11


Es war nach langer Zeit die erste Nacht gewesen, in der sie das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein, und nicht von Alpträumen geplagt wurde. Sie erwachte durch das Gefühl von Sonnenlicht auf dem Gesicht, und obwohl es zu grell war, blieb sie minutenlang einfach mit geschlossenen Augen liegen und genoß die Wärme. Und für die gleiche Zeitspanne gönnte sie sich einen Luxus, den sie sich in all den Wochen, die seit ihrem Erwachen im Schlaftank verstrichen waren, niemals erlaubt hatte: sich der Illusion hinzugeben, daß alles nur ein böser Traum war, daß sie gleich die Augen öffnen und sich in ihrem Bett in dem kleinen weißen Haus in einem New Yorker Vorort wiederfinden würde.

Aber es blieb eine Illusion, und sie zerplatzte, als sie die Augen aufschlug und sah, daß sie nicht allein war.

Auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß eine ausgemergelte Gestalt mit dem Körper eines zwölfjährigen Kindes und dem Schädel eines kahlköpfigen, hundertjährigen Riesen. Gurk war offensichtlich eingeschlafen; sein Kopf, der tatsächlich zu schwer für seinen Hals zu sein schien, war zur Seite gesunken. Er bewegte sich unruhig im Schlaf, und seine Lippen formten lautlose Worte in einer fremden, unverständlichen Sprache.

Charity setzte sich lautlos auf und betrachtete den Zwerg aufmerksam. Gurk trug fast unentwegt einen weiten Mantel, der seine Gestalt bis zu den Knöcheln verhüllte. Seinen Kopf verbarg er fast immer unter einer gewaltigen Kapuze. Jetzt aber war er nur mit einer knielangen Hose und einem dünnen Hemd bekleidet. Die sonderbare Diskrepanz zwischen seinem Kopf und seinem Leib stach so noch stärker ins Auge. Während Charity den Zwerg schweigend betrachtete, fragte sie sich mit einem leisen Gefühl der Verwunderung, wieso weder ihr noch irgendeinem der anderen jemals aufgefallen war, wie fremdartig Gurk wirklich aussah. Er war ein humanoides Wesen, aber er war eindeutig kein Mensch. Und nicht zum ersten Mal war sie plötzlich fast sicher, daß der einzige Grund, aus dem sie sich nie diese Frage gestellt hatte, der war, daß Gurk nicht wollte, daß sie es tat.

Plötzlich erwachte Gurk. Er bewegte sich nicht, sondern hob nur die Lider, aber in seinem Blick lag keine Müdigkeit, sondern nur der Ausdruck einer sonderbar tiefen, fast väterlichen Zuneigung.

»Wer bist du?« fragte sie.

Statt zu antworten, lächelte Gurk flüchtig, setzte sich in seinem Stuhl auf und blickte an sich herab. Ein betroffener Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er bückte sich, hob den Mantel auf, der neben ihm auf dem Boden lag und deckte sich damit bis zum Hals zu. Er sah plötzlich aus wie ein Kind, das sich mit dem Kleidungsstück eines Erwachsenen zugedeckt hatte, weil ihm kalt war.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, erklärte Gurk.

Charity schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?« fragte sie.

»Ich habe darauf gewartet, daß du aufwachst«, antwortete Gurk. »Ich hatte das Gefühl, wir beide müssen miteinander reden. Allein.«

Charity fragte sich, ob es wirklich Zufall war, daß Gurk ihr wieder einmal zuvorgekommen war. Seit ihrer Flucht aus dem Shai-Taan hatte sie keine Zeit und keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Aber ein Gespräch war wichtig, denn von seinem Ausgang hing möglicherweise alles ab, was sie in Zukunft tun würden. Voller plötzlichem Schrecken wurde ihr bewußt, daß das Wissen dieses mißgestalteten Zwerges über die Zukunft dieses ganzen Planeten entscheiden konnte.

»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, es gibt da ein paar Dinge, die wir klären müssen.«

»Stone hat mit dir gesprochen«, sagte Gurk bekümmert. »Ich dachte mir, daß dieses alte Waschweib die Klappe nicht halten kann.«

Charity lächelte flüchtig. Gurk hatte bisher mit Erfolg den Narren gespielt, aber er war in Wahrheit alles andere als ein Narr.

»Also?« fragte Charity. »Wer fängt an? Du oder ich?«

Gurk seufzte. »Ich habe leider keine Zigaretten, die ich dir anbieten könnte.«

Charity blickte ihn fragend an.

»Du könntest mir die Asche aufs Haupt streuen, und ich könnte dazu laut mea culpa schreien und mir auf die Brust schlagen«, sagte Gurk erklärend.

Gegen ihren Willen mußte Charity lachen. »Du gibst nie auf, den Clown zu spielen, was?«

»Vielleicht bin ich es«, erwiderte Gurk ernst.

»Ich glaube eher, daß du gefährlich bist, kleiner Mann.«

Gurk grinste weiter, aber in seinen Augen glomm ein mißtrauisches Funkeln. »Gefährlich?« fragte er.

Charity nickte. »Gefährlich dumm oder gefährlich heimtückisch - ich bin noch nicht ganz sicher.«

»Heimtückisch vielleicht«, antwortete Gurk beleidigt. »Aber dumm bin ich nun wirklich nicht.«

»Du hast in aller Ruhe zugesehen, wie Skudder und ich mit vereinten Kräften angefangen haben, das Grab für diesen ganzen Planeten zu schaufeln«, sagte Charity.

»Jetzt überschätzt du dich, Cherry«, antwortete Gurk lächelnd. »So tief könnt ihr gar nicht graben.«

»Hör auf, den Idioten zu spielen«, bat Charity müde, »du weißt genau, was ich meine. Stone hat mir erzählt, was mit deinem Heimatplaneten Passiert ist.«

Sie behielt den Zwerg bei diesen Worten genau im Auge. Sie hatte damit gerechnet, daß er erschrak oder in Zorn geriet, aber Gurk grinste unerschüttert weiter.

»Hat er die Wahrheit gesagt?« fragte sie.

»Wer?« fragte Gurk.

»Stone«, antwortete Charity geduldig, obwohl ihr Gurks Blick verriet, daß er sehr genau wußte, was sie von ihm wollte. »Kurz, bevor sie kamen, entdeckten unsere Sternwarten das Licht einer neuen Supernova, Gurk. Wir tauften sie auf den Namen PRO-ALPHA-7. Ich nehme an, du hattest einen anderen Namen dafür.«

»So?«

»Stone behauptet, es wäre die Sonne deiner Heimat gewesen.«

»Er ist zweifellos ein helles Köpfchen.«

»Sie ist nicht von sich aus explodiert«, fuhr Charity fort. »Stone behauptet, die Moroni hätten sie gesprengt, als es ihnen nicht gelang, euch zu besiegen. Ist das die Wahrheit?«

»Klar«, antwortete Gurk. »Es gab einen ziemlichen Knall, kann ich dir sagen.«

Charity blieb ernst - und sie spürte auch, daß Gurk nicht so gefaßt war, wie er sich gab. »Und es macht dir gar nichts aus?«

Gurk zuckte mit den Achseln. »Es ist ziemlich lange her«, antwortete er. »Nach eurer Zeitrechnung ...« Er überlegte einen Moment, »... so ungefähr siebzigtausend Jahre, nicht wahr?« Charity nickte, und Gurk fuhr fort. »Eine Menge Zeit. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie es dort aussah.«

Es dauerte einen Moment, bis Charity begriff, was der Zwerg da überhaupt gesagt hatte. Ungläubig riß sie die Augen auf und starrte ihn an. »Du ... du warst ... dabei?«

Gurk nickte. »Ich war einer der letzten, die wegkamen«, bestätigte er.

Charity starrte Gurk mit immer größerer Verblüffung an. Sie zweifelte keine Sekunde an seinen Worten.

Sie spürte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß der Zwerg nicht log. »Du ... du willst mir erzählen ... daß du ... siebzigtausend Jahre alt bist?«

»Willst du meine Geburtsurkunde sehen?« Gurk grinste und entblößte dabei eine Reihe spitzer, gelber Zähne. »Natürlich bin ich so alt. Aber natürlich bin ich es auch nicht.«

»Aha«, sagte Charity.

»Ich gehörte zu denen, die im letzten Moment herauskamen«, fuhr Gurk fort. »Wir hatten ein Sternenschiff. Einige von uns haben es geschafft, im letzten Moment wegzukommen.« Seine Stimme wurde leiser, und plötzlich trat doch ein Ausdruck von Verbitterung in seine Augen. »Aber nicht sehr viele«, fügte er hinzu.

»Und die anderen?« fragte Charity mitfühlend.

»Es war ein sehr kleines Schiff. Wir waren zweihundertsechsundachtzig. Alles, was von der Bevölkerung meines ganzen Planeten übrigblieb.«

»Ich meine die anderen Schiffe«, bemerkte Charity rasch.

Gurk schüttelte den Kopf.

»Ich ... will nicht darüber reden. Ich ... war zufällig an Bord des Schiffes, als es geschah«, sagte er. »Es ging so ... unglaublich schnell. In der einen Sekunde war die Sonne noch da, und in der anderen ...«

»Was genau ist passiert?« fragte Charity.

Gurk lächelte schmerzlich. »Du kennst die Geschichte. Du hast sie auch erlebt. Sie kamen eines Tages aus dem Nichts, und wir waren ebensolche Narren wie ihr - wir haben ihnen nicht nur noch die Tür aufgehalten, wir haben ihnen den roten Teppich ausgerollt, wenn du so willst. Wie dumm waren wir! Wir haben auf die Freunde von den Sternen gewartet, die aus dem Transmitter treten - und an ihrer Stelle kamen sie.«

»Aber ihr habt sie zurückgeschlagen«, bemerkte Charity.

»O ja!« Gurks Stimme schnappte fast über. »Wir haben sie besiegt - immer und immer wieder. Am Ende«, fügte er leise hinzu, »haben wir uns wohl totgesiegt.«

Er hob die Hände, als wolle er sie in einer verzweifelten Geste vor das Gesicht schlagen, ließ sie dann aber wieder sinken und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Es war nichts als ein Zufall, daß ein paar von uns überlebten. Vielen von uns war klar, daß wir ihnen nicht bis in alle Zukunft Widerstand leisten konnten. Wir wußten, daß wir früher oder später verlieren würden, und aus diesem Grund bauten wir auch das Schiff.«

»Um damit zu fliehen und irgendwo eine neue Heimat zu suchen«, vermutete Charity.

»Ja.« Gurk nickte. »Es wäre so oder so sinnlos gewesen. Sie beherrschten damals schon fast die Hälfte der Galaxis, und sie werden auch die andere Hälfte erobern. Keine Macht des Universums kann sie jetzt noch aufhalten. Wir befanden uns auf einem Probeflug und wollten gerade nach Hause zurückkehren, als die Sonne explodierte. Daß wir davonkamen, war ein Wunder. Das Schiff war fast so schnell wie das Licht. In den ersten Wochen rechnete keiner von uns damit, daß wir es schaffen würden. Aber irgendwie haben wir es geschafft.«

»Und dann?« fragte Charity.

Gurk seufzte tief und zuckte mit den Schultern. »Wir versuchten, eine andere Heimat zu finden«, antwortete er. »Aber es war aussichtslos. Wohin wir auch kamen, sie waren entweder schon da, oder die Sonnen hatten keine bewohnbaren Planeten. Wir besuchten mehr als ein Dutzend Welten, aber es war überall dasselbe. Schließlich beschlossen wir, so lange einfach geradeaus zu fliegen, wie unsere Maschinen mitspielten. Es war so eine Art Selbstmord mit Verzögerung. Aber was hatten wir schon zu verlieren?«

»Und dann seid ihr hierhergeflogen?«

»Zum anderen Ende der Milchstraße«, bestätigte Gurk. »Nicht hierher zu dieser Welt. Die Maschinen des Raumschiffes arbeiteten mehr als ein Jahrhundert hindurch zuverlässig, aber es waren eben nur Maschinen, und jede Maschine geht irgendwann einmal kaputt. Wir mußten auf einer Welt notlanden, die schon von ihnen erobert worden war.«

»Ein Jahrhundert?« fragte Charity. Sie versuchte, scherzhaft zu klingen. »Und was habt ihr in den anderen neunundsechzig getan?«

»Ein Jahrhundert unserer Zeit«, antwortete Gurk. »Du weißt, was geschieht, wenn sich ein Raumschiff der Lichtgeschwindigkeit nähert.«

»Die Zeit an Bord verstreicht langsamer«, sagte Charity.

Gurk nickte. »Wir flogen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit, so daß für uns die Zeit praktisch stehenblieb. Einige von uns hofften, ihnen auf diese Weise zu entkommen. Leider war es nur eine weitere vergebliche Hoffnung. Wir landeten auf einem Planeten ein paar Dutzend Lichtjahre von hier und versuchten uns irgendwie durchzuschlagen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ob es den anderen gelungen ist oder ob ich der letzte bin.«

»Und wie bist du dann hierhergekommen?«

»So wie alle anderen«, antwortete Gurk. »Kyle und seine mörderischen Brüder sind nicht ihre einzigen Sklaven.«

Er kicherte leise. »Das klingt fast komisch, wie? Sklaven, die sich Sklaven halten. Aber wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist es gar nicht so schlimm. Solange man sich unauffällig verhält und tut, was sie von einem verlangen, kommt man ganz gut durch.«

Charity seufzte. »Dann ist es also sinnlos«, murmelte sie. »Wenn ... wenn das alles stimmt, Gurk, dann hat nichts von alledem Sinn gehabt, was ich bisher getan habe. Dann können wir nicht gewinnen. Und wenn doch, dann verlieren wir trotzdem.«

»Wir leben noch, oder?«

»Ja«, sagte Charity bitter. »Wir leben noch. Und wir bereiten ihnen ein bißchen Ärger. Doch wenn wir ihnen zuviel Ärger machen, dann ...« Sie spreizte ruckartig die Finger der rechten Hand, um eine Explosion zu demonstrieren.

»Willst du aufgeben?« fragte Gurk.

Charity starrte ihn an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber es war kein Schmerz, sondern eine sonderbare Mischung aus Verzweiflung und ohnmächtiger Wut, die sie verspürte.

»Natürlich nicht!« sagte sie bitter. »Wir werden weiterkämpfen, und vielleicht gelingt es uns ja sogar, sie zurückzuschlagen.«

»Ich glaube, jetzt überschätzt du dich wirklich«, sagte Gurk ernst. »Ganz egal, wer du bist und was du weißt, du wirst es kaum ganz allein schaffen, sie zu schlagen.«

»Dann verrate mir, warum ich es überhaupt versuchen soll!« fragte Charity.

»Um in Freiheit zu leben, Charity. Du weißt so unendlich viel über die Vergangenheit dieses Planeten, viel mehr als irgendeiner von denen, die heute hier leben. Du kannst die Moroni nicht schlagen. Du kannst ihnen nicht einmal wirklich Schaden zufügen. Keiner kann das. Aber du kannst wenigstens einigen anderen die Freiheit zurückgeben. Willst du wissen, warum ich bei euch geblieben bin? Weil ich glaube, daß du es wirklich schaffen kannst. All diese Narren, die sich selbst Rebellen und Widerständler nennen, tun doch nichts anderes als das, was Daniel und seine Kreaturen ihnen gestatten. Aber du kannst irgendwo auf dieser Welt einen Ort finden, an dem wenigstens einige von euch in Freiheit leben können.«

Es vergingen Sekunden, bis Charity überhaupt begriff, was Gurk gesagt hatte. »Das ist doch nicht dein Ernst«, murmelte sie.

Auf Gurks Gesicht machte sich wieder dieses sonderbare, beinahe väterliche Lächeln breit. »Doch.«

»Das glaubst du wirklich?« Charity stand mit einem Ruck auf. »Sieh dich hier um, Gurk«, verlangte sie. »Schau dich in dieser sogenannten Freien Zone um, und dann wiederhole das, was du gerade gesagt hast.«

»Die Menschen hier sind glücklich«, erwiderte Gurk leise.

»Das sind sie nicht!« widersprach Charity. »Sie sind Gefangene! Sie sind ...«

»Sie sind frei«, unterbrach sie Gurk. Er beugte sich in seinem Sessel vor und blickte sie mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an. Zum ersten Mal spürte Charity, wie unendlich alt dieses Wesen war; und auf seine Art wohl auch weise. »Sie sind frei, Charity«, wiederholte Gurk. »All diese Menschen wären schon lange tot, wenn sie sie nicht hierhergebracht hätten! Du hast es doch selbst gesehen!«

»Hierhergebracht?« Charity lachte bitter. »O ja. Jene, die sie nicht gebrauchen konnten und die das Glück hatten, ihre Experimente zu überleben! Einer von hundert!«

»Sie leben«, beharrte Gurk. »Sie leben, sie können tun und lassen, was sie wollen, sie ...«

Nun war es Charity, die Gurk mit schriller Stimme unterbrach: »Das sind sie nicht! Sie sind Gefangene, und sie wissen es nicht einmal. Sie leben in dieser Stadt unter dieser verdammten Energiekuppel, und sie leben nur so lange, wie es ihnen die Ameisen erlauben!«

»Und?« fragte Gurk ruhig. »Ist das so ein großer Unterschied?« Er hob besänftigend die Hand, als Charity schon wieder auffahren wollte. »Ich habe die Welt, in der du geboren wurdest, niemals kennengelernt, aber eines weiß ich: Ihr wart auch früher nicht frei, auch wenn ihr es vielleicht geglaubt habt. Ihr habt euch selbst Grenzen gesetzt, und wo ihr sie überwunden habt, da seid ihr auf andere gestoßen, die die Natur für euch errichtet hatte. Ihr wart nur so lange frei, wie es das, was ihr eine höhere Gerechtigkeit genannt habt, es zuließ.«

»Aber das ist ein Unterschied«, sagte Charity.

Gurk lächelte flüchtig. »Er ist nicht so groß, wie du vielleicht glaubst.«

Charity begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen, aber statt Gurk anzufahren, wie sie eigentlich gewollt hatte, blieb sie plötzlich wieder stehen und sah ihn sehr nachdenklich an. »Glaubst du an einen Gott?« fragte sie.

Die Frage schien Gurk zu überraschen - und aus irgendeinem Grund auch in Verlegenheit zu bringen. Einige Sekunden lang blickte er verwirrt zu Charity auf. »Ja«, sagte er dann. »Vielleicht auf eine etwas andere Art und Weise als du, aber ja ... die Antwort ist ja.«

»Ich auch«, antwortete sie. »Und deshalb kann ich das, was du gesagt hast, nicht akzeptieren. Wer immer sie sind - eines sind sie bestimmt nicht: eine gottgesandte Plage.« Sie machte eine zornige Geste zum Fenster. »Ich kann so nicht leben! Und diese Menschen hier«, fügte sie leiser hinzu, »auch nicht.«

»Worte!« sagte Gurk. »Schöne Worte, Captain Charity Laird. Ihr seid Meister der Worte, Charity. Ich habe eure Literatur studiert und eure Geschichte. Dein Volk und meines, sie sind sich ähnlicher, als du ahnst. Aber in einem unterscheiden wir uns: Wir haben schon vor langer Zeit begriffen, daß man die Dinge so nehmen muß, wie sie kommen.«

»Ja«, sagte Charity zornig. »Deshalb seid ihr auch untergegangen.«

»Weil wir nichts daraus gelernt haben«, antwortete Gurk ruhig. »Wir haben versucht, uns gegen das Unvermeidliche zu wehren. Mit dem Ergebnis, daß wir ausgelöscht wurden. Ich will nicht, daß es deinem Volk genauso ergeht.«

»Bist du deshalb bei uns?« fragte Charity. »Ist das der Grund? Du hast mich nicht begleitet, weil du glaubst, ich könnte Erfolg haben. Du bist bei mir, weil du es fürchtest.«

»Unsinn!« widersprach Gurk. »Ich habe dir schon einmal gesagt, du überschätzt dich. Die Moroni und ihre Helfer sind vielleicht Banditen, aber jeder wirklich gute Pirat ist auch ein Kaufmann. Es wäre nicht sehr ökonomisch, einen Planeten zu erobern und fünfzig Jahre lang zu kolonisieren, um ihn dann zu vernichten, nur weil eine einzige Person einem Ärger bereitet.«

»Na wunderbar!« versetzte Charity erbost. »Dann geben wir auf! Dann werde ich jetzt zu dieser Basis gehen und mich Kyles Brüdern stellen. Vielleicht gilt Stones Angebot ja noch, und er macht mich zu seiner Adjutantin.«

Gurk sah sie traurig an. Er wirkte enttäuscht, aber nicht zornig. »In gewissem Sinne ist sein Weg richtig«, sagte er nach einer Weile. »Er hat erkannt, daß es keine Gegenwehr gegen sie gibt. Also versucht er, aus der Situation das Beste zu machen. Für sich - und für sein Volk. Ich stimme mit dir überein, daß Stone zu viel für sich und zu wenig für seine Leute tut. Aber das Prinzip ist nicht falsch.«

Fast zu ihrer eigenen Verblüffung widersprach Charity nicht sofort. Sie mochten beide recht haben. Vielleicht gab es wirklich mehr als eine Wahrheit. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer.

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