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Der Sex steht zwar bei vielen Menschen obenan, doch gibt es so manche anderen Dinge, mit denen man sich zwischendurch auch gern beschäftigt, Corwin. Bei mir ist es das Schlagzeug, die Fliegerei und das Spielen, wobei die Reihenfolge nicht weiter wichtig ist. Na ja, vielleicht steht das Fliegen – in Gleitern, Ballonen und gewissen anderen Maschinen – ein wenig über den anderen Tätigkeiten, doch auch in diesen Bereichen spielt die jeweilige Stimmung eine große Rolle, wie du weißt. Ich meine, fragtest du mich ein andermal, würde ich vielleicht eins der beiden anderen Steckenpferde obenan stellen. Es hängt immer davon ab, was man sich im Augenblick am meisten wünscht.

Jedenfalls war ich vor einigen Jahren hier in Amber. Ich tat nichts Besonderes, sondern war nur zu Besuch und ging den Leuten auf die Nerven. Zu der Zeit war Vater noch in der Stadt, und als ich eines Tages bemerkte, daß er sich mal wieder in eine seiner miesen Stimmungen hineinsteigerte, kam ich zu dem Schluß, daß ein Spaziergang angebracht sei. Ein langer Spaziergang. Ich hatte schon oft bemerkt, daß seine Zuneigung mir gegenüber im umgekehrten Verhältnis zu meiner Nähe zunahm. Zum Abschied schenkte er mit jedenfalls eine hübsche Reitgerte – vermutlich um den Prozeß der Zuneigung zu beschleunigen. Es war eine wirklich schöne Gerte – versilbert und herrlich gestaltet –, und ich gebrauchte sie oft. Ich hatte beschlossen, mir einen kleinen Winkel in den Schatten zu suchen, wo ich ungestört meinen schlichten Freuden nachgehen konnte.

Es war ein langer Ritt – ich möchte dich nicht mit den Einzelheiten langweilen –, der mich ziemlich weit von Amber fortführte. Diesmal suchte ich nicht nach einem Ort, wo ich eine besondere Stellung besaß. Das wird entweder bald langweilig oder problematisch, je nachdem, wie wichtig man sein möchte. In diesem Falle wollte ich ein unverantwortlicher Niemand sein und meinen Spaß am Leben haben.

Texorami ist eine Hafenstadt mit schwülen und langen Nächten, mit viel guter Musik, einem Spielbetrieb, der rund um die Uhr geht, mit Duellen zu jedem Sonnenanfang und auch zwischenzeitlichen Auseinandersetzungen für alle, die nicht warten können. Und die Aufwinde dort sind einfach großartig. Ich besaß ein kleines rotes Segelflugzeug, mit dem ich alle paar Tage in den Himmel aufstieg. Ein herrliches Leben! Wenn ich Lust hatte, spielte ich Schlagzeug in einem Kellerlokal am Fluß, wo die Wände fast ebenso schwitzten wie die Gäste und der Qualm wie milchige Streifen um die Lampen strich. Wenn ich nicht mehr spielen wollte, suchte ich mir andere Unterhaltung – im Bett oder am Kartentisch. Und damit war dann der Rest der Nacht gelaufen. Verdammter Eric! – Ich muß eben daran denken . . . Er hat mich einmal beschuldigt, falsch zu spielen, wußtest du das? Dabei ist das so etwa die einzige Tätigkeit, bei der ich ehrlich bin. Ich nehme das Kartenspiel ernst. Ich bin ein guter Spieler und habe Glück – und beides traf auf Eric nicht zu. Sein Problem war, daß er zu viele Dinge beherrschte; er wollte nicht einmal vor sich selbst eingestehen, daß es etwas gab, von dem andere mehr verstanden. Wenn man ihn immer wieder besiegte, mußte man eben betrügen. Eines Abends fing er deshalb eine laute Auseinandersetzung mit mir an, die ernst hätte werden können, wenn Gérard und Caine nicht dazwischengetreten wären. Das muß ich Caine zugestehen – an jenem Abend hat er für mich Partei ergriffen. Armer Bursche . . . Ein verdammt unschöner Tod . . . Die Kehle . . . Na ja, jedenfalls hielt ich mich in Texorami auf, gab mich mit Musik und Frauen ab, spielte Karten und sauste am Himmel herum. Palmenbäume und aufgehende Nachtblüten. Herrliche Hafengerüche – Gewürze, Kaffee, Teer, Salz . . . du weißt schon. Adlige, Kaufleute und Bauern – dieselben Figuren wie an den meisten anderen Orten. Ein Kommen und Gehen von Seeleuten und Reisenden verschiedener Herkunft. Burschen wie ich, die am Rande der Szene lebten. Ich verbrachte zwei glückliche Jahre in Texorami. Eine wirklich glückliche Zeit. Kaum Kontakt mit den anderen. Ab und zu ein grußkartenähnliches Hallo durch die Trümpfe, aber das war so ziemlich alles. In dieser Zeit mußte ich kaum an Amber denken. Aber das alles änderte sich eines Abends. Ich saß gerade mit einem Full House auf der Hand da, und der Bursche auf der anderen Seite des Tisches versuchte sich darüber klar zu werden, ob ich bluffte oder nicht.

Da begann der Karo-Bube plötzlich zu mir zu sprechen.

Ja, so hat es begonnen. Ich war ohnehin in einer ziemlich verrückten Stimmung. Ich hatte gerade ein paar gute Spiele durchgebracht und war noch irgendwie in Fahrt. Außerdem war ich erschöpft von einem langen Flug während des Tages und hatte in der Nacht davor nicht besonders viel geschlafen. Ich habe mir später überlegt, daß es wohl unser geistiger Appell in Verbindung mit den Trümpfen gewesen sein muß, der mich etwas sehen ließ, sobald mich jemand zu erreichen versuchte, während ich Spielkarten in der Hand hielt – irgendwelche Spielkarten. Normalerweise empfangen wir solche Nachricht mit leeren Händen – es sei denn, der Anruf geht von uns aus. Vielleicht lag es an meinem Unterbewußtsein, das damals irgendwie erschöpft war und das sich in jenem Augenblick rein gewohnheitsmäßig der vorhandenen Requisiten bediente. Später jedoch hatte ich Grund, mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.

Der Bube sagte: »Random.« Dann verschwamm sein Gesicht, und er sagte: »Hilf mir!« Allmählich begann ich zu spüren, welche Persönlichkeit dahintersteckte, doch der Eindruck war nur vage. Der ganze Impuls war sehr schwach. Schließlich formte sich das Gesicht von neuem, und ich erkannte, daß ich recht gehabt hatte. Es war Brand. Er sah ziemlich übel aus und schien irgendwo festgebunden oder angekettet zu sein. »Hilf mir!« sagte er noch einmal.

»Ich bin hier«, sagte ich. »Was ist los?«

». . . Gefangener . . .«, sagte er, und dann noch etwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Wo?« wollte ich wissen.

Daraufhin schüttelte er den Kopf. »Kann dich nicht holen«, sagte er. »Ich habe keine Trümpfe und bin zu schwach. Du mußt auf dem langen Wege kommen . . .«

Ich fragte ihn nicht, wie er die Verbindung ohne meinen Trumpf hergestellt hatte. Es schien mir wichtiger, seinen Aufenthaltsort zu erfahren. Ich fragte ihn, wie ich ihn ausfindig machen könnte.

»Schau genau her«, sagte er. »Erinnere dich an jede Einzelheit. Vielleicht kann ich dir das Bild nur einmal durchgeben. Und bring deine Waffen mit . . .«

Dann sah ich die Landschaft – über seine Schulter, eingerahmt von einem Fenster, über einer Befestigung – ich weiß es nicht genau. Es war ein Ort, weit von Amber entfernt, in einer Gegend, wo die Schatten verrückt zu spielen beginnen. Weiter entfernt, als mir lieb ist. Eine öde Welt, mit unruhig wechselnden Farben. Flammenzuckend. Ein sonnenloser Tag. Felsen, die wie Segelschiffe über das Land glitten. Brand in einer Art Turm – ein winziger Punkt der Stabilität in einer fließenden Szene. Ich erinnerte mich hinterher ganz deutlich daran, wie er es von mir verlangt hatte. Und ich erinnerte mich an das Geschöpf, das sich um den Fuß des Turms geringelt hatte. Ein prismatisch schimmerndes Gebilde. Offenbar eine Art Wachwesen – zu hell, um die Umrisse zu erkennen, um die wahre Größe zu erraten. Dann verging alles, wie ausgeknipst. Und ich saß da und starrte auf den Karo-Buben, und die Burschen auf der anderen Seite des Tisches wußten nicht, ob sie sich über mein langes Schweigen aufregen oder sich Sorgen machen sollten, daß ich womöglich einen Anfall erlitten hatte.

Ich brachte mein Spiel durch und ging nach Hause. Später lag ich ausgestreckt auf meinem Bett, rauchte eine Zigarette und überlegte. Als ich Amber verlassen hatte, war Brand noch dort gewesen. Als ich mich jedoch später nach ihm erkundigte, wußte niemand so recht, wo er steckte. Er hatte eine seiner melancholischen Phasen gehabt, hatte sich eines Tages daraus gelöst und war fortgeritten. Und das war alles. Keine Nachrichten – gut oder schlecht. Er reagierte einfach nicht, er teilte nichts über sich mit.

Ich versuchte das Problem von allen Seiten zu beleuchten. Brand war schlau, verdammt schlau. Vermutlich der intelligenteste in der Familie. Er steckte in der Klemme und hatte mich gerufen. Eric und Gérard waren kämpferischer veranlagt als ich und hätten sich über das Abenteuer bestimmt gefreut. Caine wäre vermutlich aus Neugier losgezogen; Julian, um sich über uns andere zu erheben und bei Vater Pluspunkte zu sammeln. Brand hätte sich auch – und das wäre das einfachste gewesen – direkt an Vater wenden können. Vater hätte dann schon die nötigen Schritte unternommen. Doch er hatte sich mit mir in Verbindung gesetzt. Warum?

Mir kam der Gedanke, daß vielleicht einer oder mehrere Brüder für seine Lage verantwortlich waren. Wenn Vater ihn beispielsweise offen begünstigt hatte . . . Nun ja. Du weißt, wie so etwas geht. Eliminiere das Eindeutige. Wenn er zu Vater gekrochen wäre, hätte er wie ein Schwächling ausgesehen.

Ich unterdrückte also meinen Impuls, Verstärkung zu holen. Er hatte mich gerufen, und es war durchaus möglich, daß ich seinen Tod besiegelte, wenn ich in Amber bekanntwerden ließ, daß er seinen Notruf durchbekommen hatte. Also gut. Was war für mich dabei zu gewinnen?

Wenn es um die Nachfolge ging und er wirklich der erste Anwärter war, konnte es mir nur nützen, bei ihm in Gunst zu stehen. Und wenn nicht . . . Dann gab es alle möglichen anderen Möglichkeiten. Vielleicht war er auf dem Rückweg auf etwas gestoßen, etwas, das zu wissen sich lohnen mochte. Neugierig stimmte mich auch die Methode, mit der er die Trümpfe umgangen hatte. Gewissermaßen war es also die Neugier, die mich dazu trieb, den Versuch der Rettung allein zu unternehmen.

Ich staubte meine Trümpfe ab und versuchte mich mit ihm in Verbindung zu setzen. Doch ich erhielt keine Antwort. Ich schlief mich erst einmal aus und versuchte es am nächsten Tag noch einmal. Wieder nichts. Also gut – längeres Warten hatte keinen Sinn mehr.

Ich schärfte mein Schwert, gönnte mir ein gutes Frühstück und zog widerstandsfähige Kleidung an. Außerdem nahm ich eine dunkle Polaroidbrille mit. Natürlich wußte ich nicht, wie sich die Gläser dort auswirken würden, aber das Wachwesen war mir überaus hell vorgekommen, und es schadet nie, zusätzliche Schutzmittel auszuprobieren, wenn man rechtzeitig daran denkt. Übrigens nahm ich auch eine Feuerwaffe mit. Ich hatte das Gefühl, als würde mir das Ding dort nicht viel nützen, und damit behielt ich recht. Aber wie gesagt, so etwas weiß man erst, wenn man es ausprobiert.

Die einzige Person, von der ich mich verabschiedete, war ein Schlagzeuger, dem ich vor dem Abflug mein Instrument übergab. Ich wußte, daß er gut darauf achtgeben würde.

Dann marschierte ich zum Hangar hinaus, machte das Segelflugzeug startbereit, stieg auf und suchte mir den richtigen Wind. Dies schien mir die beste Methode zu sein.

Ich weiß nicht, ob du schon einmal durch die Schatten geflogen bist, aber . . . Nein?

Nun, ich steuerte aufs Meer hinaus, bis das Land nur noch eine vage Linie im Norden war. Dann ließ ich das Wasser unter mir kobaltblau werden, ließ es emporsteigen und die gischtsprühenden Bärte seiner Wogen schütteln. Der Wind schlug um. Ich machte kehrt. Unter einem dunkler werdenden Himmel flog ich mit den Wogen um die Wette in Richtung Küste. Texorami war verschwunden, als ich an die Flußmündung zurückkehrte; statt dessen breitete sich dort ein endloser Sumpf aus. Ich ließ mich von den Luftströmungen landeinwärts treiben und überquerte immer wieder den Fluß an neuen Windungen und Kurven, die er sich zugelegt hatte. Verschwunden waren die Hafenanlagen, die Straßen, der Verkehr. Die Bäume ragten hoch auf.

Wolken ballten sich im Westen zusammen, rosarot, perlmutterfarben, gelb. Die Sonne wechselte von orange zu rot zu gelb. Du schüttelst den Kopf? Die Sonne war der Preis der Städte, weißt du. Hastig entvölkere ich . . . oder besser gesagt, ich gehe die Route der Elemente. Aus dieser Höhe hätten Dinge von Menschenhand mich nur abgelenkt. Schraffur und Beschaffenheit werden von entscheidender Bedeutung. Das meinte ich, als ich sagte, daß der Schattenflug doch etwas anders sei als die normale Expedition in die Schatten.

Also, ich hielt nach Westen, bis die Wälder von grünen Flächen abgelöst wurden, die schnell blasser wurden, ausliefen, in braune und gelbe Gebiete aufbrachen. Hell und krümelig, dann fleckig. Der Preis hierfür war ein Sturm. Ich ritt ihn ab, so lange ich konnte, bis die Blitze in der Nähe niederzuckten und ich Angst bekam, die Windstöße könnten zuviel werden für das kleine Segelflugzeug. Nun spielte ich den Sturm schnell herab, doch die Folge war mehr Grün unter mir. Trotzdem ließ ich das Unwetter schließlich hinter mir, eine gelbe Sonne sicher in meinem Rücken. Nach einer Weile holte ich die Wüste unten zurück, kahl und von Dünen geriffelt.

Dann schrumpfte die Sonne, und Wolkenfetzen zogen rasch vor ihrem Gesicht vorbei, löschten es Stück für Stück aus. Dies war die Abkürzung, die mich weiter von Amber fortführte denn je.

Nun gab es keine Sonne mehr, doch das Licht blieb, nicht minder hell, doch irgendwie unheimlich, diffus. Es täuschte das Auge, es verwirrte den Blick für die Perspektive. Ich ging tiefer hinab, beschränkte mein Sehfeld. Nach kurzer Zeit kamen riesige Felsbrocken in Sicht, und ich bemühte mich um die Umrisse, an die ich mich erinnerte. Allmählich kam es dazu.

In diesen Verhältnissen war der lebhafte, fließende Effekt leichter zu erzeugen, doch die Aufrechterhaltung war physisch belastend. Sie erschwerte die Beurteilung der Flugzeugbewegungen. Ich kam tiefer, als ich es für möglich gehalten hatte, und wäre fast mit einem Felsen zusammengestoßen. Doch endlich hob sich der Qualm, und Flammen tanzten empor, so wie ich es in Erinnerung hatte; dabei wurde kein bestimmtes Schema eingehalten, sondern sie kamen da und dort aus Rissen, Löchern, Höhlenöffnungen. Die Farben begannen ihr wirres Spiel, wie ich es während des kurzen Kontakts erlebt hatte. Dann begann die eigentliche Bewegung der Felsen – dahintreibend, segelnd, wie ruderlose Boote an einem Ort, da Regenbogen ausgewrungen werden.

Inzwischen waren die Luftströmungen völlig aus dem Häuschen geraten. Ein Aufwind nach dem anderen, wie Kamine. Ich kämpfte mit ihnen nach besten Kräften, wußte aber, daß ich in dieser Höhe nicht lange die Oberhand behalten konnte. Ich stieg ein gutes Stück empor und vergaß eine Zeitlang alles andere, während ich mein Fluggerät im Gleichgewicht zu halten suchte. Als ich wieder nach unten blickte, hatte ich den Eindruck, eine Regatta schwarzer Eisberge zu beobachten. Die Felsen zogen einher, stießen zusammen, wichen voreinander zurück, kollidierten erneut, gerieten ins Kreiseln, scherten aus über freie Flächen, passierten sich gegenseitig. Dann wurde ich herumgebeutelt, in die Tiefe gedrückt, wieder hochgesaugt – und ich sah, wie eine Strebe brach. Ich nahm eine letzte Korrektur an den Schatten vor und schaute noch einmal hinab. In der Ferne war der Turm aufgetaucht, ein Gebilde heller als Eis oder Aluminium lag um den Fuß des Bauwerks.

Die letzte Korrektur besiegelte mein Schicksal. Das erkannte ich, als sich der Wind besonders unangenehm bemerkbar zu machen begann. Mehrere Seile rissen, und ich war auf dem Weg nach unten – als würde ich von einem Wasserfall mitgerissen. Ich zog die Nase des Flugzeugs hoch, versuchte einen langen Anflug, sah die Stelle, an der ich aufkommen würde, und sprang im letzten Augenblick ab. Der Segler wurde von einem der herumsausenden Felsen zermalmt – und das machte mir im ersten Augenblick mehr zu schaffen als die Schnitte, Abschürfungen und Prellungen, die ich mir bei meinem Sturz holte.

Schon im nächsten Augenblick mußte ich sehr schnell reagieren, denn ein Berg kurvte auf mich zu. Wir wichen beide zur Seite aus – zum Glück in unterschiedliche Richtungen. Ich hatte keine Ahnung, was diese Gebilde in Gang hielt, und vermochte zuerst auch kein System hinter ihren Bewegungen zu erkennen. Der Boden unter meinen Füßen schwankte zwischen warm und ausgesprochen heiß, und mit dem Rauch und den gelegentlichen Flammenzungen wallten aus zahlreichen Bodenöffnungen stinkende Gase empor. Ich hastete auf den Turm zu, wobei ich notgedrungen einen ziemlich gewundenen Weg wählte.

Es dauerte lange, bis ich die Strecke zurückgelegt hatte. Wie lange ich genau brauchte, weiß ich nicht, da ich keine Möglichkeit hatte, die Zeit zu messen. Doch begannen mir einige interessante Wiederholungen aufzufallen. Erstens bewegten sich die großen Felsen schneller als die kleinen. Zweitens schienen sich die Gebilde zu umkreisen – Kreise in Kreisen in Kreisen –, die größeren um die kleineren, wobei kein Stein jemals stillstand. Vielleicht ging die Ur-Bewegung von einem Staubkorn oder einem einzigen Molekül aus – irgendwo. Ich hatte weder Zeit noch Lust für den Versuch, das Zentrum dieser Maschinerie zu bestimmen. Dennoch setzte ich meine Beobachtungen unterwegs fort und vermochte sogar etliche Kollisionen ein gutes Stück im voraus zu bestimmen.

So erreichte denn Jung-Random das düstere Gemäuer, die Pistole in der einen, das Schwert in der anderen Hand. Die Brille hing mir um den Hals. Bei all dem Rauch und der verwirrenden Beleuchtung gedachte ich sie erst aufzusetzen, wenn es absolut erforderlich war.

Wo immer der Grund liegen mochte – jedenfalls wichen die Felsen dem Turm aus. Zuerst schien er mir auf einer Anhöhe zu stehen, doch ich erkannte beim Näherkommen, daß man wohl eher sagen mußte, die Felsen hätten unmittelbar davor eine enorme Senke ausgeschabt. Von meiner Seite vermochte ich nicht zu entscheiden, ob das Ergebnis einer Insel oder Halbinsel gleichkam.

Ich rannte durch Rauch und Geröll und wich den Flammenzungen aus, die aus Rissen und Löchern emporzüngelten. Schließlich krabbelte ich den Hang hinauf und löste mich damit aus dem Gewirr der wandernden Felsen. Mehrere Minuten lang verweilte ich unten am Hang an einer Stelle, die vom Turm aus nicht eingesehen werden konnte. Ich überprüfte meine Waffen, brachte meinen Atem wieder unter Kontrolle und setzte die Brille auf. Dann schwang ich mich über die Kante und duckte mich nieder.

Ja, die Brille funktionierte. Und – ja, das Ungeheuer wartete bereits auf mich.

Es bot einen fürchterlichen Anblick, obwohl es in gewisser Weise sogar schön zu nennen war. Es hatte einen gewaltigen Echsenleib und einen Kopf, breit wie ein mächtiger Vorschlaghammer, der zur Schnauze hin spitz zulief. Augen von einem besonders hellen Grün. Das Geschöpf war durchsichtig wie Glas, auf dem schwache Linien einen Schuppenpanzer anzudeuten schienen. Die Flüssigkeit, die durch seine Adern floß, war ebenfalls ziemlich klar. Man konnte geradewegs in das Geschöpf hineinblicken und seine Organe ausmachen, die milchig-wolkig wirkten. Man war fast in Versuchung, hinzustarren, wie dieser ungeheure Organismus funktionierte, und sich dadurch vom Eigentlichen ablenken zu lassen. Das Geschöpf besaß an Kopf und Hals eine dichte Mähne, die an Glasfaserbüschel erinnerte. Als es mich erblickte, hob es den Kopf und glitt auf mich zu – auf den ersten Blick wirkte es wie ein Strom, wie dahinfließendes Wasser, wie ein Fluß ohne Ufer. Was mich jedoch fast erstarren ließ, war die Tatsache, daß ich dem Ding in den Magen sehen konnte. Darin lag ein teilweise verdauter Mensch!

Ich hob die Pistole, zielte auf eins der Augen und drückte ab. Doch das Ding funktionierte nicht. Ich warf die Pistole fort, sprang nach links, näherte mich dem Wesen von seiner rechten Seite und hieb mit der Klinge nach seinem Auge.

Du weißt selbst, wie schwierig der Kampf gegen reptilienhafte Wesen ist. Ich hatte mich blitzschnell für den Versuch entschieden, das Ungeheuer zunächst zu blenden und ihm die Zunge abzuschneiden. Da ich nicht unbedingt langsam auf den Füßen war, hatte ich anschließend vielleicht Gelegenheit, ein paar Schläge am Kopf anzubringen, bis sich der Hals durchtrennen ließ. Dann konnte sich das Ding meinetwegen ineinander verknoten, bis alles vorbei war. Ich hegte die Hoffnung, daß es sich nach seiner letzten Mahlzeit noch einigermaßen schwerfällig bewegen würde.

Doch wenn das Wesen jetzt schwerfällig reagierte, war ich froh, daß ich nicht vor seiner Mahlzeit gekommen war. Es wich meiner Klinge geschickt aus und zuckte mit dem Kopf vor, noch während ich aus dem Gleichgewicht war. Die mächtige Schnauze streifte meine Brust, und ich hatte das Gefühl, von einem riesigen Hammer getroffen zu werden. Rücklings ging ich zu Boden.

Ich rollte mich seitlich ab, um außer Reichweite zu kommen, und rappelte mich am Rande der Anhöhe wieder auf. Das Geschöpf entspannte sich wieder, zerrte einen Gutteil seines Körpers in meine Richtung, richtete sich auf und neigte von neuem den Kopf in meine Richtung, etwa fünfzehn Fuß über mir.

Ich weiß durchaus, daß Gérard diesen Augenblick für einen Angriff gewählt hätte. Der großgewachsene Kerl wäre mit seiner Riesenklinge losgestürmt und hätte das Wesen in zwei Hälften zerhauen. Die Teile wären wahrscheinlich über ihn gefallen und hätten sich auf ihm herumgewunden, was ihm ein paar Prellungen und vielleicht eine blutige Nase eingebracht hätte. Benedict dagegen hätte das Auge nicht verfehlt. Er hätte wahrscheinlich längst beide Augen in der Tasche gehabt und mit dem Kopf Fußball gespielt. Aber diese beiden sind eben echte Helden. Ich – ich stand einfach da mit erhobener Klingenspitze, beide Hände um den Griff gelegt, die Ellenbogen in die Hüften gestemmt, den Kopf zurückgeneigt so weit es ging. Ich wäre viel lieber geflohen und hätte die ganze Sache sausen lassen. Nur wußte ich, daß der Kopf gleich niederzucken und mich zermahnen würde, wenn ich das versuchte.

Schreie aus dem Turm ließen erkennen, daß man mich entdeckt hatte, doch ich war nicht willens, den Kopf zu drehen, um nachzuschauen, was dort geschah. Dann begann ich das Geschöpf zu verfluchen. Ich wollte, daß es endlich zuschlug, daß es die Sache zu Ende brachte, so oder so.

Als es schließlich handelte, zog ich die Beine an, drehte den Körper herum und richtete die Schwertspitze voll auf mein Ziel.

Der Schlag lahmte einen Teil meiner linken Flanke, und ich hatte das Gefühl, ein gutes Stück unangespitzt in den Boden getrieben worden zu sein. Irgendwie gelang es mir, auf den Füßen zu bleiben. Ja, ich hatte alles richtig hinbekommen. Das Manöver war genauso abgelaufen, wie ich gehofft und geplant hatte.

Bis auf das Ungeheuer; es machte leider nicht mit. Die erwarteten Todeszuckungen blieben aus.

Im Gegenteil, es machte Anstalten, sich zu erheben!

Und dabei nahm es noch mein Schwert mit! Der Griff steckte in der linken Augenhöhle, die Spitze ragte als weiterer Stachel aus der Mähne am Hinterkopf. Ich hatte das Gefühl, daß die angreifende Mannschaft geliefert war.

In diesem Augenblick erschienen Gestalten in einer Öffnung am Fuße des Turms. Sie sahen häßlich aus und waren bewaffnet, und ich hatte das Gefühl, daß sie nicht gerade auf meiner Seite standen.

Also gut – ich weiß, wenn es Zeit wird, die Zelte abzubrechen und auf ein anderes und besseres Spielchen zu hoffen.

»Brand!« brüllte ich. »Hier Random! Ich komme nicht durch! Tut mir leid!«

Dann machte ich kehrt, lief los und sprang über den Rand in jene Welt hinab, da die Felsen ihre verwirrenden Bahnen zogen. Ich überlegte noch, ob ich mir für meinen Abstieg wirklich die beste Zeit ausgesucht hatte.

Wie es oft der Fall ist, lautete die Antwort ja und nein.

Es war ein Sprung, wie ich ihn nur aus Gründen tun möchte, die in jenem Augenblick mich dazu zwangen. Als ich unten auftraf, war ich noch am Leben – doch das war auch schon alles, was sich über meinen Zustand sagen ließ. Ich war betäubt, und eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, mir beide Knöchel gebrochen zu haben.

Was mich wieder zu mir brachte, war ein Schurren von oben; es folgte ein Prasseln von Steinen ringsum. Als ich meine Brille wieder auf die Nase geschoben hatte und den Kopf hob, erkannte ich, daß sich das Ungeheuer entschlossen hatte, mir den Garaus zu machen. Es wand sich wie ein Phantom die Schräge herab. Das Gebiet um seine Kopfwunde war inzwischen erheblich undurchsichtig geworden.

Ich richtete mich auf und kniete mich hin. Ich belastete prüfend mein Fußgelenk, hielt aber den Schmerz nicht aus. Ich entdeckte nichts, das sich als Krücke verwenden ließ. Na gut. Also kriechen. Ich begann zu kriechen. Ich floh. Was konnte ich anderes tun? Ich mußte einen möglichst großen Vorsprung herausholen und dabei angestrengt nachdenken.

Meine Rettung war ein Felsen – einer der kleineren, langsameren Brocken, etwa so groß wie ein Kombiwagen. Als ich das Ding näherkommen sah, wurde mir klar, daß ich hier ein ideales Beförderungsmittel hatte, wenn ich den Stein nur irgendwie besteigen konnte. Vielleicht war ich dort oben sogar einigermaßen sicher. Die wirklich großen und schnellen Felsen schienen am meisten herumgestoßen zu werden.

Unter diesem Aspekt beobachtete ich die großen Brocken, die meinen Stein begleiteten, schätzte ihre Kurse und Geschwindigkeiten ab, versuchte die Bewegung des ganzen Systems vorauszuberechnen und bereitete mich auf den entscheidenden Augenblick, die entscheidende Anstrengung vor. Ich achtete auf das Ungeheuer, hörte die Schreie der Männer vom Hügel und fragte mich, ob wohl eine der Gestalten dort oben auf mich setzte, und wenn ja, welche Chancen er mir einräumte.

Als der richtige Augenblick da war, setzte ich mich in Bewegung. An dem ersten großen Brocken kam ich problemlos vorbei, mußte dann aber auf das Vorbeirutschen des zweiten warten. Beim dritten und letzten großen Stein ging ich das Risiko ein, vor ihm vorbeizukriechen; es blieb mir auch gar nichts anderes übrig, wenn ich mein Ziel erreichen wollte.

Ich schaffte es im rechten Augenblick bis zur richtigen Stelle, hielt mich an Kanten fest, die ich mir vorher ausgesucht hatte, und wurde etwa zwanzig Fuß weit mitgeschleift, ehe ich mich vom Boden hochziehen konnte. Dann zog ich mich auf den harten Rücken des Brockens hinauf, blieb dort ausgestreckt liegen und schaute zurück.

Es war knapp gewesen – und noch immer war ich nicht außer Gefahr, denn das Ungeheuer hielt Schritt, wobei sein gesundes Auge den kreiselnden Bewegungen der großen Steine aufmerksam folgte.

Von oben hörte ich einen Aufschrei der Enttäuschung. Dann begannen die Kerle den Hang herabzurutschen, wobei sie Rufe ausstießen, mit denen sie wohl das Ungeheuer anfeuern wollten. Ich massierte mein Fußgelenk und versuchte mich zu entspannen. Das Ungeheuer wagte den entscheidenden Schritt hinter dem ersten großen Felsen, der eine weitere Umlaufbahn vollendete.

Wie weit konnte ich mich durch die Schatten schieben, ehe es mich erreichte? Ich wußte es nicht genau. Gewiß, hier gab es ständig Bewegung, eine dauernde Veränderung der Umgebung . . .

Das Ungeheuer wartete auf den zweiten Felsen, glitt dahinter vorbei, verfolgte mich erneut, kam näher.

Schatten, Schatten, flugs herbei . . .

Die Männer hatten inzwischen fast den Fuß des Hangs erreicht. Das Monstrum wartete auf die passende Lücke, auf die Chance, den inneren und letzten Satelliten zu überwinden – gleich mußte es soweit sein. Ich wußte, es vermochte sich weit genug aufzurichten, um mich von meiner hohen Warte zu zerren.

Zerdrück das wilde Biest zu Brei!

Während ich so dahingewirbelt wurde, bekam ich plötzlich den Stoff, aus dem die Schatten sind, in den Griff, ließ mich darin versinken, arbeitete mit den Geweben, von möglich zu wahrscheinlich zu tatsächlich, spürte sie mit leiser Drehung lebendig werden, gab ihnen im richtigen Augenblick den notwendigen Stoß . . .

Natürlich kam das Ding von der Seite, auf der das Ungeheuer nicht sehen konnte. Ein gewaltiger Felsen, der wie außer Kontrolle dahinwirbelte . . .

Es wäre eleganter gewesen, das Geschöpf zwischen zwei Brocken zu zerdrücken. Doch für solche Feinheiten hatte ich keine Zeit. Ich überfuhr das Geschöpf einfach und ließ es zappelnd im Granitverkehr liegen.

Doch wenige Sekunden später erhob sich der zermalmte Körper und stieg in die Luft empor. Immer weiter entfernte er sich, durchgeschüttelt von Winden, wurde immer kleiner und war schließlich verschwunden.

Mein Felsen trug mich langsam und gleichmäßig davon. Das ganze Umweltmuster trieb dahin. Die Burschen aus dem Turm steckten die Köpfe zusammen und faßten den Entschluß, mich zu verfolgen. Sie entfernten sich vom Hang und begannen sich über die Ebene zu bewegen. Aber das war eigentlich kein Problem. Ich gedachte mein steinernes Reittier durch die Schatten zu führen, gedachte ganze Welten zwischen sie und mich zu legen. Dies war entschieden die leichteste Methode für mich. Zweifellos wären sie viel schwieriger zu überraschen gewesen als das Ungeheuer. Schließlich war dies ihr Land; sie waren auf der Hut und gesund.

Ich nahm die Brille ab und überprüfte noch einmal mein Fußgelenk. Ich richtete mich sogar einen Augenblick lang auf. Der Fuß schmerzte, trug aber mein Gewicht. Wieder legte ich mich hin und beschäftigte mich in Gedanken mit den Ereignissen der letzten Minuten. Ich hatte mein Schwert verloren und war wirklich nicht mehr in Hochform. Anstatt das Unternehmen mit diesem Handicap fortzusetzen, war es das klügste und sicherste, schleunigst zu verschwinden. Ich hatte ausreichend Kenntnisse über Örtlichkeit und Verhältnisse gesammelt, daß meine Chancen beim nächstenmal wesentlich besser standen. Nun denn . . .

Der Himmel über mir wurde heller; die Farben und Schatten verloren etwas von ihrer willkürlichen, wechselhaften Art. Die Flammen ringsum begannen schwächer zu werden. Gut. Wolken begannen sich über den Himmel zu tasten. Ausgezeichnet. Nach kurzer Zeit machte sich ein begrenzter Schimmer hinter einer Wolkenbank bemerkbar. Hervorragend. Wenn sich die Wolken verzogen, würde endlich wieder eine Sonne am Himmel stehen.

Ich schaute zurück und stellte zu meiner Überraschung fest, daß ich noch immer verfolgt wurde. Doch es konnte durchaus sein, daß ich nicht richtig mit der hiesigen Entsprechung für dieses Stück Schatten umgegangen war. Bei aller Eile ist es niemals ratsam, davon auszugehen, man habe an alles gedacht. Also . . .

Ich leitete eine neue Verschiebung ein. Der Felsbrocken änderte langsam seinen Kurs, veränderte seine Form, verlor seine Satelliten, bewegte sich nun geradeaus in einer Richtung, die sich mit der Zeit als Westen herauskristallisierte. Über mir lösten sich die Wolken auf, und eine helle Sonne schien herab. Wir nahmen an Geschwindigkeit zu. Und damit hätte alles erledigt sein sollen. Ich war nun wirklich an einem anderen Ort.

Aber die Sache war beileibe nicht in Ordnung. Als ich wieder zurückschaute, saßen sie noch immer auf meiner Spur! Zwar hatte ich einen Vorsprung herausgeholt, doch die Gruppe marschierte zielstrebig hinter mir her.

Na schön. So etwas passiert eben manchmal. Es gab zwei Möglichkeiten. Da mein Verstand von den Ereignissen noch ziemlich mitgenommen war, hatte ich nicht gut gearbeitet und sie mitgezogen. Oder ich hatte eine Konstante aufrechterhalten, wo ich eine Variable hätte unterdrücken müssen – das heißt, ich hatte mich an einen Ort versetzen lassen und im Unterbewußtsein verlangt, daß das Verfolgungselement bleiben sollte. Also andere Burschen, die aber dennoch auf mich Jagd machten.

Wieder rieb ich mir das Fußgelenk. Die Sonne nahm langsam einen orangeroten Schimmer an. Ein Nordwind errichtete einen Schirm aus Staub und Sand hinter mir und ließ die Bande meinen Blicken entschwinden. Ich zog weiter gen Westen, wo inzwischen eine Bergkette emporgewachsen war. Die Zeit war in einer verzerrten Phase. Mein Fuß fühlte sich schon etwas besser an.

Ich ruhte mich eine Zeitlang aus. Mein Felsen war einigermaßen bequem, soweit man das überhaupt von einem Felsen behaupten kann. Sinnlos, einen Höllenritt zu beginnen, wenn alles einwandfrei zu klappen scheint. Ich streckte mich aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah die Berge näherkommen. Ich dachte an Brand und den Turm. Ich war am richtigen Ort gewesen. Es hatte alles so ausgesehen, wie er es mir während unseres kurzen Kontakts gezeigt hatte. Bis auf die Wächter natürlich. Ich kam zu dem Schluß, daß ich durch den richtigen Schatten abkürzen, mir eine Kohorte meiner Leute zusammenstellen und zurückkehren mußte, um es diesen Burschen zu zeigen. Ja, dann würde alles in Ordnung sein . . .

Nach einer Weile streckte ich mich aus, rollte auf den Bauch und blickte zurück. Verdammt! Sie folgten mir ja noch immer! Sie hatten sogar aufgeholt!

Natürlich begann ich mich aufzuregen. Zum Teufel mit der Flucht! Sie forderten mich ja geradezu heraus – es wurde Zeit, daß ihnen der Wunsch gewährt wurde!

Langsam schwang der Felsen aus der geraden Bahn, begann eine Kurve nach rechts zu beschreiben. Die Biegung wurde immer enger, bis der Stein schließlich direkt auf meine Verfolger zuraste, wobei sich meine Geschwindigkeit allmählich erhöhte. Ich hatte keine Zeit, hinter mir ein Unwetter zu entfesseln, obwohl das sicher eine hübsche kleine Zutat gewesen wäre.

Als ich mich auf sie stürzte – es waren etwa zwei Dutzend –, liefen sie klugerweise auseinander. Einige von ihnen schafften es dennoch nicht und wurden zermalmt. Ich ließ den Stein durch eine zweite Kurve schwingen und kehrte so schnell wie möglich zurück.

Dabei schockierte mich der Anblick mehrerer Leichen, die sich bluttriefend in die Luft erhoben; zwei schwebten schon ziemlich hoch über mir.

Beim zweiten Anflug hatte ich die Gruppe schon fast erreicht, als ich bemerkte, daß einige Männer während der ersten Attacke an Bord gesprungen waren. Der erste, der sich über die Kante schwingen konnte, zog prompt seine Klinge und bedrängte mich. Ich blockte ihn ab, schlug ihm die Waffe aus der Faust und schleuderte ihn in die Tiefe. Dabei bemerkte ich zum erstenmal den Dorn auf den Handrücken dieser Wesen, denn mit dieser Spitze hatte es mir eine Verletzung beigebracht.

Inzwischen war ich zum Ziel mehrerer seltsam geformter Wurfgeschosse von unten geworden, und zwei weitere Gegner schwangen sich über den Rand; es sah so aus, als hätten sich noch mehr an den Felsen hängen können.

Nun, selbst Benedict weicht zuweilen zurück. Ich hatte den Überlebenden wenigstens eine Lektion erteilt.

Ich ließ die Schatten fahren, zog mir ein Stachelrad aus der Flanke, ein zweites aus dem Schenkel, hackte einem Burschen den Schwertarm ab und trat ihn in den Bauch, ging in die Knie, um einem wilden Hieb des nächsten Angreifers auszuweichen und schlug ihm meine Riposte quer vor die Beine. Auch er stürzte ab.

Aber fünf weitere waren auf dem Weg nach oben. Wir segelten wieder einmal nach Westen und ließen vielleicht ein Dutzend Überlebende zurück, die sich im Sand hinter mir neu formieren konnten, darüber ein Himmel voller tropfender treibender Gebilde.

Beim nächsten Gegner war ich im Vorteil, weil ich ihn angreifen konnte, ehe er voll herauf geklettert war. Soviel zu ihm, da waren´s nur noch vier.

Doch während ich ihn erledigte, hatten sich drei weitere gleichzeitig an verschiedenen Stellen aufgerichtet.

Ich stürmte dem nächsten entgegen und tötete ihn, doch die beiden anderen überbrückten die Entfernung und fielen über mich her, als ich noch am Werk war. Während ich mich ihres Angriffs erwehrte, kam der letzte auf den Felsen geklettert und fiel ebenfalls über mich her.

Sie waren nicht gerade Meisterkämpfer, doch es wurde knapp: ich sah mich von ziemlich vielen Spitzen und Schneiden bedrängt. Ich blieb in Bewegung, parierte immer wieder und versuchte zu erreichen, daß sie sich gegenseitig behinderten. Darin hatte ich zum Teil Erfolg, und als ich sie in der günstigsten Position hatte, die ich für möglich hielt, attackierte ich, wobei ich einige Blessuren riskierte – ich mußte mir eine kleine Blöße geben, um das Manöver überhaupt möglich zu machen –, doch vermochte ich dafür einem der Kerle den Schädel einzuschlagen. Er taumelte über den Rand und nahm in einem Gewirr von Gliedmaßen und Waffen den hinter ihm Stehenden mit.

Leider hatte der rücksichtslose Bursche auch mein Schwert mitgehen lassen, das in einem zerspellten Knochen steckengeblieben war. Ich mußte mich sehr schnell bewegen, um dem Hieb des letzten Gegners auszuweichen. Dabei glitt ich in einer Blutlache aus und schlidderte auf den vorderen Teil des Felsens zu. Wenn ich dort hinabstürzte, würde mich der Stein glatt überfahren und einen sehr flachen Random zurücklassen – wie einen exotischen Teppich, an dem künftige Wanderer herumrätseln oder ihren Spaß haben konnten.

Im Hinfallen suchte ich mit gekrümmten Fingern nach einem Halt. Mein Gegner machte einige hastige Schritte und hob sein Schwert, um mich zu erledigen, wie ich seinen Kumpel erledigt hatte.

Doch ich packte sein Fußgelenk – und ausgerechnet diesen Augenblick suchte sich jemand aus, um sich durch meinen Trumpf mit mir in Verbindung zu setzen.

»Ich habe zu tun!« brüllte ich. »Ruf später nochmal an!« Und meine Bewegung wurde gestoppt, als der Kerl zu taumeln begann, klappernd auf dem Felsen landete und an mir vorbeirutschte.

Ich versuchte ihn zu halten, ehe er in das Reich der Teppiche einging, war aber nicht schnell genug. Eigentlich hatte ich ihn noch anders ausquetschen wollen. Trotzdem, mein inneres Ich war mehr als befriedigt. Ich kehrte in die Mitte des Steins zurück, um zu überlegen und mich zu orientieren.

Die Überlebenden folgten mir noch immer, doch mein Vorsprung reichte aus. Im Augenblick brauchte ich mir wegen einer neuerlichen Besteigung keine Sorgen zu machen. Nur gut. Wieder rutschte ich auf die Berge zu. Die Sonne, die ich heraufbeschworen hatte, begann mich zu erhitzen. Ich war durchtränkt von Schweiß und Blut. Meine Wunden machten mir zu schaffen. Ich hatte Durst. Bald, bald, so überlegte ich, mußte es regnen. Das war jetzt das dringlichste Gebot.

Folglich begann ich mit den Vorbereitungen einer Verschiebung in diese Richtung – sich auftürmende Wolken, dunkler werdende Formationen am Himmel . . .

Irgendwann zwischendurch muß ich eingeschlummert sein und hatte einen wirren Traum, in dem mich wieder mal jemand zu erreichen versuchte, aber vergeblich. Angenehme Dunkelheit.

Der plötzliche schwere Regenguß weckte mich. Ich wußte nicht zu sagen, ob die Dunkelheit des Himmels von dem Unwetter, vom Abend oder von beiden herrührte. Jedenfalls war es kühler geworden, und ich breitete meinen Mantel aus, legte mich hin und öffnete einfach den Mund. In regelmäßigen Abständen wrang ich die Flüssigkeit aus dem Mantel. Nach einiger Zeit hatte ich meinen Durst gestillt und begann mich wieder sauber zu fühlen. Der Felsen sah inzwischen so glatt aus, daß ich mich nur ungern darauf bewegte. Die Berge waren viel näher gekommen, ihre Gipfel wurden von Blitzen aus der Dunkelheit geschält. In der entgegengesetzten Richtung war es zu dunkel, um zu erkennen, ob noch immer Verfolger in der Nähe waren. Es wäre sicher eine ziemliche Plackerei gewesen, mit mir Schritt zu halten – doch andererseits ist es in fremden Schatten nicht ratsam, sich auf Vermutungen zu verlassen. Ich ärgerte mich ein wenig über mich selbst, daß ich eingeschlafen war, aber da mir das nicht weiter geschadet hatte, zog ich meinen durchnäßten Mantel enger um mich und beschloß, mir großmütig zu verzeihen. Ich tastete nach den Zigaretten, die ich mitgebracht hatte, und stellte fest, daß etwa die Hälfte das bisherige Abenteuer überlebt hatte. Nach dem achten Versuch hatte ich ausreichend mit den Schatten herumjongliert, um Feuer zu erhalten. Anschließend saß ich einfach da, rauchte vor mich hin und ließ mich beregnen. Es war ein angenehmes Gefühl, und ich verzichtete auf den Versuch, weitere Änderungen vorzunehmen; jedenfalls nicht in den nächsten Stunden.

Als das Unwetter endlich nachließ und der Himmel aufklarte, befand ich mich unter einem Nachthimmel voller fremder Konstellationen. Doch ein herrlicher Anblick, so können nur Nächte in der Wüste sein. Viel später verspürte ich ein leichtes Ansteigen des Bodens, und die Bewegung meines Felsens begann sich zu verlangsamen. Irgend etwas passierte mit den physikalischen Gesetzen, die meine Situation beherrschten. Dabei kam mir der Hang eigentlich nicht so steil vor, daß er mein Tempo so entscheidend beeinflussen konnte, wie er es tat. Ich wollte nicht in der Weise auf die Schatten Einfluß nehmen, daß ich aus der Bahn geworfen wurde. Ich wollte so schnell wie möglich auf vertrauteres Terrain überwechseln, wollte mir einen Ort suchen, da meine seelische Vorwegnahme äußerer Ereignisse eher der Wirklichkeit entsprechen konnte.

Ich ließ den Felsbrocken also zum Stillstand kommen, kletterte hinab und setzte den Weg hangaufwärts zu Fuß fort. Dabei spielte ich das Schattenspiel, das wir alle schon als Kinder gelernt hatten. Komm an einem Hindernis vorbei – einem vertrockneten Baum, einer Felsformation – und laß den Himmel dahinter anders aussehen als noch eben. Allmählich stellte ich die vertrauten Konstellationen wieder her. Ich wußte, daß der Berg, von dem ich herabsteigen würde, nicht derselbe war, den ich erklettert hatte. Meine Wunden schmerzten noch immer unangenehm, doch mein Fußgelenk machte bis auf ein Gefühl der Steifheit keine Probleme mehr. Ich war ausgeruht.

Ich wußte, daß ich eine Zeitlang durchhalten konnte. Alles schien wieder in Ordnung zu sein.

Es war ein langer Marsch in einem Gelände, das allmählich immer steiler wurde. Doch schließlich stieß ich auf einen Weg, und von da an war es wieder leichter. Mit gleichmäßigen Schritten ging ich unter dem inzwischen vertrauten Himmel bergan, entschlossen, nicht zu rasten und bis zum Morgen über den Gipfel zu sein. Beim Marschieren veränderte sich meine Kleidung, um sich diesem Schatten anzupassen – Jeanshosen, Jeansjacke, der nasse Mantel ein trockener Umhang. In der Nähe hörte ich eine Eule schreien, und aus großer Ferne unter und hinter mir ertönte ein Jaulen, das von einem Kojoten stammen mochte. Diese hörbaren Hinweise auf eine doch bekannte Welt steigerten mein Gefühl der Sicherheit und ließen den letzten Anflug von Verzweiflung schwinden, der sich mit meiner Flucht verband.

Etwa eine Stunde später gab ich der Versuchung nach, ein bißchen mit den Schatten herumzuspielen. Es war gar nicht so ungewöhnlich, daß sich ein Pferd in diese Berge verlief – und natürlich fand ich das Tier. Nachdem ich mich zehn Minuten lang mit ihm angefreundet hatte, setzte ich mich auf seinen ungesattelten Rücken und näherte mich nun auf eine etwas angenehmere Art dem Gipfel. Der Wind säte Frost auf unseren Weg. Der Mond stieg auf und ließ ihn zu funkelndem Leben erwachen.

Kurz, ich ritt die ganze Nacht hindurch, erreichte lange vor der Dämmerung den höchsten Punkt und begann den Abstieg. Dabei wurden die Berge hinter mir noch gewaltiger, was natürlich der beste Augenblick war. Auf dieser Seite der Bergkette herrschte grüner Bewuchs vor, durchteilt von sauberen Schnellstraßen, da und dort gesäumt von Siedlungen. Alles entwickelte sich nach Wunsch.

Am frühen Vormittag war ich bereits in den Vorbergen, und meine Jeanskleidung war zu Khaki geworden, dazu ein buntes Hemd. Vor mir im Sattel lag ein leichtes Sportjackett. In großer Höhe zog ein Düsenflugzeug auf seinem Weg von Horizont zu Horizont zwei Streifen in die Luft. Vogelgesang umgab mich, der Tag war sonnig-mild.

Etwa um diese Zeit hörte ich, wie jemand meinen Namen sagte, und spürte wieder die Berührung des Trumpfs. Ich zügelte das Pferd und antwortete.

»Ja?«

Es war Julian.

»Random, wo bist du?« fragte er.

»Ziemlich weit von Amber entfernt«, erwiderte ich. »Warum?«

»Hat sich von den anderen jemand mit dir in Verbindung gesetzt?«

»In letzter Zeit nicht«, sagte ich. »Allerdings wollte mich gestern jemand sprechen. Ich hatte aber zu tun und konnte nicht antworten.«

»Das war ich«, sagte er. »Wir haben hier eine besondere Lage, von der du wissen solltest.«

»Wo bist du?« wollte ich wissen.

»In Amber. In letzter Zeit sind hier einige Dinge passiert.«

»Zum Beispiel?«

»Vater ist seit ungewöhnlich langer Zeit fort. Niemand weiß, wo er steckt.«

»Das wäre nicht das erstemal.«

»Doch nicht, ohne Anweisungen zu hinterlassen und Aufgaben zu delegieren. So hat er jedenfalls bisher immer gehandelt.«

»Das ist wahr«, sagte ich. »Aber wie lange ist ›lange‹?«

»Gut ein Jahr. Du wußtest gar nichts davon?«

»Ich wußte, daß er fort war. Gérard hat vor einiger Zeit davon gesprochen.«

»Seither hat er sich nicht blicken lassen.«

»Ich verstehe. Wie habt ihr euch denn inzwischen beholfen?«

»Das ist es ja. Wir haben uns mit den Problemen beschäftigt, wie sie auf uns zugekommen sind. Gérard und Caine hatten auf Vaters Befehl sowieso die Marine unter sich. Ohne ihn haben sie die Entscheidungen einfach selbständig getroffen. Ich habe mich wieder um die Patrouillen in Arden gekümmert. Doch es gibt keine zentrale Macht, keinen Mann, der Streitfälle schlichtet, die allgemeine Politik festlegt und für ganz Amber spricht.«

»Wir brauchen also einen Regenten. Das können wir ja auslosen.«

»So einfach ist das nicht. Wir glauben, daß Vater tot ist.«

»Tot? Wieso? Wie?«

»Wir haben versucht, ihn durch seinen Trumpf anzusprechen. Seit einem halben Jahr haben wir es jeden Tag versucht. – Nichts. Was meinst du?«

Ich nickte.

»Vielleicht ist er wirklich tot«, sagte ich. »Man müßte doch annehmen, daß sich irgendein Hinweis auf ihn findet. Trotzdem läßt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß er irgendwo in der Klemme steckt – vielleicht wird er irgendwo gefangengehalten.«

»Zellenwände halten die Trümpfe nicht auf. Nichts kann den Kartenzauber aufhalten. Er würde uns um Hilfe bitten, sobald der Kontakt bestünde.«

»Dagegen ist nichts zu sagen«, erwiderte ich. Doch gleichzeitig mußte ich an Brand denken. »Aber vielleicht widersetzt er sich der Kontaktaufnahme absichtlich?«

»Weshalb sollte er das?«

»Keine Ahnung, aber möglich wäre es. Du weißt doch, wie verschlossen er in gewissen Dingen ist.«

»Nein«, sagte Julian. »Das ergibt keinen Sinn. Er hätte für die Zeit seiner Abwesenheit Anweisungen hinterlassen.«

»Nun, welche Gründe auch dahinterstecken, wie immer die Wahrheit auch aussehen mag – was schlägst du vor?«

»Jemand muß auf den Thron«, sagte er.

Das hatte ich während des Gesprächs natürlich kommen sehen – die Gelegenheit, die sich niemals ergeben würde, so hatte es jedenfalls lange Zeit ausgesehen.

»Wer?« fragte ich.

»Eric scheint mir der beste Kandidat zu sein«, erwiderte er. »Eigentlich hat er schon seit Monaten eine entsprechende Funktion ausgeübt. Jetzt geht es nur noch darum, seine Stellung formell festzulegen.«

»Nicht nur als Regent?«

»Nicht nur als Regent.«

»Ich verstehe . . . Ja, du hast recht, während meiner Abwesenheit ist wirklich einiges vorgefallen. Wie steht es mit Benedict als Thronanwärter?«

»Er scheint zufrieden zu sein, wo er ist – irgendwo in den Schatten.«

»Was hält er von der ganzen Sache?«

»Er ist nicht uneingeschränkt dafür. Doch wir nehmen nicht an, daß er aktiven Widerstand leistet. Das würde die Dinge zu sehr aus dem Lot bringen.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Und Bleys?«

»Er und Eric haben sich einige Male ziemlich hitzig um die Frage gestritten, doch die Soldaten hören nicht auf Bleys. Er hat Amber vor etwa drei Monaten verlassen. Könnte sein, daß er später Ärger macht. Aber immerhin sind wir gewarnt.«

»Gérard? Caine?«

»Sie unterstützen Eric. Ich wollte wissen, wo du stehst.«

»Was ist mit den Mädchen?«

Er zuckte die Achseln.

»Die lassen doch alles auf sich zukommen. Kein Problem.«

»Und vermutlich wird Corwin . . .«

»Da gibt´s keine neuen Nachrichten. Er ist tot, das wissen wir doch alle. Auf seinem Denkmal sammelt sich seit Jahrhunderten der Staub. Wenn nicht, hat er sich auf ewig losgesagt von Amber. Von dieser Seite ist nichts zu erwarten. Doch ich frage mich, woi du stehst.«

Ich lachte leise. »Ich bin kaum in der Lage, eine starke Position zu vertreten«, sagte ich.

»Aber wir müssen es jetzt wissen.«

Ich nickte.

»Ich habe bisher noch immer erkennen können, aus welcher Richtung der Wind weht«, sagte ich. »Ich gedenke nicht dagegen anzusegeln.«

Er lächelte und erwiderte mein Kopfnicken.

»Sehr gut«, sagte er.

»Wann ist die Krönung? Ich nehme doch an, daß ich eingeladen bin?«

»Natürlich, natürlich. Aber der Termin ist noch nicht festgesetzt. Vorher müssen noch ein paar Kleinigkeiten erledigt werden. Sobald die Angelegenheit feststeht, wird sich einer von uns wieder mit dir in Verbindung setzen.«

»Vielen Dank, Julian.«

»Auf Wiedersehen, Random.«

Und ich saß da und starrte eine Zeitlang beunruhigt vor mich hin, ehe ich meinen Marsch ins Tal fortsetzte. Wieviel Zeit hatte es Eric gekostet, auf diese Entwicklung hinzuarbeiten? fragte ich mich. Ein gewisser Teil des Drähteziehens in Amber ließ sich ziemlich schnell bewerkstelligen, doch die Grundsituation schien das Ergebnis langfristiger Überlegungen und Planungen zu sein. Ich konnte natürlich nicht ausschließen, daß er hinter Brands übler Lage steckte. Zugleich mußte ich an die Möglichkeit denken, daß er auch irgendwie mit Vaters Verschwinden zu tun hatte. Das wäre natürlich keine Kleinigkeit. Dazu müßte er sich eine wirklich narrensichere Falle ausgedacht haben. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger war ich willens, ihm eine solche Tat nicht zuzutrauen. Ich staubte sogar ein paar ganz alte Vermutungen ab hinsichtlich seiner Rolle bei deinem Tod, Corwin. Doch im ersten Augenblick fiel mir überhaupt nichts ein, was ich dagegen tun könnte. Mach mit, sagte ich mir, wenn dort die wahre Macht liegt. Versuch auf der Sonnenseite zu bleiben.

Dennoch . . . Man sollte es immer darauf anlegen, sich einen Tatbestand von mehr als einer Seite schildern zu lassen. Ich versuchte zu einem Entschluß zu kommen, wer mir wohl Aufklärung geben könnte. Während ich diese Überlegungen anstellte, schaute ich über die Schulter zurück, um noch einmal die ungeheuren Berghöhen zu bewundern, die ich nicht ganz bewältigt hatte. Dabei fiel mir etwas auf.

In den oberen Regionen machte ich eine Gruppe von Reitern aus. Sie hatten das Gebirge offenbar auf demselben Wege überquert wie ich. Ich vermochte sie nicht genau zu zählen, doch ihre Zahl schien dem Dutzend verdächtig nahe zu sein – eine ziemlich große Gruppe für gerade jenen Ort und jenen Augenblick. Als ich feststellte, daß die Leute den Weg einschlugen, den auch ich genommen hatte, verspürte ich ein seltsames Kribbeln im Nacken. Wenn nun . . .? Wenn es sich nun um dieselben Burschen handelte? Ich hatte das Gefühl, daß sie es waren.

Einzeln kamen sie nicht gegen mich an. Und selbst zu mehreren hatten sie nichts Berauschendes auf die Beine gestellt. Darum ging es nicht. Niederschmetternd war vielmehr die Erkenntnis, daß wir, wenn ich mit meiner Vermutung über diese Leute richtig lag, nicht die einzigen waren, die die Schatten auf durchgreifende Weise zu manipulieren vermochten. Es bedeutete, daß auch jemand anders eine Fähigkeit beherrschte, von der ich seit früher Jugend angenommen hatte, daß sie allein unseren Familienmitgliedern zustand. Wenn man außerdem die Tatsache in Betracht zog, daß sie Brands Wächter waren, schienen ihre Absichten gegenüber unserer Familie – zumindest einem Teil der Familie – nicht allzu wohlwollend zu sein.

Natürlich waren sie zu weit entfernt, als daß ich eindeutig feststellen konnte, ob es sich wirklich um meine Verfolger handelte. Doch wenn man beim Überlebensspiel die Oberhand behalten will, muß man jede Möglichkeit in Betracht ziehen. War es möglich, daß Eric besondere Wesen gefunden, ausgebildet oder geschaffen hatte, Geschöpfe, die ihm in dieser Hinsicht aushalfen? Neben dir und Eric hatte Brand einen der gültigsten Ansprüche auf die Nachfolge gehabt . . . damit will ich nichts gegen deinen Fall sagen, verdammt! Du weißt schon, was ich meine. Ich muß dir davon erzählen, um dir zu verdeutlichen, was ich damals dachte. Das ist alles. Brand hatte also einen ziemlich guten Anspruch, wäre er nur in der Lage gewesen, ihn anzumelden. Da du verschwunden warst, mußte er als Erics Hauptrivale gelten, wenn es darum ging, die bestehende Situation zu legalisieren. Wenn ich diesen Umstand zusammen mit Brands schlimmem Schicksal und der Fähigkeit dieser Kerle sah, die Schatten zu durchqueren, stand Eric für mich plötzlich in einem viel ungünstigeren Licht da. Dieser Gedanke ängstigte mich mehr als die Reiter selbst, die mich allerdings auch nicht gerade mit Entzücken erfüllten. Ich überlegte mir, daß ich nun sofort handeln mußte: ich wollte mit jemandem in Amber sprechen, der mich dann durch seinen Trumpf zu sich holen konnte.

Gut. Ich traf eine schnelle Entscheidung. Gérard schien mir der beste Kandidat zu sein. Er ist Vernunftgründen zugänglich und neutral. In den meisten Dingen ehrlich. Und nach Julians Worten schien Gérards Rolle in der ganzen Angelegenheit doch etwas passiv zu sein. Ihm lag bestimmt nicht daran, Ärger zu machen. Was nicht bedeutete, daß er einverstanden war. Wahrscheinlich gab er sich wie immer: als der vorsichtige, konservative Gérard. Nachdem diese Entscheidung gefallen war, griff ich nach meinen Karten und hätte fast aufgeheult. Sie waren fort!

Ich durchsuchte jede Tasche in jedem Kleidungsstück, das ich am Leibe trug. Ich hatte die Karten mitgenommen, als ich Texorami verließ. Allerdings hätte ich sie während der Aktionen des gestrigen Tages jederzeit verlieren können; ich war genügend herumgesprungen und durchgebeutelt worden. Und ich hatte schon ganz andere Dinge verloren. In meinem Zorn stellte ich mir eine komplizierte Litanei aus Flüchen zusammen und grub meinem Pferd die Hacken in die Flanken. Jetzt mußte ich schnell vorankommen und noch schneller denken. Zunächst kam es darauf an, einen netten, belebten, zivilisierten Ort zu erreichen, wo ein Attentäter der primitiven Sorte im Nachteil war.

Während ich talwärts galoppierte und dabei auf eine der Straßen zuhielt, arbeitete ich mit dem Stoff, aus dem die Schatten sind – diesmal ganz vorsichtig, wobei ich meine volle Geschicklichkeit einsetzte. Es gab im Augenblick nur zwei Dinge, die ich mir wünschte: einen letzten Angriff auf meine möglichen Verfolger und Zugang zu einem Zufluchtsort.

Die Welt schimmerte und beschrieb eine letzte Wende, wurde zu dem Kalifornien, das ich gesucht hatte. Ein scharrendes, grollendes Geräusch schlug mir an die Ohren – das letzte i-Tüpfelchen, auf das es mir ankam. Als ich zurückblickte, sah ich, wie sich ein Teil der Felswand löste und wie in Zeitlupe auf die Reiter stürzte. Kurz darauf war ich abgestiegen und ging auf die Straße zu. Ich wußte die Jahreszeit nicht und fragte mich, wie das Wetter wohl in New York war.

Nach kurzer Zeit tauchte der Bus auf, den ich erwartet hatte, und stoppte auf mein Zeichen. Ich setzte mich an einen Fensterplatz, rauchte und beobachtete die Landschaft. Bald darauf schlief ich ein.

Ich erwachte erst am frühen Nachmittag, als wir eine Busstation erreichten. In der Zwischenzeit war ich sehr hungrig geworden und beschloß, etwas zu essen, ehe ich mit dem Taxi zum Flughafen fuhr. Mit meinen Texorami-Dollar erstand ich drei Käsesandwiches und ein Malzbier. Die Mahlzeit dauerte etwa zwanzig Minuten. Als ich die Snackbar verließ, sah ich eine Anzahl von Taxis vor dem Haus stehen. Doch ehe ich mir einen Wagen aussuchte, beschloß ich, auf der Männertoilette noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Im ungünstigsten Augenblick, den du dir vorstellen kannst, flogen plötzlich hinter mir sechs Toilettentüren auf, und die Insassen der Kabinen stürzten sich auf mich. Die Spitzen auf ihren Handrücken, die übergroßen Kinnladen, die glühenden Augen – kein Zweifel! Sie hatten mich nicht nur eingeholt, sondern waren inzwischen ebenso unauffällig gekleidet wie ich. Zerstoben waren meine letzten Zweifel hinsichtlich ihrer Macht über die Schatten.

Zum Glück war einer der Angreifer schneller als die anderen. Außerdem wußten die Burschen angesichts meiner Größe wohl nicht, wie kräftig ich wirklich bin. Ich packte den ersten oben am Arm, wobei ich seinen Knöchelbajonetten auswich, zerrte ihn herum, zog ihn hoch und warf ihn den anderen entgegen. Dann machte ich kehrt und lief los. Auf dem Weg nach draußen machte ich die Tür kaputt. Den Hosenschlitz bekam ich erst zu, als ich in einem Taxi saß und der Fahrer mit durchdrehenden Reifen angefahren war.

Genug. Jetzt ging es mir nicht mehr um ein einfaches Versteck. Ich wollte mir ein Spiel Trümpfe besorgen und ein anderes Familienmitglied informieren. Wenn es sich um Erics Geschöpfe handelte, mußten die anderen davon erfahren. Wenn nicht, mußte auch Eric Bescheid wissen. Wenn sich diese Wesen so mühelos durch die Schatten bewegen konnten, war diese Gabe vielleicht auch anderen zugänglich. Was immer sie darstellten, mochte eines Tages zur Gefahr für das eigentliche Amber werden. Einmal angenommen, daß aus dem trauten Kreis meiner Familie niemand mit dieser Sache zu tun hatte, daß Vater und Brand die Opfer eines bisher völlig unbekannten Gegners waren. Dann existierte wirklich eine große Gefahr, der ich direkt in die Arme gelaufen war. Zugleich ein ausgezeichneter Grund für diese verbissene Jagd auf mich – der Gegenseite lag sicher sehr daran, mich zu erwischen. Meine Gedanken überstürzten sich. Vielleicht trieb man mich in eine Falle. Vielleicht waren die sichtbaren Gegner nicht die einzigen, die an der Treibjagd beteiligt waren.

Ich brachte meine Gefühle unter Kontrolle. Man muß sich dieser Dinge nacheinander erwehren, so wie sie auf einen zukommen, redete ich mir ein. Trenne Gefühle von Vermutungen! Dies ist der Schatten von Schwester Flora. Sie lebt am anderen Rande des Kontinents in einem Ort, der Westchester heißt. Geh an ein Telefon, laß dich mit der Auskunft verbinden, ruf sie an. Sag ihr, es wäre dringend, bitte um ihren Schutz. Das kann sie dir nicht verweigern, selbst wenn sie dich haßt. Dann setz dich in eine Düsenmaschine und flieg zu ihr. Laß deinen Vermutungen unterwegs freien Raum, wenn du unbedingt mußt – doch im Augenblick bewahre einen kühlen Kopf!

Ich rief also vom Flughafen aus an, und du warst dran, Corwin. Das war die unbekannte Größe, die alle Gleichungen durchbrach, welche ich in meinem Geist bewegt hatte – daß du plötzlich auftauchen würdest, in diesem Augenblick, an jenem Ort, in jenem Stadium der Ereignisse! Als du mir deinen Schutz anbotest, packte ich die Gelegenheit beim Schopfe – und das nicht nur, weil ich Schutz brauchte. Ich hätte die sechs Burschen vermutlich auch allein erledigen können. Aber darum ging es nicht mehr. Ich dachte nun, es wären deine Kreaturen!. Ich stellte mir vor, daß du dich die ganze Zeit zurückgehalten und auf den richtigen Augenblick des Handelns gewartet hättest. Und jetzt, so sagte ich mir, warst du bereit. Hier hatte ich die Erklärung für alles. Du hattest Brand aus dem Verkehr gezogen und wolltest deine schattenwandernden Zombies nun dazu verwenden, Eric zu überrumpeln. Dabei wollte ich auf deiner Seite sein, denn ich haßte Eric und wußte, daß du zu planen verstehst und gewöhnlich auch bekommst, was du haben willst. Ich erwähnte die Verfolgung durch Männer aus den Schatten, um zu sehen, was du sagen würdest. Die Tatsache, daß du gar nichts sagtest, bewies allerdings wenig. Entweder warst du überaus vorsichtig, überlegte ich, oder du konntest nicht wissen, wo ich gewesen war. Zugleich ging mir die Möglichkeit durch den Kopf, daß ich hier vielleicht in eine deiner Fallen tappte – doch ich steckte bereits in der Klemme und konnte mir nicht vorstellen, daß ich für das Machtgleichgewicht so wichtig war, daß du mich wirklich beseitigen wolltest. Besonders wenn ich dir meine Unterstützung zusagte, wozu ich durchaus bereit war. Ich flog also los. Und was soll ich dir sagen? – die sechs kamen tatsächlich später an Bord und verfolgten mich. Gibt er mir eine Eskorte mit? fragte ich mich. Doch weitere Mutmaßungen hatten keinen Sinn. Ich schüttelte sie nach der Landung ab und fuhr zu Floras Haus. Dann tat ich, als hätte ich überhaupt noch keine Vermutungen angestellt, und wartete ab, was du tun würdest. Als du mir halfst, die Kerle zu beseitigen, war ich äußerst verwirrt. Warst du wirklich überrascht, oder spieltest du mir das nur vor, wobei du ein paar von deinen Gefolgsleuten opfertest, um mich über etwas im unklaren zu lassen? Also gut, sagte ich mir, stell dich unwissend, mach mit, sieh zu, was er vorhat. Ich war der perfekte Partner für die Rolle, die du spielen mußtest, um deinen Gedächtnisverlust zu vertuschen. Als ich die Wahrheit erfuhr, war es zu spät. Da waren wir bereits unterwegs nach Rebma, und kein Detail meiner Erlebnisse hätte dir etwas bedeutet. Später, nach der Krönung, habe ich auch Eric nichts von der Sache erzählt. Ich war sein Gefangener und ihm nicht gerade wohlgesonnen. Dabei spielte auch der Gedanke eine Rolle, daß meine Informationen eines Tages etwas wert sein mochten – zumindest meine Freiheit –, wenn die Gefahr jemals reale Formen annehmen sollte. Was Brand angeht, so möchte ich bezweifeln, ob mir irgend jemand geglaubt hätte, und selbst wenn, war ich der einzige, der genau wußte, wie jener Schatten zu erreichen ist. Kannst du dir vorstellen, daß Eric dies als Grund für meine Freilassung hätte gelten lassen? Er hätte nur gelacht und mich aufgefordert, mir eine bessere Geschichte auszudenken. Außerdem habe ich nie wieder von Brand gehört. Auch keiner der anderen scheint seither mit ihm in Verbindung gewesen zu sein. Vermutlich ist er inzwischen tot. Und das ist die Geschichte, die ich dir immer schon mal erzählen wollte, Corwin. Versuch du festzustellen, was das alles bedeutet.

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