«

»Wen sonst? Er kommt als einziger für den Posten in Frage.«

»Trotzdem . . .«

»Trotzdem. Zugegeben. Wenn ich jemanden umbringen müßte, um meine Position zu festigen, wäre Caine das logische Opfer. Das ist die einfache und niederschmetternde Wahrheit.«

»Wie gedenkst du zu handeln?« fragte Random.

»Ich werde überall herumerzählen, was geschehen ist, und festzustellen versuchen, wer dahintersteckt. Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Ich habe überlegt, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, dir ein Alibi zu verschaffen. Aber das wäre nicht sehr vielversprechend.«

Ich schüttelte den Kopf. »Dazu stehst du mir zu nahe. Wie gut sich unsere Geschichte auch anhört – sie hätte vermutlich genau die entgegengesetzte Wirkung.«

»Hast du die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Tat zuzugeben?«

»Ja. Aber Notwehr käme dabei nicht in Frage. Es muß ein Überraschungsangriff gewesen sein – die durchgeschnittene Kehle. Und für die Alternative fehlt mir der Nerv: irgendwelche Beweise zurechtzuflicken, wonach er etwas Übles im Schilde führte, und zu behaupten, ich hätte zum Wohle Ambers gehandelt. Ich bin klipp und klar dagegen, unter diesem Aspekt ein falsches Schuldbekenntnis abzulegen. Außerdem würde mir das einen ziemlich üblen Geruch anhängen.«

»Aber auch den Ruf der Härte.«

»Doch die falsche Härte für die Art Herrschaft, die ich ausüben möchte. Nein, das kommt nicht in Frage.«

»Damit hätten wir alle Möglichkeiten durch – so gut wie alle.«

»Was soll das heißen – so gut wie alle?«

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Random seinen linken Daumennagel.

»Nun, ich muß daran denken, wenn es eine Person gibt, die du gern aus dem Rennen geworfen hättest, wäre jetzt der richtige Augenblick für die Erkenntnis, daß sich belastendes Material auch weiterreichen läßt.«

Ich dachte über seine Worte nach und drückte meine Zigarette aus.

»Nicht schlecht«, sagte ich. »Doch im Augenblick kann ich von meinen Brüdern keinen mehr erübrigen – nicht einmal Julian. Außerdem ist er derjenige, dem so ein Kuckucksei am schwierigsten ins Nest zu legen wäre.«

»Es braucht ja kein Familienmitglied zu sein«, meinte er. »Es gibt zahlreiche ehrenwerte Amberianer, die ein Motiv haben. Beispielsweise Sir Reginald . . .«

»Vergiß die Sache, Random! Wir belasten keinen anderen!«

»Also gut. Damit sind meine kleinen grauen Zellen erschöpft.«

»Hoffentlich nicht die, die deine Erinnerung enthalten.«

»Also schön.«

Er seufzte, reckte sich, stand auf, stieg über den dritten Anwesenden und ging zum Fenster. Er zog die Vorhänge auf und starrte eine Zeitlang hinaus.

»Also schön«, widerholte er. »Es gibt viel zu erzählen . . .«

Und er begann sich laut zu erinnern.

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