Ein Bündel Mondlicht . . . gespenstischer Fackelschein . . . Sterne . . . einige schwache Nebelstreifen . . .
Ich stützte mich auf das Geländer und blickte über die Welt . . . Von hier aus gesehen umfing absolute Stille die Nacht, die traumerfüllte Stadt, das ganze Universum. Ferne Dinge – das Meer. Amber, Arden, Garnath, der Leuchtturm von Cabra, das Einhornwäldchen, mein Grabmal auf dem Kolvir . . . Stumm, tief unter mir, doch klar erkennbar . . . Das Panorama für einen Gott, würde ich sagen, oder für eine Seele, die sich losgelöst hat und in höhere Sphären entschwebt . . . Mitten in der Nacht . . .
Ich war an den Ort gekommen, da die Gespenster Gespenster spielen, da die Omen, Vorzeichen, Symbole und Form gewordenen Sehnsüchte durch die nächtlichen Straßen und Säle des Amber-Palasts im Himmel Tir-na Nog´th wallen . . .
Ich wandte mich um, den Rücken zum Geländer, die Überreste der Tagwelt unter mir, und betrachtete die Straßen und dunklen Terrassen, die Häuser der hohen Herren, die Wohnungen der Niederen . . . Das Mondlicht ist stark in Tir-na Nog´th und legt sich silbrig auf das Äußere aller eingebildeten Dinge . . . Mit dem Stock in der Hand trat ich vor, und die seltsamen Wesen bewegten sich ringsum, erschienen in Fenstern, auf Balkonen, an Stränden, in Torbögen . . . Ungesehen ging ich vorbei, denn, wahrlich, wie immer ihre Substanz aussehen mochte – an diesem Ort war ich für sie das Gespenst . . .
Stille und Silber . . . Nur das Tappen meines Stocks, und das zumeist gedämpft . . . Weitere Nebelschwaden auf dem wallenden Wege zum Kern der Dinge . . . Der Palast ein weißes Freudenfeuer des Nebels . . . Tau, wie Quecksilbertropfen auf den angerauhten Blütenblättern und Stengeln in den Gärten zu beiden Seiten der Wege . . . Der vorüberziehende Mond so schmerzhaft für das Auge wie die Mittagssonne, die Sterne davon überstrahlt, verdunkelt . . . Silber und Stille . . . Der Schein . . .
Ich hatte eigentlich nicht kommen wollen, denn die Omen – wenn sie das wahrhaft sind – stellen sich hier täuschend dar, die Ähnlichkeiten mit den Lebenden und den Szenerien unten ist beängstigend, ihr Anblick oft beunruhigend. Trotzdem war ich gekommen . . . Ein Aspekt meines Paktes mit der Zeit . . .
Als ich Brand verlassen hatte, damit er in der Obhut Gérards weiter gesunde, war mir klar geworden, daß ich selbst auch Ruhe brauchte. Dazu mußte ich ein geeignetes Plätzchen finden, ohne meine Schwäche zu verraten. Fiona war tatsächlich geflohen, und weder sie noch Julian waren über die Trümpfe zu erreichen. Hätte ich Brands Geschichte an Benedict und Gérard weitererzählt, hätten sie bestimmt darauf gedrungen, ihr nachzuspüren, vielleicht sogar beiden. Ich war sicher, daß dieser Versuch vergeblich gewesen wäre.
Schließlich hatte ich Random und Ganelon holen lassen, mich in meine Gemächer zurückgezogen und zugleich verbreiten lassen, ich gedenke den Tag allein zu verbringen, um mich auf eine Nacht in Tir-na Nog´th vorzubereiten – ein glaubhaftes Verhalten für einen Amberianer, der ein schwieriges Problem zu lösen hat. Ich war nicht so recht überzeugt von der Praxis – im Gegensatz zu den meisten anderen. Da es jedoch der ideale Augenblick war, einen solchen Schritt zu tun, konnte ich hiermit meinen Ruhetag glaubhaft begründen. Natürlich verpflichtete mich das dazu, am Abend tatsächlich loszuziehen. Aber auch das war gut – auf diese Weise gewann ich einen Tag, eine Nacht und einen Teil des folgenden Tages, um mich wieder einigermaßen zu erholen. Ich war der Ansicht, daß ich die Zeit gut nützte.
Doch man muß sich jemandem anvertrauen. Ich schenkte Random und auch Ganelon reinen Wein ein. In meinem Bett sitzend, erzählte ich ihnen von den Plänen Brands, Fionas und Bleys´ und von dem Eric-Julian-Caine-Trio. Ich berichtete, was Brand über meine Rückehr und seine Gefangennahme durch die ehemaligen Mitverschwörer gesagt hatte. Sie erkannten, warum die Überlebenden beider Parteien – Fiona und Julian – geflohen waren; zweifellos um ihre Streitkräfte zu rufen, die sie möglicherweise im Kampf gegeneinander aufreiben würden – was aber nur eine Hoffnung war; vermutlich würde es anders kommen. Aber das war kein unmittelbares Problem. Wahrscheinlich würde der eine oder der andere zunächst den Versuch machen, Amber zu erobern.
»Sie werden eine Nummer ziehen und warten müssen, bis sie an der Reihe sind, wie wir anderen«, hatte Random daraufhin gesagt.
»Das stimmt nicht ganz«, erwiderte ich. »Fionas Verbündete und die Wesen, die über die schwarze Straße kommen, sind identisch.«
»Und der Kreis in Lorraine?« hatte sich Ganelon erkundigt.
»Ein und dasselbe. Auf diese Weise haben sich die Erscheinungen eben in jenem Schatten manifestiert. Sie haben einen weiten Weg hinter sich.«
»Allgegenwärtige Teufel!« knurrte Random.
Ich hatte genickt und die Lage zu erklären versucht.
. . . Und so kam ich nun nach Tir-na Nog´th. Als der Mond aufstieg und das Phantom Ambers schwach am Himmel erschien, durchstochen von Sternen, mit schwachen Höfen um die Türme und winzigen Bewegungspunkten auf den Mauern, wartete ich, wartete mit Ganelon und Random, wartete auf der höchsten Weide Kolvirs, an der Stelle, wo die drei Stufen ins Gestein gehauen sind . . .
Als das Mondlicht sie berührte, begannen die Umrisse der gesamten Treppe zu erscheinen, einer Treppe, die den mächtigen Abgrund bis zu der Stelle über dem Meer bewältigte, den die Visionsstadt einnahm. Als das Mondlicht darauf fiel, gewann die Treppe soviel Substanz, wie sie jemals besitzen würde, und ich stellte den Fuß auf den Stein . . . Random hatte einen vollen Satz Karten bei sich, und ich hatte meine Trümpfe in der Jacke. Grayswandir, hier an diesem Ort bei Mondlicht geschmiedet, besaß Macht in der Stadt des Himmels; deshalb nahm ich die Klinge mit. Ich hatte mich den ganzen Tag ausgeruht und hielt nun einen Stab in der Hand, um mich darauf zu stützen. Illusion der Ferne und der Zeit . . . Die Stufen durch den Corwin-ignorierenden Himmel nahmen irgendwie an Größe zu; sobald die Bewegung begonnen hat, gibt es auf dieser Treppe keine einfache arithmetische Progression. Ich war hier, ich war dort, ich hatte ein Viertel des Weges zurückgelegt, noch ehe meine Schulter den Griff von Ganelons Hand vergessen hatte . . . Wenn ich irgendeinen Teil der Treppe zu intensiv ansah, verlor er seine schimmernde Undurchsichtigkeit, und ich sah tief unter mir den Ozean wie durch eine milchige Linse . . . Obwohl es einem hinterher nicht lange vorkommt, verlor ich jedes Zeitgefühl . . . Rechts von mir, in einer Tiefe unter den Wellen, die bald der Höhe entsprechen würde, die ich über das Meer emporstieg, erschienen die Umrisse Rebmas funkelnd und sich windend unter dem Wasser. Ich dachte an Moire und fragte mich, wie es ihr ging. Was würde aus unserem unterseeischen Double werden, wenn Amber fiel? Würde das Abbild unzerstört im Spiegel verharren, oder würden Gebäude und Menschen gleichermaßen duchgeschüttelt, wie Würfel in den unterseeischen Kasinosälen, über die unsere Flotten dahinziehen? Keine Antwort in den menschenfordernden Corwin-verfluchenden Gewässern, wenn ich auch einen Stich in der Seite spürte.
Oben an der Treppe trat ich ein, betrat die Geisterstadt, ähnlich wie man Amber erreicht, nachdem man die große Außentreppe an Kolvirs seewärtigem Hang erstiegen hat.
Ich stützte mich auf das Geländer, blickte auf die Welt hinaus.
Die schwarze Straße führte nach Süden. Nachts konnte ich sie wegen der Dunkelheit nicht sehen, aber das machte nichts. Ich wußte inzwischen, wohin sie führte, beziehungsweise, wohin sie nach Brands Aussage führte. Da er meinem Eindruck nach ein ganzes Menschenalter an Gründen zum Lügen aufgebraucht hatte, glaubte ich durchaus, daß er wußte, wohin sie führte.
Ganz hindurch.
Ausgehend von dem Glanz Ambers, von der Macht und der schimmernden Pracht der benachbarten Schatten durch die immer dunkler werdenden Scheiben von Abbildern, die in jede Richtung führen, immer weiter fort, durch verzerrte Landschaften, und immer weiter, hindurch durch Orte, die nur sichtbar werden, wenn man betrunken ist, im Delirium liegt oder träumt – aber dennoch weiter, hinaus über den Punkt, da ich Schluß mache . . . Da ich Schluß mache . . .
Wie soll man etwas einfach ausdrücken, das im Grunde nicht einfach ist . . .? Solipsismus – das ist wohl der Begriff, mit dem wir beginnen müssen – die Vorstellung, daß nichts existiert außer dem Ich oder daß wir zumindest nichts anderes als unsere eigene Existenz, unser eigenes Erleben wirklich wahrnehmen können. Irgendwo in den Schatten, an irgendeinem Ort, ist alles zu finden, was ich mir nur vorstellen kann. Dazu ist jeder von uns in der Lage. Dies, so sage ich in gutem Glauben, spielt sich innerhalb der Grenzen des Egos ab. Nun mag man behaupten, wie es von den meisten von uns getan wurde, daß wir die von uns besuchten Schatten aus dem Stoff unserer eigenen Psyche schaffen, daß nur wir wirklich existieren, daß die Schatten, die wir durchqueren, lediglich Projektionen unserer Sehnsüchte sind . . . Welche Argumente sich auch für diesen Standpunkt vortragen lassen – und es gibt mehrere –, hier wird ein wesentlicher Aspekt der Einstellung unserer Familie gegenüber Menschen, Orten und Dingen außerhalb Ambers erklärt. Demnach sind wir nämlich die Spielzeughersteller, und alles andere ist unser Spielzeug – gewiß, zuweilen gefährlich aktiviert, doch auch dies gehört zum Spiel. Der Veranlagung nach sind wir Impresarios und behandeln die anderen Familienangehörigen entsprechend. Während der Solipsismus gewisse Reibungsflächen mit der Ursachenforschung hat, kann man diese Problematik leicht vermeiden, indem man Fragen überhaupt nicht erst aufkommen läßt. Die meisten tun das, die meisten von uns handeln, wie ich schon oft festgestellt habe, in der Abwicklung ihrer Angelegenheiten fast völlig pragmatisch. Fast . . .
Und doch – und doch enthält das Bild ein störendes Element. Es gibt einen Ort, da die Schatten verrückt spielen . . . Wenn man sich bewußt durch eine Schattenschicht nach der anderen drängt und dabei mit jedem Schritt – wiederum bewußt – ein Stück des eigenen Verstehens aufgibt, erreicht man schließlich einen verrückten Punkt, über den man nicht hinauskommt. Warum so etwas tun? Ich würde sagen, hier wirkt die Hoffnung auf eine neue Einsicht oder auf ein neues Spiel . . . Doch wenn man diesen Ort erreicht, wie wir es alle getan haben, wird einem klar, daß man die Grenzen der Schatten oder die eigenen Grenzen erreicht hat – gleichbedeutende Begriffe, so haben wir immer angenommen. Jetzt aber . . .
Jetzt aber weiß ich, daß das nicht so ist, ich weiß es, während ich hier vor dem Gericht des Chaos stehe und erzähle, wie es war, jetzt weiß ich, daß das nicht so ist. Auch damals erkannte ich es schon, in jener Nacht in Tir-na Nog´th; ich hatte es sogar schon vorher gewußt, als ich im Schwarzen Kreis von Lorraine gegen den Ziegenmenschen kämpfte; ich hatte es im Leuchtturm von Cabra geahnt, nach meiner Flucht aus den Verliesen Ambers, als ich das zerstörte Garnath-Tal betrachtete . . . Ich wußte, daß dies nicht alles war. Ich wußte es, weil ich erkannte, daß die Schwarze Straße über diesen Punkt hinausführte. Sie führte durch den Wahnsinn in das Chaos und war dann immer noch nicht zu Ende. Die Geschöpfe, die die Straße benutzten, kamen von irgendwoher, doch es waren nicht meine Geschöpfe. Ich hatte irgendwie dazu beigetragen, daß ihnen der Weg geebnet wurde, doch sie entsprangen nicht meiner Version der Wirklichkeit. Sie waren eigenständig oder das Produkt eines anderen – eine Frage, die in diesem Augenblick von geringer Bedeutung war –, sie rissen Löcher in das kleine Netz der Metaphysis, das wir über die Jahre hin geknüpft hatten. Sie waren in unser Reservat eingedrungen, dem sie nicht entstammten; sie bedrohten unser Refugium, sie bedrohten uns. Fiona und Brand hatten über alle Grenzen hinausgegriffen und etwas gefunden, an einem Ort, da es nach Auffassung der übrigen nichts mehr hätte geben dürfen. Die entfesselte Gefahr war in einer Weise fast den Beweis wert, den sie brachte: wir waren nicht allein, und ebensowenig waren die Schatten wirklich unsere Spielzeuge. Wie immer unsere Beziehung zu den Schatten aussehen mochte, ich konnte sie nie wieder im alten Licht sehen . . .
Und das alles, weil die Schwarze Straße nach Süden führte und über mein Ende der Welt hinauslief.
Stille und Silber . . . Mich von dem Geländer entfernen, mich dabei auf den Stock stützen, durch den nebeldurchwirkten, dunstverflochtenen, mondlichtbestrichenen Stoff des Sehens innerhalb der beunruhigenden Stadt gehen . . . Gespenster . . . Schatten von Schatten . . . Abbilder der Wahrscheinlichkeit . . . Bilder des Vielleicht-Später und des Hätte-Sein-Könnens . . . Bilder der versunkenen Wah rscheinlichkeit . . . der wieder aufflackernden Wahrscheinlichkeit . . .
Jetzt über die Promenade . . . Gestalten, Gesichter, viele vertraut . . . Was führen sie im Schilde? Schwer zu sagen . . . Einige Lippen bewegen sich, einige Gesichter sind in Bewegung. Hier gibt es für mich keine Worte. Unbemerkt gehe ich zwischen ihnen hindurch.
Dort . . . Eine Gestalt . . . Allein, doch wartend . . . Finger, die Minuten umklammernd und wegwerfend . . . Das Gesicht abgewandt, das ich sehen möchte . . . Ein Zeichen, daß ich es sehen werde oder sehen sollte . . . Sie sitzt auf einer Steinbank unter einem verkrüppelten Baum . . . Sie blickt zum Palast hinüber . . . Ihre Umrisse sind mir bekannt . . . Im Näherkommen sehe ich, daß es sich um Lorraine handelt . . .Sie starrt auf einen Punkt weit hinter mir, hört mich nicht sagen, daß ich ihren Tod gerächt habe.
Doch ich habe die Macht, mir hier Gehör zu verschaffen . . . sie ruht in der Scheide an meiner Seite.
Ich ziehe Grayswandir, hebe die Klinge über den Kopf, wo das Mondlicht sein Muster in Bewegung versetzt. Ich lege es auf den Boden zwischen uns.
»Corwin!«
Ihr Kopf ruckt zurück, ihr Haar rostet im Mondlicht, ihre Augen stellen sich auf mich ein.
»Woher kommst du? Du bist früh dran.«
»Du wartest auf mich?«
»Natürlich. Du hast mich doch darum gebeten . . .«
»Wie kommst du an diesen Ort?«
»Diese Bank . . .?«
»Nein. Diese Stadt.«
»Amber? Ich verstehe nicht, was du meinst. Du hast mich doch selbst hierhergebracht. Ich . . .«
»Bist du glücklich hier?«
»Das weißt du doch – solange ich nur bei dir bin!«
Ich hatte das Gleichmaß ihrer Zähne, die Andeutung von Sommersprossen unter dem Schleier des weichen Lichts nicht vergessen . . .
»Was ist passiert? Die Antwort ist für mich sehr wichtig. Tu mal einen Augenblick lang so, als ob ich es nicht wüßte, sag mir alles, was nach der Schlacht des Schwarzen Kreises in Lorraine mit uns geschehen ist.«
Sie runzelte die Stirn. Sie stand auf, wandte sich ab.
»Wir hatten Streit«, sagte sie. »Du bist mir gefolgt und hast Melkin vertrieben. Dann unterhielten wir uns. Ich sah ein, daß ich im Unrecht war, und begleitete dich nach Avalon. Dort überredete dich dein Bruder Benedict, mit Eric zu sprechen. Du wurdest zwar nicht in deinen alten Stand eingesetzt, doch wegen etwas, das er dir sagte, erkärtest du dich mit einem Waffenstillstand einverstanden. Er schwor, dir kein Leid anzutun, und du schworst, Amber zu verteidigen, wobei Benedict als Zeuge fungierte. Wir blieben in Avalon, während du gewisse Chemikalien besorgtest, und suchten später einen anderen Ort auf, wo du seltsame Waffen kauftest. Wir gewannen die Schlacht, doch Eric ist schwer verwundet.« Sie drehte sich um. »Gedenkst du den Waffenstillstand zu beenden? Geht es darum, Corwin?«
Ich schüttelte den Kopf, und obwohl ich es besser hätte wissen müssen, streckte ich die Hände aus, um sie zu umarmen. Ich wollte sie an mich drücken, trotz der Tatsache, daß einer von uns nicht existierte, nicht existieren konnte, sobald die winzige Entfernung zwischen uns überbrückt war. Doch ich wollte ihr sagen, was geschehen war oder geschehen würde . . .
Der Schock war nicht schlimm, doch er ließ mich stolpern. Ich lag über Grayswandir . . . Mein Stab war mehrere Schritte entfernt ins Gras gefallen. Ich stemmte mich auf die Knie empor und sah, daß ihr Gesicht, ihre Augen, ihr Haar jede Farbe verloren hatten. Ihr Mund formte gespenstische Worte, während sich ihr Kopf suchend hin und her wandte. Ich steckte Grayswandir in die Scheide, brachte meinen Stab wieder an mich und stand auf. Ihr Blick stieß durch mich hindurch und fand ein Ziel. Ihr Gesicht wurde glatt, sie lächelte, setzte sich in Bewegung. Ich trat zur Seite und wandte mich um, sah sie auf den näherkommenden Mann zulaufen, sah sie in seiner Umarmung, erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, als er es dem ihren zuneigte, glückliches Gespenst; Silber stieg am Kragen seiner Kleidung empor, er küßte sie, dieser Mann, den ich niemals kennen würde, Silber auf Stille, und wiederum Silber . . .
Weggehen . . . Nicht zurückschauen . . . Die Promenade überqueren . . .
Randoms Stimme: »Corwin, ist alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Ist etwas Interessantes passiert?«
»Später, Random.«
»Entschuldige.«
Und plötzlich die schimmernde Treppe vor dem Palast . . . Hinauf, dann nach rechts . . . Jetzt langsam und geruhsam, in den Garten . . . Geisterblumen gedeihen ringsum auf ihren Stengeln, Geisterbüsche schleudern ihre Blüten empor wie erstarrte Feuerwerksraketen. Alles ohne Farbe . . . Nur die wichtigen Dinge skizziert, das Ausmaß der Silbrigkeit der einzige Anspruch ans Auge. Nur das Wichtige ist vorhanden. Ist Tir-na Nogh´th eine spezielle Schattensphäre in der realen Welt, beeinflußt von den Anstößen des Id – ein Projektionstest in voller Größe am Himmel, vielleicht sogar ein therapeutisches Mittel? Wenn dies ein Stück der Seele ist, würde ich sagen, dann ist die Nacht sehr düster – trotz des Silbers. Und sehr still . . .
Weitergehen . . . Vorbei an Brunnen, Bänken, Hainen, raffiniert gestalteten Nischen in Heckenlabyrinthen . . . Die Wege entlang, erst da, dann dort eine Treppe hinauf, über eine kleine Brücke . . . Vorbei an Teichen, zwischen Bäumen hindurch, ab und zu an einer Statue vorbei, einem Felsbrocken oder einer Sonnenuhr (hier vielleicht Monduhr?), mich nach rechts wenden, immer nur weiter gehen, nach einiger Zeit um die Nordecke des Palasts, dann nach links, vorbei an einem Hof voller Balkone, auf denen vereinzelt weitere Gespenster stehen . . .
Nach hinten herum, um auch den rückwärtigen Garten in dieser Form zu sehen; im echten Amber, im normalen Mondlicht, bietet er einen herrlichen Anblick.
Ein paar weitere Gestalten, die herumstehen, sich unterhalten . . . Außer meiner Eigenbewegung scheint sich nichts zu rühren.
. . . Und ich fühle mich nach rechts gezogen. Da man niemals ein kostenloses Orakel ablehnen sollte, gebe ich dem Drang nach.
. . . Nähere mich einer gewaltigen Hecke, darin eine kleine offene Fläche, wenn sie nicht überwachsen ist . . . Vor langer Zeit . . .
Darin zwei Gestalten, die sich umarmen. Sie weichen auseinander, als ich mich abzuwenden beginne. Geht mich nichts an, aber . . . Deirdre . . . Eine der beiden ist Deirdre. Noch ehe er sich umwendet, weiß ich, wer der Mann sein muß. Welche Macht auch immer hier im Silber und in der Stille herrscht, sie spielt mir einen grausamen Streich . . . Zurück, zurück, fort von der Hecke. Umdrehen, fallen, wieder aufstehen, laufen, fort, fort, schnell . . .
Randoms Stimme: »Corwin? Alles in Ordnung?«
»Später, verdammt! Später!«
»Wir haben nicht mehr lange bis Sonnenaufgang, Corwin. Ich hielt es für besser, dich zu erinnern . . .«
»Und jetzt hast du mich erinnert!«
Fort jetzt, schnell . . . Auch die Zeit ist in Tir-na Nog´th nur ein Traum. Ein geringer Trost – aber besser als keiner. Schnell jetzt, fort, gehen, fort . . .
. . . Auf den Palast zu, schimmernde Architektur des Geistes oder der Seele, deutlicher vor mir, als es der wirkliche Palast jemals gewesen ist. Vollkommenheit zu bescheinigen, ist ein wertloses Urteil, doch ich muß sehen, was sich darin befindet . . . Bald muß das Ende kommen, denn ich werde vorangetrieben. Diesmal habe ich mir nicht die Zeit genommen, meinen Stab aus dem funkelnden Gras aufzuheben.
Ich weiß, wohin ich gehen muß, was ich tun muß. Völlig klar ist mir das, obwohl die Logik, die mich nun erfüllt, nicht die eines wachen Geistes ist.
Eilig hinauf zum rückwärtigen Portal . . . Das Stechen in der Seite nistet sich wieder ein. Steigen, über die Schwelle, hinein . . .
In Dunkelheit, weder Sternenschein noch Mondlicht. Die Beleuchtung ist ohne Richtung, scheint ziellos dahinzutreiben und sich beliebig zu sammeln. Wo sie kein Ziel findet, sind die Schatten absolut und lassen große Teile des Raums, des Saals und der Treppe unheimlich erscheinen.
Dazwischen hindurch, nun fast laufend. Schwarzweißbild meines Zuhauses . . . Angst überfällt mich . . . Die schwarzen Flecke wirken nun wie Löcher in diesem Stück Realität . . . Ich fürchte, ihnen zu nahe zu kommen. Hineinzufallen und verloren zu sein . . .
Umdrehen . . . Überqueren . . . Schließlich . . . Eintreten . . . Der Thronsaal. Bündel von Schwärze aufgestapelt, wo meine Augen gern Linien abtasten möchten, um zum eigentlichen Thron zu gelangen . . .
Dort allerdings gibt es eine Bewegung.
Eine Verschiebung zu meiner Rechten, während ich voranschreite, ein Verschieben und Anheben.
Stiefel kommen in Sicht, als ich mich vorwärtsdrängend der Basis des Gebildes nähere.
Grayswandir gleitet mir in die Hand, findet seinen Weg an eine erleuchtete Stelle, wiederholt sein augentäuschendes, formveränderndes Strecken, gewinnt einen eigenständigen Schimmer . . .
Ich stelle den linken Fuß auf die Stufe, stütze die linke Hand aufs Knie. Störend, doch erträglich: das Pulsieren meiner heilenden Wunde. Ich warte auf die Schwärze, ich warte, daß er zur Seite gezogen wird, der passende Vorhang für die Theaterrolle, die ich heute abend habe übernehmen müssen.
Und er gleitet zur Seite, enthüllt eine Hand, einen Arm, eine Schulter, der Arm ein funkelnd-metallisches Ding, die Oberflächen wie die Facetten eines Juwels, Handgelenk und Ellbogen herrliche Gebilde aus Silberdrähten, zusammengeschweißt mit Feuerpunkten, die Hand, stilisiert, skelettartig, ein Spielzeug von schweizerischer Präzision, ein mechanisches Insekt, funktionell, tödlich, auf seine Weise schön zu nennen . . .
Und gleitet zur Seite, gibt den Blick frei auf den Rest des Mannes . . .
Benedict steht lässig neben dem Thron, seine linke und menschliche Hand leicht darauf gestützt. Er beugte sich zum Thron. Seine Lippen bewegten sich.
Und der Vorhang gleitet weiter, enthüllt die Person auf dem Thron.
»Dara!«
Nach rechts gewendet, lächelt sie, nickt Benedict zu; ihre Lippen bewegen sich. Ich trete vor und strecke Grayswandir aus, bis seine Spitze in der Höhlung unter ihren Brüsten ruht . . .
Langsam, ganz langsam, wendet sie den Kopf und begegnet meinem Blick. Sie gewinnt Farbe und Leben. Ihre Lippen bewegen sich wieder, und diesmal erreichen ihre Worte meine Ohren.
»Was seid Ihr?«
»Nein, das ist meine Frage! Ihr müßt sie beantworten. Auf der Stelle!«
»Ich bin Dara. Dara von Amber. Königin Dara. Mein Anspruch auf diesen Thron begründet sich auf Blutsbande und Eroberung. Wer seid Ihr?«
»Corwin. Ebenfalls ein Abkömmling Ambers. Bewegt Euch nicht! Ich habe nicht gefragt, wer Ihr seid . . .«
»Corwin ist schon viele Jahrhunderte tot. Ich habe sein Grab gesehen.«
»Leer.«
»O nein. Sein Leichnam liegt darin.«
»Nennt mir Eure Abkunft!«
Ihre Augen bewegen sich nach rechts, wo noch immer der Schatten Benedicts verharrt. Eine Klinge ist in seiner neuen Hand erschienen, eine Klinge, die fast wie eine Verlängerung des Armes aussieht, doch er hält sie entspannt, gelassen. Seine linke Hand liegt nun auf Daras Arm. Seine Augen suchen mich hinter Grayswandirs Griff. Als sie nichts finden, richten sie sich von neuem auf das, was sichtbar ist – Grayswandir – und erkennen das Muster.
»Ich bin die Urenkelin Benedicts und der Höllenmaid Lintra, die er liebte und später tötete.« Benedict zuckt bei diesen Worten zusammen, doch sie fährt fort: »Ich habe sie nicht kennengelernt. Meine Mutter und Großmutter wurden an einem Ort geboren, da die Zeit nicht so vergeht wie in Amber. Ich bin der erste Abkömmling der Familie meiner Mutter, der äußerlich voll dem Menschen ähnelt. Und Ihr, Lord Corwin, seid nur ein Gespenst aus einer längst beendeten Vergangenheit, allerdings ein gefährlicher Schatten. Wie Ihr hierherkommt, weiß ich nicht. Aber es war jedenfalls ein Fehler, zu kommen. Kehrt in Euer Grab zurück. Stört die Lebenden nicht.«
Meine Hand zittert. Grayswandir weicht einen halben Zoll vom Ziel ab. Doch das genügt.
Benedicts Stich liegt unter meiner Wahrnehmungsschwelle. Sein neuer Arm treibt die neue Hand, die die Klinge hält, die Grayswandir trifft, während sein alter Arm zugleich seine alte Hand zieht, die Dara ergriffen hat und über die Seitenlehne des Throns zerrt . . .
Dieser unterschwellige Eindruck erreicht mich Sekundenbruchteile später, woraufhin ich zurückweiche, durch die Luft haue, mich erhole und in die en garde-Position gehe . . . Es ist lächerlich, daß sich zwei Gespenster bekämpfen. Dennoch ist der Kampf hier ungleich. Er kann mich nicht einmal erreichen, wohingegen Grayswandir . . .
Aber nein! Seine Klinge wechselt die Hände, als er Dara losläßt und sich umdreht und beide zusammenbringt, die alte und die neue Hand. Sein linkes Handgelenk dreht sich, während er es vorwärts und hinabzieht, und sich in eine Stellung begibt, die corps à corps gewesen wäre, hätten wir uns in unseren sterblichen Hüllen gegenübergestanden. Einen Augenblick lang stehen wir verschränkt da. Dieser Augenblick genügt . . .
Die schimmernde mechanische Hand stößt vor, ein Ding aus Mondlicht und Feuer, Schwärze und Glätte, ganz Schneide, keine Kurven, die Finger leicht gekrümmt, die Handfläche silbrig bekritzelt mit einem halb-vertrauten Muster – diese Hand stößt vor, stößt vor und umfaßt meinen Hals . . .
Das Ziel verfehlend, packen die Finger meine Schulter, und der Daumen geht auf die Suche – ob nach der Halsschlagader oder dem Zungenbein, weiß ich nicht. Ich probiere einen Hieb mit der Linken in Richtung Gürtellinie, doch dort ist nichts.
Randoms Stimme: »Corwin! Gleich geht die Sonne auf. Du mußt jetzt herabkommen!«
Ich kann nicht einmal antworten. Eine Sekunde oder zwei – und die Hand reißt fort, was immer sie umklammert hält. Diese Hand . . . Grayswandir und diese Hand, die dem Schwert seltsam ähnelt, sind die einzigen Dinge, die in meiner Welt und in der Stadt der Gespenster auf einer gemeinsamen Ebene zu existieren scheinen . . .
»Ich sehe die Sonne, Corwin! Löse dich und versuch mich zu erreichen! Der Trumpf . . .«
Ich ziehe Grayswandir aus der Umklammerung, wirble es in einem weitausholendem Hieb herum und herab . . .
Nur ein Gespenst hätte Benedict oder Benedicts Gespenst mit diesem Manöver überraschen können. Wir stehen uns zu nahe, als daß er meine Klinge abblocken kann, doch sein Gegenhieb, perfekt angesetzt, hätte mir den Arm abgeschlagen, wäre da überhaupt ein Arm gewesen.
Da es diesen Arm nicht gibt, vollende ich den Schlag, bringe die Klinge mit der vollen Kraft des rechten Arms ins Ziel, ziemlich weit oben auf dem tödlichen Gebilde aus Mondlicht und Feuer, Schwärze und Glätte, nahe der Stelle, da es mit ihm verbunden ist.
Mit einem unangenehmen Zupfen an meiner Schulter löst sich der Arm von Benedict und erstarrt . . . Wir stürzen beide.
»Steh auf! Beim Einhorn, Corwin, steh auf! Die Sonne ist da! Die Stadt wird rings um dich in Stücke gehen!«
Der Boden unter mir gewinnt eine vage Durchsichtigkeit, pulsiert zurück in den alten Zustand. Ich mache eine lichtbeschuppte Wasserfläche aus. Ich lasse mich auf die Füße rollen, weiche nur knapp dem Ansturm des Gespenstes aus, das den verlorenen Arm zurückerobern will. Das Gebilde hängt wie ein toter Parasit an mir, und meine Wunde tut wieder weh . . .
Plötzlich bin ich schwer, und die Vision des Ozeans verblaßt nicht mehr. Ich beginne durch den Boden zu sinken. Farbe kehrt in die Welt zurück, schwankende rosarote Streifen. Der Corwin-verachtende Boden teilt sich, und der Corwin-tötende Abgrund tut sich auf . . .
Ich falle . . .
»Hier entlang, Corwin! Jetzt!«
Random steht auf einer Bergspitze und öffnet sich mir. Ich strecke die Hand aus . . .