Sidney Sheldon Jenseits von Mitternacht

Prolog

Athen 1947

Durch die staubige Windschutzscheibe seines Wagens sah Polizeichef Georgios Skouri, wie die Geschäftshäuser und Hotels der Innenstadt Athens in einem langsamen Tanz der Auflösung zusammenstürzten, ein Gebäude nach dem anderen, wie Reihen riesiger Kegel auf einer kosmischen Kegelbahn.

»Zwanzig Minuten«, meldete der uniformierte Polizist am Steuer. »Kein Verkehr!«

Skouri nickte abwesend und starrte auf die Häuser. Es war ein Trugbild, das ihn immer wieder faszinierte. Die flimmernde Hitze der erbarmungslosen Augustsonne hüllte die Gebäude in wallende Wogen, so dass sie in einem anmutigen Wasserfall aus Stahl und Glas auf die Straßen herunterzustürzen schienen.

Es war zehn Minuten nach zwölf, die Straßen waren fast menschenleer, doch selbst die paar Fußgänger unterwegs waren zu träge, um den drei Polizeiwagen, die in schnellem Tempo ostwärts Richtung Hellenikon, dem Flughafen zwanzig Meilen vom Zentrum Athens entfernt, fuhren, mehr als einen neugierigen Blick zu schenken. Chef Skouri saß im ersten Wagen. Unter gewöhnlichen Umständen wäre er in seinem komfortablen, kühlen Büro geblieben, während seine Untergebenen in der sengenden Mittagshitze Dienst taten, aber die Umstände waren durchaus ungewöhnlich, und Skouri hatte einen doppelten Grund, persönlich anwesend zu sein. Erstens würden im Laufe des Tages Flugzeuge mit hochgestellten Persönlichkeiten aus allen Teilen der Welt ankommen, und man musste Vorkehrungen treffen, dass sie gebührend willkommen geheißen und mit einem Minimum an Scherereien durch den Zoll geschleust wurden. Zweitens, und weitaus wichtiger, würde der Flughafen von ausländischen Zeitungsberichterstattern und Wochen-schau-Kameraleuten wimmeln. Skouri war kein Dummkopf; beim Rasieren an jenem Morgen war ihm der Gedanke gekommen, dass es seiner Karriere nichts schaden könnte, wenn er in den Wochenschauen beim Empfang der berühmten Gäste gezeigt würde. Es war ein außerordentlicher Glückstreffer, der es gefügt hatte, dass ein so weltweit sensationeller Fall sich ausgerechnet in seinem Bereich zugetragen hatte, und er wäre blöde, wenn er daraus nicht seinen Nutzen zöge. Er hatte eingehend mit den beiden Menschen, die ihm auf der Welt am nächsten standen, darüber gesprochen: mit seiner Frau und seiner Geliebten. Anna, eine Frau mittleren Alters, häßlich, verbittert, von bäuerlicher Herkunft, hatte ihm befohlen, sich dem Flughafen fernzuhalten und im Hintergrund zu bleiben, damit man ihm nicht die Schuld in die Schuhe schieben könnte, wenn etwas schiefginge. Melina, sein süßer, schöner junger Engel, hatte ihm geraten, die Gäste zu begrüßen. Sie war auch seiner Meinung, dass ein solches Ereignis ihn sofort berühmt machen könnte. Wenn Skouri die Sache gut handhabte, bekäme er zumindest eine Gehaltserhöhung, und er würde – so Gott wollte – vielleicht sogar zum Polizeioberkommissar befördert werden, wenn der gegenwärtige Oberkommissar in Pension ging. Zum hundertstenmal sann er über die Ironie nach, dass Melina seine Frau und Anna seine Geliebte war, und fragte sich wieder, was er falsch gemacht hatte.

Jetzt wandte Skouri seine Gedanken dem Kommenden zu. Er musste sichergehen, dass auf dem Flughafen alles vollkommen reibungslos vonstatten ging. Er hatte ein Dutzend seiner besten Leute bei sich. Sein Hauptproblem wäre, wie er sehr wohl wusste, die Presse im Zaum zu halten. Er war über die große Zahl Berichterstatter wichtiger Zeitungen und Magazine erstaunt gewesen, die aus allen Teilen der Welt nach Athen geströmt waren. Er selbst war sechsmal interviewt worden – jedesmal in einer anderen Sprache. Seine Antworten waren in Deutsch, Englisch, Japanisch, Französisch, Italienisch und

Russisch übersetzt worden. Er sonnte sich schon in seiner neuen Berühmtheit, als der Oberkommissar angerufen und ihm mitgeteilt hatte, er hielte es für unklug, dass ein Polizeichef sich öffentlich über einen Mordprozess äußerte, der noch gar nicht stattgefunden hätte. Skouri war sicher, dass der wahre Beweggrund des Oberkommissars Neid war, hatte aber vorsichtigerweise beschlossen, nicht auf seinem Standpunkt zu beharren, und hatte alle weiteren Interviews abgelehnt. Jedoch konnte der Oberkommissar sicher nichts dagegen einzuwenden haben, wenn er, Skouri, sich zufällig auf dem Flughafen im Zentrum des Treibens befände, während die WochenschauKameras die ankommenden Persönlichkeiten aufnahmen.

Als der Wagen die Sygrou Avenue hinunterraste und am Meer nach links auf Phaleron zu einbog, spürte Skouri, wie sich ihm der Magen zusammenzog. Sie waren jetzt nur noch fünf Minuten vom Flughafen entfernt. In Gedanken ging er noch einmal die Liste der Berühmtheiten durch, die noch vor Einbruch der Nacht in Athen ankämen.

Armand Gautier war luftkrank. Er hatte eine tief verwurzelte Angst vor dem Fliegen, die von Ichsucht und Eigenliebe herrührte, und das, zusammen mit der auf der Höhe der griechischen Küste im Sommer häufig anzutreffenden Luftturbulenz, hatte heftigen Brechreiz bei ihm hervorgerufen. Er war ein großer, asketisch magerer Mann mit gelehrtenhaften Gesichtszügen, hoher Stirn und einem dauernd zynischen Mund. Als Zweiundzwanzigjähriger hatte er mitgewirkt, La Nouvelle Vague in der schwer ringenden französischen Filmindustrie zu schaffen, und war in den folgenden Jahren zu noch größeren Triumphen am Theater gelangt. Heute nun war er einer der anerkannt größten Regisseure der Welt und spielte seine Rolle auch danach. Bis zu den letzten zwanzig Minuten war es ein sehr angenehmer Flug gewesen. Die ihn erkennenden Stewardessen hatten ihm jeden Wunsch erfüllt und durchblicken lassen, sie stünden ihm auch für andere Dienste zur Verfügung. Mehrere Passagiere waren während des Fluges zu ihm gekommen und hatten ihm gesagt, wie sehr sie seine Filme und Bühnenstücke bewunderten, aber er war am meisten an der hübschen englischen Studentin vom St. Anne's College in Oxford interessiert. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über das Theater und hatte Armand Gautier zum Thema gewählt. Ihre Unterhaltung war gut verlaufen, bis das Mädchen den Namen Noelle Page erwähnt hatte.

»Sie waren ihr Regisseur, nicht wahr?« fragte sie. »Ich hoffe, ich bekomme Zutritt zu ihrer Verhandlung. Es wird ein Zirkus werden.«

Gautier wurde sich bewusst, dass er seine Armlehnen packte, und die Heftigkeit seiner Reaktion überraschte ihn. Selbst nach den vielen Jahren rief die Erinnerung an Noelle einen Schmerz in ihm wach, der so schneidend war wie eh und je. Niemand hatte ihn so bewegt wie sie, und niemand würde ihn wieder so bewegen. Seitdem Gautier vor drei Monaten von Noelles Verhaftung gelesen hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken. Er hatte ihr telegraphiert und geschrieben, hatte ihr angeboten, alles, was in seiner Macht stünde, für sie zu tun, aber nie hatte er eine Antwort erhalten. Er hatte nicht die Absicht, dem Verfahren gegen sie beizuwohnen, aber er wusste, er konnte nicht fernbleiben. Er sagte sich, der Grund sei, dass er sehen wollte, ob sie sich verändert habe, seitdem sie zusammengelebt hatten. Und doch gestand er sich ein, dass es ein anderer Grund war. Sein Theater – Ich musste dabeisein, um das Drama zu betrachten, Noelles Gesicht zu beobachten, wenn der Richter ihr sagte, dass sie leben würde oder sterben müsste.

Die metallische Stimme des Piloten kündigte über Bordverständigung an, dass sie in drei Minuten in Athen landen würden, und die Erregung des Vorgefühls, Noelle wiederzusehen, ließ Armand Gautier seine Luftkrankheit vergessen.

Dr. Israel Katz flog aus Kapstadt nach Athen. Er war Neurochirurg und Chefarzt am Groote Schuur, dem großen neuen, soeben erbauten Hospital. Dr. Israel Katz war als einer der führenden Neurochirurgen in der Welt anerkannt. Die medizinischen Fachzeitschriften berichteten laufend über seine Neuerungen. Unter seinen Patienten befanden sich ein Premierminister, ein Präsident und ein König.

Er lehnte sich auf seinem Platz in der BOAC-Maschine zurück, ein Mann mittlerer Größe mit einem markanten, intelligenten Gesicht, tief liegenden braunen Augen und langen schlanken, ruhelosen Händen. Dr. Katz war müde, und aus diesem Grunde begann er, den vertrauten Schmerz in einem linken Bein zu spüren, das gar nicht mehr vorhanden war, einem vor sechs Jahren von einem Riesen mit einer Axt amputierten Bein.

Es war ein langer Tag gewesen. Er hatte noch vor Sonnenaufgang operiert, bei einem Dutzend Patienten Visite gemacht und war aus einer Aufsichtsratssitzung des Hospitals weggegangen, um nach Athen zu dem Prozess zu fliegen. Seine Frau Esther hatte ihm abgeraten.

»Du kannst jetzt nichts für sie tun, Israel.«

Vielleicht hatte sie Recht, aber Noelle Page hatte einmal ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um das seine zu retten, und er war in ihrer Schuld. Er dachte jetzt an Noelle und hatte dasselbe unbeschreibliche Gefühl, das er immer gehabt hatte, wenn er bei ihr war. Es war, als ob die bloße Erinnerung an sie die Jahre, die sie trennten, schwinden lassen könnte. Natürlich war es eine romantische Einbildung. Nichts konnte jene Jahre je zurückbringen. Dr. Israel Katz spürte, wie das Flugzeug zitterte, als das Fahrgestell ausgefahren wurde und es zur Landung ansetzte. Er blickte durchs Bullauge, und unter ihm lag Kairo ausgebreitet, wo er in eine TAE-Maschine nach Athen und zu Noelle umsteigen würde. War sie des Mordes schuldig? Als die Maschine auf die Landebahn zusteuerte, musste er an den anderen entsetzlichen Mord denken, den sie

in Paris begangen hatte.

Philippe Sorel stand an der Reling seiner Jacht und beobachtete, wie der Hafen Piräus näher rückte. Er hatte die Seereise genossen, weil sie ihm eine der seltenen Gelegenheiten bot, seinen Fans zu entfliehen. Sorel war einer der wenigen sicheren Kassenmagneten in der Welt, wenngleich die Chancen, dass er je die Höhe des Stars erklimmen würde, äußerst gering gewesen waren. Er war kein gutaussehender Mann. Im Gegenteil. Er hatte das Gesicht eines Boxers, der sein letztes Dutzend Matches verloren hatte. Seine Nase war mehrere Male gebrochen, sein Haarwuchs war dünn, und er hinkte leicht. Aber all dies spielte keine Rolle, denn Philippe Sorel hatte SexAppeal. Er war ein gebildeter, leise sprechender Mann, und die Verbindung seiner ihm angeborenen Güte mit dem Gesicht und dem Körper eines LKW-Fahrers machte die Frauen toll und ließ die Männer zu ihm aufsehen wie zu einem Helden. Jetzt näherte sich seine Jacht dem Hafen, und Sorel fragte sich wieder, was er eigentlich hier verloren hatte. Er hatte einen Film, den er hatte drehen wollen, aufgeschoben, um bei Noelles Prozess anwesend sein zu können. Er war sich nur zu wohl bewusst, was für ein leichtes Ziel er der Presse bieten würde, wenn er jeden Tag im Gerichtssaal säße, völlig ungeschützt von seinen Presseagenten und Managern. Die Reporter würden seine Anwesenheit bestimmt mißverstehen und glauben, es sei ein Versuch, aus dem Mordprozess seiner früheren Geliebten Kapital in Form von Publicity zu schlagen. Wie immer er es ansah, würde es eine schmerzliche Erfahrung werden, aber Sorel musste Noelle wiedersehen, musste herausbekommen, ob es eine Möglichkeit gab, ihr zu helfen. Als die Jacht in den mit weißen Steinen ausgemauerten Hafendamm glitt, dachte er über die Noelle nach, die er gekannt, mit der er gelebt und die er geliebt hatte, und kam zu dem Schluß: Noelle war eines Mordes durchaus fähig.

Während Philippe Sorels Jacht der Küste Griechenlands zueilte, saß der persönliche Referent des Präsidenten der Vereinigten Staaten in einem Pan American Clipper, hundert Luftmeilen nordwestlich vom Flughafen Hellenikon entfernt. William Fräser war ein Mittfünfziger, ein gutaussehender grauhaariger Mann mit kantigem Gesicht und gebieterischem Wesen. Er starrte auf eine Akte in seiner Hand, hatte jedoch seit mehr als einer Stunde keine Seite umgeblättert oder sich gerührt. Fräser hatte Urlaub genommen, um diese Reise zu machen, obgleich sie zur ungeeignetsten Zeit gekommen war, mitten in einer Kongreßkrise. Er wusste, wie schmerzlich die nächsten Wochen für ihn sein würden, doch war er überzeugt, dass er keine andere Wahl hatte. Es war eine Reise der Rache, und dieser Gedanke erfüllte Fräser mit kalter Befriedigung. Bewusst zwang er sich, nicht an den morgen beginnenden Prozess zu denken, und blickte durchs Fenster der Maschine. Tief unten konnte er ein Ausflugsboot mit Kurs auf Griechenland sehen, dessen Küste undeutlich in der Ferne auftauchte.

Auguste Lanchon war drei Tage lang seekrank und furchterfüllt gewesen. Seekrank, weil das Boot, das er in Marseille bestiegen hatte, in den Ausläufer eines Mistrals geraten war, und furchterfüllt, weil er Angst hatte, seine Frau könnte herausfinden, was er tat. Auguste Lanchon war in den Sechzigern, ein dicker, glatzköpfiger Mann mit kurzen Beinen und einem pockennarbigen Gesicht mit Schweinsaugen und dünnen Lippen, zwischen denen ständig der Stummel einer billigen Zigarre stak. Lanchon besaß ein Modegeschäft in Marseille und konnte es sich nicht leisten, sich wie reiche Leute einen richtigen Urlaub zu nehmen – das zumindest erklärte er dauernd seiner Frau. Natürlich war dies nicht eigentlich ein Urlaub, rief er sich ins Gedächtnis. Er musste seinen Liebling Noelle noch einmal sehen. In den Jahren, nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte er ihre Laufbahn in den Klatschspalten der Zeitungen und Magazine begierig verfolgt. Als sie die Hauptrolle in ihrem ersten Stück spielte, war er mit der Bahn extra nach Paris gefahren, um sie zu sehen, aber Noelles blöde Sekretärin hatte ihn nicht vorgelassen. Später hatte er immer wieder Noelles Filme gesehen und hatte sich dabei an ihre Umarmungen erinnert. Gewiss, diese Reise würde teuer werden, aber Auguste Lanchon wusste, dass jeder Sou, den er ausgab, sich lohnen würde. Sein Liebling Noelle würde sich an die schöne Zeit erinnern, die sie zusammen verbracht hatten, und sie würde sich schutzsuchend an ihn wenden. Er würde einen Richter oder sonst einen Beamten bestechen – wenn es nicht zuviel kostete -, Noelle würde freigesprochen werden, und er würde sie in einem kleinen Appartement in Marseille unterbringen, wo sie immer für ihn da wäre, wenn er sie brauchte. Wenn bloß seine Frau nichts herausbekam.

In Athen arbeitete Frederick Stavros in seinem winzigen Anwaltsbüro im zweiten Stock eines alten heruntergekommenen Hauses im Armenbezirk Monastiraki. Stavros war ein empfindsamer junger Mann, eifrig und ehrgeizig, sich mühsam abrackernd, um aus seinem gewählten Beruf eine Existenzgrundlage zu schaffen. Da er sich keine Bürokraft leisten konnte, musste er die ganze langweilige juristische Kleinarbeit selbst erledigen. Gewöhnlich haßte er diesen Teil seiner Tätigkeit, diesmal machte sie ihm aber nichts aus, weil er wusste, dass seine Dienste, wenn er diesen Fall gewänne, derart gefragt sein würden, dass er sich für den Rest seines Lebens keine Sorgen mehr machen müsste. Dann könnten er und Elena heiraten und eine Familie gründen. Er würde in eine Flucht luxuriöser Büroräume umziehen, Sekretäre einstellen und in einen fashionablen Athener Klub eintreten, wo man mit reichen potentiellen Klienten bekannt wurde. Die Verwandlung hatte bereits begonnen. Jedesmal, wenn Frederick auf die Straße trat, wurde er von jemandem erkannt und angehalten, der sein Bild in der Zeitung gesehen hatte. In wenigen Wochen war er aus der Anonymität herausgeschleudert und zum Verteidiger von Larry Douglas geworden. Ganz im Hintergrund seiner Seele gestand Stavros sich ein, dass er den falschen Klienten hatte. Viel lieber hätte er die bezaubernde Noelle Page statt einer Null wie diesen Larry Douglas verteidigt, aber er selbst war ja auch eine Null. Es genügte schon, dass er, Frederick Stavros, ein Hauptbeteiligter in dem sensationellsten Mordfall des Jahrhunderts war. Spräche man die Angeklagten frei, würde jeder genug Ruhm ernten. Nur etwas plagte Stavros, und er musste unaufhörlich daran denken. Beide Angeklagten waren desselben Verbrechens bezichtigt, aber Noelle Page hatte einen anderen Verteidiger. Wenn Noelle Page für unschuldig befunden wurde und Larry Douglas wurde verurteilt ... Stavros bebte und versuchte, nicht daran zu denken. Die Reporter fragten ihn immer wieder, ob er die Angeklagten für schuldig halte. Er lächelte über ihre Naivität in sich hinein. Welche Rolle spielte es, ob sie schuldig oder unschuldig waren? Sie hatten Anspruch auf die beste Verteidigung, die man für Geld bekommen konnte. In seinem Fall gab er zu, dass die Definition ein wenig überspannt war. Aber im Falle von Noelle Pages Anwalt... nun, das war etwas anderes. Napoleon Chotas hatte ihre Verteidigung übernommen, und es gab keinen glänzenderen Strafverteidiger in der Welt. Chotas hatte noch nie einen wichtigen Fall verloren. Als er darüber nachdachte, lächelte Frederick Stavros vor sich hin. Er hätte es niemandem eingestanden, aber er plante, auf Napoleon Chotas' Talent zum Sieg zu reiten.

Während Frederick Stavros in seinem schäbigen Anwaltsbüro schuftete, war Napoleon Chotas auf einer Dinner Party in einem luxuriösen Haus im eleganten Viertel Kolonaki in Athen. Chotas war ein dünner, ausgemergelt aussehender Mann mit den großen traurigen Augen eines Bluthundes in einem runzligen Gesicht. Er verbarg einen glänzenden, durchdringenden Verstand hinter einem freundlichen, leicht verwirrten Benehmen. Chotas saß da, stocherte an seinem Nachtisch herum, war in Gedanken verloren, sann über den

Prozess nach, der morgen beginnen würde. Der größte Teil der Unterhaltung an jenem Abend hatte sich um den kommenden Prozess gedreht. Die Diskussion wurde allgemein gehalten, denn die Gäste waren zu taktvoll, ihm direkte Fragen zu stellen. Aber gegen Ende des Abends, als Ouzo und Cognac reichlicher flössen, hatte die Gastgeberin gefragt: »Sagen Sie uns, halten Sie sie für schuldig?«

Chotas erwiderte unschuldig: »Wie könnten sie schuldig sein? Einer von ihnen ist mein Klient.« Was ihm verständnisvolles Lachen eintrug.

»Wie ist Noelle Page wirklich?«

Chotas zögerte. »Sie ist eine absolut ungewöhnliche Frau«, erwiderte er vorsichtig. »Sie ist schön und begabt« Zu seiner eigenen Überraschung entdeckte er, dass er plötzlich nicht mehr über sie sprechen wollte. Außerdem war es unmöglich, Noelle mit Worten zu fassen. Noch bis vor einigen Monaten war er sich ihrer nur undeutlich als einer bezaubernden Erscheinung bewusst gewesen, die durch die Klatschspalten huschte und die Vorderseiten von Filmmagazinen zierte. Er hatte sie nie zu Gesicht bekommen, und wenn er überhaupt an sie gedacht hatte, dann mit der gleichgültigen Verachtung, die er allen Schauspielerinnen gegenüber hegte. Nur Körper und kein Hirn. Aber wie hatte er sich da geirrt! Als er Noelle kennen lernte, hatte er sich hoffnungslos in sie verliebt. Wegen Noelle Page hatte er seine Grundregel gebrochen: sich bei einem Klienten nie emotionell zu engagieren. Chotas erinnerte sich lebhaft an den Nachmittag, an dem man an ihn herangetreten war, ihre Verteidigung zu übernehmen. Er war gerade beim Packen für eine Reise gewesen, die er und seine Frau nach New York machen wollten, wo ihre Tochter soeben ihr erstes Kind bekommen hatte. Nichts, so hatte er geglaubt, hätte ihn von dieser Reise abhalten können. Aber es hatte nur zweier Worte bedurft. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Diener ins Schlafzimmer treten, ihm das Telefon reichen und sagen:

»Constantin Demiris.«

Die Insel war nur mit Hubschrauber und Jacht zu erreichen, und Flughafen und Privathafen wurden rund um die Uhr von bewaffneten Wachen mit dressierten Schäferhunden abpatrouilliert. Die Insel war das Privatherrschaftsgebiet von Constantin Demiris, und niemand betrat sie ohne Einladung. Über die Jahre hinweg hatten ihre Gäste Könige und Königinnen, Präsidenten und ehemalige Präsidenten, Filmstars, Opernsänger und -Sängerinnen und berühmte Schriftsteller und Maler eingeschlossen. Sie alle waren ehrfurchtsvoll wieder abgefahren. Constantin Demiris war der drittreichste Mann und einer der mächtigsten Männer der Welt, und er hatte Geschmack und Stil und verstand es, sein Geld auszugeben, um Schönheit zu schaffen.

Demiris saß jetzt in seiner reich getäfelten Bibliothek entspannt in einem tiefen Armsessel. Er rauchte eine der flachen, eigens für ihn gemischten ägyptischen Zigaretten und sann über den Prozess nach, der morgen früh beginnen sollte. Seit Monaten hatte die Presse versucht, an ihn heranzukommen, aber er war einfach nicht zu erreichen. Es genügte schon, dass seine Geliebte wegen Mordes vor Gericht stehen würde, genügte, dass sein Name in den Fall hineingezogen würde, selbst indirekt. Er lehnte es ab, den Furor noch zu verschlimmern, indem er Interviews gab. Er fragte sich, wie Noelle sich jetzt fühlte, in diesem Augenblick, in ihrer Zelle im Gefängnis in der Nikodemusstraße. Schlief sie? War sie wach? In Panik über die ihr bevorstehende schwere Prüfung? Er dachte an sein letztes Gespräch mit Napoleon Chotas. Er vertraute Chotas und wusste, dass der Anwalt ihn nicht im Stich lassen würde. Demiris hatte dem Anwalt eingeprägt, dass es keine Rolle spielte, ob Noelle unschuldig oder schuldig war. Chotas sollte dafür sorgen, dass er jeden Penny des horrenden Honorars verdiente, das Constantin Demiris ihm für die Verteidigung bezahlte. Nein, er hatte keinen Grund zur Sorge. Der Prozess würde gut verlaufen. Weil Constantin Demiris ein Mann war, der nie etwas vergaß, erinnerte er sich, dass Catherine Douglas' Lieblingsblumen Triantafylias, die schönen Rosen Griechenlands, waren. Er langte nach einem Notizblock auf seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf. Triantafylias. Catherine Douglas. Es war das wenigste, was er für sie tun konnte.

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