5


Vor einer halben Stunde hatten sie ein hohes, pfeifendes Geräusch gehört, das rasend schnell näher gekommen war und dann plötzlich abbrach. Davor waren sie bereits eineinhalb Stunden lang durch den Dschungel marschiert. Die Vegetation wurde immer dichter, und mit der wuchernden, grünvioletten Pflanzenpest nahm auch die Anzahl bizarrer Geschöpfe zu, auf die sie stießen und von denen sie sofort attackiert wurden.

Charity hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft sie angegriffen worden waren; meistens von Geschöpfen, die zu klein waren, um es gleich mit vier ausgewachsenen Menschen aufzunehmen, aber zweimal auch von Kreaturen, die sie nur mit den erbeuteten Laserwaffen hatten abwehren können. Charity hatte den anderen eingeschärft, die Strahler nur im allerhöchsten Notfall zu benutzen. Es mußte für die Moroni ein leichtes sein, die Energieschüsse der Waffen zu messen. Aber sie hatte rasch einsehen müssen, daß dieser Vorsatz nicht durchzuführen war, ganz einfach, weil schon ihre bloße Anwesenheit in diesem Dschungel eine Art permanenten Notfall darstellte.

Selbst ohne Ortungsgeräte würde es den Ameisen nicht besonders schwerfallen, sie aufzuspüren. Sie brauchten nur der Spur aus verbrannten, rauchenden Kadavern zu folgen, die sie hinterlassen hatten, dachte Charity besorgt. Der Gedanke führte ihr noch einmal vor Augen, auf welch entsetzliche Weise sich diese Stadt verändert hatte. Die wuchernde grüne Pest barst vor Leben. Aber es war eine vollkommen fremde, aggressive Ökologie, die die Invasoren von den Sternen hierhergebracht hatten. Und wenn es sich dabei wirklich um eine Kopie ihrer Heimatwelt handelte, dann mußte diese Welt eine wahre Hölle sein.

Anders als auf der Erde schienen auf Moron die Insekten zur herrschenden Spezies geworden zu sein. Im Laufe der letzten beiden Stunden hatte sie Geschöpfe gesehen, die sie sich vorher nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können; gepanzerte, glitzernde, kriechende Kreaturen mit schnappenden Fangzähnen und schimmernden Giftstacheln, die meisten davon absurd groß und häßlich - und so angriffslustig wie ein tollwütiger Straßenköter. Dieser Dschungel war eine einzige, gigantische Falle, in der jeder über jeden herfiel und jeder jeden auffraß, selbst wenn er im gleichen Moment selber aufgefressen wurde.

Obwohl sie ihre Waffen am Schluß immer rücksichtsloser eingesetzt hatten, war keiner von ihnen ohne mindestens ein halbes Dutzend blutiger Schrammen davongekommen. Die Bewohner dieser grünvioletten Hölle waren auch wahre Meister der Mimikry. Es gab nicht wenige darunter, die man erst in dem Moment als lebende Wesen erkannte, in dem sie anfingen, einen aufzufressen.

Charity schrak aus ihren Gedanken, als Skudder, der die Führung übernommen hatte, plötzlich stehenblieb und alarmiert zu ihr zurücksah. Sie wollte eine Frage stellen, aber Skudder hob hastig die Hand. Also holte sie mit einigen raschen Schritten auf und blieb dicht neben ihm stehen.

»Was ist?« fragte sie leise.

Skudder lauschte einen Moment mit schräggehaltenem Kopf und zuckte dann mit den Achseln. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, sagte er. »Aber ich muß mich wohl getäuscht haben.«

Auch Charity lauschte. Sie hörte nichts - aber es dauerte nur einen Moment, bis sie begriff, daß Skudder wahrscheinlich genau das aufgefallen war: Es war zu still. Der Chor zischelnder, kreischender, pfeifender Tierstimmen, der sie auf Schritt und Tritt begleitet hatte, war verstummt.

»Was ist los?« fragte Net, die nun zu ihnen aufgeschlossen hatte.

Charity zuckte mit den Achseln und machte eine vage Handbewegung in den Dschungel vor sich. »Es ist zu still«, antwortete sie. »Irgend etwas ... stimmt nicht.«

Charity wollte weitergehen, aber Skudder hielt sie mit einer raschen Handbewegung zurück und trat wortlos an ihr vorbei, wobei er wieder seine Waffe zog. Charity sah ihm stirnrunzelnd nach, verkniff sich aber jede Bemerkung. Sie hatte es niemals gemocht, wenn man sie als eine schwache Frau behandelte, die beschützt werden mußte, aber Skudder hatte schon häufiger bewiesen, daß er über äußerst scharfe Sinne verfügte.

Sie sah sich noch einmal sichernd um, ehe auch sie ihre Waffe zog und weiter ging. Net und Gurk schlössen sich ihr an. Auch die junge Wasteländerin wirkte angespannt, und selbst auf Gurks Gesicht hatte sich ein alarmierter Ausdruck breit gemacht. Skudder war ein paar Schritte vorausgegangen und blieb plötzlich stehen. Einen Moment lang stand er reglos in einer fast erschrockenen Haltung da, dann drehte er sich herum und winkte Charity und den anderen, näher zu kommen.

»Also?« fragte Charity, als sie ihn erreicht hatte.

Statt zu antworten, bog Skudder die Büsche ein wenig mehr zu Seite. Sie hatten den Rand des Waldes erreicht. Vor ihnen befand sich nur noch ein vielleicht fünf oder sechs Schritte messender Streifen, auf dem außer Moos, Pilzen, einem Gewirr graubrauner Luftwurzeln und einiger dürrer Büsche nichts mehr wuchs. Dahinter lag ein sicherlich fünfhundert Meter breiter Graben, auf dessen Boden sich brauner Morast befand: das ausgetrocknete Flußbett. Das jenseitige Ufer schien ein gutes Stück höher zu liegen. Auch dort hatte die wuchernde Vegetation fast alle Spuren menschlicher Zivilisation verschlungen.

Trotzdem hatte Charity das Gefühl, daß sich der Wald dort irgendwie von ihrem unterschied.

»Und was jetzt?« drang Nets Stimme in ihre Gedanken.

Charity zögerte noch einen Moment, dann zuckte sie unschlüssig mit den Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung auf das jenseitige Ufer. »Dort hinüber.«

Net blickte unwillig auf den morastigen Graben, schwieg aber.

»Gibt es irgendeinen Grund dafür?« fragte statt dessen Gurk.

Charity überhörte den ärgerlichen Unterton in seiner Stimme geflissentlich und antwortete so ruhig wie es ihr möglich war. »Das ist die Richtung, die uns Kyle geraten hat.«

»Kyle!« Gurk fuchtelte wütend mit den Händen in der Luft herum. »Du scheinst ja regelrecht in diesen widerlichen Kerl verschossen zu sein.«

»Ich traue ihm«, antwortete Charity ruhig.

»Ich auch«, fügte Net hinzu.

Gurk blickte die beiden jungen Frauen böse an. »Na wunderbar«, sagte er giftig, »dann seid ihr ja schon zwei.«

»Drei«, sagte Skudder ruhig. Er lächelte beinahe verlegen, als er Charitys überraschten Blick bemerkte. »Er hatte keinen Grund uns zu belügen«, fuhr er fort. »Er hätte uns jederzeit umbringen können, wenn er gewollt hätte.«

»Vielleicht will er es ja nicht«, sagte Gurk. »Vielleicht hatte er ja andere Pläne mit uns.«

Charity setzte zu einer scharfen Antwort an, besann sich dann aber und schritt voran, um aus dem Wald herauszutreten.

Ein warmer Wind schlug ihnen entgegen, der den Gestank des morastigen Flußgrunds mit sich trug. Schaudernd sah Charity sich um. Sie fühlte sich schutzlos. Trotz aller Gefahren, die er beherbergte, hatte ihnen der Dschungel auch gleichzeitig Deckung geboten. Hier draußen aber bewegten sie sich wie auf dem Präsentierteller. Sie blickte in das leere Flußbett hinab und fragte sich, wieso die Vegetation Morons nicht auch dort wucherte. Der faulige Morast mußte einen geradezu idealen Nährboden für Sporen und Sämlinge bieten, die der Wind herantrug. Aber so weit sie blicken konnte, durchbrach nicht der winzigste grüne oder violette Fleck das monotone Braun des Flusses.

Net trat neben sie und beugte sich behutsam vor, um in die Tiefe zu blicken. »Nicht gerade einfach, dort hinunterzusteigen«, sagte sie. Charity nickte stumm. Das Flußbett war zwar nicht sehr tief, aber das Ufer bestand zum größten Teil aus Mauerwerk, Beton oder Felsen. Es würde ausgesprochen gefährlich werden, dort hinabzusteigen - und auf der anderen Seite wieder hinauf.

»Warum gehen wir nicht über die Brücke?« fragte Gurk. Er hob die Hand und deutete auf eine der halb zerschmolzenen Stahlkonstruktionen, die das ausgetrocknete Bett der Seine in fast regelmäßigen Abständen überspannten.

Charity überlegte nur einige Sekunden, ehe sie den Kopf schüttelte. Es waren mindestens drei Meilen bis zur nächsten Brücke. Und irgend etwas sagte ihr, daß sie sie sowieso nicht benutzen konnten. Es mußte einen Grund haben, daß sich dort wie auf dem Flußgrund nicht die mindeste Spur von Leben zeigte. Mehr denn je kam ihr der tote Fluß wie eine Barriere vor, der sie sich vielleicht schon zu sehr genähert hatten.

Ihr Blick glitt wieder über das Flußbett. Unweit der Stelle, wo sie aus dem Wald getreten waren, ragte ein zwanzig Meter hoher Pfeiler aus Granit aus dem Grund; früher einmal mußte es eine Insel gewesen sein. Jetzt sah das flache Plateau mit dem wuchernden, grünen Bewuchs und den wenigen, zum größten Teil zerstörten Häusern beinahe absurd aus. Es ...

Grüner Bewuchs?

Charity sah noch einmal hin. Die Insel und alles, was auf ihr stand, war von wucherndem Unkraut bedeckt. Hier und da hatten sogar Bäume Wurzeln geschlagen, und an einer Stelle hing ein Geflecht aus grünbraunen Ranken fast bis zum Flußgrund herab.

»Was hast du?« fragte Skudder, dem ihr Erschrecken nicht entgangen war.

Charity deutete nachdenklich auf die kleine Insel. »Die Insel dort.«

Skudder runzelte die Stirn und sah ebenfalls hinüber, aber ihm schien nichts Außergewöhnliches aufzufallen, denn nach einer Weile sah er sie erneut fragend an.

»Sie ist bewachsen«, sagte Charity. »Als einziges weit und breit.«

»Und?«

Charity hob die Schultern. »Es ist seltsam. Ich frage mich, ob es etwas zu bedeuten hat.«

»Vielleicht«, sagte Skudder. »Aber ich werde ganz bestimmt nicht hinaufklettern, um es herauszufinden.«

Sie begannen mit dem Abstieg, der sich als weitaus weniger schwierig erwies, als Charity befürchtet hatte. Die Uferbefestigung bestand an dieser Stelle aus porösem Sandstein, den fünfzig Jahre Wind und Regen rissig hatten werden lassen, so daß ihre Finger und Zehenspitzen bequem Halt fanden. Skudder mit Net bildete auch jetzt die Spitze, während Charity Gurk folgte, der mit seinen viel zu kurzen Armen und Beinen alle Mühe hatte, Schritt zu halten. Zudem gehörte das Klettern nicht unbedingt zu den herausragenden Fähigkeiten des Gnoms. Ein paarmal streckte Charity erschrocken die Hand aus, als es so aussah, als würde er den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen, und einmal mußte sie wirklich zugreifen und ihn am Kragen packen, als der brüchige Stein unter seinen Fingerspitzen plötzlich zerbröckelte. Gurks Dank bestand aus einem giftigen Blick, und Charity nahm sich vor, ihre Hilfe auf den letzten zwei Metern ihres Abstiegs einzustellen.

Und tatsächlich verlor Gurk abermals den Halt, als er sich noch einen guten Meter über dem Boden befand. Der Gnom stürzte rücklings in den Morast. Der Schlamm war tief genug, ihn völlig untertauchen zu lassen. Aber nur für einen Moment. Dann sprang Gurk wieder auf, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, um sich den Schlamm aus Mund, Nase und Augen zu wischen, und begann nach Leibeskräften zu fluchen. Er schien festen Boden unter den Füßen zu haben, aber er war bis zum Gürtel in dem braunen, übelriechenden Matsch versunken.

Charity sah Gurk einige Augenblicke lang mit unverhohlener Schadenfreude zu, dann kletterte sie vorsichtig weiter und verzog ebenfalls angeekelt das Gesicht, als sie bis über die Knie im Schlamm versank. Er war auf eine unangenehme Weise warm und klebrig. Vielleicht, dachte sie schaudernd, waren sie der Antwort auf die Frage, warum hier unten nichts lebte, näher als sie ahnen mochten.

Sie gönnte sich noch eine weitere halbe Minute lang den Luxus, dem schimpfenden Zwerg zuzusehen, ehe sie sich wieder den anderen zuwandte. Net und Skudder waren ein paar Schritte weitergegangen und wieder stehengeblieben, um aufmerksam zum gegenüberliegenden Ufer hinüberzuspähen.

Auf der anderen Seite rührte sich nichts. Trotzdem empfand Charity ein Gefühl der Beunruhigung, das mit jedem Augenblick stärker wurde. Sie machte einen Schritt und spürte erneut, daß der Schlamm, durch den sie wateten, kein gewöhnlicher Schlamm war, sondern eine braune Substanz, die ziemlich träge dahinfloß. Und wenn sie sich konzentrierte, dann glaubte Charity, ein Vibrieren oder Pochen zu verspüren, etwas wie das kaum wahrnehmbare, unendlich langsame Schlagen eines weit entfernten, gigantischen Herzens.

Im ersten Moment wollte sie den Gedanken als völlig abwegig abtun, aber dann begriff sie, daß es nicht das erste Mal war, daß sie ein solches Gefühl überkam: sich an etwas zu erinnern, woran sie sich gar nicht erinnern konnte, weil sie es nie erlebt hatte. Es begann mit der Sprache: Manche Worte und Begriffe der Moroni rührten etwas in ihr an, als läge tief, tief in ihr ein uraltes Wissen, das nicht erlernt, sondern ererbt war.

Sie verjagte den Gedanken endgültig und ging weiter, blieb aber auch jetzt bereits nach zwei Schritten wieder stehen. Und auch Skudder und Net erstarrten plötzlich.

Der graubraune Schlamm bewegte sich. Eine träge, mühsame Wellenbewegung kräuselte seine Oberfläche; das langsame Herangleiten einer glitzernden Woge, als kröche etwas dicht unter der Oberfläche heran.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, explodierte der Fluß.

Wo bisher nichts als trügerische Ruhe gewesen war, da schoß plötzlich ein halbes Dutzend kochender Schlammgeysire in die Höhe, spritzende Eruptionen aus graubraunem Schleim, die sie mit widerlicher, nasser Wärme überschütteten und sie zurücktaumeln ließen. Und inmitten dieser brodelnden Schlammvulkane erschienen plötzlich dunkle, vielgliedrige Körper!

Charity schrie auf, als die dürren Arme einer Ameise wie stählerne Fangzähne nach ihr schnappten und sie festhielten.

Sie versuchte, sich loszureißen, aber ihre Kräfte reichten nicht. Das Ungeheuer riß sie ohne sichtbare Anstrengung in die Höhe, preßte mit zwei Händen ihre Arme an den Körper und bog mit einer dritten ihre rechte Hand beiseite, als sie die Waffe auf die Ameise richten wollte. Es gelang ihr, den Abzug zu erreichen, aber der giftgrüne Laserstrahl fuhr harmlos an dem Ungeheuer vorbei und verwandelte den Schlamm hinter ihr in kochenden Dampf.

Charity bäumte sich auf, trat mit verzweifelter Kraft um sich und erntete als einzige Reaktion einen stechenden Schmerz, der durch ihren rechten Fußknöchel schoß. Ihre Hände glitten hilflos über den Gürtel, versuchten vergeblich, die zweite Waffe zu ziehen, die sie bei sich trug - aber sie fanden etwas anderes.

Die Ameise stieß einen gellenden Pfiff aus, als Charitys Linke den Körperschild einschaltete und mehr als fünfzigtausend Volt auf das Ungeheuer übersprangen. Ihr Griff lockerte sich. Es stank nach verbranntem Horn.

Charity riß sich mit einer verzweifelten Anstrengung los, stürzte ungeschickt in den Morast und fing sich im letzten Moment wieder. Eine zweite Ameise sprang sie an und wurde wie die erste zurückgeschleudert. Aber der blaue, knisternde Lichtbogen war bereits schwächer geworden, und dieses Ungeheuer blieb nicht liegen wie sein Vorgänger, sondern plagte sich nach einer halben Sekunde umständlich wieder auf. Es griff nicht wieder an, sondern stand einfach da, schüttelte in einer bedrückend menschlich anmutenden Geste den Kopf und sank dann erneut zu Boden.

Charity zog hastig ihre zweite Waffe, entsicherte sie und feuerte blindlings, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Der Laserstrahl durchschlug den Brustpanzer der Ameise und entlud seine gesamte Energie schlagartig in ihr Inneres. Das Monster explodierte förmlich, aber hinter ihm stürmte bereits eine weitere Ameise heran. Charity erschoß auch sie und fuhr herum.

Hinter ihr waren Net und Skudder damit beschäftigt, die beiden letzten Moroni niederzustrecken, die den mißglückten Überraschungsangriff bisher überlebt hatten. Aber es war nur eine kurze Atempause, die ihnen blieb. Im Augenblick waren keine weiteren Ameisen zu sehen, aber der Fluß schien überall zu brodeln. Wenn jede Spur im Schlamm eine Ameise bedeutete, dachte sie entsetzt, dann mußten sich Tausende dieser Ungeheuer unter dem Morast verborgen halten!

Ihr Blick streifte den Kadaver einer Insektenkreatur. Er war schon wieder halb im Morast versunken, aber sie erkannte trotzdem, daß sich diese Ameise irgendwie von den anderen unterschied. Sie wirkte kleiner und zerbrechlicher.

Sie sah sich nach Gurk um. Der Zwerg war gestürzt und saß nun fast bis zum Kinn in der schmierigen, braunen Brühe. Mit einem Schritt war sie bei ihm, riß ihn in die Höhe und zerrte ihn mit sich zu Skudder und Net hinüber.

»Das ist eine Falle!« sagte Skudder. »Sie haben auf uns gewartet!«

Charity antwortete nicht, sondern hob ihren Laser und gab einen Schuß auf eine der träge dahinkriechenden Schlammwogen ab. Irgend etwas unter der Oberfläche explodierte. Sie sah einen grellen Blitz, in dem sich eine Ameise aufbäumte, ehe sie pfeifend verendete. Aber auch dieses Insekt kam Charity zu klein vor; es maß bestenfalls einen Meter, und ihre Glieder waren dünn wie Streichhölzer. Doch was den Ungeheuern an Größe fehlte, das machten sie durch ihre Zahl wieder wett. Überall bewegte es sich; träge Wellen, die langsam, aber unerbittlich auf sie zukrochen. Gehetzt sah sie sich um. Sie befanden sich noch keine zehn Meter vom Flußufer entfernt, aber sie wußte, daß sie hilflos waren, wenn sie versuchten, an der fast lotrechten Wand hinaufzuklettern. Sie hatte oft genug erlebt, daß diese Kreaturen eine senkrechte Wand hinauflaufen konnten wie eine Fliege.

Und trotzdem hatten sie keine Wahl. Wenn sie den Wald erreichten, hatten sie vielleicht eine Chance.

Sie gab Skudder und Net mit einer Geste zu verstehen, was sie vorhatte, faßte Gurk wortlos am Arm und schleifte ihn hinter sich her den Weg zurück, den sie gekommen waren. Ohne auf seine wütenden Proteste zu achten, hob sie ihn einfach in die Höhe und zwang ihn, sich in einem der zahllosen Risse in der Mauer festzukrallen, ehe sie selbst mit dem Aufstieg begann.

»Non! C'est un piege!«

Charity sah überrascht auf. Fünfzehn Meter über ihr war eine Gestalt erschienen; gegen das grelle Licht der bereits tiefstehenden Sonne ebenfalls nur ein schwarzer, dürrer Schatten, der sie im ersten Moment erschreckte. Aber dann sah sie, daß er nur zwei statt vier Arme hatte.

»Zurück«, schrie die Gestalt. »Sie warten hier auf euch!«

Charity war für eine Sekunde abgelenkt - und genau diese Sekunde hätte sie beinahe das Leben gekostet!

Sie bemerkte eine zuckende Wellenbewegung im Schlamm, und dann verwandelte sich der graue Morast neben ihr in einen aufspritzenden Geysir, aus dem ein chitingepanzertes, schwarzes Ungeheuer hervorbrach und mit allen vier Armen nach ihr grapschte. Charity fuhr herum und versuchte, ihre Waffe zu heben, aber sie wußte bereits, während sie es tat, daß sie zu langsam war. Die Ameise schlug ihre Hand mit einer fast spielerischen Bewegung herunter und ergriff sie mit gleich drei unmenschlich starken, stahlharten Pranken. Ein helles, elektrisches Knistern erklang, dann spannte sich ein blauer Überschlagsblitz zwischen Charitys Anzug und dem Körper der Ameise. Der Moroni kreischte vor Schmerz. Aber der Schild war nicht mehr stark genug, ihn zu töten oder auch nur ernsthaft zu verletzen. Und der Schock schien die Ameise nur noch wütender zu machen, denn sie schleuderte Charity mit solcher Wucht gegen die Wand, daß ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Sie sah, wie Skudder herumfuhr, die Waffe hob und im letzten Moment zögerte. Er war zwanzig Meter entfernt; zu weit, um nicht versehentlich sie statt die Ameise zu treffen.

Der Griff des Ungeheuers schnürte ihr die Luft ab. Vor ihren Augen begannen bunte Kreise zu tanzen. Charity spürte, wie ihr Bewußtsein zu schwinden begann. Langsam erschlaffte sie im Griff des Rieseninsekts.

Plötzlich summte irgend etwas mit einem widerwärtigen Laut so dicht an Charitys Gesicht vorbei, daß sie einen heißen Luftzug verspürte. Im gleichen Moment zersplitterte der Brustpanzer der Ameise, und das Ungeheuer wurde wie von einem Faustschlag zurückgetrieben.

Charity kämpfte mit aller Macht gegen die drohende Bewußtlosigkeit. Sie atmete keuchend ein und aus, lehnte sich erschöpft gegen die Wand und ballte so heftig die Fäuste, daß sich die Fingernägel in ihre Handflächen gruben. Der Schmerz half. Die dunklen Schleier vor ihrem Blick lichteten sich, und allmählich kehrte das Gefühl in ihre tauben Beine zurück. Gleichzeitig schien sich die Luft in ihren Lungen in flüssiges Feuer zu verwandeln.

Stöhnend blickte sie sich um. Es war keine weitere Ameise zu sehen, aber es war noch lange nicht vorbei - ganz im Gegenteil. Aus allen Richtungen näherten sich die Wellen im Schlamm, und auch über ihr erklang plötzlich das helle Zirpen der verhaßten Insektenkrieger. Sie sah auf und bemerkte, daß die Gestalt, die sie gewarnt - und auch gerettet - hatte, sich nicht mehr auf der Mauerkrone befand, sondern geschickt wie ein Affe zu ihr in die Tiefe zu klettern begonnen hatte. Am Ufer waren die schwarzen, spinnengliedrigen Schatten von einem Dutzend Ameisen aufgetaucht, die sich sogleich an die Verfolgung machten.

Skudder gab einen Schuß ab und tötete eines der Ungeheuer, das lautlos in die Tiefe stürzte und im Schlamm verschwand. Aber die anderen setzten ihren Weg unbeirrt fort.

Charity wartete mit klopfendem Herzen, bis der Fremde zu ihr hinabgestiegen war - wobei er die letzten zwei Meter mit einem wagemutigen Satz überwand -, dann fuhr sie herum und bedeutete ihm mit einer Geste, ihr zu folgen. Der andere schüttelte den Kopf und deutete heftig gestikulierend auf den Schlamm, wobei er immer wieder ein einzelnes Wort in seiner Muttersprache schrie, das Charity nicht verstand. Schließlich fuhr sie einfach herum, packte Gurk grob bei der Hand und lief los, und der Franzose hörte auf zu schreien und schloß sich ihnen an.

Er war noch recht jung, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, von schlankem Wuchs und mit dunklem Haar. Er hatte ein sehr sympathisches Gesicht, das im Moment allerdings vor Anstrengung und Furcht verzerrt war, und trug ein sonderbares einteiliges Kleidungsstück, das an einen selbstgefertigten Tarnanzug erinnerte.

»Danke«, sagte Charity schwer atmend, als sie neben Net und Skudder angekommen waren. Der Junge legte den Kopf auf die Seite und sah sie fragend an. Und erst jetzt wurde Charity klar, daß er sie nicht verstand.

»Und jetzt?« fragte Skudder. Der junge Mann sah auch ihn verständnislos an, und der Hopi machte eine erklärende Geste auf die Ameisen, die die Felswand fast überwunden hatten. Er hob seine Waffe und zielte, aber der Junge schüttelte hastig den Kopf und deutete auf den Granitpfeiler der Insel vor ihnen. Und obwohl Charity seinen fürchterlichen Slang nicht verstand, begriff sie doch die Bedeutung der Geste. Sie bezweifelte, daß sie es bis dorthin schaffen würden; die Ameisen konnten sich in diesem klebrigen Morast sehr viel schneller bewegen als sie.

Skudder sah den Jungen zweifelnd an, dann zuckte er mit den Achseln, drehte sich herum und blieb abrupt wieder stehen, kaum daß er die ersten zwei Schritte gemacht hatte. Der Laser in seiner Hand spie einen grünen Blitz aus, der in dreißig Meter Entfernung in den Morast fuhr. Eine dumpfe Explosion erklang, und eine kochende Säule aus Schlamm und Chitinsplittern brach aus dem Fluß.

Skudder schürzte grimmig die Lippen und visierte eine weitere Woge an, aber der junge Franzose drückte plötzlich seinen Arm herunter und schüttelte den Kopf. Wieder sagte er etwas, das Charity nicht verstand.

Skudder riß seinen Arm mit einer ärgerlichen Bewegung los, aber er schoß nicht mehr, sondern sah verwirrt zu, wie der Junge in eine der zahllosen Taschen seiner Montur griff und eine Handvoll eines weißen, körnigen Pulvers hervorholte. Sorgfältig verteilte er das Pulver auf eine Fläche von gut einem Quadratmeter und watete dann mit kleinen, erzwungen langsamen Schritten hindurch. Dann bedeutete er Charity und den anderen mit aufgeregten Gesten, es ihm nachzumachen.

»Was ist das?« fragte Charity mißtrauisch.

»Krell-Samen«, antwortete der Franzose. »Sie hassen den Geschmack. Sie werden uns nicht mehr angreifen. Schnell!«

Hastig gehorchte sie und zerrte Gurk mit sich, dann warf sie einen nervösen Blick zu den Ameisen zurück. Auf diese Monster jedenfalls schien das Pulver keinerlei Wirkung zu haben. Sie rückten unbeeindruckt und sehr schnell näher, aber sie verzichteten aus einem unerfindlichen Grund noch immer darauf, ihre Waffen einzusetzen.

Trotzdem blieben ihnen allenfalls noch Sekunden.

Sie rannten los. Aber sie waren erst wenige Schritte weit gekommen, als Skudder abermals stehenblieb und erschrocken die Hand hob. Und plötzlich vernahm auch Charity ein höchst eigenartiges Geräusch: ein helles Summen, das sich allmählich zu einem an den Nerven zerrenden Heulen steigerte und Charity und die anderen vor Schmerz aufstöhnen ließ. Dann wurde es zu einem ohrenbetäubenden Brüllen und Kreischen - und über der Insel tauchte eine gigantische, silberfarbene Scheibe auf!

»Ein Gleiter!« brüllte Skudder entsetzt. Er hob seine Waffe und gab zwei, drei Schüsse auf die Flugscheibe ab, die wirkungslos an ihrem gepanzerten Rumpf abprallten. Der Gleiter raste heulend fünfzig, hundert Meter weit senkrecht in die Höhe, kippte dann über die Seite ab und kam in einem Halbkreis auf sie herabgeschossen. Charity und die anderen standen wie gelähmt da, nur Skudder feuerte, was seine Strahlenpistolen hergaben. Fast jeder der nadeldünnen, grünen Blitze traf, doch die kleinen Waffen reichten nicht aus, um den Gleiter zu gefährden. Das Fahrzeug stürzte mit einem ohrenbetäubenden Heulen auf sie herab, hielt plötzlich an und gewann wieder ein Stück an Höhe, gerade als Charity schon zu glauben begann, sein Pilot wolle sich wie in einem Kamikazeangriff auf sie stürzen.

Ein halbes Dutzend greller Energiestrahlen brach aus seiner Flanke und verwandelte den Schlamm rings um sie herum in brodelnden Dampf. Feuer und kochender Morast regneten auf sie herab.

Charity wartete, bis sich ihre Augen von dem gleißenden Lichtüberfall erholt hatten, dann hob sie vorsichtig die Lider und sah sich um. Sie befanden sich genau im Zentrum eines gut fünfzig Meter durchmessenden Kreises, dessen Ränder aus kochendem Schlamm gebildet wurden. Die Salve hatte nicht den Zweck gehabt, sie zu töten. Aber die Botschaft, die sie beinhaltete, war eindeutig.

»Sie wollen uns lebend«, sagte Net.

Charity antwortete nicht darauf, sondern nickte nur müde. Es war ihr von Anfang an klar gewesen, daß der Überfall nicht den Zweck hatte, sie umzubringen, sondern gefangenzunehmen. Hätten die Ameisen sie töten wollen, hätten sie nicht einmal den ersten Angriff überlebt.

Der Gleiter sank tiefer, wie ein schimmernder, stählerner Mond, der langsam vom Himmel stürzte, und gleichzeitig näherte sich ihnen das Dutzend Ameisen vom Ufer her.

Charitys Gedanken überschlugen sich. Die Ameisen hatten ganz eindeutig den Befehl, sie lebend und unverletzt einzufangen - und vielleicht hatten sie dadurch noch eine Chance.

»Lauft!« sagte sie. »Jeder in eine andere Richtung! Der Gleiter kann uns nicht alle zugleich verfolgen!«

Fast gleichzeitig stürmten sie los - Net und der junge Franzose direkt auf die Insel zu, Skudder beinahe in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, und Charity zum jenseitigen Ufer, wobei sie Gurk mit sich zerrte. Der Gleiter schien unschlüssig in der Luft über ihnen zu verharren. Dann heulten seine Motoren auf, er sprang mit einem Satz wieder zwanzig, dreißig Meter weit in die Höhe, und seine Bordgeschütze feuerten erneut. Ein grellweißer Hitzestrahl fauchte so dicht an Charity vorüber, daß sie die tödliche Glut wie die Berührung einer unsichtbaren weißglühenden Hand spürte und vor Schmerz aufstöhnte, doch sie rannte im Zickzack weiter. Verzweifelt hob sie im Laufen den Kopf und sah zu dem Gleiter empor.

Etwas Unerwartetes geschah: Der Gleiter hörte auf zu feuern. Plötzlich flammte auf der Insel ein unheimliches, rubinrotes Licht auf, und dann tastete ein leuchtender Stab des gleichen, dunkelroten Laserlichts nach der silbernen Flugscheibe und durchbohrte sie.

Es ging unglaublich schnell; und trotzdem sah Charity genau, was geschah: Der Laserstrahl durchstieß den armdicken Panzerstahl des Gleiters wie Papier, brannte ein sauberes, kreisrundes Loch diagonal durch seinen Rumpf und entlud dann schlagartig seine gesamte Energie im Inneren des Schiffes.

Für einen Sekundenbruchteil erstrahlte der Gleiter in einem grellen, flackernden Rot. Sein Rumpf schien sich wie ein Luftballon aufzublähen - und Charity konnte gerade noch den Kopf wegdrehen und schützend die Hände vor das Gesicht reißen, um nicht geblendet zu werden, als sich der Gleiter in eine blauweiße, lodernde Miniatursonne verwandelte!

Die Druckwelle riß Charity von den Füßen und schleuderte sie in den Schlamm. Und eine Woge kochendheißer Luft heulte über sie hinweg. Sie krümmte sich zusammen und wartete mit angehaltenem Atem, bis der Feuersturm vorüber war. Dann hob sie vorsichtig den Kopf aus dem Morast, wischte sich mit dem Unterarm den Schlamm aus dem Gesicht und sah sich um.

Ihre Umgebung hatte sich vollkommen verändert. Die Druckwelle halte nicht nur sie und die anderen, sondern auch die Ameisen von den Füßen gerissen und meterweit davongeschleudert. Überall in dem grauen Morast loderten kleine Feuernester, wo brennende Trümmer und Feuer vom Himmel gestürzt waren. Auch ein Teil der Insel brannte, und aus dem Wald stieg eine gewaltige schwarze Rauchwolke empor. Der Gleiter hatte sich nicht mehr unmittelbar über dem Fluß befunden, als ihn der Laserstrahl traf. Was von ihm übriggeblieben war, mußte brennend in den Dschungel gestürzt sein.

Sie hörte ein würgendes Husten neben sich und fuhr abrupt herum. Auch Gurk war wie alle anderen von den Füßen gerissen worden und kämpfte sich nun keuchend aus dem Morast. Sie überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß er nicht ernsthaft verletzt war, dann stand sie vollends auf und hielt nach den anderen Ausschau. Skudder hockte zwanzig oder dreißig Meter von ihr entfernt auf den Knien und hielt sich stöhnend den linken Arm, und Net und der junge Franzose plagten sich mühsam auf, waren aber offenbar nicht ernsthaft verletzt.

Auch ein Dutzend Ameisen lebte noch, doch wirkten die Insekten seltsam verwirrt, als hätten sie von einer Sekunde auf die andere vergessen, warum sie überhaupt hier waren. Nur eine einzige von ihnen machte einen zögernden Schritt in Skudders Richtung, dann stieß sie einen fast kläglichen Pfiff aus, drehte sich herum und stolzierte zu ihren Kameraden zurück.

Charity bedeutete Gurk mit einer Geste, zu Net und dem Fremden hinüberzugehen, und wartete selbst auf Skudder, den das sonderbare Verhalten der Ameisen ebenso überraschte wie sie, denn er blickte fassungslos zu den schwarzen Kreaturen hinüber, die keinerlei Anstalten mehr machten, sich auf ihre wehrlosen Opfer zu stürzen. Erst dann machte er zögernd kehrt.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte er. »Was ...«

»Ich auch nicht«, unterbrach ihn Charity. »Aber wir sollten machen, daß wir wegkommen.«

Skudder warf einen letzten Blick auf die Ameisen zurück, dann nickte er hastig und beeilte sich, zusammen mit ihr zu Net und den beiden anderen zu gelangen. Als sie sie erreichten, hatten sie sich der Insel bereits bis auf knapp zwanzig Schritte genähert. Und Charity begriff, warum der junge Franzose sie hierher geführt hatte. Die Granitpfeiler waren glatt wie poliertes Glas, aber sie befanden sich jetzt unmittelbar unter der Stelle, an der sich ein Gewirr von Ranken über ihren Rand schob. Charity bemerkte zwischen den Pflanzen ein starkes Tau, das fast bis zum Flußgrund hinabreichte. Seine Farbe war so perfekt auf den Untergrund abgestimmt, daß man schon sehr genau hinsehen mußte, um es zu entdecken.

Sie kramte ihre halbvergessenen Französischkenntnisse zusammen und fragte den jungen Mann: »Dort hinauf?«

Der Junge sah sie überrascht an. Dann huschte ein flüchtiges Lächeln über seine Züge. »Ja«, antwortete er. »Wir müssen zur Festung, ehe sie wiederkommen.«

Charity nickte; überraschenderweise verstand sie ihn, wenn er langsam sprach. Sie machte sich nichts vor. Die Ameisen würden wiederkommen, und diesmal wahrscheinlich nicht mit einem, sondern gleich mit einem Dutzend bewaffneter Schiffe.

Sie erreichten den Fuß der Insel, und der junge Franzose begann sehr geschickt an dem Tau emporzuklettern. Net folgte ihm auf der Stelle, während Skudder Charity und Gurk zweifelnd ansah. »Schafft ihr das?« fragte er.

Charity nickte nur, aber Gurk widersprach energisch. »Ausgeschlossen!« ächzte er. »Da komm ich nie rauf.«

Skudder seufzte ergeben - und setzte sich den Gnom wie ein Kind einfach auf die Schultern. »Halt dich fest«, befahl er.

Gurk kreischte vor Entsetzen, aber Skudder begann bereits, an dem Tau emporzuklettern, so daß dem Zwerg gar nichts anderes übrigblieb, als sich mit aller Kraft festzuhalten. Charity lächelte flüchtig und warf einen letzten Blick zu den Ameisen zurück. Die Moroni hatten sich wieder am jenseitigen Flußufer gesammelt, aber sie machten weder Anstalten, hinaufzuklettern noch kehrtzumachen und ihnen vielleicht doch noch zu folgen. Sie wirkten völlig hilflos, wie Maschinen, deren Programmierung durcheinandergeraten war.

Sie verscheuchte den Gedanken, griff nach dem Tau und begann, in die Höhe zu klettern. Die Leichtigkeit, mit der der junge Franzose und Skudder diesen Weg genommen hatten, täuschte. Charity mußte ihre letzten Kraftreserven mobilisieren, um sich die fünfzehn oder zwanzig Meter hinaufzuquälen. Sie hätte das letzte Stück wahrscheinlich nicht geschafft, hätte Skudder sie nicht einfach zu sich heraufgezogen.

Charity fiel keuchend auf die Knie herab, rang mühsam nach Atem und preßte die Handflächen gegen den Leib. Ihre Hände brannten wie Feuer; das grobe Tau hatte ihre Haut aufgeschürft.

»Kannst du gehen?« fragte Skudder besorgt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte; was nichts daran änderte, daß Skudder ihr helfen mußte, auf die Füße zu kommen.

»Wir können nicht hierbleiben«, sagte der Hopi besorgt. Er sah ihren Retter an und machte eine fragende Geste. »Und wohin jetzt, du Schlaumeier?«

Natürlich verstand der junge Franzose die Worte nicht. Aber er lächelte trotzdem und deutete auf einen mannshohen Schutthügel. Aus irgendeinem Grund schien er der einzige von ihnen zu sein, der keinerlei Angst hatte. Ganz im Gegenteil - er wirkte fast fröhlich. »Ich bringe euch zur Festung«, sagte er.

Charity sah sich suchend um. Sie erblickte nichts, was einer Festung auch nur entfernt ähnlich sah. Sie beantwortete Skudders fragenden Blick mit einem Achselzucken und trat wortlos hinter den Jungen.

Hinter dem Schutthügel erhoben sich die ausgebrannten Reste einiger kleinerer Häuser. Charity nahm unwillkürlich an, daß ihr Ziel irgendwo dort lag, aber der junge Franzose steuerte zielsicher auf den unkrautüberwucherten Schutthügel zu - und als sie näher kamen, sah Charity, daß es gar keine Schutthalde war. Unter dem wuchernden Grün und Violett schimmerte Stahl.

Überrascht sah sie zu, wie ihr Führer den Vorhang aus Gestrüpp und herabhängenden Ästen teilte. Dahinter kam Panzerstahl zum Vorschein. Der Junge legte die Hand auf einen roten Kreis, der in das Metall eingeätzt war, und in der Metallfläche öffnete sich eine mannshohe Tür, hinter der mildes, gelbes Licht schimmerte.

»Was ist das?« fragte Skudder mißtrauisch, während der Franzose gebückt durch die Tür trat, sich herumdrehte und ihnen aufgeregt zuwinkte, ihm nachzukommen.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Charity, »aber ich glaube, ich weiß es.«

Sie war die erste, die hinter dem Franzosen durch die Tür trat. Der Raum war winzig und ziemlich niedrig und vollgestopft mit Computern, Monitoren und drei wuchtigen Schalensitzen, die fast den gesamten vorhandenen Innenraum einnahmen. Ein kaum hörbares, beruhigendes Summen erfüllte die Luft: Ein Großteil der Anzeigetafeln und Monitore war in Betrieb.

Sie trat ein Stück zur Seite, um Skudder, Net und Gurk Platz zu machen, die sich hinter ihr durch die niedrige Tür zwängten. Der Junge berührte eine Taste an der Wand, und das Panzerschott schloß sich wieder. Dann drehte er sich mit einem triumphierenden Lächeln zu Charity um und machte eine dramatische, auf Wirkung bedachte Geste.

»Willkommen in meiner Festung«, sagte er.

»Festung?« Charity lächelte flüchtig, sagte aber sonst nichts, sondern sah sich gründlicher um. Sie wußte, wo sie waren. Sie hatte ein solches Fahrzeug niemals betreten, aber sie hatte genug Bilder davon gesehen. Was sie überraschte war, daß es noch existierte - und ganz offensichtlich noch funktionierte.

»Was zum Teufel ist das?« fragte Skudder noch einmal.

»Ein Leopard 2000«, antwortete Charity.

Skudders Gesichtsausdruck wurde noch fragender.

»Ein Panzer«, fügte sie rasch hinzu. »Die neueste Entwicklung der deutschen Wehrtechnik. Exklusiv für die NATO und den Export in die USA gebaut.« Charity spürte einen raschen, unangenehmen Schauer. Der Anblick dieses Panzers hätte sie mit Befriedigung erfüllen sollen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Dieses unversehrte Relikt aus einer fernen Vergangenheit erinnerte sie daran, auf welch fürchterliche Weise sich ihre Heimatwelt verändert hatte.

»Ein Panzer?« vergewisserte sich Skudder. »Du meinst, so etwas wie die Tanks, die wir drüben hatten?«

»Nicht im entferntesten«, antwortete Charity. »Das hier ist das Nonplusultra irdischer Technik. Das Ding kann es mit einer ganzen Ameisenarmee aufnehmen.«

Skudder war noch immer verwirrt. »Du ... du meinst, dieser Panzer hat den Gleiter abgeschossen?«

Charity nickte. »Das Ding ist mit einem Hundert-Megawatt Rubin-Laser bestückt«, antwortete sie. »Wenn du willst, dann kannst du den Eiffelturm damit absägen.«

»Dann sind wir hier sicher?« fragte Net zögernd.

Charity überlegte einen Moment. »Ich fürchte, nein«, sagte sie dann. »Ich habe keine Ahnung, wieso er nach all dieser Zeit noch funktioniert, aber ich möchte lieber nicht hier sein, wenn unsere Freunde begreifen, womit sie es zu tun haben.«

Sie sah wieder den Jungen an. »Gibt es noch weitere Tanks?« fragte sie mit einer Geste, die den ganzen Innenraum einschloß.

Ganz offensichtlich verstand der junge Franzose ihre Frage nicht, denn er runzelte nur die Stirn.

»Ich meine«, erklärte Charity, »ist das der einzige Panzer, den ihr habt? Oder ...«

»Das ist die Festung«, unterbrach der Junge. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Charity unterdrückte ein enttäuschtes Seufzen. »Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen«, sagte sie in gebrochenem Französisch. »Das hier ist keine Festung. Wo leben Sie? In der Freien Zone?«

Der Junge nickte, und für einen ganz kurzen Moment glaubte sie, ein mißtrauisches Flackern in seinem Blick wahrzunehmen.

»Was ist das für eine Sprache?« erkundigte sich Skudder.

»Französisch«, antwortete Charity. »Das hier ist Paris. Die Hauptstadt von Frankreich.«

»Ich wußte gar nicht, daß du Französisch sprichst«, sagte Gurk mit einem anzüglichen Grinsen. Charity schenkte ihm einen giftigen Blick und wandte sich wieder an den jungen Mann.

»Wie ist Ihr Name?« fragte sie.

»Jean.«

»Gut, Jean«, sagte Charity. »Ich danke Ihnen, daß Sie uns das Leben gerettet haben. Aber ...«

»Das war ich nicht.«

Charity sah ihn verdutzt an. »Wie?«

»Ich war es nicht«, wiederholte Jean. »Ich war draußen bei Ihnen, um Sie zu warnen. Die Festung muß von sich aus das Feuer eröffnet haben.«

Plötzlich leuchteten seine Augen voller jugendlicher Begeisterung auf. »Ich wußte immer, daß sie bewaffnet ist«, sagte er. »Aber ich wußte nicht, wie stark sie ist. Jetzt können wir mit den Ameisen aufräumen. Und mit den Jägern.«

Bei diesem letzten Wort veränderte sich seine Stimme. Sie bebte plötzlich vor Haß.

»Ich fürchte beinahe, daß wir noch ein wenig warten müssen«, sagte Charity vorsichtig. Sie sprach jetzt langsam, in sehr geduldigem Tonfall. »Sie werden wiederkommen, Jean. Und dann sind wir hier nicht mehr sicher.«

»Unsinn!« widersprach Jean heftig. »Sie haben doch selbst gesehen, was ...«

»Ich weiß, was dieses Fahrzeug kann«, unterbrach ihn Charity sanft. »Ich weiß das wahrscheinlich besser als Sie. Aber ich kenne auch seine Grenzen. Glauben Sie mir, wir müssen hier weg.«

»Die Festung ist unbesiegbar«, beharrte Jean. »Selbst wenn sie mit hundert Schiffen kommen!«

»Das mag schon sein«, sagte Charity ernst, »aber Sie dürfen die Moroni nie unterschätzen. Sie verfügen über Waffen, die Sie sich nicht einmal vorstellen können, Jean. Möchten Sie vielleicht in diesem Tank stecken, wenn sie einen Nuklear-Sprengsatz auf die Insel werfen?«

Jeans Gesichtsausdruck nach zu schließen schien er nicht einmal zu wissen, was eine Nuklearwaffe war. Aber er schien zumindest zu begreifen, wie ernst Charitys Worte gemeint waren, denn er widersprach nicht mehr.

»Die Freie Zone«, fuhr Charity fort. »Können Sie uns dort hinbringen?«

Der junge Mann zögerte. Einen Moment lang tastete sein Blick unsicher über Net, Skudder und Gurk. Dann nickte er zögernd.

»Sie können uns trauen, Jean«, sagte Charity lächelnd.

»Wer sind Sie?« fragte Jean. »Und wer sind die da?« Er deutete auf Gurk und die beiden anderen.

»Wir werden Ihnen alles erklären«, antwortete Charity, »aber jetzt müssen wir gehen. Und sei es nur«, fügte sie einer plötzlichen Eingebung folgend hinzu, »um diesen Panzer zu retten. Wenn sie zurückkommen und wir nicht mehr hier sind, dann finden sie ihn vielleicht nicht.«

Der junge Franzose zögerte noch immer. »Sie waren nicht allein«, sagte er. »Sie hatten einen Jäger bei sich. Warum?«

»Einen Jäger?«

»Kyle«, sagte Gurk. »Er hat den Megamann gesehen.«

»Sie meinen den Mann in der schwarzen Montur, der uns eine Weile begleitet hat?« vergewisserte sich Charity.

Jean nickte. »Den Jäger«, sagte er. »Was haben Sie mit ihm zu schaffen? Wieso war er bei Ihnen? Und wieso hat er Sie nicht angegriffen?«

»Auch das erkläre ich Ihnen - später«, sagte Charity. Sie machte eine Handbewegung auf die summenden, flackernden Kontrollinstrumente des Panzers.

»Bitte, Jean. Dieses Fahrzeug reagiert vollautomatisch, wie Sie selbst gesehen haben. Wenn sein Elektronenhirn zu dem Schluß kommt, daß wir in Gefahr sind, dann wird es das Feuer auf die Ameisen eröffnen. Und dann verlieren Sie es.«

Ihre Rechnung ging auf. Jean überlegte noch einen kurzen Moment, aber dann schien er einzusehen, daß Charity recht hatte.

»Also gut«, sagte er schweren Herzens, »dann kommt mit.«

Sein Blick glitt fast wehmütig über die flackernden Kontrollinstrumente. Charity wartete darauf, daß er sie ausschalten würde. Aber er tat nichts dergleichen, sondern drehte sich schließlich mit einem Seufzen um und ging zur Tür.

»Schalten Sie ihn nicht ab?« Charity sah ihn verwirrt an.

»Abschalten?«

Charity deutete auf das Kontrollpult. »Der Motor läuft noch«, sagte sie.

»Welcher Motor?« erkundigte sich Jean verwirrt.

Charity sah ihn erstaunt an. Offensichtlich hatte er nicht nur keine Ahnung, was er gefunden hatte, sondern auch alles völlig unverändert gelassen. So unglaublich ihr der Gedanke im ersten Moment selbst vorkam: Der Motor dieses Leopard mußte seit Jahren laufen, seit mehr als fünfzig Jahren.

Also war es besser, wenn sie nichts anrührten. Gott allein mochte wissen, was geschah, wenn man einen Nuklear-Motor ausschaltete, der seit fünfzig Jahren lief ...

Sie wandte sich zur Tür und prallte fast gegen Net, die mit angeekelter Miene versuchte, ihre Kleider von dem grauen Morast zu reinigen. »Was zum Teufel ist das für ein Zeug?« schimpfte die junge Wasteländerin. »Es ist schlimmer als Kleister!«

Jean sah sie fragend an, und Charity übersetzte sinngemäß.

»Manna«, sagte Jean.

Gurk sah ihn verwirrt an.

»Wir nennen es nur so«, sagte er. »Ich würde Ihnen nicht raten, etwas davon zu essen. Aber der Ameisenbrut schmeckt es ausgezeichnet.«

»Ameisenbrut?«

»Junge Ameisen«, erklärte Jean. »Die Eier, die die Königin legt, werden in den Fluß gebracht, wo sie ausschlüpfen. Die Jungen leben ausschließlich vom Manna, bis sie ausgewachsen sind und an Land kriechen. Aber sie verschmähen auch eine kleine Zwischenmahlzeit nicht, wenn sie sie kriegen können.«

»Das haben wir gemerkt«, erklärte Charity.

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