8

Jeder muß im Leben Blut lassen. Leider war ich nun wieder einmal an der Reihe, und es fühlte sich an, als wäre es gar nicht so wenig. Ich lag zusammengekrümmt auf der rechten Seite, beide Arme um meinen Bauch verkrampft. Ich spürte Feuchtigkeit, die in meine Hosen rann.

Links, dicht über der Gürtellinie, war die Wunde. Ich kam mir vor wie ein beiläufig geöffneter Umschlag. Dies waren meine ersten Empfindungen, als das Bewußtsein den Kopf um die Ecke steckte. Und mein erster Gedanke war: »Worauf wartet er denn noch?« Offensichtlich war der Coup de Grâce irgendwie verzögert worden. Aber warum?

Ich öffnete die Augen. Sie hatten die unbestimmte Zeit, die inzwischen verstrichen war, genutzt und waren an die Dunkelheit gewöhnt. Ich wandte den Kopf. Ich sah keinen anderen Menschen im Raum. Statt dessen war etwas Seltsames passiert, das ich nicht genau zu bestimmen vermochte. Ich schloß die Augen wieder und ließ den Kopf zurück auf die Matratze fallen.

Etwas stimmte nicht, doch gleichzeitig war alles in Ordnung . . .

Die Matratze . . . Ja, ich lag auf meinem Bett. Ich nahm nicht an, daß ich mein Lager ohne fremde Hilfe hätte erreichen können. Doch es wäre absurd gewesen, mich mit dem Messer anzugreifen und mir dann ins Bett zu helfen.

Mein Bett . . . Es war mein Bett und auch wieder nicht.

Ich kniff die Augen zusammen. Ich knirschte mit den Zähnen. Ich begriff überhaupt nichts mehr. Ich wußte, daß ich nicht mehr normal denken konnte im Gefolge eines Schocks, während mir das Blut im Leib zusammenlief und dann ins Freie strömte. Ich versuchte mich zu einer klaren Überlegung zu zwingen. Das war nicht einfach.

Mein Bett. Ehe man irgend etwas anderes spürt, merkt man beim Erwachen, ob man im eigenen Bett liegt oder nicht. Und das traf auch hier zu, aber . . .

Ich kämpfte gegen einen ungeheuren Niesreiz an; ich hatte das Gefühl, daß mir das Niesen schaden würde. Ich drückte meine Nasenflügel zusammen und atmete in kurzen Zügen durch den Mund ein. Ringsum der Geschmack und Geruch von Staub – zugleich fühlte es sich danach an.

Das Jucken in der Nase ließ nach, und ich öffnete die Augen. Endlich wußte ich, wo ich mich befand. Ich begriff nicht, wie und warum – doch ich war noch einmal an einen Ort zurückgekehrt, den ich niemals wiederzusehen erwartet hatte.

Ich senkte die rechte Hand, benutzte sie, um mich emporzustemmen.

Ich lag im Schlafzimmer meines Hauses. In meinem alten Haus. Das Haus, das mir in meiner Rolle als Carl Corey gehört hatte. Ich war in die Schatten zurückgebracht worden, auf jene Welt, genannt Erde, auf der ich die Jahre meines Exils verbracht hatte. Das Zimmer war völlig verstaubt. Das Bett war nicht gemacht worden, seit ich zum letztenmal darin geschlafen hatte; gut fünf Jahre war das jetzt her. Ich kannte den Zustand des Hauses, hatte ich doch erst vor wenigen Wochen hier vorbeigeschaut.

Ich schob mich höher empor und vermochte schließlich die Füße von der Bettkante hinabgleiten zu lassen. Dann klappte ich von neuem zusammen und blieb reglos sitzen. Es ging mir ziemlich schlecht.

Zwar fühlte ich mich vor einem weiteren Angriff sicher; doch zugleich war mir bewußt, daß ich im Augenblick mehr als Sicherheit brauchte. Ich brauchte Hilfe, war ich doch nicht in der Lage, mir selbst zu helfen. Ich wußte nicht einmal genau, wie lange ich noch bei Bewußtsein bleiben konnte. Ich mußte also runter von diesem Bett und raus aus dem Haus. Das Telefon war sicher abgeschaltet, das nächste Haus war ziemlich weit entfernt. Ich mußte also zur Straße. Ich dachte daran, daß einer der Gründe für die Wahl der Wohnung hier die Abgelegenheit von der Straße gewesen war. Ich liebe die Einsamkeit – wenigstens manchmal.

Mit der rechten Hand zog ich das nächste Kissen heran und ließ es aus dem Bezug gleiten. Ich drehte das Innere nach außen, versuchte den Stoff zu falten, und gab den Versuch auf, statt dessen knüllte ich die Masse zusammen, ließ sie unter mein Hemd gleiten und drückte sie auf die Wunde. Dann saß ich einfach nur da und hielt zitternd den Kissenbezug fest. Doch selbst das war eine ungeheure Anstrengung. Es tat weh, wenn ich zu tief einatmete.

Nach einer gewissen Zeit jedoch zog ich das zweite Kissen heran, hielt es mir über die Knie und ließ es aus dem offenen Bezug gleiten. Ich wollte damit einem vorbeifahrenden Auto zuwinken, denn meine Kleidung war wie üblich dunkel. Doch ehe ich den Stoff durch meinen Gürtel ziehen konnte, fiel mir das Verhalten des Kissens auf. Es hatte den Boden noch nicht erreicht. Ich hatte es losgelassen, nichts hielt es auf, und es bewegte sich tatsächlich. Doch es sank sehr langsam abwärts, näherte sich dem Boden wie in Zeitlupe, wie in einem Traum.

Ich dachte an die Bewegung des Schlüssels, den ich vor meinem Zimmer losgelassen hatte. Ich dachte an meine unbeabsichtigte Schnelligkeit auf der Treppe. Ich dachte an Fionas Worte und an das Juwel des Geschicks, das mir noch immer auf der Brust hing und das nun im Rhythmus der pochenden Schmerzen in meiner Flanke pulsierte. Das Ding hatte mir wahrscheinlich das Leben gerettet; ja, das war vermutlich richtig, wenn Fionas Mutmaßungen stimmten. Wahrscheinlich hatte es mir, als der Angreifer zuschlug, einen Sekundenbruchteil mehr geschenkt, als mir normalerweise zugestanden hätte, so daß ich mich hatte drehen und den Arm hochreißen können. Vielleicht war das Juwel sogar für meine plötzliche Versetzung verantwortlich. Doch über diese Dinge mußte ich ein andermal nachdenken, wenn es mir gelang, eine Beziehung zur Zukunft aufrechtzuerhalten. Für den Augenblick mußte das Juwel verschwinden – falls auch Fionas Befürchtungen zutreffen –, und ich mußte mich endlich in Bewegung setzen.

Ich verstaute den zweiten Kissenbezug und versuchte mich aufzurichten, wobei ich mich am Fußende festhielt. Sinnlos! Schwindelgefühle und stechende Schmerzen. Ich ließ mich zu Boden gleiten und hatte Angst, unterwegs das Bewußtsein zu verlieren. Doch ich schaffte es. Ich ruhte mich aus. Dann begann ich mich zu bewegen, begann langsam zu kriechen.

Ich erinnerte mich, daß die Haustür ja zugenagelt war. Also schön – dann eben zur Hintertür hinaus.

Ich schaffte es bis zur Schlafzimmertür und lehnte mich gegen den Türstock. Gleichzeitig nahm ich das Juwel des Geschicks ab und wickelte mir die Kette um das Handgelenk. Ich mußte das Ding irgendwo verstecken. Allerdings war der Safe in meinem Arbeitszimmer zu weit vom Wege. Außerdem hinterließ ich bestimmt eine deutliche Blutspur. Jemand, der darauf aufmerksam wurde, mochte neugierig genug sein, der Sache nachzugehen und das kleine Stück mitgehen zu lassen. Und mir fehlte die Zeit und die Energie . . .

Ich schaffte es um die Ecke und in den Flur. Ich mußte mich ziemlich anstrengen, bis ich die Hintertür offen hatte. Ich beging den Fehler, mich nicht vorher auszuruhen.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Schwelle. Die Nacht war kalt, und die Wolken bedeckten fast den ganzen Himmel. Ein eisiger Wind peitschte über die Veranda. Ich spürte feuchte Tropfen auf dem ausgestreckten Handrücken.

Ich gab mir einen Ruck und kroch weiter. Der Schnee war etwa zwei Zoll tief. Die kalte Luft belebte mich. Mit einem Gefühl, das an Panik grenzte, machte ich mir klar, wie vernebelt mein Geist auf dem bisherigen Wege gewesen war. Ich konnte jederzeit das Bewußtsein verlieren und untergehen.

Ich machte mich auf den Weg zur abgelegenen Ecke des Grundstücks, wobei ich nur weit genug vom Wege abwich, um ein bißchen am Komposthaufen herumzuwühlen, das Juwel in die Vertiefung zu werfen und das Stück totes Gras, das ich losgerissen hatte, wieder an Ort und Stelle zu legen. Ich schaufelte Schnee über die Stelle und setzte meinen Weg fort.

Sobald ich die Ecke hinter mir hatte, befand ich mich im Windschatten des Hauses und vermochte hangabwärts zu kriechen. Als ich die Vorderseite des Hauses erreichte, rastete ich wieder. Eben war ein Wagen vorbeigefahren; ich sah die Rücklichter kleiner werden. Es war das einzige Fahrzeug weit und breit.

Eiskristalle stachen mir ins Gesicht, als ich weiterkroch. Meine Knie waren unangenehm kalt. Das Grundstück vor dem Haus fiel zur Straße hin ab, zunächst nur wenig, dann ziemlich steil. Etwa hundert Meter weiter rechts befand sich eine Senke, vor der die Autofahrer normalerweise das Gas zurücknahmen und auf die Bremse traten. Vielleicht verschaffte mir dieser Umstand eine etwas längere Zeit im Scheinwerferlicht der Wagen, die aus dieser Richtung kamen – einer jener kleinen positiven Aspekte, derer sich der Geist gern versichert, wenn es brenzlig wird, ein Aspirin für die Emotionen. Nach drei langen Pausen hatte ich den Straßenrand erreicht – den großen Felsbrocken, auf dem sich meine Hausnummer befand. Ich setzte mich auf den Stein und lehnte mich gegen den kalten Hang. Dann zerrte ich den zweiten Kissenbezug hervor und legte ihn mir über die Knie.

Ich wartete. Ich wußte, daß meine Gedanken verwirrt waren. Vermutlich bin ich mehrmals bewußtlos geworden und wieder zu mir gekommen. Sobald ich wieder einmal hochschreckte, versuchte ich meine Gedanken in Ordnung zu bringen, um mir über frühere Ereignisse klar zu werden im Lichte der Dinge, die eben mit mir geschehen waren, damit ich noch andere Sicherheitsmaßnahmen ergreifen konnte. Doch schon der erste Versuch ging über meine Kräfte. Es war einfach zu schwierig, auf einer anderen Ebene zu denken, als es die Reaktion auf die augenblickliche Umgebung erforderte. Doch in einem matten Aufflackern der Erkenntnis wurde mir klar, daß ich meine Trümpfe noch hatte. Ich konnte jemanden in Amber anrufen, konnte mich zurückholen lassen.

Doch wen? Ich war noch nicht so mitgenommen, daß ich ausschloß, womöglich eben den Mann anzusprechen, der für meinen Zustand verantwortlich war. War es besser, dieses Risiko einzugehen oder hier nach einer Lösung zu suchen? Trotzdem, Random oder Gérard . . .

Ich glaubte einen Wagen zu hören. Noch fern, sehr leise . . . Der Wind und mein Pulsschlag kamen der Wahrnehmung allerdings ins Gehege. Ich wandte den Kopf. Ich konzentrierte mich.

Dort . . . Wieder. Ja. Ein Motor. Ich hielt mich bereit, den Kissenbezug zu schwenken.

Doch selbst jetzt entglitten mir meine Gedanken. Einer der Gedankensplitter beschäftigte sich damit, daß ich womöglich gar nicht mehr in der Lage war, mich ausreichend zu konzentrieren, um mit den Trümpfen umzugehen.

Das Geräusch wurde lauter. Ich hob das Kissen. Gleich darauf wurde der am weitesten entfernte sichtbare Punkt der Straße zu meiner Rechten angestrahlt. Und schon erblickte ich den Wagen oben auf der Anhöhe. Als er den Hang hinabfuhr, verlor ich ihn wieder aus den Augen. Dann kam er langsam hangaufwärts; Schneeflocken wirbelten durch das Scheinwerferlicht.

Ich begann zu winken, als sich das Fahrzeug der Senke näherte. Das Licht berührte mich, als der Wagen heraufkam, der Fahrer mußte mich gesehen haben. Er fuhr dennoch vorbei, ein Mann in einer neuen Limousine, eine Frau auf dem Beifahrersitz. Die Frau drehte sich um und sah mich an, doch der Fahrer ging nicht einmal mit dem Tempo herunter.

Einige Minuten später kam ein zweiter Wagen vorbei, ein wenig älter, eine Frau am Steuer, allein. Sie bremste ab, doch nur einen Augenblick lang. Offenbar gefiel ihr mein Aussehen nicht. Sie trat wieder aufs Gas und war im Nu verschwunden.

Ich ließ mich zurücksinken und versuchte mich auszuruhen. Ein Prinz von Amber kann sich wohl kaum auf die Nächstenliebe als moralisches Prinzip berufen. Wenigstens nicht mit ernstem Gesicht, und im Augenblick hätte mich ein Lachen zu sehr geschmerzt.

Ohne Kraft, Konzentration und eine gewisse Bewegungsfreiheit war meine Macht über die Schatten nutzlos. Ich beschloß, sie als erstes zu benutzen, um ein warmes Plätzchen zu erreichen . . . Ich fragte mich, ob ich den Rückweg zum Komposthaufen schaffen würde. Bisher war es mir nicht eingefallen, mit Hilfe des Juwels das Wetter zu verändern. Wahrscheinlich war ich dafür inzwischen auch zu schwach. Die Anstrengung hätte mich womöglich das Leben gekostet. Trotzdem . . .

Ich schüttelte den Kopf. Ich nickte langsam ein, wollte bereits in Träume versinken. Ich mußte wach bleiben! War das ein weiterer Wagen? Vielleicht. Ich versuchte den Kissenbezug zu heben, er entglitt meinen Fingern. Als ich mich vorbeugte, um das Stück Leinen wieder an mich zu nehmen, mußte ich einen Augenblick lang den Kopf auf den Knien liegen lassen. Deirdre . . . Ich wollte meine liebe Schwester rufen. Wenn mir überhaupt jemand helfen würde, dann Deirdre. Ich wollte ihren Trumpf herausholen und sie ansprechen. Sofort, Wenn sie nur nicht meine Schwester gewesen wäre . . .! Ich mußte mich ausruhen. Ich bin Bube, kein Dummkopf. Zuweilen, wenn ich ausruhe, tun mir gewisse Dinge vielleicht sogar leid. Einige Dinge. Wenn es nur wärmer wäre . . . Aber eigentlich war es gar nicht schlimm, so dazusitzen, vornübergebeugt . . . War das ein Auto? Ich wollte den Kopf heben, stellte aber fest, daß ich es nicht vermochte. Doch es machte wohl keinen großen Unterschied; der Fahrer würde mich sehen.

Ich spürte das Licht auf den Augenlidern und hörte den Motor. Jetzt kam das Geräusch nicht mehr näher und entfernte sich auch nicht mehr, nur ein gleichmäßiges an- und abschwellendes Knurren. Dann hörte ich einen Ruf. Dann das Klick-Pause-Klack einer sich öffnenden und schließenden Wagentür. Ich stellte fest, daß ich die Augen öffnen konnte, daß ich es aber nicht wollte. Ich hatte Angst, ich würde vor mir nur die leere dunkle Straße sehen, die Geräusche würden wieder zu Pulsschlägen werden oder sich im Wind auflösen. Es war besser, die Dinge festzuhalten, die ich hatte, als mich auf ein Risiko einzulassen.

»He! Was ist los? Sind Sie verletzt?«

Schritte . . . Dies war die Wirklichkeit.

Ich öffnete die Augen. Ich zwang meinen Oberkörper hoch.

»Corey! Mein Gott! Du bist das!«

Ich zwang mich zu einem Grinsen, verhinderte im letzten Augenblick ein Umsinken.

»Ich bin´s wirklich, Bill. Wie ist es dir so ergangen?«

»Was ist passiert?«

»Ich bin verletzt«, sagte ich. »Vielleicht ziemlich schlimm. Brauche einen Arzt.«

»Kannst du gehen, wenn ich dir helfe? Oder soll ich dich tragen?«

»Versuchen wir´s mit Gehen«, sagte ich.

Er zerrte mich hoch, und ich stützte mich auf ihn. Wir begannen auf den Wagen zuzugehen. Ich erinnere mich aber nur noch an die ersten taumelnden Schritte.


Als meine Himmelskutsche sich wieder emporzuschwingen begann, versuchte ich den Arm zu heben, erkannte, daß er angebunden war, und beschränkte mich auf eine Betrachtung des daran befestigten Röhrchens. Dabei kam ich zu dem Schluß, daß ich die Sache offenbar überlebt hatte. Schon hatte ich Krankenhausgerüche wahrgenommen und einen Blick auf meine innere Uhr geworfen. Nachdem ich es nun bis hierher geschafft hatte, war ich es meinem inneren Schweinehund schuldig, das Ziel ganz zu erreichen. Außerdem war mir warm, und ich lag so bequem, wie es die kürzlichen Ereignisse nur erlaubten. Nachdem das geklärt war, schloß ich die Augen wieder, senkte den Kopf und schlief ein.

Als ich später zu mir kam, fühlte ich mich schon besser. Eine Krankenschwester sagte mir, daß man mich vor sieben Stunden eingeliefert habe und daß sich in Kürze ein Arzt mit mir unterhalten wolle. Sie verschaffte mir auch ein Glas Wasser und ließ mich wissen, daß es zu schneien aufgehört habe. Sie hätte zu gern gewußt, was mir widerfahren war.

Ich überlegte, daß es Zeit war, mir eine Geschichte zurechtzulegen – je einfacher, desto besser. Also schön. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt war ich nach Hause gekommen. Ich hatte mich als Anhalter herfahren lassen, war ins Haus gegangen und dort von irgendeinem Einbrecher oder Penner angegriffen worden. Anschließend war ich zur Straße gekrochen, um Hilfe zu suchen. Das war alles.

Als ich dem Arzt diese Details auftischte, wußte ich zuerst nicht, ob er mir glaubte oder nicht. Er war ein untersetzter Mann, dessen Gesicht schon vor vielen Jahren erschlafft war. Er hieß Bailey, Morris Bailey, und begleitete meine Schilderung mit einem Nicken. Dann fragte er: »Haben Sie einen Blick auf den Kerl werfen können?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es war dunkel«, sagte ich.

»Hat er Sie auch beraubt?«

»Keine Ahnung.«

»Hatten Sie eine Brieftasche bei sich?«

Ich kam zu dem Schluß, daß ich diese Frage wohl bejahen mußte.

»Nun, als Sie hier eingeliefert wurden, hatten sie keine – er muß sie also mitgenommen haben.«

»Ja«, sagte ich.

»Erinnern Sie sich denn gar nicht an mich?«

»Ich weiß nicht recht. Müßte ich Sie kennen?«

»Als man Sie hereinbrachte, kamen Sie mir irgendwie bekannt vor. Das war alles, zuerst . . .«

»Und . . .?« fragte ich.

»Was für Kleidung hatten Sie an? Das Zeug hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Uniform.«

»Die neueste Mode, drüben, wo ich herkomme. Aber Sie haben eben gesagt, ich sei Ihnen bekannt?«

»Ja«, meinte er. »Wo liegt dieses ›Drüben‹? Woher kommen Sie? Wo sind Sie gewesen?«

»Ich reise viel«, sagte ich. »Sie wollten mir etwas sagen.«

»Ja«, sagte er. »Wir sind ein kleines Krankenhaus, und vor einiger Zeit hat ein flinker glattzüngiger Vertreter die Direktion dazu überredet, sich für die Krankengeschichten einen Computer anzuschaffen. Wäre diese Gegend besser erschlossen worden, damit wir uns hätten ausweiten können, wäre dieses Ding sicher von Nutzen gewesen. Doch nichts von alledem geschah, und nun ist die Sache nicht nur teuer, sondern führt außerdem zu einer gewissen Trägheit des Verwaltungspersonals. Alte Akten werden nicht mehr so gründlich gelöscht wie früher, selbst die aus der Notaufnahme. In dem ganzen System ist Platz für zuviel unnütziges Zeug. Als mir Mr. Roth Ihren Namen nannte und ich Sie routinemäßig untersuchte, wurde mir klar, warum Sie mir bekannt vorgekommen waren. Auch damals hatte ich in der Notaufnahme Dienst, vor etwa sieben Jahren, als Sie Ihren Autounfall hatten. Ich erinnere mich, daß ich Sie damals behandelt habe – und daß ich der Meinung war, Sie würden es nicht schaffen. Doch Sie haben mich eines Besseren belehrt – und auch heute sind Sie für mich eine Überraschung. Ich kann nicht einmal die Narben finden, die Sie eigentlich haben müßten. Sie haben sich verdammt gut herausgemacht.«

»Vielen Dank. Das ist sicher dem Chirurgen zu verdanken.«

»Würden Sie mir für die Unterlagen bitte Ihr Alter nennen?«

»Sechsunddreißig«, erwiderte ich. Das ist eine neutrale Zahl.

Er machte einen Vermerk in der Akte, die auf seinen Knien lag.

»Wissen Sie, als ich mich mit Ihnen zu beschäftigen begann und meine Erinnerungen zurückkamen – da hätte ich schwören können, daß Sie damals schon genauso ausgesehen haben.«

»Ich lebe eben gesund.«

»Kennen Sie Ihre Blutgruppe?«

»Eine ziemlich ausgefallene. Aber Sie können sie als AB positiv ansehen. Ich kann alles aufnehmen – doch Sie dürfen mein Blut niemandem geben.«

Er nickte.

»Ihr Mißgeschick macht natürlich die Einschaltung der Polizei erforderlich.«

»Das hatte ich mir schon gedacht.«

»Vielleicht wollen Sie noch ein bißchen darüber nachdenken.«

»Vielen Dank«, sagte ich. »Sie hatten also damals Dienst – und flickten mich zusammen? Das ist interessant. Woran erinnern Sie sich sonst noch?«

»Was meinen Sie?«

»Ich meine die Umstände, unter denen ich damals eingeliefert wurde. Meine Erinnerungen setzen leider kurz vor dem Unfall aus und beginnen erst wieder, als ich längst in die andere Klinik verlegt worden war – Greenwood. Erinnern Sie sich noch, wie ich hergebracht wurde?«

Er runzelte die Stirn – nachdem ich gerade zu dem Schluß gekommen war, daß er nur einen einzigen Gesichtsausdruck kannte.

»Wir haben einen Krankenwagen losgeschickt«, sagte er.

»Woraufhin?« wollte ich wissen. »Wer hat den Unfall gemeldet? Wie ist das vor sich gegangen?«

»Jetzt weiß ich, was Sie meinen«, sagte er. »Die Staatspolizei hat den Krankenwagen angefordert. Soweit ich mich erinnere, hatte jemand den Unfall gesehen und in der Polizeizentrale angerufen. Von dort wurde ein Streifenwagen in der Nähe verständigt. Der fuhr zum See, bestätigte die Meldung, leistete Erste Hilfe und rief den Krankenwagen. Das war alles.«

»Gibt es einen Hinweis darauf, wer den ersten Anruf getätigt hat?«

»Um solche Dinge kümmern wir uns normalerweise nicht«, entgegnete er. »Hat Ihre Versicherung das nicht ermittelt? Wurden keine Ansprüche erhoben? Die Leute könnten Ihnen sicher . . .«

»Ich mußte unmittelbar nach meiner Gesundung ins Ausland«, sagte ich. »Diesen Aspekten bin ich also gar nicht nachgegangen. Doch sicher hat es einen Polizeibericht gegeben.«

»Klar. Aber ich habe keine Ahnung, wie lange die aufbewahrt werden.« Er lachte leise. »Es sei denn, die Polizei hat sich vom selben Vertreter breitschlagen lassen . . . Es scheint mir aber ziemlich spät zu sein, sich darüber Gedanken zu machen. Ich glaube, bei solchen Dingen gibt es eine Verjährungsfrist. Ihr Freund Roth kann Ihnen das bestimmt genau sagen.«

»Es geht mir nicht um Ansprüche an die Versicherung«, sagte ich. »Ich will nur wissen, was wirklich passiert ist. In den letzten Jahren habe ich mir öfter Gedanken darüber gemacht. Wissen Sie, ich leide an retrograder Amnesie.«

»Haben Sie schon einmal mit einem Psychiater gesprochen?« fragte er in einem Ton, der mir gar nicht gefiel. Gleich darauf kam mir eine auflodernde Erkenntnis: War es Flora vielleicht gelungen, mich für verrückt erklären zu lassen, ehe ich nach Greenwood verlegt wurde? War das vielleicht in meiner Akte hier verzeichnet? Und galt ich dort womöglich noch als flüchtig? Inzwischen war viel Zeit vergangen, und ich hatte keine Ahnung von den einschlägigen Vorschriften. Wenn die Verhältnisse wirklich so waren, wußte man hier sicher nicht, ob ich vielleicht bei einer anderen Behörde wieder für zurechnungsfähig erklärt worden war. Vermutlich war es die Vorsicht, die mich veranlaßte, den Kopf zu heben und einen Blick auf sein Handgelenk zu werfen. Ich glaubte im Unterbewußtsein wahrgenommen zu haben, wie er auf eine Kalenderuhr blickte, als er meinen Puls maß. Ja, richtig! Ich kniff die Augen zusammen. Also schön. Tag und Monat: 28. November. Ich rechnete hastig mit meiner Zweieinhalb-zu-eins-Formel und hatte das Jahr. Es war tatsächlich sieben Jahre her, wie er gesagt hatte.

»Nein, einen Psychiater habe ich noch nicht konsultiert«, antwortete ich. »Ich dachte, das Problem hätte organische und keine psychischen Ursachen, und habe die Zeit einfach abgeschrieben.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Sie formulieren das ziemlich gewandt. So etwas findet man öfter bei Leuten, die in therapeutischer Behandlung gewesen sind.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe viel darüber gelesen.«

Er seufzte und stand auf.

»Hören Sie«, sagte er. »Ich werde Mr. Roth anrufen und ihm sagen, daß Sie wach sind. Das ist vermutlich das beste.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ich meine damit, daß Ihr Freund Anwalt ist – vielleicht gibt es Dinge, die Sie mit ihm besprechen wollen, ehe Sie eine Aussage bei der Polizei machen.«

Er öffnete die Akte, in der er irgendwo mein Alter notiert hatte, hob den Stift, runzelte die Stirn und fragte: »Wie war das Geburtsdatum doch gleich?«


Ich wollte meine Trümpfe haben. Meine Besitztümer lagen vermutlich in der Schublade des Nachttisches, doch ich hätte mich zu weit herumdrehen müssen, um die Hand danach auszustrecken; ich wollte meine Nähte noch nicht belasten. So dringend war es sowieso nicht. Acht Stunden Schlaf in Amber entsprachen etwa zwanzig hiesigen Stunden; meine Geschwister zu Hause mußten noch in den Betten liegen, wie es sich gehörte. Doch ich wollte mich mit Random in Verbindung setzen, damit er sich eine Geschichte einfallen ließ, die meine Abwesenheit am Morgen erklärte. Später.

Gerade jetzt wollte ich kein verdächtiges Verhalten an den Tag legen. Außerdem wollte ich sofort wissen, welche Aussage Brand zu machen hatte. Ich wollte in der Lage sein, entsprechende Maßnahmen deswegen einzuleiten. Ich stellte hastige Berechnungen an. Wenn ich den schlimmsten Teil meiner Gesundung hier in den Schatten hinter mich bringen konnte, verlor ich weniger Zeit in Amber. Ich mußte meine Tage und Stunden in dieser Welt gut einteilen und versuchen, mich aus Komplikationen herauszuhalten. Ich hoffte, daß Bill bald kam. Ich wollte unbedingt wissen, wie es um mich stand.

Bill hatte in dieser Gegend seine Jugend verbracht, war in Buffalo zur Schule gegangen und später zurückgekehrt, um zu heiraten und in die Familienfirma einzutreten. Das war´s auch schon. Ich hatte mich ihm als ehemaliger Armeeoffizier vorgestellt, der zuweilen in unbestimmten Geschäften unterwegs war. Wir gehörten beide dem Country-Club an, wo ich ihn kennengelernt hatte. Davor hatte ich ihn schon ein Jahr lang gekannt, ohne daß wir mehr als ein paar Worte gewechselt hatten. Eines Abends saß ich dann zufällig neben ihm an der Bar, wobei irgendwie herauskam, daß er sich sehr für Militärgeschichte und besonders für die napoleonischen Kriege interessierte. Als wir das nächstemal unsere Umgebung wahrnahmen, war der Barmann dabei, das Licht auszudrehen. Von da an waren wir dick befreundet – bis zur Zeit meiner Schwierigkeiten. Ich hatte seither gelegentlich an ihn gedacht. Bei meinem letzten Besuch im Haus hatte ich ihn eigentlich nur deshalb nicht aufgesucht, weil ich sicher war, daß er alle möglichen Fragen über meinen Verbleib stellen würde; ich dagegen hatte zu viele Sorgen, um ein solches Verhör in Ruhe über mich ergehen zu lassen und auch noch Spaß daran zu haben. Ein- oder zweimal war mir sogar der Gedanke durch den Kopf gegangen, daß ich ihn besuchen könnte, wenn in Amber letztlich alles geregelt war. Abgesehen von der Tatsache, daß dies nicht der Fall war, fand ich es schade, daß ich ihn nun nicht im Barraum des Klubs wiedersehen konnte.

Nach knapp einer Stunde traf er ein, klein, untersetzt, rotgesichtig, ein wenig grauer an den Schläfen, grinsend, eifrig nickend. Ich hatte mich inzwischen im Bett etwas aufgerichtet, nachdem ich bei Atemübungen feststellen mußte, daß ich noch ziemlich schwach war. Er umklammerte meine Hand und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Er hatte einen Aktenkoffer mitgebracht.

»Du hast mich gestern abend ganz schön erschreckt, Carl«, sagte er. »Ich dachte im ersten Augenblick, ich hätte ein Gespenst vor mir!«

Ich nickte.

»Wärst du ein bißchen später gekommen, hätte ich das durchaus sein können«, meinte ich. »Vielen Dank. Wie ist es dir ergangen?«

Bill seufzte.

»Immer viel zu tun. Du weißt ja, wie das so ist. Dieselbe Plage, nur mehr davon.«

»Und Alice?«

»Ihr geht es gut. Wir haben inzwischen zwei weitere Enkel von Bill Junior – Zwillinge. Augenblick mal.«

Er nahm seine Brieftasche heraus und suchte nach einem Bild.

»Hier.«

Ich betrachtete die Aufnahme und machte eine Bemerkung über die Familienähnlichkeit.

»Kaum zu glauben«, sagte ich dann.

»An dir scheinen die Jahre ziemlich spurlos vorübergegangen zu sein.«

Ich lachte leise und klopfte mir auf den Unterleib.

»Abgesehen davon, meine ich«, sagte er. »Wo hast du gesteckt!«

»Himmel! Wo bin ich nicht gewesen!« gab ich zurück. »Ich habe so viele Orte besucht, daß ich sie schon nicht mehr aufzählen kann.«

Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Er sah mich offen an.

»Carl – in was für Schwierigkeiten steckst du?« fragte er.

Ich lächelte.

»Wenn du meinst, ob ich Schwierigkeiten mit dem Gesetz habe, lautet die Antwort nein. Meine Probleme hängen mit einem anderen Land zusammen, und ich muß in Kürze dorthin zurück.«

Sein Gesicht entspannte sich wieder, und hinter den zweigeteilt geschliffenen Brillengläsern begann es zu funkeln.

»Bist du dort eine Art Militärberater?«

Ich nickte.

»Kannst du mir den Ort nennen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid.«

»Das kann ich schon irgendwie verstehen«, sagte er. »Der Arzt hat mir mitgeteilt, was deinen Worten zufolge gestern abend passiert ist. Unter uns gesagt – hat das irgendwie mit den Dingen zu tun, die du in der Zwischenzeit getan hast?«

Wieder nickte ich.

»Das läßt das Bild ein bißchen klarer erscheinen«, sagte er. »Nicht viel, doch es reicht. Ich will dich gar nicht fragen, mit welcher Behörde, wenn überhaupt, du zu tun hast. Ich habe dich stets als Gentleman gekannt, als einen vernünftigen Menschen. Deshalb interessierte mich dein damaliges Verschwinden auch so, deshalb habe ich mich seinerzeit um die Sache gekümmert. Ich kam mir zwischendurch ein bißchen arg aufdringlich vor, doch dein rechtlicher Status war etwas rätselhaft, und ich wollte wissen, was geschehen war. In erster Linie, weil ich mir Sorgen um dich machte. Ich hoffe nicht, daß dich das stört.«

»Mich stören?« fragte ich. »Es gibt nicht viele Menschen, die sich darum scheren, was aus mir wird. Ich bin dir dankbar! Außerdem interessiert mich, was du herausgefunden hast. Ich selbst hatte nämlich keine Zeit, der Sache nachzugehen und alles zu regeln. Wie wär´s, wenn du mir sagtest, was du in Erfahrung bringen konntest?«

Er öffnete die Aktentasche und zog einen braunen Umschlag heraus, den er sich auf die Knie legte. Er brachte mehrere Blatt gelbes Papier zum Vorschein, die mit seiner sauberen Handschrift vollgeschrieben waren. Er hob das erste Blatt hoch, starrte einen Augenblick lang auf den Text und sagte: »Nachdem du aus dem Krankenhaus in Albany geflohen warst und deinen Unfall hattest, ist Brandon offenbar verschwunden, und . . .«

»Halt!« sagte ich, hob die Hand und versuchte mich aufzurichten.

»Was?« fragte er.

»Du hast die Reihenfolge durcheinandergebracht, und auch der Ort stimmt nicht«, sagte ich. »Erst kam der Unfall, außerdem liegt Greenwood nicht in Albany.«

»Das weiß ich«, sagte er. »Ich meinte ja auch das Porter-Sanatorium, in dem du zwei Tage verbrachtest, ehe du verschwandest. Noch am gleichen Tag hattest du den Unfall und wurdest anschließend hierhergebracht. Dann erschien deine Schwester Evelyn auf der Bildfläche. Sie ließ dich nach Greenwood verlegen, wo du einige Wochen zubrachtest, ehe du erneut verduftet bist. Richtig?«

»Teilweise ja«, sagte ich. »Besonders der letzte Teil. Wie ich dem Arzt vorhin schon sagte, setzt mein Erinnerungsvermögen einige Tage vor dem Unfall aus. Das Institut in Albany erinnert mich allerdings an etwas, doch es ist alles noch sehr vage. Weißt du Einzelheiten?«

»O ja«, sagte er. »Und das hat vielleicht sogar mit dem Zustand deines Gedächtnisses zu tun. Du wurdest wegen Unzurechnungsfähigkeit eingeliefert . . .«

»Durch wen?«

Er schüttelte das Blatt Papier und kniff die Augen zusammen.

»Bruder Brandon Corey; zuständiger Arzt: Hillary B. Rand, Psychiater«, las er vor. »Weckt das weitere Erinnerungen?«

»Möglich«, sagte ich. »Und?«

»Nun, auf dieser Grundlage wurdest du für unzurechnungsfähig erklärt, in Gewahrsam genommen und eingeliefert. Was nun dein Gedächtnis angeht . . .«

»Ja?«

»Ich weiß nicht besonders viel über diese Behandlung und ihre Wirkung auf das Gedächtnis – jedenfalls wurdest du in Porter einer Elektroschock-Behandlung unterzogen. Dort – meine Unterlagen deuten jedenfalls darauf hin – bist du am dritten Tag ausgerückt. Anscheinend holtest du von einem nicht genannten Ort deinen Wagen und warst unterwegs nach hierher, worauf du den Unfall hattest.«

»Das scheint zu stimmen«, sagte ich. »Wirklich.« Als er zu sprechen begann, hatte ich einen Augenblick lang das verrückte Gefühl, in den falschen Schatten zurückgekehrt zu sein – in einen Schatten, da alles ähnlich, doch nicht kongruent war. Inzwischen glaubte ich das nicht mehr. Irgend etwas in mir sprach auf seine Geschichte an.

»Nun zu der Verfügung«, sagte er. »Sie beruhte auf gefälschten Unterlagen, was das Gericht damals aber nicht wissen konnte. Der echte Dr. Rand war zu der Zeit in England, und als ich mich später mit ihm in Verbindung setzte, hatte er noch nie von dir gehört. Während seiner Abwesenheit war bei ihm im Büro eingebrochen worden. Außerdem hat er seltsamerweise keinen Mittelnamen, der mit einem B anfängt. Und er hatte noch nie von Brandon Corey gehört.«

»Was ist aus Brandon geworden?«

»Der ist einfach spurlos verschwunden. Als man in Porter dein Verschwinden bemerkte, versuchte man sich mehrfach mit ihm in Verbindung zu setzen, doch er war nicht auffindbar. Dann hattest du den Unfall, wurdest hierhergebracht und behandelt. Daraufhin meldete sich eine Frau namens Evelyn Flaumel, die sich als deine Schwester vorstellte. Sie gab an, du seist für unzurechnungsfähig erkärt worden, und die Familie wolle dich nach Greenwood verlegen lassen. Brandon, der zu deinem Vormund bestellt worden war, stand nicht zur Verfügung, und man ging auf ihre Wünsche ein, da sie immerhin die einzige verfügbare Verwandte war. So kam es, daß man dich in das andere Institut brachte. Dort bist du einige Wochen später aber wieder ausgerückt, und damit endet meine Aufzeichnung.«

»Wie ist mein rechtlicher Status im Augenblick?« wollte ich wissen.

»Oh, man hat dich wieder in deine Rechte eingesetzt«, sagte er. »Nachdem ich mit Dr. Rand gesprochen hatte, hat er sich an das Gericht gewandt und diese Tatsachen ausgeführt. Der Gerichtsbeschluß wurde aufgehoben.«

»Weshalb benimmt sich denn der Arzt hier, als wäre ich ein Fall für die Klapsmühle?«

»Oh Himmel – das ist eine gute Frage! Ich bin noch gar nicht darauf gekommen! In den hiesigen Unterlagen dürfte noch stehen, daß du mal ein psychiatrischer Fall warst. Am besten rede ich gleich mit den Leuten. Ich habe ein Exemplar der gerichtlichen Eintragung hier, das kann ich dem Arzt zeigen.«

»Wann wurde die Sache mit dem Gericht geklärt – wie lange nach meiner Flucht aus Greenwood?«

»Im folgenden Monat«, entgegnete er. »Es vergingen einige Wochen, ehe ich mich dazu aufraffen konnte, meine Nase in deine Angelegenheiten zu stecken.«

»Du konntest natürlich nicht wissen, wie froh ich bin, daß du es getan hast«, sagte ich. »Du hast mir außerdem mehrere Informationen gegeben, die sich noch als ungemein wichtig erweisen könnten.«

»Es ist schön, wenn man einem Freund ab und zu helfen kann«, erwiderte er, schloß den Umschlag und schob ihn wieder in die Tasche. »Eine Bitte . . . wenn alles ausgestanden ist, wenn du darüber sprechen kannst . . . dann würde ich gern die komplette Geschichte hören.«

»Ich kann dir nichts versprechen.«

»Ich weiß. Ich wollte es nur mal gesagt haben. Übrigens, was soll aus dem Haus werden?«

»Mein Haus? Gehört es noch immer mir?«

»Ja, aber es wird vermutlich nächstes Jahr wegen der anfallenden Steuern versteigert, wenn du nichts unternimmst.«

»Ich bin überrascht, daß es nicht schon längst verkauft ist.«

»Du hast der Bank Vollmacht gegeben, deine Rechnungen zu bezahlen.«

»Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Eigentlich hatte ich mir das Konto nur zur Bequemlichkeit eingerichtet und für die Kreditkarten.«

»Jedenfalls ist das Konto jetzt fast leer«, sagte er. »Ich habe erst kürzlich noch mit McNally von der Bank gesprochen. Die Folge ist, daß das Haus nächstes Jahr verkauft wird, wenn du nichts unternimmst.«

»Ich habe keine Verwendung mehr dafür«, sagte ich. »Sollen sie damit doch machen, was sie wollen!«

»Verkauf es lieber und hol raus, was noch drin ist.«

»So lange bin ich wohl gar nicht mehr hier.«

»Ich könnte das für dich übernehmen und dir das Geld schicken, wo immer du es haben willst.«

»Na schön«, sagte ich. »Ich unterschreibe die notwendigen Vollmachten. Bezahle meine Krankenhausrechnung davon und behalte den Rest.«

»Das geht doch nicht!«

Ich zuckte die Achseln.

»Tu, was du für das Beste hältst, aber sorge dafür, daß du dir ein gutes Honorar abzweigst.«

»Ich überweise den Rest auf dein Konto.«

»Schön. Vielen Dank. Ehe ich es vergesse – würdest du bitte mal in der Schublade nachsehen, ob ein Kartenspiel darin liegt? Ich komme nicht ganz hin, und ich kann die Karten später gebrauchen.«

»Gern.«

Er hob die Hand und öffnete die Schublade.

»Ein großer brauner Umschlag«, sagte er. »Ziemlich dick. Wahrscheinlich hat man deinen ganzen Tascheninhalt hineingetan.«

»Mach auf.«

»Ja, hier ist ein Kartenspiel«, sagte er und griff hinein. »He! Das ist aber ein hübscher Kasten. Darf ich mal?«

»Ich . . .« Was sollte ich sagen?

Er zog die Karten heraus.

»Herrlich . . .«, murmelte er. »Eine Art Tarock . . . Sind das antike Karten?«

»Ja.«

»Kalt wie Eis . . . So etwas habe ich noch nie gesehen. Schau mal, das bist du doch! In einer Art Ritterrüstung! Wozu sind die Karten?«

»Ein ziemlich kompliziertes Spiel«, sagte ich zögernd.

»Wie kommt es, daß du hier abgebildet bist, wenn die Dinger antik sind?«

»Ich habe nicht behauptet, daß ich das bin – das hast du gesagt.«

»Ja, da hast du recht. Ein Vorfahr?«

»Kann man sagen.«

»He, das ist aber ein hübsches Mädchen! Und die Rothaarige erst . . .«

»Ich glaube . . .«

Er klopfte die Karten zurecht und schob sie wieder in den Kasten, den er mir reichte.

»Ein hübsches Einhorn«, setzte er hinzu. »Ich hätte mir die nicht ansehen sollen, wie?«

»Schon gut.«

Er seufzte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Ich konnte nicht anders«, sagte er. »Du hast etwas Seltsames an dir, Carl, etwas, das über deine Geheimdienstarbeit hinausgeht, wenn du so etwas wirklich machst. Und Rätsel interessieren mich nun mal. Noch nie war ich einem wirklichen Rätsel so nahe wie eben jetzt.«

»Und das alles, weil du ein Spiel kalter Tarockkarten in der Hand gehabt hast?«

»Nein, das bringt nur noch ein bißchen mehr Atmosphäre«, sagte er. »Zugegeben, was du in all den Jahren getan hast, geht mich nichts an – doch es gibt da Umstände, die ich nicht begreife.«

»Und die wären?«

»Als ich dich gestern abend hierhergebracht und Alice nach Hause gefahren hatte, bin ich noch zu deinem Haus gefahren, in der Hoffnung, irgend einen Aufschluß über die Ereignisse zu finden. Das Schneetreiben hatte inzwischen aufgehört, auch wenn es später wieder einsetzte, und deine Spuren waren noch deutlich sichtbar – am Haus und vorn auf dem Hang.«

Ich nickte.

»Doch es gab keine Spuren, die ins Haus führten – nichts, das für deine Ankunft sprach. Und wo wir schon mal dabei sind; es gab auch keine anderen Spuren, die sich entfernten – nichts, das auf die Flucht deines Angreifers hindeutet.«

Ich lachte leise vor mich hin.

»Du glaubst, ich habe mir die Wunde selbst beigebracht?«

»Nein, natürlich nicht. Es war ja nicht einmal eine Waffe zu sehen. Ich bin den Blutspuren bis ins Schlafzimmer gefolgt, bis zu deinem Bett. Natürlich hatte ich nur das Licht meiner Taschenlampe zur Verfügung, doch was ich zu sehen bekam, gab mir ein unheimliches Gefühl ein. Es sah aus, als wärst du plötzlich blutend auf dem Bett aufgetaucht, hättest dich aufgerichtet und wärst ins Freie gekrochen.«

»Das ist natürlich unmöglich.«

»Trotzdem mache ich mir Gedanken über das Fehlen von Spuren.«

»Der Wind muß sie mit Schnee zugeweht haben.«

»Und die anderen nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich möchte dir nur sagen, daß mich die Antwort auf diese Fragen ebenfalls interessiert – wenn du jemals in die Lage kommst, mir von allem erzählen zu können . . .«

»Ich werde daran denken«, sagte ich.

»Ja«, meinte er. »Aber ich weiß nicht recht . . . Ich habe so ein seltsames Gefühl, als ob ich dich nie wiedersehen würde. Es ist, als spielte ich eine Nebenrolle in einem gewaltigen Drama; wie ein Mann, der von der Bühne gefegt wird, ohne zu erfahren, wie das Stück zu Ende geht.«

»Ich kann mir das Gefühl vorstellen«, sagte ich. »Wenn ich manchmal an meine Rolle denke, möchte ich den Autor am liebsten umbringen. Doch sieh es einmal so: Hintergrundsgeschichten erfüllen selten die in sie gesetzten Erwartungen. Meistens handelt es sich um miese kleinkarierte Dinge, die sich auf die niedersten Beweggründe zurückführen lassen. Vermutungen und Illusionen sind oft der bessere Teil.«

Er lächelte.

»Du redest wie immer«, sagte er, »doch erinnere ich mich an Augenblicke, da du der Ehrlichkeit zugetan warst. Mehrfach sogar . . .«

»Wie sind wir nur von den Spuren im Schnee auf mich gekommen?« fragte ich. »Ich wollte dir gerade sagen, daß ich das Haus auf dem Weg betreten habe, auf dem ich es dann wieder verließ. Mein Abgang hat offenbar die Spuren meiner Ankunft ausgelöscht.«

»Nicht schlecht«, sagte er und lächelte. »Und dein Angreifer ist derselben Route gefolgt?«

»Muß er wohl.«

»Ziemlich gut«, sagte er. »Du verstehst es, Zweifel auszusäen. Trotzdem habe ich das Gefühl, daß die Beweise hier auf etwas Unheimliches schließen lassen.«

»Auf etwas Unheimliches? Nein. Eher etwas Seltsames. Das ist eine Frage der Interpretation.«

»Oder des Ausdrucks. Hast du den Polizeibericht über deinen Unfall gelesen?«

»Nein. Du?«

»Ja. Was wäre, wenn die Sache mehr als seltsam wäre? Gestehst du mir dann den Ausdruck zu, den ich gebraucht habe –›unheimlich‹?«

»Also schön.«

». . . und beantwortest du mir eine Frage?«

»Ich weiß nicht . . .«

»Ein einfaches Ja oder Nein. Das ist alles.«

»Also gut – abgemacht. Was stand in dem Bericht?«

»Aus dem Bericht ging hervor, daß der Unfall der Polizei gemeldet wurde und ein Streifenwagen die Stelle aufsuchte. Die Beamten entdeckten dort einen seltsam gekleideten Mann, der im Begriff war, dir Erste Hilfe zu leisten. Er sagte aus, er habe dich aus dem völlig zertrümmerten Wagen im See gezogen. Dies erschien glaubhaft, da er ganz durchnäßt war. Durchschnittlich groß, schmal gebaut, rotes Haar. Er trug einen grünen Anzug, der nach Aussage eines Beamten in einen Robin-Hood-Film gepaßt hätte. Er weigerte sich, seine Personalien anzugeben, die Beamten zu begleiten oder irgendeine Aussage zu machen. Als die Polizisten darauf bestanden, stieß er einen Pfiff aus, woraufhin ein weißes Pferd herbeitrabte. Er sprang auf und ritt im Galopp davon. Dann hat man ihn nicht mehr gesehen.«

Ich lachte. Es tat weh, doch ich konnte nicht anders,

»Ich will verdammt sein!« rief ich. »Endlich ergeben die Dinge einen Sinn.«

Bill starrte mich einen Augenblick lang stumm an. »Wirklich?« fragte er dann.

»Ja, ich glaube schon. Vielleicht hat es sich gelohnt, verwundet zu werden und hierher zurückzukehren – allein wegen der Dinge, die ich heute erfahren habe.«

»Du hast die beiden Dinge in seltsamer Reihenfolge aufgeführt«, sagte er und rieb sich das Kinn.

»Ja, das ist richtig. Doch ich beginne jetzt eine Art Ordnung zu erkennen, wo mir vorher überhaupt nichts klar war.«

»Und das alles wegen eines Kerls auf einem Schimmel?«

»Zum Teil, zum Teil . . . Bill, ich werde hier bald verschwinden.«

»So schnell kommst du hier nicht raus.«

»Trotzdem – die Papiere, von denen du gesprochen hast . . . ich glaube, ich sollte sie lieber schon heute unterschreiben.«

»Na schön. Ich lasse sie dir später bringen. Aber mach keine Dummheiten!«

»Ich werde von Sekunde zu Sekunde vorsichtiger«, erwiderte ich. »Das darfst du mir glauben.«

»Na, hoffentlich«, sagte er, ließ seinen Aktenkoffer zuschnappen und stand auf. »Also ruh dich aus. Ich schaffe die Probleme mit dem Arzt aus der Welt und schicke heute noch die Unterlagen herüber.«

»Nochmals vielen Dank.«

Ich schüttelte ihm die Hand.

»Übrigens«, sagte er. »Du wolltest mir eine Frage beantworten.«

»Ach ja. Und die lautet?«

»Bist du ein Mensch?« fragte er, während er noch meine Hand hielt. Sein Gesicht verriet nichts.

Ich begann zu grinsen, ließ es dann aber sein.

»Ich weiß es nicht. Ich – ich würde es ja gern sein. Aber ich weiß es im Grunde nicht. Natürlich bin ich ein Mensch! Was für eine dumme Frage . . . Ach, zum Teufel! Du willst eine ehrliche Antwort, nicht wahr? Und ich habe gesagt, ich würde dir offen antworten . . .« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und überlegte einen Augenblick lang. Dann sagte ich: »Ich glaube es nicht.«

»Ich auch nicht«, erwiderte er und lächelte. »Es macht eigentlich keinen Unterschied, aber ich dachte, daß es dir vielleicht etwas bedeutet – zu wissen, jemand weiß, daß du anders bist, ohne daß es ihm etwas ausmacht.«

»Auch daran werde ich denken«, sagte ich.

»Nun . . . bis später also.«

»Ja.«

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