10


»War das der Moment?«

Die weiße Ameisengestalt des Inspektors wandte den Kopf und blickte fragend auf Stone herab, und er fügte mit einer erklärenden Geste auf die reglose, nackte Gestalt auf dem chromschimmernden Untersuchungstisch hinzu: »Der Fehler in seiner Konditionierung?«

Der Inspektor zögerte einen Moment, als wäre er sich nicht ganz schlüssig, was er antworten sollte. Dann machte er eine Bewegung, die wohl seine Entsprechung zu einem menschlichen Kopfschütteln war.

»Nein. So etwas kommt vor. Nicht sehr oft, aber es kommt vor. Er war noch sehr jung damals, und es war noch zu viel von einem Menschen in ihm. Es muß später noch etwas anderes geschehen sein, etwas, von dem wir nichts wissen. Dieser Vorfall war uns bekannt.«

Stone wandte sich nachdenklich ab und sah wieder den bewußtlosen Megamann an. Obwohl Kyles Wille so sicher ausgeschaltet war wie eine Maschine, deren Stecker man herausgezogen hatte, spürte er immer noch Furcht vor der schlanken Gestalt. Waren es seine eigenen Schuldgefühle Kyle gegenüber - oder beruhte seine Beunruhigung auf dem sicheren Wissen, daß Kyle auch jetzt noch gefährlich war?

Sein Blick löste sich vom Gesicht des Megamannes, das im Schlaf sonderbar friedlich und entspannt wirkte, und suchte den großen Schirm über dem Bett, auf dem Kyles Gedanken umgesetzt in Bilder und Worte zu sehen waren. Im Moment erkannte er nichts als ein sinnloses Durcheinander von Bewegung, Farben und Formen. Er fragte sich, ob diese furchteinflößende Gedankenmaschine bei jedem Menschen funktionierte. Vielleicht war es auch gar nicht Kyle, sondern diese Umgebung, die ihm Angst machte. Alles hier war so ... anders. So völlig verschieden von dem, was er in den letzten Jahren gesehen hatte.

Selbst er, der vielleicht mächtigste Mensch auf diesem Planeten, hatte bisher nur wenig von der übermächtigen Technologie der Invasoren zu Gesicht bekommen. Und das wenige, was er gesehen hatte, war eher verwirrend als beeindruckend gewesen. Eine Technologie, die der der Erde des 20. Jahrhunderts in manchen Punkten überlegen, in anderen unterlegen war, die aber auf dem rücksichtslosen Einsatz von Material und Energie beruhte.

Was Stone in dieser Basis im Schatten des Eiffelturms gesehen hatte, das überstieg alles, was er sich in seinen kühnsten Träumen hatte vorstellen können. Es schien hier nichts zu geben, das nicht möglich war, nichts, das nicht von Maschinen und lautlos arbeitenden Computern erledigt wurde. Nicht zum ersten Mal, seit er aus den Schlaftanks der unterirdischen Bunkerstation gestiegen war und sich den Invasoren angeschlossen hatte, fragte er sich, wer sie wirklich waren, ohne aber eine Antwort zu finden.

»Wie lange wird die Untersuchung noch dauern?« fragte er.

»Bis wir gefunden haben, wonach wir suchen«, antwortete der Inspektor ruhig. »Es muß einen Fehler gegeben haben. Irgendein Vorfall, der übersehen wurde. Wir müssen wissen, was es war.«

»Das kann Wochen dauern«, sagte Stone ernst.

»Das stimmt«, antwortete der Inspektor.

»Und bis dahin ist Captain Laird wahrscheinlich schon tausend Meilen entfernt«, sagte Stone. »Oder auf einem anderen Kontinent.«

Der Inspektor wandte langsam den riesigen, dreieckigen Schädel und starrte ihn aus seinen kalten Facettenaugen an. »Der Aufenthaltsort von Captain Laird und ihren Begleitern ist uns bekannt«, sagte er.

Stone riß erstaunt die Augen auf. »Ihr wißt, wo ...«

»Die Gesuchten befinden sich in der Freien Zone.«

»Warum stehen wir dann noch hier herum?« fragte Stone erregt. »Wieso schickt ihr niemanden hin, um sie zu holen?«

»Dazu besteht im Augenblick keine Notwendigkeit«, antwortete der Inspektor.


*


Sie benutzten wieder die Metro, um zurückzufahren, aber sie stiegen an einer anderen Station aus. Auch an ihr waren die vergangenen fünfeinhalb Jahrzehnte nicht spurlos vorüber gegangen, und trotzdem machte alles einen sauberen, ja fast gepflegten Eindruck. Die elektrische Beleuchtung brannte, zu ihrer großen Überraschung funktionierte sogar die Rolltreppe noch.

Es war fast dunkel, als sie ins Freie traten. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, und das Licht war so dunkelgrün geworden, daß es beinahe schwarz wirkte; ein bizarrer Anblick, der Charity mehr als alles andere die absolute Fremdartigkeit dieser Welt verdeutlichte.

Um so erstaunlicher wirkte das, was sich rings um den alten Metroschacht erstreckte: eine fast völlig intakte Stadt. Wäre dieses unheimliche, schwarzgrüne Licht nicht gewesen, dann hätte sie meinen können, sich in einer Stadt des 20. Jahrhunderts zu befinden. Die Straße war breit und leer. Das einzige Grün, das sie sah, waren Pflanzen in liebevoll aufgestellten Kübeln. Doch als Charity sich aufmerksamer umblickte, merkte sie, daß einige Fenster geschwärzt und einige Dächer eingestürzt waren.

Erstaunt sah sie Barler an, und diesmal gelang es dem Franzosen nicht mehr ganz, den Ausdruck von Stolz von seinen Zügen zu vertreiben.

»Das ist also die Freie Zone?«

Barler nickte. »Was haben Sie erwartet? Ein paar verdreckte Steinzeitmenschen, die in Ruinen ohne Dächer hausen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Charity hastig. »Ich bin nur ein wenig überrascht. Ich habe drüben in Amerika andere Städte gesehen.«

»So?«

»Kommen sie niemals hierher?«

»Die Ameisen?« Barler schüttelte den Kopf. »Niemals. Jedenfalls nicht freiwillig.« Ein Schatten huschte bei diesen Worten über sein Gesicht. »Warum sollten sie auch?« fuhr Barler fort. »Wir tun ihnen nichts, und sie uns nichts. Das hier ist die Freie Zone.«

»Und Sie haben niemals versucht auszubrechen?«

Barler schürzte abfällig die Lippen. »Sie haben die Mauer gesehen, oder?«

Charity antwortete nicht mehr, sondern folgte dem Franzosen über die breite Straße auf ein mehrstöckiges weißes Gebäude zu. Obwohl es ebenfalls alt war und die Spuren schwerer Beschädigungen zeigte, die nur unzureichend beseitigt worden waren, machte es irgendwie einen offiziellen Eindruck. Eine geborstene Marmortreppe führte zu seinem Eingang hinauf. Die Halle lag im Schein einer doppelten Reihe Neonröhren. Charity begriff, daß sie sich in einem ehemaligen Hotel aufhielt. Die ehemalige Rezeption war noch erhalten, aber dahinter erhoben sich ein paar kleine Monitore.

»Das ist unsere Verwaltung«, erklärte Barler, dem ihr erstaunter Blick nicht entgangen war.

Charity sah noch einmal auf die Monitore. Sie war zu weit davon entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber es war unschwer zu sehen, daß die Kameras eine Anzahl großer Plätze zeigten, die sich kaum von der Straße unterschieden, die sie gerade überquert hatten.

»Was ist das?« fragte sie spöttisch. »Ein Verkehrsleitsystem?«

Barler sah sie verständnislos an.

»Es gibt auch hier ein paar Orte, die wir besser ständig im Auge behalten«, antwortete er. »Aber das erkläre ich Ihnen alles morgen. Jetzt bringe ich Sie zu Ihren Freunden.«

Charity wollte weitergehen, als eine Bewegung auf einem der Monitore ihre Aufmerksamkeit erweckte. Es war ein winziger, zweidimensionaler Schirm mit einem ziemlich miserablen Bild. Aber trotz aller Störungen und Streifen konnte sie die schwarzen Chitingestalten erkennen, die sich zwischen den Häusern bewegten ...

»Sagen Sie, Barler«, sagte Charity. »Habe ich Sie falsch verstanden, oder haben Sie vor kaum zehn Minuten behauptet, sie kämen niemals hierher?«

Barler blickte sie einen Moment lang betroffen an, und dann weiteten sich seine Augen überrascht, als sein Blick auf den Monitor fiel.

Ein erschrockener Ausdruck huschte über seine Züge, aber er sagte nichts, sondern war mit zwei Schritten bei dem betreffenden Bildschirm und löste einen altertümlichen Telefonhörer von der Gabel des Apparates, der darunter angebracht war. Charity versuchte vergeblich, die Worte zu verstehen, die er mit dem Teilnehmer am anderen Ende der Verbindung wechselte, nachdem er hastig eine Nummer gewählt hatte, aber Barler sprach so schnell, daß sie nichts von dem mitbekam, was er sagte.

Aber er wirkte deutlich verärgert, als er einhängte und sich wieder herumdrehte.

»Probleme?« fragte Charity spöttisch.

»Nein«, antwortete Barler gereizt. »Ich hatte lediglich befohlen, daß man diese Kamera abschaltet. Irgendein Narr hat es nicht getan.«

»Warum?« fragte Charity.

»Damit Sie es nicht sehen«, antwortete Barler geradeheraus.

Die Offenheit dieser Antwort überraschte Charity. »Damit wir was nicht sehen?«

»Die Moroni«, sagte Barler. »Bitte, verstehen Sie das jetzt nicht falsch. Ich war einfach der Meinung, daß es besser ist, wenn ich Ihnen und Ihren Freunden alles der Reihe nach zeige. Manches von dem, was Sie hier bei uns sehen, wird Sie verwirren.«

»Das stimmt«, bestätigte Charity. »Es ... verwirrt mich in der Tat, Wesen hier zu sehen, von denen Sie behauptet haben, daß sie niemals über den Fluß kämen.«

»Das tun sie auch nicht«, sagte Barler. »Was sie gebracht haben, was ...« Er brach ab, sah sie einen Moment nachdenklich an und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Sie haben mich vorhin gefragt, woher wir kommen«, sagte er schließlich.

»All diese Menschen hier.« Er lächelte matt und deutete auf den Monitor, dessen Bild in der gleichen Sekunde erlosch, als wäre seine Bewegung der Auslöser gewesen. »Von dort.«

Charity verstand nicht.

»Manchmal kommen sie hierher«, fuhr Barler fort.

»Sie ... bringen Kinder. Jungen, Mädchen ... meistens Säuglinge. Wir wissen nicht, wo sie herkommen oder warum sie das tun. Sie bringen sie einfach. Viele sind krank, viele sterben - aber die meisten bekommen wir durch.« Er seufzte. »Ich hätte es Ihnen gerne auf eine andere Art und Weise gezeigt, aber das Geheimnis der Freien Zone ist, daß sie uns hierher bringen, ohne daß einer weiß, warum.«

»Aber ich«, murmelte Charity. »Jedenfalls ... glaube ich es.«

Diesmal war es Barler, der sie fragend ansah.

»Die Kinder, von denen Kyle erzählt hat«, murmelte Charity, mehr zu sich selbst als an Barler gewandt. »Wir ... haben uns gefragt, was sie mit all den Kindern machen, die die Priesterinnen in das Shai-Taan bringen.«

»Was für Kinder?« fragte Barler. »Und was für Priesterinnen?«

Charity überhörte die Frage. »Die wenigsten werden zu Megakriegern gemacht«, fuhr sie fort. »Natürlich ... sie ... sie testen sie. Und die, die nicht geeignet sind, kommen hierher.«

Offensichtlich verstand Barler keine Silbe von dem, was Charity gesagt hatte. Aber er ging auch nicht darauf ein, sondern wandte sich um. Sie hatte erwartet, daß sie die breite Treppe ansteuern würden, aber Barler begab sich nach rechts und schritt auf einen der drei Aufzüge zu. Erstaunt registrierte Charity, daß sich die Türen selbsttätig öffneten, als er sich ihnen näherte, und die Kabine dahinter hell erleuchtet war.

»Sie überraschen mich immer mehr, Barler«, sagte sie, während sie hinter ihm in den Lift trat. Der Franzose lächelte, drückte den Knopf für die dritte Etage und drehte sich um, als die Türen zuglitten.

»Für Sie mag das alles erstaunlich sein«, antwortete er. »Für mich ist es eher erbärmlich - wenn ich daran denke, wie es hier einmal aussah.«

Einen Moment lang schwieg Charity nachdenklich, dann fragte sie: »Woher wissen Sie, wie es war? Ich meine, einmal ganz abgesehen von dem Material, daß Sie brauchen, um hier alles weiter funktionieren zu lassen - woher haben Sie das Wissen?«

Barler bedachte sie mit einem sonderbaren Blick. »Captain Laird, Sie sind ein sehr ungeduldiger Mensch, bitte warten Sie bis morgen. Ich werde dann alle Ihre Fragen beantworten.«

Die Kabine hatte die dritte Etage erreicht und hielt an. Auch hier oben brannte nur jede vierte oder fünfte Lampe, aber die Helligkeit reichte aus, um Charity erkennen zu lassen, daß sich das Gebäude in einem ausgezeichneten Zustand befand. Entweder hatte es hier im Inneren keine Kämpfe gegeben, oder man hatte sich alle Mühe gemacht, ihre Spuren zu tilgen. Einige der vielen Türen standen offen, und Charity konnte erkennen, daß man die früheren Hotelzimmer offenbar zu Lagerräumen umfunktioniert hatte. In manchen standen Schreibtische und große, gefüllte Aktenregale, andere waren mit Kisten und Kartons fast bis unter die Decke vollgestopft.

»Beute«, erklärte Barler spöttisch. »Diese Stadt muß einmal sehr reich gewesen sein. Wir sind ziemlich viele, und wir leben jetzt seit vierzig Jahren hier, und trotzdem finden wir immer noch genug, um zu leben.«

»Wie groß ist Ihre Bevölkerung?« erkundigte sich Charity.

Barler zuckte mit den Achseln. »Wir haben uns nie gezählt«, antwortete er, »aber wir müssen ungefähr zehntausend Menschen sein.«

Zehntausend, dachte Charity. Das war viel - und doch entsetzlich wenig, wenn sie bedachte, daß die Shai-Priesterinnen seit vierzig Jahren Kinder in das Shai-Taan brachten, die ihren Familien fortgenommen worden waren. Was um alles in der Welt geschah mit den anderen? Hatten sie sie wirklich bei ihren Bemühungen getötet, sie in Wesen wie Kyle zu verwandeln? Oder hatte Kyle sie belogen, als er behauptete, es gäbe nur sehr wenige wie ihn? Charity weigerte sich, an eine dieser Möglichkeiten zu glauben. Es mußte noch eine dritte Erklärung geben.

Barler blieb vor einer Tür am Ende des Korridors stehen. »Kommen Sie, Captain Laird«, sagte er. »Ihre Freunde warten sicherlich schon.« Er öffnete die Tür, und Charity trat an ihm vorbei in den dahinterliegenden Raum.

Skudder, Net und Gurk saßen an einem kleinen Tisch unter dem Fenster und diskutierten offensichtlich erregt mit Jean und einer dunkelhaarigen jungen Frau, die nur wenig älter als Net war und Jeans Worte in ein fast akzentfreies Englisch übersetzte. Sie unterbrachen ihr Gespräch, und Skudder und Net sprangen auf und kamen ihnen entgegen, während Gurk sitzen blieb und sie mit finsteren Blicken musterte.

»Charity!« sagte Skudder mit offenkundiger Erleichterung. »Wie geht es dir?«

Charity wollte antworten, aber Barler trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde Sie jetzt allein lassen. Captain Laird kann Sie ja über alles informieren. Sie werden verstehen, daß ich noch eine Menge zu tun habe. Morgen früh stehe ich Ihnen dann zur Verfügung. Bis dahin werden sich Jean und Helen ...« Er deutete auf das dunkelhaarige Mädchen am Tisch, »... um Sie kümmern.«

Charity maß die junge Französin mit einem kurzen Blick. Sie sah freundlich aus und hatte ein offenes, sympathisches Gesicht.

»Helen ist meine Tochter«, fügte Barler hinzu und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Lächeln.

Charity ging zum Tisch und setzte sich. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war.

»Sie dürfen es meinem Vater nicht übelnehmen, wenn er mißtrauisch ist«, sagte Helen. »Immerhin hat er die Verantwortung für uns alle hier.« Das Mädchen hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Barler. Nur in ihren Augen glomm das gleiche energische Funkeln.

»Ihr Vater hat ja recht«, entgegnete Charity. »Ich an seiner Stelle wäre wahrscheinlich genauso mißtrauisch. Vor allem jetzt, nachdem ich diese Mauer gesehen habe.« Net sah sie fragend an, und Charity fuhr erklärend fort: »Es ist irgendeine Art von Energiefeld, durchlässig lediglich für Luft und Licht.«

»Wo wart ihr genau?« erkundigte sich Skudder. »Ich habe schon begonnen mir Sorgen zu machen. Ihr wart stundenlang weg.«

Charity zögerte einen Moment. Selbst die kleine Anstrengung, Skudder und den anderen von dem zu erzählen, was sie gefunden hatten, schien über ihre Kräfte zu gehen. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich auf ihre Glieder gelegt.

Es wurde sehr still im Zimmer, während Charity von ihren Erlebnissen sprach. Skudder und Net sahen sehr nachdenklich aus, und Gurk starrte stumm aus dem Fenster, vor dem der letzte Rest des grünen Tages verblaßte.

»Ich fürchte, ich ... verstehe nicht ganz«, brach Net schließlich das Schweigen, nachdem Charity geendet hatte. »Wenn dieser Bunker so wichtige Informationen enthält - warum haben sie ihn dann nicht schon längst gewaltsam geöffnet?«

»Weil diese Informationen zu wichtig sind«, antwortete Charity. »Sie wollen sie haben, aber nicht zerstören.«

Net sah sie fragend an. »Warum?«

»Weil sie Plünderer sind!«

Alle Blicke wandten sich erstaunt Gurk zu. Er hatte bisher kein Wort gesprochen, aber erstaunlicher noch als seine Worte, war die Art, wie er sie aussprach. Seine Stimme zitterte vor Haß.

»Was meinst du damit?«

Gurk blickte Charity einen Moment lang wortlos an, und sie begriff, daß er seine Worte schon wieder bedauerte. Trotzdem antwortete er: »Habt ihr euch nie gefragt, woher sie all ihre Waffen und Maschinen, Computer und Raumschiffe haben?«

Charity schüttelte den Kopf. Die Frage schien ihr so verrückt, daß sie ihr niemals wirklich in den Sinn gekommen war.

»Jedenfalls haben sie sie nicht selbst gebaut«, sagte der Zwerg. »Sie stehlen und rauben sich alles zusammen, was sie brauchen.«

»Das dürfte ein bißchen übertrieben sein«, sagte Skudder.

Gurk starrte ihn an. In seinen Augen funkelte es böse, und für einen Moment schien sich sein Zorn nun auf den Hopi richten zu wollen.

»Das ist es nicht!« behauptete er. »Sie stellen nichts selber her. Sie haben sich nie die Mühe gemacht, irgend etwas wirklich selbst zu tun, als zu rauben und zu brandschatzen.«

»Das ist doch Unsinn!« erwiderte Charity matt. »Du sprichst von einem Volk, das wahrscheinlich schon Dutzende von Planeten versklavt hat.«

»Dutzende?« Gurk lachte gequält. »Ja ... aber es ist trotzdem so, ob du es nun glaubst oder nicht. Warum sollte man sich die Mühe machen, irgend etwas selbst zu tun, wenn man es stehlen kann? Die Galaxis ist groß genug, und es gibt verdammt viele Planeten, die auszurauben sich lohnt.«

»Wie viele?« fragte Charity.

Gurk zuckte nur mit den Achseln. »Auf jeden Fall sehr viel mehr, als du dir auch nur vorstellen kannst«, antwortete er gereizt.

»Das würde auf jeden Fall erklären«, mischte sich Jean ein, dem Helen alles übersetzt hatte, »warum sie diese Basis ebenso zerstört haben wie die Bunkerstation, aus der Sie gekommen sind, Charity.«

Charity sah Jean überrascht an. Er lächelte. »Wir haben uns unterhalten, während Sie fort waren.«

Tatsächlich mußte Charity zugeben, daß seine Worte einer gewissen Logik nicht entbehrten. Die Moroni hatten SS01 überrannt und zu großen Teilen zerstört, aber sie hatten die Anlage nicht völlig vernichtet, was ihnen durchaus möglich gewesen wäre. Das war auch der einzige Grund, weshalb sie noch lebte.

»Wenn sich dort unten tatsächlich die genaue Position aller...« Er sah sie fragend an. »Wie haben Sie es genannt? Nato?« Charity nickte. »... aller Natodepots befindet«, fuhr Jean plötzlich aufgeregt fort, »dann bedeutet das, daß irgendwo dort draußen genug Waffen und Ausrüstung lagern, um eine ganze Armee auszurüsten.«

»Warum sollte das eine Rolle spielen?« fragte Charity leise.

»Weil wir uns dann vielleicht endlich wehren können!« antwortete der junge Franzose erregt. »Ich meine - wenn es uns gelingt, irgendwie durch diese verdammte Mauer zu kommen, oder wenn es sogar einen dieser Stützpunkte in unserer Stadt gibt ...«

»Wenn es ihn gäbe«, sagte Helen ruhig, »hätten wir ihn längst gefunden.«

Jean machte eine ärgerliche Geste. »Ihr habt ja auch die Festung nicht gefunden«, erwiderte er.

»Weil du uns nicht verraten hast, wo sie ist«, entgegnete Helen fast freundlich.

Charity sah das ärgerliche Aufblitzen in Jeans Augen und hob besänftigend die Hand. »Bitte«, sagte sie. »Keiner hat etwas davon, wenn ihr euch jetzt streitet. Ganz davon abgesehen, daß Helen wahrscheinlich recht hat. Und wenn wir an die Daten herankämen - es ist nicht gesagt, daß noch irgend etwas von all diesem Material existiert. Außerdem gibt es immer noch die Mauer.«

Jean runzelte verärgert die Stirn. »Sie haben gesehen, über welche Waffen die Festung verfügt«, sagte er.

»Und jetzt willst du hingehen und damit den ganzen Dschungel niederbrennen«, sagte Helen spöttisch. »Oder am besten gleich die Basis.«

»Warum nicht?« fragte Jean trotzig.

Das dunkelhaarige Mädchen seufzte. »Wirst du eigentlich nie erwachsen, Jean?« fragte es. »Du und diese anderen Narren, ihr begreift nie, daß wir hier nur leben, weil sie es uns gestatten.«

»Leben!« Jean lachte höhnisch. »Ein jämmerliches Leben, bis sie dich zur Jagd einladen!«

»Oder bis irgendein Trottel sie zu einem Angriff provoziert«, versetzte Helen.

»Hast du schon vergessen, was dir passiert ist?« fragte Jean. Seine Stimme zitterte. »Sie haben deine Eltern umgebracht. Sie hätten fast dich umgebracht - was muß noch passieren, damit du begreifst, daß wir nicht mehr als Spielzeug für sie sind?«

»Ihre Eltern?« fragte Charity.

Helen nickte. »Barler ist nicht mein richtiger Vater. Er hat mich zu sich genommen, nachdem meine Eltern auf einer Jagd umgekommen sind.«

Es war nicht das erste Mal, daß Charity diesen Begriff hörte, und diesmal erkundigte sie sich nach seiner Bedeutung.

»Ein kleiner Zeitvertreib von Barlers Freunden«, sagte Jean, ehe Helen ihre Frage beantworten konnte. »Ab und zu holen sie ein paar von uns über den Fluß und setzen sie im Dschungel aus. Wenn er es zurück bis zum Fluß schafft, dann überlebt er. Aber bisher hat es noch keiner geschafft.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Helen. »Außer ihr. Aber ihre Eltern kamen dabei ums Leben. Eines von diesen Ungeheuern hat sie umgebracht - vor ihren Augen.«

»Ist das wahr?« erkundigte sich Charity mitfühlend.

»Ja.« Zu ihrer Überraschung lächelte Helen. »Aber es macht mir nichts mehr aus, darüber zu reden. Es ist mehr als zwanzig Jahre her. Ich erinnere mich kaum noch, was wirklich passiert ist.«

Jean antwortete ärgerlich, aber Charity hörte gar nicht mehr hin. Mit einemmal glaubte sie jede Stunde, die sie jetzt ununterbrochen auf den Beinen waren, wie eine Zentnerlast auf sich zu fühlen. Sie war einfach nur müde.

Mit einem kaum unterdrückten Gähnen stand sie auf und wandte sich um. »Wißt ihr was?« fragte sie. »Ihr könnt meinetwegen weiter streiten, aber ich suche mir jetzt irgendeine Ecke, in die ich mich verkriechen kann.«

»Warten Sie«, sagte Helen und stand ebenfalls auf. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Charity nickte dankbar und folgte dem Mädchen. Sie verließen das Zimmer, überquerten den Korridor und betraten einen weiteren, kleineren Raum. Helen deutete auf ein breites, frisch bezogenes Bett und lächelte flüchtig, als Charity sich mit einem erleichterten Aufatmen darauf fallen ließ, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, Jacke oder Stiefel auszuziehen.

»Morgen früh zeige ich Ihnen die Stadt«, sagte sie, »wenn Sie das wollen.«

»Gern«, murmelte Charity mit geschlossenen Augen. Dann hob sie die Lider doch noch einmal und sah Helen an. »Tun Sie mir einen Gefallen, und legen Sie bei Ihrem Vater ein gutes Wort für Jean ein«, bat sie. »Immerhin wären wir ohne ihn nicht mehr am Leben.«

Helen machte eine vage Handbewegung. »Ihm passiert schon nichts«, antwortete sie. »Mein Vater wirkt oft strenger, als er ist. Er wird Jean schon nicht den Kopf abreißen.«

Charity wollte darauf antworten, aber noch bevor sie es tun konnte, war sie bereits eingeschlafen.

Загрузка...