Sie brauchten fast zwei Stunden, um ihr Ziel zu erreichen. Den Lastwagen zu stehlen hatte sich als leichter erwiesen, als Charity erwartet hatte; die beiden Männer, die in der Tiefgarage Wache taten, in der sich der Fahrzeugpark der Freien Zone befand, waren alles andere als aufmerksam gewesen. Und Helens Anwesenheit hatte ihr Mißtrauen völlig zerstreut. Vielleicht, dachte Charity, würden sie in Zukunft etwas weniger vertrauensselig sein - sobald es ihnen gelungen war, sich von den Fesseln zu befreien, die Skudder ihnen angelegt hatte.
Aber die Schwierigkeiten hatten erst begonnen, nachdem sie die Garage verlassen hatten. Die Straßen wurden immer schlechter, je weiter sie nach Norden kamen. Mehrere Male hatte Charity schon befürchtet, daß sie das Fahrzeug aufgeben müßten, und auf einer Strecke von zwei oder drei Meilen hatten sie sich nur im Schrittempo fahren können, weil der Asphalt von Unkraut und Wurzeln gesprengt worden war. Aber jetzt näherten sie endlich der Metro-Station, aus der Charity und Barler vor drei Tagen herausgekommen waren.
Charity gab Jean ein Zeichen, anzuhalten. Der Wald war sehr still, und sie wollte nicht, daß das Motorengeräusch oder das Scheinwerferlicht die Moroni frühzeitig warnte.
Jean lenkte den Wagen in den Schutz einer Ruine, schaltete den Motor ab und stieg aus. Skudder, Net, Helen und Gurk kletterten lautlos von der Ladefläche. Charity hatte Helen gesagt, was sie zu finden glaubte, aber das Mädchen hatte darauf bestanden, sie zu begleiten; trotz der Gefahr, in die sie sich damit begab, was Charity allerdings gut verstand. Sie hätte nicht anders gehandelt.
Trotzdem bestand sie darauf, daß Jean und Helen den Abschluß ihrer kleinen Gruppe bildeten, und schärfte ihnen ein, sofort die Flucht zu ergreifen, falls sie entdeckt oder gar angegriffen werden würden. Sie bedauerte, sich bei ihrem ersten Besuch den Weg nicht besser eingeprägt zu haben, denn in der Dunkelheit ähnelten sich die verwüsteten Straßenzüge, und die wenigen Unterschiede, die es doch gab, verwischte der Dschungel. Als sie die Kreuzung erreichten, an der sie damals mit Barler abgebogen waren, zögerte sie einen Moment unschlüssig. Dann blickte sie nach links - und sah den Gleiter.
Eine gewaltige, silbern schimmernde Scheibe hing scheinbar schwerelos zwei Handbreit über dem Boden, und aus einer offenstehenden Tür fiel kaltes, grünes Licht auf den geborstenen Asphalt. Ein zweites, gleichartiges Fahrzeug befand sich gute hundert Meter weiter entfernt. In dem blassen Lichtschimmer, der aus der offenstehenden Tür fiel, konnte Charity die schattenhaften Gestalten zahlreicher Ameisen sehen, die sich hektisch hin und her bewegten.
Lautlos schlich sie in die Deckung eines Mauerrestes und wartete, bis Skudder und die anderen ihnen gefolgt waren.
»Also, hört zu«, flüsterte Charity. »Skudder und ich gehen weiter. Ihr bleibt hier. Und ihr kommt uns nicht nach, ganz egal, was passiert.« Sie sah besonders Helen eindringlich an. »Hast du das verstanden? Du bleibst, wo du bist - außer, ihr werdet angegriffen. Sollte man euch entdecken, dann lauft weg und versucht, euch irgendwie durchzuschlagen.«
»Ich komme mit«, beharrte Helen.
Charity schüttelte entschlossen den Kopf. »Das wirst du ganz bestimmt nicht tun«, sagte sie. Helen wollte auffahren, aber Charity machte eine entschiedene Handbewegung. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Aber ihr hättet keine Chance, glaubt mir. Ich bin nicht einmal sicher, daß Skudder und ich es schaffen.«
Sie sah Net und den Gnom nacheinander an. »Ihr paßt auf die beiden auf«, sagte sie. »Wenn sie irgendeinen Unsinn versuchen, dann fesselt sie.«
Sie lief los, ehe Helen oder Jean noch Gelegenheit fanden, zu widersprechen. Geduckt näherten sie sich dem Botschaftsgebäude.
»Warum hast du die beiden überhaupt mitgenommen?« fragte Skudder im Flüsterton.
Charity zuckte im Laufen mit den Achseln und erstarrte für eine Sekunde, als sie eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Dann sah sie, daß es nur ein Tier war, das aufgeschreckt davonhuschte, und lief weiter.
»Glaubst du, sie wären zurückgeblieben?« erkundigte sie sich. »Außerdem«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, »ist es mir so lieber. Ich bin nicht sicher, daß sie nicht doch eine Dummheit gemacht hätte.«
»Hmm«, machte Skudder. »Würde es dir etwas ausmachen, mir zu verraten, was wir hier tun? Ich meine, ich hätte gerne gewußt, warum ich gleich erschossen werde.«
»Das verrate ich dir, wenn es soweit ist«, antwortete Charity lächelnd.
Sie näherten sich dem Botschaftsgebäude von Norden aus. Eine Anzahl großer Scheinwerfer tauchten die Fassade in fast taghelles Licht. Charity schätzte, daß es ungefähr dreißig Ameisen sein mußten, die sich vor dem Eingang bewegten. Zwischen den riesigen Insektenkreaturen sah sie auch die fleckigen Tarnanzüge mehrerer Männer, darunter auch einige, die sie schon am ersten Tag in der Freien Zone gesehen hatte. Charity sagte nichts dazu, und auch Skudder schwieg, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht verfinsterte sich.
Sie liefen um das Gebäude herum. Skudder versuchte zweimal, eine Frage zu stellen, aber Charity gebot ihm jedesmal mit einer hastigen Geste, still zu sein, und blieb erst stehen, als sie sich dem Haus bis auf zehn oder zwölf Schritte genähert hatten.
Ihr Blick glitt aufmerksam über die Rückseite des Hauses und blieb schließlich an einem der wenigen unbeleuchteten Fenster im Erdgeschoß hängen. Rasch und lautlos lief sie darauf zu, entfernte die scharfkantigen Glasreste, die noch im Rahmen steckten, und kletterte hinein. Skudder folgte ihr. Charity lief zur Tür und lauschte einen Moment, bevor sie vorsichtig die Klinke herunterdrückte und durch den schmalen Spalt spähte.
Der Korridor lag dunkel vor ihr, aber an seinem Ende war ein flackerndes, weißes Licht. Charity hörte das Geräusch harter Hornklauen auf dem Boden. Vorsichtig öffnete sie die Tür, warf einen letzten, sichernden Blick in beide Richtungen und lief dann los, fort von dem Licht und in Richtung Treppe, die am anderen Ende des Korridors begann. Skudder folgte ihr dichtauf.
Obwohl sie beide kaum ein Geräusch verursachten, kam es ihr vor, als hallten ihre Schritte so laut durch den Korridor, daß sie überall im Gebäude zu hören sein mußten. Und die wenigen Augenblicke, die sie brauchten, um die Treppe zu erreichen, schössen ihr hundert verschiedene Gründe durch den Kopf, warum ihr Vorhaben gar nicht gelingen konnte. Aber das Wunder geschah: Sie erreichten die Treppe, ohne daß sie entdeckt wurden.
»Wo willst du überhaupt hin?« fragte Skudder flüsternd.
Charity sah sich unschlüssig um, ehe sie mit einem Achselzucken antwortete.
»Ich suche das Büro des Botschafters.«
»Ich denke, du kennst dich hier aus?« fragte Skudder.
Charity machte eine ärgerliche Handbewegung und trat zwei, drei Schritte von der Treppe zurück. Sie hatten Glück. Sie fanden das Büro des Botschafters schon hinter der dritten Tür, die sie öffnete.
Charity schlich hinein, bedeutete Skudder mit Gesten, an der Tür Wache zu halten, und sah sich mit klopfendem Herzen um. Es war dunkel. Das bißchen Licht, das durch die zersplitterten Fenster hereindrang, erhellte den Raum kaum. Aber sie fand trotzdem auf Anhieb, wonach sie suchte.
Der Safe lag hinter der Wandverkleidung verborgen, die wie das meiste Mobiliar ein Opfer der Flammen geworden war. Charity riß die Reste des verschmorten Kunststoffs herunter, wobei sie einen solchen Lärm verursachte, daß Skudder die Augen verdrehte und heftig zu gestikulieren begann. Dann trat sie zurück, musterte den Safe eine Sekunde lang mit schräggehaltenem Kopf und nahm schließlich das Lasergewehr von der Schulter. Skudder starrte sie ungläubig an. »Was hast du vor?« fragte er in einem erschrockenen Flüsterton.
Charity zuckte mit den Achseln. »Ich versuche mich als Panzerknackerin«, antwortete sie spöttisch.
»Ich finde nicht, daß jetzt der richtige Moment ist, dumme Witze zu machen«, sagte Skudder verärgert. »Was zum Teufel suchen wir hier?«
»Die Frage muß lauten: Was zum Teufel suchen die Ameisen hier?« sagte Charity. »Irgendwo dort unten muß etwas sein, das verdammt viel für sie wert ist.«
»Diese Computeranlage«, vermutete Skudder.
»Ja«, sagte Charity. »Und ich Närrin habe Ihnen auch noch die Tür aufgeschlossen. Aber ich frage mich, was sie dort unten zu finden hoffen.«
»Reicht das, was du selbst aufgezählt hast, nicht aus?« fragte Skudder. »Eure gesamten Waffen? Vorräte, Bunker, Depots ...«
Charity schüttelte den Kopf. »Nein. Das könnten sie leichter haben, Skudder. Dort unten können sie eine komplette Aufstellung finden, aber wenn sie nur auf Beute aus wären, hätten sie diese Anlage kaum fünfzig Jahre lang unangetastet gelassen.«
»Ich fürchte, ich komme nicht mehr ganz mit«, gestand Skudder.
»Ich auch nicht«, sagte Charity. »Im Ernst - ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, daß irgend etwas an Barlers Geschichte nicht stimmt. Wenn sie nur an den alten Waffendepots interessiert wären, hätten sie längst versucht, sich gewaltsam Zutritt zum Bunker zu verschaffen; auch auf die Gefahr hin, ihn zu zerstören.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein - dort unten muß etwas sein, das ungeheuer wertvoll für sie ist.«
»Und was?« fragte Skudder.
»Woher soll ich das wissen?« antwortete Charity gereizt. »Das einzige, was ich weiß, ist, daß sie es ganz bestimmt nicht bekommen werden.«
Skudder sah sie überrascht an. »Was hast du vor?« fragte er.
»Ich habe noch eine kleine Überraschung für unseren Freund Barler«, antwortete Charity. »Paß bitte an der Tür auf.«
Skudder ging zur Tür zurück, während sie die Infrarotoptik ihrer Waffe einschaltete. Dann drückte sie auf den Feuerknopf. Ein grellweißer, nadeldünner Lichtstrahl traf den Safe und fraß sich funkensprühend in den Stahl hinein. Charity beschrieb einen langsamen Halbkreis mit der Waffe, ehe sie den Finger wieder vom Feuerknopf nahm und zum Safe ging, um ihr Werk zu betrachten.
Sie hatte Mühe, ein enttäuschtes Stöhnen zu unterdrücken.
Der Laserstrahl hatte den Stahl kaum beschädigt.
»Was zum Teufel soll der Quatsch?« zischte Skudder.
»Ich muß den Safe öffnen«, antwortete Charity, ohne ihn anzusehen, »aber ich fürchte, es wird ziemlich lange dauern.« Sie blickte Skudder ernst an. »Glaubst du, daß du sie mir zehn Minuten vom Hals halten kannst?«
»Wenn sie einzeln und unbewaffnet kommen, vielleicht«, antwortete Skudder säuerlich.
Statt darauf etwas zu entgegnen, hob Charity wieder ihre Waffe, feuerte aber nicht, sondern legte sie auf den Schreibtisch und ging zum Fenster. So gut es ging, verschloß sie die Öffnungen mit den Resten der verrotteten Gardinen, ehe sie ihren Laser wieder aufnahm und sorgsam zielte. Zum zweiten Mal fraß sich ein grellweißer Strahl gebündelter Lichtenergie in den Stahl.
Es dauerte länger als zehn Minuten, die Safetür aufzuschweißen. Der Tresor war nicht nur aus besonders widerstandsfähigem Stahl gefertigt, seine Tür war auch überraschend dick, Charity mußte ihre Arbeit mehrere Male unterbrechen, als auf der Oberseite ihrer Waffe eine kleine rote Lampe blinkte und eine Überhitzung anzeigte. Aber schließlich schaffte sie es. Der Strahl schlug keine Funken mehr, sondern verschwand plötzlich im Inneren des Safes, und für den Bruchteil einer Sekunde flammte grelles Feuer auf, ehe Charity erschrocken die Hand vom Auslöser nahm und hastig die Leistungsabgabe der Waffe verringerte. Wenn sie das, was sich hinter der Safetür befand, zerstörte, war alles umsonst gewesen.
»Ich glaube, da kommt jemand«, sagte Skudder, als sie die Waffe wieder ansetzte und das Auge gegen die Zieloptik preßte.
»Ich bin gleich fertig«, antwortete Charity. Sie schoß. Der Strahl war kaum noch zu sehen, aber seine Energieentwicklung reichte, die verbliebene, millimeterdünne Metallschicht langsam durchzubrennen. Behutsam, Millimeter für Millimeter, brannte Charity das Schloß des Safes völlig heraus.
Auf dem Korridor erklangen Schritte, und plötzlich brüllte Skudder: »Verdammt, beeil dich! Wir bekommen Besuch!«
Plötzlich erscholl ein schriller Pfiff, und wenig später hörte Charity, wie Skudder fluchte und losfeuerte. Kurz darauf gab es eine Explosion draußen auf dem Gang. Ein zweites, noch schrilleres Pfeifen beantwortete den Lärm. Zwei, drei nadeldünne weiße Laserblitze verfehlten Skudder nur um Haaresbreite und setzten die Kunststoffverkleidung hinter ihm in Brand. Ein weiterer Schuß durchschlug die Tür dicht neben seiner linken Schulter und ließ die Vorhänge in Flammen aufgehen.
Mit einem dumpfen Poltern brach das Schloß des Safes heraus und krachte zu Boden. Charity legte die Waffe aus der Hand, sprang hastig auf und rannte zum Tresor. Sein Inneres war mit verschmortem Papier gefüllt. Sie fegte alles heraus, tastete mit den Fingerspitzen über die Rückwand des Safes und fand einen Augenblick später, wonach sie suchte. Ein Klicken ertönte, als ihre Hand den Kontakt niederdrückte, dann teilte sich die scheinbar massive Hinterwand des Stahlschrankes und gab den Blick auf einen winzigen, mit einem kleinen Monitor versehenen Schaltkasten frei.
Skudder feuerte immer heftiger. Vom Gang drang flackernder Feuerschein herein, den Geräuschen nach zu schließen, mußte dort eine halbe Ameisenarmee aufmarschieren, die Skudders Feuer erwiderte. Es erschien Charity fast wie ein Wunder, daß er noch nicht getroffen worden war.
Sie streckte abermals die Hand aus und konzentrierte sich wieder auf den kleinen Schaltkasten. Ihre Finger zitterten, während sie sich der Zehnertastatur neben dem Miniaturbildschirm näherte. Sie hoffte, daß noch alles so war, wie sie es in Erinnerung hatte.
Langsam drückte sie die neunstellige Kennzahl in die Tasten und wartete mit angehaltenem Atem. Einige Sekunden vergingen, dann füllte sich der Bildschirm mit grünem Licht und mikroskopisch feinen Schriftzeichen, die sie aufforderten, ihre persönliche Kennzahl einzugeben. Charity tat es, und neben dem Monitor glomm ein stecknadelkopfgroßer, roter Leuchtpunkt auf.
Plötzlich begann Skudder zu schreien und brachte sich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit, als eine Feuerwolke die Tür traf und fast das Zimmer in Brand setzte.
Charity überzeugte sich mit einem hastigen Blick davon, daß er nicht ernstlich verletzt war, wandte sich wieder dem Safe zu und löste hastig die Ausweisplakette von ihrem Hals. Ihre Finger zitterten so heftig, daß sie Mühe hatte, die kleine Metallscheibe in das Lesegerät unter der Tastatur zu schieben.
Wieder vergingen Sekunden, in denen Skudder ihr irgend etwas zuschrie, das sie nicht verstand, während er gleichzeitig auf die in hellen Flammen stehende Tür feuerte, offensichtlich nicht mehr gezielt, sondern nur noch, um eine Art Sperrfeuer zu legen.
Endlich wechselte die Farbe der Leuchtanzeige von Rot auf Grün. Charity hob abermals die Hand und gab rasch hintereinander fünfstellige Zahlengruppen ein.
Zweimal vertippte sie sich dabei, und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Eine dritte Chance würde sie nicht bekommen.
Als sie die letzte Ziffer eingetastet hatte, wechselte das Licht neben dem Bildschirm wieder von Grün auf Rot, und auf dem Miniaturmonitor erschien die Nachricht, auf die sie gewartet hatte:
SELBSTZERSTÖRUNGSSEQUENZ AKTIVIERT! BITTE GEBEN SIE DIE LETZTEN DREI ZIFFERN EIN! WARNUNG: DER BEFEHL IST NICHT WIDERRUFBAR!
»Cherry!« brüllte Skudder mit überschnappender Stimme. »Ich weiß nicht, was du da tust - aber was immer es ist, tu es schnelll«
Charity atmete tief ein, zögerte eine letzte Sekunde - und, drückte dann dreimal die 7.
Ein helles Klicken erscholl. Das Gerät gab ihren Ausweis wieder frei, und plötzlich änderte sich auch die Farbe des Monitors von Grün auf Rot.
SELBSTZERSTÖRUNGSANLAGE AKTIVIERT! SIE HABEN FÜNFZEHN MINUTEN, UM DAS GEBÄUDE ZU VERLASSEN!
Hastig nahm Charity wieder ihren Ausweis an sich, befestigte ihn an der Kette und drückte auf den verborgenen Schalter, der die Rückwand des Safes wieder zugleiten ließ. Hinter ihr erscholl ein überraschter Schrei, dann ein dumpfes Poltern und die Geräusche eines Kampfes, und als Charity herumfuhr, sah sie Skudder, der sich ebenso wütend wie vergeblich gegen zwei Moroni zu wehren versuchte, die irgendwie durch die Flammenhölle am Eingang gekommen waren. Sie hob ihre Waffe.
»Ich würde das nicht tun«, sagte eine Stimme von der Tür her.
Charity erstarrte. Langsam senkte sie den Laser wieder und sah Barler an, der unter der brennenden Tür stand und mit einem Lasergewehr auf sie zielte.
»Seien Sie vernünftig, Captain Laird«, sagte Barler ruhig. »Ich glaube, Sie wissen, wann Sie verloren haben. Zwingen Sie mich nicht, Sie zu verletzen.«
Charity legte ihren Laser zu Boden und wandte sich an Skudder, der sich noch immer im Griff der beiden riesigen, vierarmigen Insektenkreaturen aufbäumte.
»Laß es«, sagte sie müde, »er hat recht.«
»Das ist sehr vernünftig von Ihnen, Captain Laird«, sagte Barler. Er kam näher, wobei er seine Waffe weiter drohend auf Charity gerichtet hielt. »Darf ich fragen, was Sie hier suchen?«
»Das dürfen Sie«, antwortete Charity kalt, »aber ich werde nicht antworten.«
Barler lächelte flüchtig, blickte einen Moment abwechselnd Skudder und sie an und senkte endlich sein Gewehr. Sein Blick fiel auf den Safe hinter ihr. Er runzelte die Stirn, trat an ihr vorbei und blickte einen Moment lang verwirrt auf den vollkommen leeren Tresor. Dann beugte er sich vor und tastete über die Rückwand. Es dauerte nur Sekunden, bis sich das klickende Geräusch wiederholte und die Metallplatte abermals beiseite glitt.
Barler stieß einen überraschten Laut aus, als er die kleine Computertastatur erblickte - und dann weiteten sich seine Augen, als er die Schrift auf dem Monitor sah:
SELBSTZERSTÖRUNGSSEQUENZ AKTIVIERT! SIE HABEN NOCH DREIZEHN MINUTEN, UM DAS GEBÄUDE ZU VERLASSEN!
Eine Sekunde lang erstarrte er, dann fuhr er mit einer wilden Bewegung herum und sah sie einen weiteren Herzschlag lang voll Haß an. »Ich muß gestehen, ich habe Sie unterschätzt, Captain Laird«, sagte er kalt. »Schalten Sie es ab!«
»Das kann ich nicht«, antwortete Charity.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Barler.
»Das ist Ihr Problem«, gab Charity zurück.
»Ich könnte Sie dazu zwingen!«
»Vermutlich«, gestand Charity, »aber nicht in dreizehn ...« Sie warf einen Blick auf den Monitor. »... in zwölf Minuten.«
»Ich vermute, es würde auch nichts nützen, wenn ich Sie und Ihren Freund hier zurücklasse und darauf hoffe, daß Ihnen Ihr eigenes Leben wichtiger ist«, sagte Barler.
Charity nickte. »Das ist richtig.«
Wieder starrte er sie eine Sekunde lang wortlos an. »Also gut!« sagte er schließlich. »Dann verschwinden wir von hier.« Er gab den beiden Ameisen, die Skudder hielten, einen befehlenden Wink. »Schafft ihn raus. Um Captain Laird kümmere ich mich selbst.«
Während die beiden Moroni den Hopi aus dem brennenden Zimmer zerrten, hob Barler Charitys Waffe auf, hängte sie sich über die Schulter und richtete sein eigenes Gewehr wieder auf sie. »Bitte«, sagte er, »zwingen Sie mich nicht, Sie zu erschießen, Captain Laird. Ich weiß, wie gefährlich Sie sind.«
»Da haben Sir mir einiges voraus«, antwortete Charity verächtlich. »Bis vor zwei Stunden wußte ich noch nicht, wie gefährlich Sie sind.«
Barler maß sie mit einem sonderbaren Blick, den sie im ersten Moment nicht einordnen konnte. Dann lächelte er plötzlich, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht. Er wiederholte seine auffordernde Geste mit dem Gewehr und deutete auf die Tür. »Wir sollten jetzt wirklich gehen«, sagte er. »Es wird hier allmählich ungemütlich.«
Skudders Laserfeuer hatte den Korridor in eine Hölle aus Feuer und Rauch verwandelt. Auch die Treppe stand in Flammen. Barler wies auf die offenstehenden Türen eines Aufzuges am anderen Ende des Korridors. Charity betrat ihn, lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Rückwand und sah unbeteiligt zu, wie Barler die Tür schloß und sich fast gemächlich zu ihr umdrehte.
»Zumindest weiß ich jetzt«, sagte sie, »warum Sie vor drei Tagen so sicher waren, daß wir keine Spione sind.«
Barler sah sie fast betrübt an. »Sie täuschen sich schon wieder, Captain Laird«, sagte er traurig. »Ich arbeite nicht für die Besatzer.«
»Natürlich nicht«, antwortete Charity spöttisch, »wie komme ich nur auf solch abwegige Ideen.«
Der Ausdruck von Trauer in Barlers Blick verstärkte sich noch. Aber er schwieg, bis der Aufzug das Erdgeschoß der Botschaft erreicht hatte und sich die Türen wieder öffneten.
Der große Raum war noch immer mit Ameisen angefüllt. Charity sah aber auch ein paar von Barlers Männern. Sie durchquerten die Halle, verließen das Gebäude und gingen rasch durch den Park zur Straße zurück. Die beiden Gleiter schwebten noch immer reglos über der Straße, aber sie hatten jetzt eine ganze Batterie greller Scheinwerfer eingeschaltet, die die Nacht im Umkreis einer halben Meile verscheuchten. Mehrere weitere, zusätzliche Türen hatten sich auf den Unterseiten der Flugscheiben geöffnet, und immer mehr und mehr Ameisen traten aus dem Gebäude heraus und verschwanden in den Gleitern.
Skudder stand einige Schritte neben einer der schimmernden Fliegenden Untertassen und wurde von zwei Ameisen festgehalten. Hinter ihm hatten zwei von Barlers Männern Aufstellung genommen - und aus der anderen Richtung näherten sich Net, Gurk, Jean und Barlers Tochter! Sie gingen widerwillig und mit erhobenen Händen vor vier bewaffneten Ameisen.
Barler sah seine Tochter einen Moment lang wortlos an, dann drehte er sich wieder zu Charity herum und sagte: »Sie hätten Helen nicht mit hineinziehen sollen, Miss Laird.«
»Das hat sie nicht«, antwortete Helen an Charitys Stelle.
Ihr Vater betrachtete sie mit einem traurigen Lächeln. »Du mußt sie nicht verteidigen, Helen.«
»Aber das tu ich nicht!« antwortete Helen. Ihre Stimme bebte vor Zorn. »Captain Laird wollte nicht, daß ich mitkomme. Aber ich habe darauf bestanden. Ich wollte mich mit eigenen Augen überzeugen.«
»Wovon?« fragte Barler beinahe freundlich.
»Davon, daß sie recht hat«, antwortete seine Tochter. Charity sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich ... ich wollte es nicht glauben. Aber sie hat recht. Du bist ein Verräter. Du arbeitest für sie.«
Barler setzte zu einer Antwort an, gab dann aber den Ameisen, die Helen und die anderen bewachten, ein Zeichen, sie zu Skudder hinüberzubringen.
»Sind wir hier sicher?« fragte er, als er sich wieder zu Charity herumdrehte.
Sie nickte.
»Sagen Sie bitte die Wahrheit, Captain Laird«, bat Barler. »Niemand gewinnt etwas, wenn wir alle umkommen.«
»Es besteht keine Gefahr«, antwortete Charity. Sie machte eine erklärende Geste auf die Ruinen, die die Straße in beiden Richtungen flankierten. »Das hier war einmal eine lebendige Stadt, Barler. Glauben Sie, wir wollten Hunderte von unschuldigen Leuten umbringen?«
»Nein«, antwortete Barler. »Ich glaube auch nicht, daß Sie Ihre Freunde und sich selbst opfern würden, nur um ein paar Moroni umzubringen und zwei Gleiter zu zerstören.« Er schien noch mehr sagen zu wollen, zog aber statt dessen ein kleines Funkgerät aus der Jackentasche und hielt es an die Lippen.
»Kommt jetzt raus«, sprach er ins Mikrophon. »Ihr habt noch sechs oder sieben Minuten.«
»Wen haben Sie gewarnt?« fragte Charity, als er das Gerät ausschaltete und wieder einsteckte. »Ihre Männer - oder Ihre vierarmigen Freunde?«
»Sie sind nicht meine Freunde«, antwortete Barler ruhig.
»Sicher«, sagte Charity.
Barler seufzte. »Bitte, Captain Laird ...« begann er, schüttelte dann den Kopf und machte eine fast resignierend wirkende Handbewegung. »Also gut«, sagte er. »Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären, aber nicht hier.« Er deutete zu Helen und den anderen hinüber, und Charity folgte ihm.
Skudder hatte endlich aufgehört, sich gegen den Griff der beiden Ameisenwesen zu wehren, aber er starrte Barler ebenso haßerfüllt an wie Helen. »Bist du jetzt zufrieden?« fragte sie ihren Vater.
»Bitte, Helen«, sagte Barler fast flehend. »Hör mir einfach fünf Minuten zu. Vielleicht wirst du mich danach verstehen.«
»Eigentlich«, antwortete seine Tochter, »brauchst du gar nichts zu erklären. Ich verstehe dich auch so. Also hatten Jean und die anderen doch recht.«
»Sie verdammter Verräter!« sagte Jean. »Was haben Sie jetzt mit uns vor? Wollen Sie uns auf der Stelle erschießen - oder liefern Sie uns an Ihre Freunde aus?«
»Euch wird nichts geschehen«, antwortete Barler. »Ich weiß, was ihr denkt. Aber glaubt mir, ich arbeite nicht für sie. Das habe ich nie getan.«
»Natürlich nicht!« sagte Jean aufgebracht. »Deshalb haben Sie auch jeden Versuch im Keim erstickt, uns endlich zu wehren.«
»Ich habe es getan, um euch zu beschützen!« verteidigte sich Barler. »Ja, verdammt! Von mir aus nennt mich einen Verräter. Es stimmt - ich habe ab und zu mit ihnen geredet, und ich habe das eine oder andere Geschäft mit ihnen gemacht. Aber ich habe es nur getan, um unser aller Leben zu schützen.«
»Deshalb haben Sie uns auch jetzt verraten, nicht wahr?« fragte Skudder wütend.
»Ich mußte es tun«, antwortete Barler. Er wandte sich an Charity. »Bitte, Captain Laird, versuchen Sie, mich zu verstehen. Ich habe Ihnen erzählt, welch großen Wert sie darauf legten, Zugang zu dieser Basis zu bekommen.«
»Und Sie haben ihn ihnen verschafft«, sagte Charity bitter. »Hat es sich wenigstens gelohnt?«
»Ja«, antwortete Barler ernst. »Vielleicht hat es unser aller Leben gerettet, sogar Ihres, Captain Laird.«
»Oh, wie großzügig«, sagte Charity spöttisch, aber Barler blieb ernst.
»Ich meine es ernst, Captain Laird«, sagte er. »Ich habe mit dem Kommandanten der Basis gesprochen. Er verlangt nicht einmal Ihre Auslieferung. Sie können bei uns bleiben, solange Sie wollen.«
»Als Gefangene«, vermutete Charity.
Barler schüttelte den Kopf. »Als Bürger der Freien Zone«, antwortete er. Er machte eine Geste auf das Botschaftsgebäude. »Das da war alles, was sie haben wollten. Ich weiß nicht, wie sie reagieren werden, wenn sie erfahren, was Sie getan haben. Aber ich glaube nicht, daß Ihnen etwas geschehen wird.«
»Natürlich nicht«, mischte sich Skudder spöttisch ein. »Sie werden uns einen Orden verleihen, vermute ich.«
»Begriffe wie Rache oder Vergeltung sind ihnen fremd«, antwortete Barler ruhig.
»Du hast sie verkauft!« sagte seine Tochter. »Du hast sie ...«
»Meinetwegen nenne es so«, unterbrach sie ihr Vater. »Ich weiß, daß du mich jetzt haßt, Helen. Aber es mußte sein. Wir müssen uns mit ihnen arrangieren. Es ist der einzige Weg, um zu überleben.«
»Du elender Feigling!« antwortete Helen.
Als ihr Vater antworten wollte, zuckte ein grellweißer Blitz herab. Charity fuhr erschrocken herum, darauf gefaßt, das Botschaftsgebäude in einer Explosion auseinanderfliegen zu sehen, aber das Haus war unbeschädigt.
Einen Augenblick später rollte ein dumpfes, lang anhaltendes Grollen über den Himmel.
»Was zum Teufel war das?!« rief Skudder.
Ein zweiter, noch viel grellerer Blitz zerriß die Dunkelheit, und beinahe gleichzeitig begannen im Inneren der beiden Flugscheiben dünne, hohe Sirenentöne zu heulen.
Charity sprang erschrocken zur Seite, als eine Ameise an ihr vorüberhastete und im Inneren des Gleiters verschwand. Aus dem Gebäude stürmten plötzlich Dutzende von schwarzen, vielgliedrigen Insektengestalten hervor und rannten auf die Gleiter zu. Auch die Ameisen, die bisher Skudder und die anderen bewacht hatten, fuhren auf der Stelle herum und stürmten zu ihren Fluggefährten. Barler gab ihnen mit hastigen Gesten zu verstehen, daß sie sich zurückziehen sollten, und befahl gleichzeitig einige seiner Männer heran, um weiter auf die Gefangenen aufzupassen. Die grellen Scheinwerfer an den Außenseiten der Gleiter erloschen, gleichzeitig begann in ihrem Inneren ein hoher, vibrierender Summton zu ertönen, und Charity begriff, daß die beiden Schiffe starten würden.
»Was war das?« rief Skudder noch einmal.
Barler zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, antwortete er nervös. »Aber es kam aus der Basis. Von der anderen Seite des Flusses.«
Das grelle Heulen aus dem Inneren der Gleiter wurde lauter, während die Türen sich schlössen, obwohl längst noch nicht alle Ameisen an Bord der Schiffe waren. Charity und die anderen wichen hastig auf die andere Seite der Straße zurück, als die beiden Flugscheiben in die Höhe schössen.
Eine Sekunde später explodierte eine von ihnen.
Es ging so schnell, daß Charity nicht einmal Zeit fand, die Augen zu schließen, sondern direkt in den grellweißen Feuerball hineinblickte, in den sich das Schiff verwandelte. Ein ungeheures Dröhnen erklang, und im nächsten Augenblick überzog sich der Himmel mit einem Teppich aus brodelnden Flammen, aus dem Trümmer herabregneten, die wie brennende Meteore in den Wald und die Häuser einschlugen.
Die Druckwelle riß sie alle von den Füßen. Charity fiel, rollte sich instinktiv über die Schulter ab. Noch ehe Barler überhaupt begriff, wie ihm geschah, war sie bei ihm, schmetterte ihm die Handkante gegen den Hals und entriß ihm das Gewehr. Blitzschnell hob sie den Laser, richtete seinen Lauf auf Barlers Stirn und stellte die Waffe gleichzeitig auf höchste Energieabgabe ein.
»Eine Bewegung, und Sie sind tot«, sagte sie leise.
Barler schien ihre Entschlossenheit zu spüren, denn er rührte sich nicht und hob ganz langsam die Hände und wich einen halben Schritt vor ihr zurück. »Bitte tun Sie es nicht«, sagte er ruhig. »Sie täuschen sich, Captain Laird. Ich bin nicht der, wofür Sie mich halten.«
Charity zögerte. Instinktiv spürte sie, daß Barler zumindest in diesem Moment nicht log. Und daß es falsch gewesen wäre, ihn zu töten. Ihre Finger glitten über den Schaft der Waffe, fanden den kleinen Schalter, nach dem sie suchten, und legten ihn um. Barlers Augen weiteten sich vor Schrecken, als er begriff, was sie vorhatte, aber seine Reaktion kam zu spät: Charity drückte ab, und das Lasergewehr spieh einen kurzen, grellweißen Blitz aus, der Barlers Nervensystem auf der Stelle lähmte. Lautlos brach er in die Knie.
Helen schrie auf und war mit einem Satz bei ihrem Vater, aber Charity riß sie zurück, als sie sich über ihn beugen wollte. »Ihm ist nichts passiert«, sagte sie hastig. »Er lebt. Ich habe ihn nur betäubt.«
Helen schlug ihre Hand beiseite und funkelte sie an. Aber Charity gab ihr keine Gelegenheit, irgend etwas zu sagen, sondern schob sie mit einer energischen Bewegung zur Seite und richtete die Waffe auf den Bewußtlosen. »Kommen Sie ihm nicht zu nahe«, sagte sie. »Ich bin nicht sicher, ob er wirklich bewußtlos ist.«
Auf Helens Gesicht erschien ein fragender Ausdruck. »Wie meinen Sie das?«
Statt zu antworten, befahl Charity Skudder mit einer Kopfbewegung, auf sie aufzupassen, und ließ sich dann vorsichtig neben Barler auf die Knie sinken. Ihre Finger glitten über seinen Hals und tasteten nach seinem Puls, der ruhig und sehr gleichmäßig ging. Sie war immer noch nicht sicher, ob er wirklich bewußtlos war oder nur den Ohnmächtigen spielte - aber dieses Risiko mußte sie in Kauf nehmen.
Sie stand wieder auf, drehte sich zu Helen um - und stieß einen gellenden Warnschrei aus!
Hinter Helen und den anderen war ein halbes Dutzend Ameisen erschienen. Und es waren keine gehorsamen Arbeiter mehr, sondern Krieger, die mit angelegten Waffen herangestürmt kamen!
Einer von Barlers Männern trat den Kreaturen entgegen, hob die Hand und brach mit einem überraschten Keuchen in die Knie, als das Geschöpf seine Laserwaffe auf ihn richtete und abdrückte.
Helen schrie entsetzt auf, während sich Net gedankenschnell auf Jean warf und ihn zu Boden riß und Gurk schreiend im Gebüsch verschwand. Charity warf Skudder ihren Laser zu, fuhr herum und nahm die Waffe an sich, die Barler sich über die Schulter gehängt hatte.
Plötzlich wimmelte es überall von Ameisen. Während Skudder, Charity und die Handvoll von Barlers Männern, die den unerwarteten Angriff überlebt hatten, das Feuer erwiderten und die Ameisen niederstreckten, stürmten aus dem Botschaftsgebäude immer mehr und mehr schwerbewaffnete Insektenkreaturen heran.
»Zurück!« schrie Charity. »Verteilt euch!«
Hastig zogen sie sich in den Schutz des Dschungels zurück. Auch drüben, auf dem Botschaftsgelände, blitzte plötzlich grelles Laserfeuer auf, als sich einige von Barlers Männern, die das Anwesen noch nicht verlassen hatten, plötzlich ebenfalls von den Ameisen angegriffen sahen.
Ein hohes, rasend schnell näherkommendes Heulen ließ sie aufschauen. Der Flammenteppich, den der explodierende Gleiter über dem Himmel ausgebreitet hatte, war erloschen, aber an seiner Stelle raste jetzt die zweite Flugscheibe direkt auf den Wald zu, wo Charity und die anderen Deckung gesucht hatten. Instinktiv preßte sie sich gegen den Boden und wartete darauf, daß der Gleiter das Feuer eröffnete. Aber statt dessen kippte die Flugscheibe über die linke Flanke ab und vollführte eine Drehung. Ein grellweißer Energieblitz schnitt dort durch die Luft und ließ eines der Häuser am Ende der Straße explodieren. Und eine Sekunde später jagte eine zweite, dreißig Meter durchmessende Flugscheibe über die Straße!
Ihr Anblick war so bizarr, daß Charity für einen Moment aufhörte, auf die heranstürmenden Ameisen zu feuern, und voller ungläubigem Staunen zusah, wie der zweite Gleiter die erste Scheibe verfolgte und auf sie schoß - und schließlich traf.
Der Treffer reichte nicht aus, das Schiff explodieren zu lassen, aber es wurde herumgewirbelt, trudelte einen Moment lang hilflos durch die Luft und begann schließlich mit immer schriller kreischenden Maschinen zu Boden zu sinken.
Charity wandte hastig den Kopf und schloß die Augen, als der Gleiter zwei oder drei Straßenzüge entfernt aufschlug und in einer ungeheuerlichen Explosion auseinanderflog. Eine Druckwelle fegte über den Wald, gefolgt von einer Woge kochender, glühendheißer Luft, die überall in den Häusern kleine, flackernde Brände entfachte. Charity preßte sich mit angehaltenem Atem gegen den Boden, dann sah sie auf und blinzelte aus tränenden Augen zur Botschaft hinüber.
Die Druckwelle hatte auch dort alles von den Füßen gefegt. Doch die Ameisen erhoben sich bereits wieder - und setzten ihren unterbrochenen Angriff fort, als wäre nichts geschehen!
Die wenigsten von ihnen erreichten die Straße. Wieder zerriß ein schrilles Heulen die Nacht, und plötzlich schwebte der Gleiter wieder über der Straße. Seine Laserkanonen blitzten auf und verwandelten das Botschaftsgebäude und die meisten Ameisen in kochende Lava.
Charity begriff, daß sie vielleicht doch noch eine letzte Chance hatten. Schnell sprang sie auf die Füße, rannte zu Skudder und Net hinüber und gab einen einzelnen Schuß auf eine Ameise ab, die den Angriff irgendwie überlebt hatte. Das Wesen verging in einem grellen Blitz, und fast im gleichen Augenblick feuerte auch Skudder und tötete die letzte verbliebene Ameise.
Dann war der Kampf vorüber. Die Straße und ein großer Teil des Botschaftsgeländes hatten sich in einen weißglühenden Teppich aus Flammen verwandelt, und die wenigen Gestalten, die sich im zuckenden Feuerschein erhoben, hatten eindeutig menschliche Umrisse. Trotzdem blieb Charity noch einige weitere Sekunden stehen und überzeugte sich davon, daß wirklich keine Gefahr mehr drohte, ehe sie ihre Waffe senkte und sich nach Helen umsah.
Das Mädchen hatte seine Deckung verlassen und war zu Barler hinübergeeilt. Als Charity sich ihr näherte, bemerkte sie, wie Barler sich zu regen begann. Aber sie verzichtete darauf, noch einmal auf ihn zu schießen, sondern ließ sich neben seiner Tochter niedersinken und richtete nur drohend die Waffe auf seine Brust.
Barler öffnete die Augen. Im ersten Moment war sein Blick leer, aber dann kehrte das Leben in ihn zurück, und er sah Charity mit einer Mischung aus Enttäuschung und Zorn an.
»Was ist passiert?« fragte er. Seine Stimme klang matt.
Charity zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Aber irgend etwas scheint bei Ihren Freunden drüben auf der anderen Seite ziemlich schiefgelaufen zu sein.«
Das schrille Heulen des Gleiters, der abermals näher kam, ließ sie alle wieder aufschauen. Die riesige Flugscheibe glitt langsam über die Straße, schlug einen engen Kreis über den in Flammen stehenden Botschaftshof und gab noch einen letzten, einzelnen Laserschuß ab, der die Tür des Gebäudes traf und irgendwo in seinem Inneren etwas explodieren ließ. Dann schwebte der Gleiter tiefer.
Vielleicht war Charity die einzige, die nicht wirklich überrascht war, als die Tür des Gleiters aufglitt und eine Gestalt heraustrat. Gurk stieß ein überraschtes Keuchen aus, und auch Skudder fuhr zusammen und riß seine Waffe in die Höhe, aber Charity streckte rasch den Arm aus und drückte den Lauf des Gewehres wieder herunter.
»Nicht«, sagte sie.
Die Gestalt trat langsam die Metallrampe herunter, sah sich um und kam schließlich auf Charity zu.
Plötzlich fuhr Jean wie unter einem Hieb zusammen und stieß ein überraschtes Krächzen aus. »Der Kerl ist ... ein Jäger!« schrie er, während er anklagend auf die schlanke, dunkelhaarige Gestalt vor sich deutete. Auch einige der anderen Männer fuhren überrascht zusammen, und zwei, drei Waffen richteten sich auf Kyle, aber plötzlich erwachte auch Helen aus ihrer Reglosigkeit.
»Nein!« rief sie. »Schießt nicht. Ihr könnt ihm vertrauen!«
Charity sah das Mädchen überrascht an. Helen trat mit einem Schritt zwischen Kyle und die Männer, die auf ihn zielten, und sagte noch einmal: »Schießt nicht.«
»Der Kerl ist ein Jäger!« wiederholte Jean.
»Aber er wird uns nichts tun«, erwiderte Helen. »Bitte glaubt mir!«
»Geh zur Seite, Helen«, verlangte einer der anderen Männer und hob seine Waffe.
Helen schüttelte den Kopf und machte ganz im Gegenteil eine Bewegung, die sie vollends in die Schußlinie brachte. »Wir können ihm vertrauen!« sagte sie.
»Einem Jäger?« antwortete Jean schrill.
»Ich kenne ihn«, erwiderte Helen. »Er hat mir schon einmal das Leben gerettet.«
Charity blickte das Mädchen verblüfft an. »Sie hat recht«, sagte sie dann. »Er wird uns nichts tun.«
Zögernd senkten auch die anderen ihre Waffen. Aber das tiefe Mißtrauen spiegelte sich deutlich auf ihren Gesichtern.
»Bitte beeilen Sie sich, Captain Laird«, sagte Kyle ruhig. »Wir haben nicht sehr viel Zeit. Wahrscheinlich sind jetzt schon ein paar Kampfschiffe unterwegs.«
»Du traust dem Kerl doch nicht etwa?!« kreischte Gurk mit überschnappender Stimme. »Das ist doch nur ein neuer Trick!«
»Ich glaube nicht, daß wir eine große Wahl haben«, antwortete Charity. Gurk wollte auffahren, aber Charity gab Skudder einen Wink, und obwohl der Hopi alles andere als überzeugt zu sein schien, daß sie recht hatte, packte er den Gnom, klemmte ihn sich kurzerhand unter den Arm und lief an Kyle und Helen vorbei die Rampe hinauf. Dann folgte ihm auch Net.
Charity wandte sich langsam um, sah Barler an und gab ihm mit Blicken zu verstehen, ihr zu folgen.
»Warum haben Sie mich nicht erschossen?« fragte Barler leise.
»Weil ich glaube, daß es nicht nötig ist«, antwortete Charity. »Stimmt es, daß Ihre Tochter Kyle kennt?« fragte sie mit einer Kopfbewegung auf Helen und den Megamann.
Barler zögerte einen Moment. »Ja«, sagte er, »ich sagte Ihnen bereits, sie ist nicht wirklich meine Tochter. Ich habe sie adoptiert, nachdem ihre Eltern drüben im Dschungel ums Leben gekommen waren. Wir haben nie verstanden, wieso sie es überlebt hat. Aber ich glaube, ich weiß es jetzt.«
»Sie lieben sie wirklich«, murmelte Charity.
»Ja«, sagte er leise. »Das tue ich.«
»Aber Sie werden sie verlieren«, sagte Charity.
»Ich weiß«, antwortete Barler mit trauriger Stimme.
»Sie kann nicht hierbleiben. Sie hat zuviel gesehen, und sie ist zu intelligent, um sich den Rest nicht selbst zusammenzureimen, sobald sie Gelegenheit hat, in Ruhe nachzudenken. Sie weiß, wer Sie sind.«
Wieder nickte Barler und betrachtete Helen mit einem langen, zärtlichen Blick. »Sie lassen mich am Leben?« fragte er.
»Es gibt keinen Grund, Sie umzubringen«, antwortete Charity. »Ich werde Ihnen nichts tun, Barler. Aber ich verspreche Ihnen«, setzte sie leise und ernst hinzu, »daß ich zurückkommen und sie eigenhändig umbringen werde, wenn diese Menschen unter dem leiden, was heute geschehen ist.«
»Das wird nicht passieren«, antwortete Barler. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß niemandem etwas geschehen wird. Ich sagte Ihnen bereits - Begriffe wie Rache und Vergeltung sind ihnen fremd.«
»Ich hoffe für Sie, daß das die Wahrheit ist«, erwiderte Charity. »Spielen Sie weiter den Kerkermeister, Barler, wenn es Ihnen Freude macht. Aber versuchen Sie nicht, den Henker zu spielen.«
»Das war ich nie«, antwortete Barler. »Ich war immer nur ihr Wächter.«
Charity wandte sich um und ging rasch auf die Rampe zu. Als sie neben Kyle angelangt war, berührte sie Helen am Arm und deutete mit der anderen Hand auf die offenstehende Tür. »Du kannst uns begleiten, wenn du willst«, sagte sie.
Helen zögerte. Ihr Blick wanderte unsicher zwischen ihrem Vater und dem Gleiter hin und her. »Ich ...«
»Du kannst nicht hierbleiben«, unterbrach sie Charity so leise, daß keiner der anderen Männer ihre Worte hörte.
Helen zögerte noch einen Moment, und wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Aber dann fuhr sie herum und rannte die Rampe hinauf und verschwand im Inneren des Gleiters.
Auch Kyle sah sie einen Moment lang fast überrascht an, blickte dann zu Barler hinüber und machte eine fragende Geste. »Er ist ein Megamann«, sagte er.
Charity nickte. »Ich weiß.«
»Und du läßt ihn am Leben?«
Wieder nickte Charity. Dann folgte sie Helen ins Innere des Gleiters. Und nach kurzem Zögern betrat auch Kyle die Flugscheibe.
Keine zwei Minuten später hob der Gleiter ab, jagte dann mit aufheulenden Triebwerken nach Osten. Noch bevor das schrille Heulen verklungen war, lief irgendwo tief unter der Straße die letzte Sequenz eines sechzig Jahre alten Computerprogramms ab, und die Kellergeschosse des Botschaftsgebäudes verwandelten sich in eine weißglühende Hölle aus schmelzendem Stahl.
Ende des vierten Teils