6

Die Feiern des Lebens gehen ihre ewige Runde, der Mensch schmiegt sich immer wieder an den Busen der Hoffnung, und zwischen Regen und Traufe gibt es oft nur wenige trockene Plätzchen - das war an jenem Abend die Summe der Weisheit meines langen Lebens, gefördert von einer Stimmung kreativer Nervosität, kommentiert von Random mit einem Nicken und einem lächelnd vorgebrachten Kraftausdruck.

Wir saßen in der Bibliothek, und ich hockte auf der Kante des großen Tisches. Random nahm den Stuhl zu meiner Rechten ein. Gérard stand am anderen Ende des Raumes und betrachtete einige Waffen, die dort an der Wand hingen. Vielleicht interessierte er sich auch für Reins Stich des Einhorns. Wie auch immer - ähnlich wie wir ignorierte er Julian, der in einem Sessel neben den Vetrinen saß, mit ausgestreckten Beinen, die er an den Fußgelenken übereinandergeschlagen hatte, mit verschränkten Armen, den Blick auf seine schuppigen Stiefel konzentriert. Fiona – etwa fünf Fuß und zwei Zoll groß – starrte mit grünen Augen in Floras blaue Augen, während sich die beiden neben dem Kamin unterhielten; ihr Haar war ein mehr als ausreichender Ersatz für den leeren Kamin, loderte es doch förmlich und erinnerte mich wie stets an etwas, von dem der Maler soeben zurückgetreten war, Pinsel und Farbe beiseitelegend, hinter seinem Lächeln die ersten Fragen formulierend. Die Stelle an ihrem Hals, wo sein Daumen das Schlüsselbein angedeutet hatte, schien mir wie immer das Werk eines Meisters zu sein, besonders wenn sie fragend oder herablassend den Kopf hob, um uns Größere anzuschauen. In diesem Augenblick lächelte sie schwach; zweifellos spürte sie meinen Blick mit ihrem fast hellsichtig zu nennenden Wahrnehmungsvermögen, dessen Erkenntnis doch nicht verhindern kann, daß man immer wieder davon aufgestört wird. Llewella saß in einer Ecke und tat, als lese sie ein Buch; sie hatte uns den Rücken zugewandt; ihre grünen Locken bewegten sich etliche Zoll über dem dunklen Kragen. Ob ihre Zurückhaltung auf Feindseligkeit, Nervosität wegen Entfremdung oder nur Vorsicht zurückzuführen war, wußte ich nie genau zu sagen. Wahrscheinlich spielten alle Elemente mit hinein. Sie war nicht allzu oft in Amber anzutreffen.

. . . Und die Tatsache, daß wir eine Ansammlung von Individuen und keine Gruppe, keine Familie waren, zu einer Zeit, da ich eine Art gemeinsamer Identität zu schaffen wünschte, einen Willen zur Zusammenarbeit – dies führte zu meinen Feststellungen und zu Randoms Zustimmung.

Ich spürte ein vertrautes Wesen, hörte ein »Hallo, Corwin«, und da war Deirdre, die sich mir zuwandte. Ich streckte die Hand aus, ergriff die ihre, hob sie an die Lippen. Sie machte einen Schritt vorwärts, wie die erste Figur eines formellen Tanzes, und stand dann dicht vor mir, sah mich an. Einen Augenblick lang hatte ein vergittertes Fenster ihren Kopf und ihre Schultern eingerahmt und ein kostbarer Teppich hatte die Wand zu ihrer Linken geschmückt. Natürlich war dieser Effekt sorgfältig geplant gewesen. Trotzdem wirksam. Sie hielt meinen Trumpf in der linken Hand und lächelte. Als sie erschien, blickten die anderen in unsere Richtung, und sie schlug, sich langsam drehend, mit ihrem Lächeln zurück, wie eine Mona Lisa mit Maschinenpistole.

»Corwin«, sagte sie, gab mir einen Kuß und trat zurück. »Ich fürchte, ich bin früh dran.«

»Niemals«, sagte ich und wandte mich an Random, der schon aufgestanden war.

»Darf ich dir etwas zu trinken holen, Schwester?« fragte er, nahm sie an der Hand und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Anrichte.

»Aber ja. Vielen Dank.« Und er führte sie fort und schenkte ihr Wein ein und vermied – oder verzögerte – auf diese Weise ihren üblichen Zusammenstoß mit Flora. Zumindest nahm ich an, daß die alte Animosität noch bestand, so wie ich sie in Erinnerung hatte. Das Manöver beraubte mich zwar für den Augenblick ihrer Gesellschaft, doch es trug dazu bei, den häuslichen Frieden zu wahren, der mir gerade jetzt ziemlich wichtig war. Wenn er will, ist Random in solchen Dingen ziemlich geschickt.

Ich trommelte mit den Fingern auf der Tischkante herum, rieb mir die schmerzende Schulter, schlug die Beine übereinander und stellte sie wieder nebeneinander. Ich überlegte, ob ich mir eine Zigarette anzünden sollte . . .

Plötzlich war er da. Am entgegengesetzten Ende des Zimmers hatte sich Gérard nach links gewandt, hatte etwas gesagt und die Hand ausgestreckt. Einen Sekundenbruchteil später hielt er die linke und einzige Hand Benedicts, des letzten Mitglied unserer Gruppe.

Also schön. Mit der Tatsache, daß Benedict durch Gérards und nicht durch meinen Trumpf gekommen war, brachte er seine Gefühle mir gegenüber zum Ausdruck. War dies zugleich ein Hinweis auf eine Allianz, die den Zweck hatte, mich zu kontrollieren? Zumindest sollte sein Schritt entsprechende Zweifel in mir wecken. War es vielleicht Benedict gewesen, der Gérards kleine Kampfübung mit mir angeregt hatte? Wahrscheinlich.

In diesem Augenblick stand Julian auf, durchquerte das Zimmer, sagte etwas zu Benedict und schüttelte ihm die Hand. Der Vorgang erweckte Llewellas Aufmerksamkeit. Sie wandte sich um, schloß ihr Buch und legte es zur Seite. Lächelnd trat sie vor, begrüßte Benedict, nickte Julian zu, sagte etwas zu Gérard. Die kleine Runde trat enger zusammen, begann sich angeregt zu unterhalten. Also schön, also schön.

Vier und drei. Und zwei in der Mitte . . .

Ich musterte die Gruppe auf der anderen Seite und wartete. Wir waren nun alle beisammen, und ich hätte um Aufmerksamkeit bitten und mit der Tagesordnung beginnen können. Aber . . .

Die Versuchung war zu groß. Wir alle spürten die Spannung, das wußte ich. Es war, als wären im Zimmer plötzlich zwei magnetische Pole aktiviert worden. Ich war neugierig, wie sich die Metallsplitter formieren würden.

Flora warf mir einen kurzen Blick zu. Ich nahm nicht an, daß sie es sich über Nacht anders überlegt hatte – es sei denn, es hatte neue Entwicklungen gegeben. Nein, ich war zuversichtlich, daß ich den nächsten Zug richtig vorausgesehen hatte.

Und damit irrte ich mich nicht. Ich hörte sie etwas von Durst und einem Glas Wein sagen. Sie wandte sich halb um und machte eine Bewegung in meine Richtung, als erwarte sie, daß Fiona sie begleiten würde. Als dies nicht geschah, zögerte sie einen Augenblick lang. Damit stand sie plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Sie erkannte diese Tatsache, traf eine schnelle Entscheidung und kam lächelnd zu mir.

»Corwin«, sagte sie. »Ich glaube, ich möchte ein Glas Wein haben.«

Ohne den Kopf zu wenden, ohne den Blick von dem Tableau vor mir zu nehmen, rief ich: »Random, schenk doch bitte Flora ein Glas Wein ein, ja?«

»Aber natürlich«, erwiderte er, und ich vernahm die dazugehörigen Geräusche.

Flora nickte, gab ihr Lächeln auf und ging an mir vorbei nach rechts.

Vier und vier, womit Fiona hell lodernd in der Mitte des Zimmers verblieb. Sie wußte genau, was los war, und genoß die Situation; sie trat vor den ovalen Spiegel mit dem kostbar geschnitzten dunklen Rahmen, der zwischen den beiden nächsten Regalgruppen hing, und machte Anstalten, ein paar lockere Strähnen an ihrer linken Schläfe zu befestigen.

Ihre Bewegung erzeugte ein grünsilbernes Aufzucken zwischen den roten und goldenen Mustern des Teppichs in der Nähe der Stelle, wo ihr linker Fuß gestanden hatte.

Ich wußte nicht, ob ich fluchen oder lächeln sollte. Das durchtriebene Luder konnte ihre Spielchen nicht lassen! Doch immer großartig . . . Nichts hatte sich verändert. Weder fluchend noch lächelnd trat ich vor, wie sie es auch nicht anders erwartet hatte.

Doch auch Julian näherte sich, und sogar ein wenig schneller als ich. Er war ihr näher gewesen und hatte es vielleicht einen Sekundenbruchteil eher gesehen.

Er hob das Gebilde auf und ließ es langsam hin und her pendeln.

»Dein Armband, Schwester«, sagte er freundlich. »Es scheint deinem Arm entsagt zu haben, das dumme Ding. Hier – gestatte bitte.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen und bedachte ihn zugleich mit einem Blick unter gesenkten Lidern und einem entsprechenden Lächeln, während er die Smaragdkette wieder schloß. Als er fertig war, ließ er ihre Hand zwischen seinen beiden Händen verschwinden und wandte sich seiner Ecke zu.

»Ich glaube, du hättest Spaß an dem netten Witz, den wir gerade erzählen wollten«, begann er.

Ihr Lächeln wurde womöglich noch breiter, als sie ihre Hand löste. »Danke, Julian«, erwiderte sie, machte kehrt und nahm meinen Arm. »Ich glaube, mir steht der Sinn im Augenblick mehr nach einem Glas Wein.«

Ich nahm sie mit und sorgte dafür, daß sie die gewünschte Erfrischung bekam. Fünf gegen vier.

Julian, der etwas dagegen hat, starke Gefühle an den Tag zu legen, kam gleich darauf zu einem Entschluß und folgte uns in unsere Ecke. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, trank, musterte mich einige Sekunden lang und sagte schließlich: »Ich glaube, wir sind jetzt alle da. Wann gedenkst du anzufangen mit dem, weswegen du uns hergeholt hast?«

»Ich sehe keinen Grund für eine weitere Verzögerung«, sagte ich, »nachdem nun jeder hier seinen Auftritt gehabt hat.« Ich hob meine Stimme und sprach die Gruppe auf der anderen Seite an. »Es ist soweit. Machen wir es uns bequem.«

Die anderen wanderten herüber. Stühle wurden herangezogen; man setzte sich. Frischer Wein wurde eingeschenkt. Gleich darauf hatten wir ein Publikum.

»Vielen Dank«, sagte ich, als man ganz zur Ruhe gekommen war. »Mir liegen heute abend etliche Dinge am Herzen, von denen einige vielleicht sogar tatsächlich zur Sprache kommen. Der Verlauf des Abends wird natürlich vom ersten Schritt abhängen, und den werden wir sofort tun. Random, berichte, was du mir gestern erzählt hast.«

»Schön.«

Ich zog mich auf den Stuhl hinter dem Tisch zurück, und Random setzte sich auf die Kante des seinen. Ich machte es mir bequem und hörte noch einmal die Geschichte seiner Kontaktaufnahme mit Brand und seines Rettungsversuchs. Es war eine gekürzte Version ohne Mutmaßungen, die mich eigentlich seit dem Augenblick nicht wieder losgelassen hatten, seit Random sie mir eingepflanzt hatte. Doch trotz der Auslassung bekamen die anderen die möglichen Weiterungen durchaus mit, das wußte ich. Dies war der Hauptgrund, weshalb ich Random sofort das Wort ergreifen ließ. Hätte ich nur den Versuch unternommen, meinen Verdacht vorzutragen und zu untermauern, wäre man zweifellos der Ansicht gewesen, ich huldigte dem überlieferten Brauch, die Aufmerksamkeit von mir selbst abzulenken – eine Überlegung, die sofort dazu führen mußte, daß sich die Aufnahmebereitschaft mir gegenüber auf Null senkte. Auf diese Weise jedoch mochten die anderen zwar der Meinung sein, Random würde nur die Dinge sagen, die ich ihn sagen lassen wollte, aber sie würden ihn bis zum Ende anhören und sich die ganze Zeit fragen, was das alles sollte. Sie würden sich mit den vorgetragenen Ideen befassen und zu erkennen versuchen, weshalb ich die Konferenz einberufen hatte. Sie würden sich soviel Zeit nehmen, daß die Theorien Wurzeln schlagen konnten, vorbehaltlich eines späteren Beweises. Und sie würde sich fragen, ob wir diese Beweise vorlegen konnten. Dieselbe Frage stellte ich mir auch.

Während ich wartete und mir Gedanken machte, beobachtete ich die anderen. Mehr noch als mein Mißtrauen erforderte es die schlichte Neugier, daß ich diese Gesichter nach Reaktionen und Hinweisen absuchte, soweit ich das vermochte – Gesichter, die ich besser kannte als alle anderen. Natürlich verrieten sie mir nichts. Vielleicht stimmte es tatsächlich, daß man sich einen Menschen nur beim ersten Zusammentreffen richtig ansieht und danach beim Wiedererkennen jeweils nur ein paar geistige Kürzel absolviert. Mein Gehirn ist faul genug, um dieser These ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt zuzubilligen; es nutzt seine Fähigkeit der Abstraktion, um, wo immer möglich, Arbeit zu vermeiden. Diesmal zwang ich mich zum richtigen Hinschauen – aber es nützte trotzdem nichts. Julian behielt seine etwas gelangweilte, leicht amüsierte Maske auf. Gérard wirkte abwechselnd überrascht, wütend und bedrückt. Benedict sah einfach nur düster und mißtrauisch aus. Llewella so trauig und unwägbar wie eh und je. Deirdre machte einen abwesenden Eindruck, Flora einen ergebenen, und Fiona sah sich in der Runde um und stellte ihren eigenen Katalog an Reaktionen zusammen.

Die einzige Schlußfolgerung, die ich nach einiger Zeit zu ziehen vermochte, war die, daß Random Eindruck machte. Zwar verriet sich niemand, doch ich sah, wie die Langeweile verschwand, wie das alte Mißtrauen wich,, wie neues Mißtrauen erwachte. Das Interesse meiner Geschwister war geweckt, fast eine Art Faszination. Schließlich hatte jeder seine Fragen auf der Zunge. Zuerst nur wenige, dann ein ganzer Schwall.

»Halt!« ging ich schließlich dazwischen. »Laßt ihn zu Ende erzählen. Die ganze Geschichte. Damit werden einige Fragen gleich beantwortet. Die anderen könnt ihr hinterher noch loswerden.«

Es wurde genickt und geknurrt, und Random sprach weiter. Er schilderte schließlich unseren Kampf gegen die Fremden bei Flora und deutete an, daß sie aus derselben Ecke kamen wie der Bursche, der Caine umgebracht hatte. Flora bestätigte dieses Detail.

Als dann Fragen gestellt wurden, beobachtete ich die Anwesenden intensiv. Solange es ihnen nur um Randoms Geschichte ging, war alles in Ordnung. Doch ich wollte die Dinge nicht so weit kommen lassen, daß man spekulierte, ob etwa einer von uns hinter der Sache steckte. Sobald es dazu kam, wurde bestimmt auch von mir gesprochen und der Möglichkeit, daß ich meine Spuren zu verwischen trachtete. Dies konnte zu bösen Worten und zu einer Stimmung führen, die ich nun wirklich nicht heraufbeschwören wollte. Da war es schon besser, zunächst die Beweisgrundlage zu schaffen, um späteren Vorhaltungen aus dem Weg zu gehen, den Missetäter nach Möglichkeit sofort einzukreisen und meine Position auf der Stelle zu festigen.

Ich paßte also auf und wartete meine Zeit ab. Als ich das Gefühl hatte, daß der entscheidende Augenblick nahe herangetickt war, hielt ich die Uhr an.

»All unser Reden, all unsere Vermutungen wären nicht erforderlich«, sagte ich, »wenn wir hinsichtlich der Tatsachen ein klares Bild hätten. Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, sich diese Klarheit zu verschaffen – und zwar auf der Stelle. Deshalb seid ihr alle hier.«

Das hatte die gewünschte Wirkung. Ich hatte sie gepackt. Sie waren voll da. Aufmerksam. Bereit. Vielleicht sogar willens.

»Ich schlage vor, wir versuchen Brand zu erreichen und nach Hause zu holen«, sagte ich. »Jetzt.«

»Wie?« fragte mich Benedict.

»Durch die Trümpfe.«

»Das hat man schon versucht«, meinte Julian. »Auf diese Weise ist er nicht ansprechbar. Keine Antwort.«

»Ich meine nicht den gewöhnlichen Gebrauch der Trümpfe«, erklärte ich. »Ich habe euch gebeten, heute abend einen vollen Satz des Spiels mitzubringen. Ihr habt die Karten mit?«

Sie nickten.

»Gut«, sagte ich. »Holen wir Brands Trumpf heraus. Ich schlage vor, daß wir ihn zu neunt gleichzeitig anzusprechen versuchen.«

»Ein interessanter Gedanke«, bemerkte Benedict.

»Ja«, stimmte Julian zu, nahm seine Karten heraus und blätterte sie durch. »Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Vielleicht gewinnen wir dadurch zusätzliche Kraft. Man kann nie wissen.«

Ich fand Brands Trumpf. Ich wartete, bis auch die anderen das entsprechende Bild vor sich hatten. Dann sagte ich: »Wir wollen uns koordinieren. Sind alle bereit?«

Achtmal Zustimmung.

»Dann los. Versucht es. – Jetzt!«

Ich betrachtete meine Karte. Brands Gesichtszüge ähnelten den meinen, doch er war kleiner und schmaler gebaut. Sein Haar erinnerte eher an Fiona. Er trug einen grünen Reitanzug und saß auf einem weißen Pferd. Wie lange war das jetzt her? Ich überlegte. Brand war stets ein Träumer gewesen, ein Mystiker, ein Poet – stets desillisioniert oder aufgekratzt, zynisch oder vertrauensselig. Im breiten Mittelfeld schien für seine Gefühle kein Raum zu sein. Manisch-depressiv – das ist eine zu vage Bezeichnung für seinen vielschichtigen Charakter, doch mag das Wort eine gewisse Zielrichtung andeuten, die Vielzahl von Fähigkeiten, mit denen sein Lebensweg bestimmt war. Aus diesem Zustand heraus gab es Augenblicke, da ich ihn, ich muß es zugeben, so charmant, rücksichtsvoll und loyal fand, daß ich ihn über all meine anderen Geschwister stellte. In anderen Momenten jedoch konnte er dermaßen bitter, sarkastisch und rundheraus brutal sein, daß ich seine Gesellschaft mied aus Angst, ich könnte ihm etwas antun. Unser letztes Zusammensein war negativer Art gewesen, kurze Zeit bevor Eric und ich jene Auseinandersetzung hatten, die zu meinem Exil führte.

. . . Und das waren meine Gedanken und Gefühle, während ich seinen Trumpf betrachtete und ihn mit dem Verstand, mit dem Willen zu erreichen versuchte, während ich die Leere entstehen ließ, die er ausfüllen sollte. Ringsum gingen die anderen eigene Erinnerungen durch und taten dasselbe.

Langsam veränderte sich die Karte wie in einem Traum; sie schien an Tiefe zu gewinnen. Es folgte das vertraute Verschwimmen und das Gefühl von Bewegung, das den Kontakt mit dem Gesuchten ankündigt. Der Trumpf fühlte sich unter meinen Fingerspitzen kälter an, dann strömten Dinge herbei und formierten sich, errangen eine plötzliche Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, nachhaltig, dramatisch, komplett.

Er schien sich in einer Zelle zu befinden. Hinter ihm ragte eine Steinmauer auf. Auf dem Boden lag Stroh. Er war angekettet, und seine Kette führte durch einen riesigen Ring, der in die Wand über ihm eingelassen war. Es war eine ziemlich lange Kette, die ihm ausreichend Bewegung gestattete. Im Augenblick nutzte er diese Tatsache aus; er lag ausgebreitet auf einem Haufen aus Stroh und Lumpen in einer Ecke. Kopfhaare und Bart waren ziemlich lang, sein Gesicht wirkte dünner, als ich es je zuvor gesehen hatte. Seine Kleidung war zerrissen und verdreckt. Er schien zu schlafen. Unwillkürlich mußte ich an meine eigene Gefangenschaft denken – an die Gerüche, die Kälte, die übelriechende Nahrung, die Feuchtigkeit, die Einsamkeit – an den Wahnsinn, der kam und ging. Wenigstens hatte Brand seine Augen noch. Plötzlich begannen seine Augenlider zu zucken, als mehrere von uns seinen Namen riefen. Er öffnete seine grünen Augen; sie hatten einen matten, leeren Ausdruck.

War er betäubt worden? Oder glaubte er eine Halluzination zu erleben?

Doch plötzlich kehrte der alte Geist zurück. Er richtete sich auf, streckte die Hände aus.

»Brüder!« sagte er. »Schwestern . . .«

»Ich komme!« ertönte ein Schrei, der das Zimmer erzittern ließ.

Gérard war aufgesprungen und hatte dabei seinen Stuhl umgeworfen. Er stürmte durch die Bibliothek und riß eine riesige Streitaxt von den Wandpflöcken. Er band sie sich um das Gelenk der Hand, in der er den Trumpf hielt. Eine Sekunde lang erstarrte er, intensiv auf die Karte starrend. Dann streckte er die leere Hand aus und war plötzlich drüben, Brand umfassend, der sich diesen Augenblick aussuchte, um wieder ohnmächtig zu werden. Das Bild begann zu flackern. Der Kontakt war unterbrochen.

Fluchend suchte ich in meinem Spiel nach Gérards Trumpf. Mehrere andere schienen dasselbe zu tun. Als ich das Bild fand, suchte ich den Kontakt. Langsam das Verschmelzen, das Herumdrehen, das Neuformen. Da!

Gérard hatte die Kette straff über die Mauersteine gezogen und hieb mit der Axt darauf ein. Doch das Ding war stark und widerstand den mächtigen Hieben. Nach längerer Zeit sahen mehrere Kettenglieder zerdrückt und verkratzt aus, doch inzwischen hatten die widerhallenden Axtschläge die Wächter alarmiert.

Geräusche ertönten von links – ein Rasseln, das Scharren von Riegeln, das Knirschen von Türangeln. Mein Wahrnehmungsfeld reichte nicht so weit, doch offensichtlich wurde die Zellentür geöffnet. Brand richtete sich erneut auf. Gérard setzte seine Attacken auf die Kette fort.

»Gérard! Die Tür!« rief ich.

»Ich weiß!« knurrte er, wickelte sich die Kette um den Arm und zerrte daran. Sie gab nicht nach.

Im nächsten Augenblick ließ er die Kette los und schwang die Axt herum, als einer der dornenhändigen Krieger ihn mit erhobener Klinge angriff. Der Schwertkämpfer ging zu Boden und wurde im nächsten Augenblick von einem zweiten Mann ersetzt. Dann drängten sich ein dritter und ein vierter herbei, dichtauf gefolgt von weiteren Wächtern.

In diesem Augenblick war eine verschwommene Bewegung zu spüren, und plötzlich kniete Random im Bild. Seine rechte Hand ruhte in Brands Hand, seine Linke hielt einen Stuhl vor sich wie einen Schild. Er sprang auf und bestürmte die Angreifer, trieb den Stuhl wie einen Rammbock zwischen sie. Die Fremden wichen zurück. Er hob den Stuhl und ließ ihn herumschwingen. Eine Gestalt lag auf dem Boden, gefällt von Gérards Axt. Eine zweite hatte sich seitlich zurückgezogen und umklammerte den Stumpf ihres rechten Arms. Random zog nun einen Dolch, stieß blitzschnell zu, erledigte zwei weitere Gegner mit dem Stuhl und trieb den letzten zurück. Noch während dies im Gange war, schwebte der erste Tote plötzlich wie ein Gespenst vom Boden empor und trieb langsam in die Höhe. Blut tropfte herab. Der Mann mit der Stichwunde im Leib sank in die Knie; seine Hände waren um die Klinge gepreßt, die in seinem Bauch steckte.

Inzwischen hatte sich Gérard der Kette mit beiden Händen bemächtigt. Einen Fuß stellte er gegen die Wand und begann zu zerren. Seine Schultern wölbten sich, als sich die mächtigen Rückenmuskeln strafften. Die Kette hielt. Etwa zehn Sekunden. Fünfzehn . . .

Mit lautem Knacken und Rasseln gab das Metall schließlich nach. Gérard stolperte zurück und stützte sich mit ausgestreckter Hand ab. Er blickte zur Seite, anscheinend auf Random, der im Augenblick außerhalb meines Blickfelds war. Offenbar befriedigt wandte er sich ab, beugte sich vor und hob Brand empor, der wieder bewußtlos zu Boden gesunken war. Ihn auf den Armen haltend, drehte er sich herum und streckte unter der schlaffen Gestalt hervor eine Hand in unsere Richtung. Neben den beiden erschien Random auf meinem Bild, jetzt ohne Stuhl, und gab uns ebenfalls ein Zeichen.

Wir alle streckten die Hände aus, und gleich darauf standen sie zwischen uns, und wir drängten uns um sie.

Jubelschrei erklang, als wir loseilten, um ihn zu berühren, zu sehen – unseren Bruder, der so viele Jahre fort gewesen und seinen geheimnisvollen Häschern endlich entrissen worden war. Vielleicht waren mit ihm auch einige Antworten befreit worden. Nur sah er so schwach, so dünn, so bleich aus . . .

»Zurück!« rief Gérard. »Ich trage ihn zur Couch! Dann könnt ihr ihn euch in Ruhe . . .«

Totenstille. Alle waren zurückgewichen, zu Stein erstarrt. Der Grund war die Tatsache, daß Brand plötzlich blutete, daß Blut zu Boden tropfte. In seiner linken Flanke, auf dem Rücken, steckte ein Dolch. Sekunden zuvor war die Waffe nicht dort gewesen. Einer von uns hatte eben versucht, ihm einen Stich in die Nieren zu versetzen, und hatte offenbar Erfolg damit gehabt.

Ich hatte einen kurzen Augenblick Zeit, meine Sinne auf den Versuch zu konzentrieren, die Position jedes einzelnen in einer Art geistiger Fotographie festzuhalten. Dann war der Bann gebrochen. Gérard trug Brand zur Couch, und wir wichen zurück, wußten wir doch, daß uns allen nicht nur klar war, was hier geschehen sein mußte, sondern auch, was es bedeutete.

Gérard legte Brand auf das Sofa und riß das schmutzige Hemd auf.

»Besorgt mir sauberes Wasser, damit ich ihn waschen kann«, sagte er. »Und Handtücher. Holt Salzlösung und Glukose und etwas zum Aufhängen der Flaschen. Besorgt mir einen Arzneikasten.«

Deirdre und Flora näherten sich der Tür.

»Meine Räume liegen am nächsten«, sagte Random. »Einer von euch findet dort einen Arzneikasten. Aber das IV-Zeug befindet sich im Labor in der dritten Etage. Ich komme lieber mit und helfe.«

Wir alle hatten irgendwann eine ärztliche Ausbildung erhalten, hier wie im Ausland. Was wir in den Schatten lernten, mußte allerdings für Amber abgewandelt werden. Die meisten Antibiotika aus den Schattenwelten wirkten hier beispielsweise nicht. Andererseits scheinen sich unsere immunologischen Prozesse von denen aller anderen Lebewesen zu unterscheiden, die wir bisher studieren konnten, so daß wir uns viel seltener infizieren. Und wenn es doch einmal dazu kommt, sind wir das Problem auch schneller wieder los. Außerdem besitzen wir erhebliche regenerative Fähigkeiten.

Hätte aus unserer Runde jemand diese Wunde erlitten, während er ansonsten bei Kräften war, hätte ich prophezeit, daß er überleben würde, wenn er die erste halbe Stunde überstand. Brand jedoch . . . Der Zustand, in dem er sich befand . . . Niemand konnte eine Prognose stellen.

Als die anderen mit den Mitteln und Geräten zurückkehrten, säuberte Gérard den Bewußtlosen, nähte die Wunde und verband sie. Er hängte den Tropfer auf, löste Brands Armschellen mit Hammer und Meißel, die Random mitgebracht hatte, bedeckte Brand mit Laken und Decke und maß noch einmal seinen Puls.

»Wie ist er?« fragte ich.

»Schwach«, erwiderte Gérard, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich neben der Couch nieder. »Jemand soll mir meine Klinge holen – und ein Glas Wein.«

Llewella ging zur Anrichte, und Random holte ihm von dem Gestell hinter der Tür sein Schwert.

»Willst du dort dein Lager aufschlagen?« fragte Random und reichte ihm die Waffe.

»Ja.«

»Wie wär´s, wenn wir Brand in ein besseres Bett legten?«

»Er ist hier ganz gut aufgehoben. Ich werde entscheiden, wenn er verlegt werden kann. Zunächst soll mal jemand ein Feuer anzünden. Dann macht ein paar von den Kerzen aus.«

Random nickte.

»Wird gemacht«, sagte er und nahm das Messer zur Hand, das Gérard aus Brands Körper gezogen hatte, ein dünnes Stilett, dessen Klinge etwa sieben Zoll lang war. Er legte es auf seine Handfläche.

»Erkennt es jemand wieder?« fragte er.

»Ich nicht«, sagte Benedict.

»Ich auch nicht«, meinte Julian.

»Nein«, sagte ich.

Jedes der Mädchen schüttelten den Kopf.

Random betrachtete die Waffe.

»Leicht zu verstecken – in einem Ärmel, Stiefel oder Korsett. Ganz schön mutig, das Ding so zu benutzen . . .«

»Eine Verzweiflungstat«, sagte ich.

»Wäre es möglich, daß einer der Wächter dafür verantwortlich ist?« fragte Julian. »Drüben in der Zelle?«

»Nein«, sagte Gérard. »Von denen ist keiner nahe genug herangekommen.«

»Das Messer sieht aus, als könnte man es auch zum Werfen verwenden«, bemerkte Deirdre.

»O ja, die Balance stimmt«, stellte Random fest und schob die Waffe auf den Fingerspitzen hin und her. »Doch keiner von ihnen hatte freie Bahn oder eine Gelegenheit zum Werfen. Das weiß ich genau.«

In diesem Augenblick kehrte Llewella zurück. Sie brachte ein Tablett mit Fleischstücken, einem halben Brotlaib, einer Flasche Wein und einem Kelch. Ich räumte einen kleinen Tisch frei und stellte ihn neben Gérards Stuhl. Als Llewella das Tablett absetzte, fragte sie: »Aber warum? Damit bleiben wir übrig. Warum sollte einer von uns so etwas tun wollen?«

Ich seufzte.

»Wessen Gefangener ist er wohl gewesen?« fragte ich.

»Einer von uns steckt dahinter?«

»Was meinst du wohl? Beispielsweise konnte Brand etwas wissen, das dem Täter das Risiko wert war, zu verhindern, daß es nicht ans Tageslicht kam. Der gleiche Grund hat ihn zuvor in die Zelle und in Gefangenschaft gebracht.«

Sie runzelte die Stirn.

»Das ergibt auch keinen Sinn. Warum hat man ihn nicht einfach umgebracht und die Sache damit erledigt?«

Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte man noch Verwendung für ihn. Aber es gibt eigentlich nur einen Mann, der uns diese Frage genau beantworten kann. Wenn ihr ihn findet, müßt ihr ihn fragen.«

»Oder sie«, sagte Julian. »Schwester, du scheinst plötzlich von einem Übermaß an Naivität befallen!«

Ihre Augen begegneten Julians Blick – zwei Eisberge, die sich in eisiger Unwägbarkeit anfunkelten.

»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte sie, »bist du von deinem Stuhl aufgestanden, als sie durchkamen, hast dich nach links gewandt, bist um den Tisch herumgegangen und hast etwas zur Rechten Gérards gestanden. Dabei hast du dich ziemlich weit vorgebeugt. Ich glaube, deine Hände waren nicht sichtbar.«

»Und wenn ich mich richtig erinnere«, sagte er, »warst du auch in Stichweite, links von Gérard, und hast dich ebenfalls vorgebeugt.«

»Ich hätte die Tat aber mit der linken Hand begehen müssen – und ich bin Rechtshänderin.«

»Vielleicht verdankt er das bißchen Leben, das er noch hat, eben dieser Tatsache.«

»Du bist auffallend bemüht, festzustellen, daß es jemand anders war, Julian.«

»Schon gut!« sagte ich. »Schon gut! Ihr wißt, daß so etwas zu nichts führt. Nur einer ist der Täter, und das ist kein Weg, ihn aus der Reserve zu locken.«

»Oder sie«, fügte Julian zornig hinzu.

Gérard stand auf, starrte düster in die Runde.

»Ich kann es nicht zulassen, daß mein Patient gestört wird«, sagte er. »Außerdem wolltest du dich um das Feuer kümmern, Random.«

»Sofort«, sagte Random und machte sich an die Arbeit.

»Verlegen wir die Konferenz ins Wohnzimmer«, sagte ich. »Gérard, hier vor der Tür stelle ich einige Wächter auf.«

»Nein«, sagte Gérard. »Mir ist lieber, wenn derjenige, der es versuchen möchte, bis zu mir durchkommt. Ich übergebe dir dann morgen früh seinen Kopf.«

Ich nickte. »Jedenfalls kannst du klingeln, wenn du etwas brauchst – oder ruf einen von uns durch die Trümpfe. Wir informieren dich morgen, falls wir noch etwas erfahren.«

Gérard setzte sich wieder, knurrte etwas vor sich hin und begann zu essen. Random brachte das Feuer in Gang und löschte einige Lichter. Brands Decke hob und senkte sich, langsam, aber regelmäßig. Stumm verließen wir nacheinander das Zimmer und gingen zur Treppe und ließen die beiden allein.

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