ZWEITES BUCH

Noelle und Catherine

Athen 1946

Menschen formen manche Städte, manche Städte formen Menschen. Athen ist ein Amboss, der den Hammerschlägen von Jahrhunderten standgehalten hat. Von den Sarazenen, den Angeln, den Türken ist es erobert und gebrandschatzt worden, doch jedes Mal hat es geduldig überlebt. Athen liegt am südlichen Ende der großen zentralen Ebene Attikas, die sich sanft zum Saronischen Golf im Südwesten hinab erstreckt und im Osten von dem majestätischen Berg Hymettos überragt wird. Unter der glänzenden Patina der Stadt findet man immer noch ein von antiken Geistern erfülltes und den reichen Traditionen zeitlosen Ruhms durchtränktes Dorf, dessen Bewohner ebenso sehr in ihrer Vergangenheit wie in der Gegenwart leben, einen Ort ständig wechselnder überraschungsvoller Entdeckungen und letzten Endes unerkennbar.

Larry wartete am Flughafen Hellenikon auf Catherines Maschine. Sie sah ihn auf die Rampe zueilen, ihr mit erwartungsvollem und erregtem Gesicht entgegenkommen. Er sah gebräunter und hagerer aus, als wie sie ihn beim letzten Mal gesehen hatte, und schien gelöst und entspannt zu sein.

»Du hast mir gefehlt, Cathy«, sagte er, als er sie in seine Arme schloss.

»Du mir auch.« Und als sie die Worte aussprach, erkannte sie, wie ernst sie ihr waren. Sie vergaß immer wieder die starke physische Wirkung, die Larry auf sie ausübte, wenn sie sich nach einer Trennung wieder trafen, und jedes Mal war sie von neuem überwältigt.

»Wie hat Bill Fräser denn die Nachricht aufgenommen?« fragte Larry, als er ihr durch die Zollkontrolle half.

»Er hat großes Verständnis gezeigt.«

»Ihm blieb wohl keine andere Wahl, oder?« meinte Larry.

Catherine dachte wieder an ihr Gespräch mit Bill Fräser. Er hatte sie schockiert angesehen. »Du willst nach Griechenland, um dort zu leben? Warum, um Gottes willen?«

»Es steht so im Kleingedruckten meines Ehe Vertrags«, hatte sie leichthin erwidert,

»Ich meine, warum kann Larry nicht hier eine Stellung finden, Catherine?«

»Ich weiß nicht, warum, Bill. Immer scheint irgend etwas schief zu gehen. Aber er hat eine Stellung in Griechenland und scheint das Gefühl zu haben, dass es dort klappen wird.«

Nach seinem ersten impulsiven Protest hatte Fräser sich großartig verhalten. Er hatte ihr alles leicht gemacht und darauf bestanden, dass sie ihren Anteil an der Firma behielt. »Du wirst nicht ewig fortbleiben«, wiederholte er immer wieder.

Catherine dachte an seine Worte, während sie zusah, wie Larry einen Träger herbeiwinkte, um ihr Gepäck zu einer Limousine zu schaffen.

Er sprach mit dem Träger griechisch, und Catherine bewunderte sein Sprachtalent.

»Warte nur, bis du Constantin Demiris kennen lernst«, sagte Larry. »Er ist der reinste König. Alle Größen Europas scheinen sich unaufhörlich zu überlegen, wie sie ihm gefällig sein können.«

»Ich freue mich, dass du ihn magst.«

»Und er mag mich.«

Sie hatte ihn nie so glücklich und begeistert erlebt. Sie sah darin ein gutes Omen.

Auf dem Weg zum Hotel schilderte Larry ihr seine erste Begegnung mit Demiris. Larry war auf dem Flughafen von einem livrierten Chauffeur abgeholt worden und hatte gebeten, sich Demiris' Flugzeuge ansehen zu können. Der Chauffeur hatte ihn zu einem riesigen Hangar am äußersten Ende des

Flugfeldes gebracht, in dem sich drei Maschinen befanden, und Larry hatte sie kritisch inspiziert. Die Hawker Siddeley war eine Pracht, und er sehnte sich danach, hinter ihrem Steuerknüppel zu sitzen und sie zu fliegen. Die zweite Maschine war eine sechssitzige Piper in erstklassigem Zustand. Er schätzte, dass sie leicht dreihundert Meilen in der Stunde machte. Die dritte war eine als Zweisitzer gebaute L-5 mit einem Lyco-ming-Motor, ein wunderbares Flugzeug für kürzere Strecken. Das war eine imposante Privatflotte. Als Larry seine Inspektion beendet hatte, schloss er sich wieder dem ihn beobachtenden Chauffeur an.

»Damit kann man etwas machen«, sagte Larry. »Gehen wir.« Der Chauffeur hatte ihn zu einer Villa in Varkisa, dem fünfundzwanzig Kilometer von Athen entfernten exklusiven Vorort, hinausgefahren.

»Du kannst dir Demiris' Besitz nicht vorstellen«, sagte Larry zu Catherine.

»Wie sieht er aus?« fragte Catherine begierig.

»Man kann es unmöglich beschreiben. Es sind ungefähr zehn Morgen Land, mit elektrischen Toren, Wächtern und Wachhunden und allem, was dazugehört. Von außen wirkt die Villa wie ein Palast, innen ist sie ein Museum. Sie hat ein Hallenbad, eine komplette Bühne und einen Kinoraum. Du wirst es eines Tages sehen.«

»War er nett?« fragte Catherine.

»Und wie!« Larry lächelte. »Ich wurde mit großem Bahnhof empfangen. Ich nehme an, dass mir mein Ruf vorausgegangen ist.«

In Wirklichkeit hatte Larry drei Stunden lang in einem kleinen Vorzimmer gesessen, ehe er zu Demiris vorgelassen wurde. Unter gewöhnlichen Umständen wäre Larry über diese Geringschätzung wütend gewesen, aber er wusste, wie viel von der Begegnung abhing, und er war zu nervös, um sich zu ärgern. Er hatte Catherine erklärt, wie wichtig diese Stellung

für ihn wäre, hatte ihr aber nicht gesagt, wie verzweifelt er sie benötigte. Er war ein überragender Flieger, und ohne Fliegen kam er sich verloren vor. Es war, als ob sein Leben in eine unerforschte Gefühlstiefe abgesunken wäre, und der Druck auf ihn war übermächtig und unerträglich. Alles hing von dieser Stellung ab.

Nach Ablauf der drei Stunden war ein Butler gekommen und hatte verkündet, Herr Demiris sei nun bereit, ihn zu sehen. Er hatte Larry durch eine riesige Empfangshalle geführt, die aussah, als ob sie nach Versailles gehörte. Die Wände waren in zarten Gold-, Grün- und Blautönen gehalten und mit Beauvais-Gobelins behängt, die eine Täfelung aus Rosenholz einrahmte. Ein prachtvoller ovaler Savonnerie-Teppich lag auf dem Boden, und darüber hing ein riesiger Lüster aus Kristall und Goldbronze.

Den Eingang zur Bibliothek rahmten ein paar Säulen aus grünem Onyx mit Kapitellen aus Goldbronze. Die Bibliothek selbst war exquisit, entworfen von Meisterhand, und die Wände bedeckte eine Täfelung aus geschnitzten Obsthölzern. In der Mitte der einen Wand ein weißer Marmorkamin mit vergoldeten Ornamenten. Auf der Kaminplatte standen zwei schöne Bronzen von Philippe Caffieri.

Über dem Kamin hing in einem Prunkrahmen ein bis zur Decke reichendes Gemälde von Fragonard. Durch eine offen stehende Fenstertür erhaschte Larry einen flüchtigen Blick in einen großen Patio und den mit vielen Statuen und Fontänen geschmückten Park.

In der Tiefe der Bibliothek befand sich ein großer Schreibtisch, dahinter ein kostbarer hochlehniger mit einem Aubusson-Gobelin bespannter Sessel. Vor dem Schreibtisch standen zwei Gobelin-Bergeres.

Demiris stand neben dem Schreibtisch und betrachtete eine große Landkarte in Merkatorprojektion an der Wand, die mit Dutzenden farbiger Kartennadeln übersät war. Als Larry

eintrat, drehte er sich um und streckte ihm die Hand entgegen.

»Constantin Demiris«, sagte er mit einem leisen Anflug eines Akzents. In den Nachrichtenmagazinen hatte Larry im Lauf der Jahre viele Bilder von diesem Mann gesehen, doch nichts hatte ihn auf dessen vitale Kraft vorbereitet.

»Ich weiß«, sagte Larry und schüttelte ihm die Hand. »Ich bin Larry Douglas.«

Demiris beobachtete, wie Larrys Blick zu der Karte an der Wand wanderte. »Mein Reich«, sagte er. »Setzen Sie sich.«

Larry nahm in einem Sessel vor dem Schreibtisch Platz.

»Soviel ich weiß, haben Sie zusammen mit Ian Whitestone in der RAF gedient?«

»Ja.«

Demiris lehnte sich in seinem Sessel zurück und studierte Larry. »Ian hat eine sehr hohe Meinung von Ihnen.«

Larry lächelte. »Ich habe auch eine hohe Meinung von ihm. Er ist ein hervorragender Pilot.«

»Das gleiche sagte er von Ihnen. Nur gebrauchte er das Wort >groß<.«

Wieder empfand Larry die Überraschung, die er verspürt hatte, als Whitestone ihm zum ersten Mal das Angebot unterbreitete. Offenbar hatte er Demiris eine übertriebene Schilderung von ihm gegeben, die in keinem Verhältnis zu ihrer einstigen Beziehung stand. »Ich bin gut«, sagte Larry. »Es ist mein Beruf.«

Demiris nickte. »Ich schätze Leute, die in ihrem Beruf gut sind. Wissen Sie, dass die meisten Menschen das nicht sind?«

»Darüber habe ich weder so noch so viel nachgedacht«, gestand Larry.

»Aber ich.« Er bedachte Larry mit einem frostigen Lächeln. »Das ist mein Beruf – Menschen. Die Mehrheit der Menschen hasst das, was sie tut, Mr. Douglas. Statt auf Wege zu sinnen, etwas anzufangen, was sie gern tun, bleiben sie ihr Leben lang gefangen wie hirnlose Insekten. Man findet selten einen Mann, der seine Arbeit liebt. Und wenn man einen findet, ist er fast unausweichlich ein Erfolg.«

»Ich nehme an, dass das wahr ist«, sagte Larry bescheiden.

»Sie sind kein Erfolg.«

Larry sah Demiris plötzlich wachsam an. »Das hängt davon ab, was Sie mit Erfolg meinen, Mr. Demiris«, sagte er vorsichtig.

»Ich meine damit«, sagte Demiris unverblümt, »dass Sie sich im Krieg hervorragend bewährt, dass Sie jedoch im Frieden nicht sehr gut abgeschnitten haben.«

Larry spürte, wie sich seine Kiefermuskeln spannten. Er fühlte sich herausgefordert und versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken. Sein Verstand arbeitete wie rasend und suchte nach einer Antwort, welche ihm diese Stellung rettete, die er so dringend brauchte. Demiris beobachtete ihn, seine dunkelgrünen Augen, denen nichts entging, musterten ihn.

»Was wurde aus Ihrer Stellung bei der Pan American, Mr. Douglas?«

Larry gelang ein Grinsen, das er nicht empfand. »Mir gefiel der Gedanke nicht, fünfzehn Jahre herumzusitzen und darauf zu warten, dass ich Kopilot werden würde.«

»Deshalb haben Sie Ihren Vorgesetzten geschlagen.«

Larry verriet seine Überraschung. »Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ach, kommen Sie, Mr. Douglas«, entgegnete Demiris ungeduldig, »wenn Sie für mich arbeiten sollten, würde ich mein Leben jedes Mal, wenn ich mit Ihnen fliege, in Ihre Hände legen. Zufällig ist mir mein Leben sehr viel wert. Haben Sie wirklich geglaubt, dass ich Sie engagieren würde, ohne alles über Sie zu wissen?«

»Vermutlich nicht.«

»Sie wurden aus zwei Stellungen als Pilot entlassen, nachdem die PanAm Sie entlassen hatte«, fuhr Demiris fort. »Das ist eine schlechte Empfehlung.«

»Es hatte nichts mit meinem Können zu tun«, entgegnete Larry schroff. Wieder stieg Ärger in ihm auf. »Bei der einen Gesellschaft gingen die Geschäfte schlecht, und die andere konnte keinen Bankkredit bekommen und machte Bankrott. Ich bin ein verdammt guter Pilot.«

Demiris studierte ihn für einen Augenblick, dann lächelte er. »Das weiß ich«, sagte er. »Sie halten wohl nicht viel von Disziplin, wie?«

»Ich lasse mir nicht gern von Idioten befehlen, die weniger verstehen als ich.«

»Ich rechne damit, dass ich nicht in diese Kategorie falle«, sagte Demiris trocken.

»Solange Sie nicht beabsichtigen mir vorzuschreiben, wie ich Ihre Maschinen fliegen soll, Mr. Demiris.«

»Nein, das wäre Ihre Aufgabe. Es wäre auch Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ich zuverlässig, bequem und sicher dorthin gelange, wo ich hin will.«

Larry nickte. »Ich würde mein Bestes tun, Mr. Demiris.«

»Ich glaube es«, sagte Demiris. »Sie haben sich meine Flugzeuge angesehen?«

Larry versuchte, die Überraschung auf seinem Gesicht zu verbergen. »Ja, Sir.«

»Wie haben sie Ihnen gefallen?«

Larry konnte seine Begeisterung nicht unterdrücken. »Sie sind großartig.«

Demiris schien zufrieden zu sein. »Haben Sie schon eine Hawker Siddeley geflogen ?«

Larry zögerte einen Augenblick, schien versucht zu sein zu lügen. »Nein, Sir.«

Demiris nickte. »Glauben Sie, dass Sie es lernen werden?«

Larry grinste. »Wenn Sie jemanden haben, der zehn Minuten Zeit erübrigt.«

Demiris beugte sich in seinem Sessel vor und legte seine langen, schlanken Finger gegeneinander. »Ich könnte mir einen

Piloten suchen, der mit allen meinen Maschinen vertraut ist.«

»Das werden Sie kaum tun«, antwortete Larry, »weil Sie sich immer wieder neue Maschinen anschaffen und Sie jemand haben wollen, der jedes Flugzeug steuern kann, das Sie kaufen.«

Demiris nickte. »Sie haben recht«, bestätigte er. »Was ich suche, ist ein Pilot – der geborene Pilot -, einer, der am glücklichsten ist, wenn er fliegt.«

In diesem Augenblick war es Larry klar, dass er die Stellung hatte.

Larry wurde sich nie bewusst, wie nahe er daran gewesen war, die Stellung nicht zu bekommen. Constantin Demiris' Erfolg beruhte weitgehend auf seinem hoch entwickelten Instinkt, Schwierigkeiten vorauszuahnen, und dieser Instinkt hatte ihm so oft geholfen, dass er ihn selten missachtete. Als Ian Whitestone ihn davon unterrichtete, dass er seine Stellung aufgebe, ertönte bei Demiris eine lautlose Alarmglocke. Zum Teil beruhte das auf Whitestones Verhalten. Er verhielt sich unnatürlich und schien unsicher zu sein. Es war keine Frage des Geldes, versicherte er Demiris. Er hatte die Chance, mit seinem Schwager in Sydney ein eigenes Geschäft aufzumachen, und die musste er wahrnehmen. Dann hatte er einen anderen Piloten empfohlen.

»Er ist Amerikaner, aber wir haben zusammen in der RAF gedient. Er ist nicht nur gut, er ist hervorragend, Mr. Demiris. Ich kenne keinen besseren Flieger.«

Demiris hörte schweigend zu, als Ian Whitestone ihm die Tugenden seines Freundes pries, und versuchte, den falschen Ton auszumachen, der ihn irritierte. Schließlich kam er darauf. Whitestone übertrieb sein Lob, aber vielleicht geschah es aus Verlegenheit, weil er seine Stellung so unvermittelt aufgab.

Da Demiris ein Mann war, der nicht die geringfügigste Kleinigkeit dem Zufall überließ, führte er mehrere Telefongespräche nach verschiedenen Ländern, als Whitestone gegangen war. Noch vor dem Abend hatte er sich vergewissert, dass tatsächlich jemand Geld aufgebracht hatte, um Whitestone mit seinem Schwager in Australien ein kleines Elektronikunternehmen zu finanzieren. Er hatte mit einem Freund im britischen Luftfahrtministerium gesprochen und erhielt zwei Stunden später eine mündliche Auskunft über Larry Douglas. »Auf dem Boden war er etwas unberechenbar, aber er war ein hervorragender Flieger«, berichtete der Freund. Demiris hatte darauf mit Washington und New York telefoniert und war schnell und zuverlässig über Larrys gegenwärtige Lage informiert worden.

An der Oberfläche schien alles so zu sein, wie es sein sollte. Und dennoch empfand Constantin Demiris ein vages Unbehagen, eine Vorausahnung von Schwierigkeiten. Er hatte mit Noelle über das Problem gesprochen, erwogen, ob er Ian Whitestone vielleicht doch mehr Geld anbieten sollte, damit er bliebe. Noelle hatte ihm aufmerksam zugehört, dann aber gesagt: »Nein, lass ihn gehen, Costa. Und wenn er diesen amerikanischen Flieger so nachdrücklich empfiehlt, würde ich es mit ihm versuchen.«

Und das hatte schließlich den Ausschlag gegeben.

Von dem Augenblick an, da Noelle erfuhr, dass Larry Douglas auf dem Weg nach Athen war, konnte sie an nichts anderes mehr denken. Sie dachte an all die Jahre, die es gedauert hatte, das sorgfältige und geduldige Planen, das langsame, unausweichliche Zusammenziehen des Netzes, und sie war überzeugt, Constantin Demiris wäre stolz auf sie gewesen, wenn er etwas davon gewusst hätte. Es war Ironie, dachte Noelle. Wenn sie Larry niemals begegnet wäre, hätte sie mit Demiris glücklich sein können. Sie ergänzten einander vollkommen. Beide liebten sie die Macht, und beide wussten sie zu gebrauchen. Sie standen über gewöhnlichen Menschen. Sie waren Götter, zum Herrschen geschaffen. In letzter Konsequenz konnten sie niemals verlieren, denn sie besaßen eine tiefe, beinahe mystische Geduld. Sie konnten ewig warten. Und nun war für Noelle das Warten vorüber.

Noelle verbrachte den Tag im Garten in der Hängematte und überdachte ihren Plan, und als die Sonne im Westen zu sinken begann, war sie zufrieden. In gewisser Weise, dachte sie, war es bedauerlich, dass ein so großer Teil der vergangenen sechs Jahre von ihren Racheplänen ausgefüllt war. Sie hatten fast jeden ihrer wachen Augenblicke geleitet, ihrem Leben Vitalität und Auftrieb und Spannung verliehen, und jetzt würde in wenigen Wochen der Kampf sein Ende finden.

In diesem Augenblick, als Noelle in der untergehenden griechischen Sonne lag und die Spätnachmittagsbrise den stillen grünen Park abzukühlen begann, ahnte sie nicht, dass er gerade erst begann.

In der Nacht vor Larrys Ankunft hatte Noelle nicht schlafen können. Die ganze Zeit über hatte sie wach gelegen, hatte an Paris gedacht und den Mann, der ihr die Gabe des Lachens gegeben und ihr wieder genommen hatte ... spürte Larrys Baby in ihrem Leib, das ihren Körper genauso besaß, wie sein Vater ihren Verstand besessen hielt. Sie erinnerte sich an den Nachmittag in der düsteren Pariser Wohnung und ihrer Todespein, wie sich der spitze Drahtbügel in ihr Fleisch bohrte, tiefer und tiefer, bis er das Baby zerfleischte und sie mit süßem, unerträglichem Schmerz in eine hysterische Raserei trieb, und die endlosen Ströme Blut, die sich aus ihr ergossen. Sie erinnerte sich an all dies und durchlebte es noch einmal ... den Schmerz, die Todespein und den Hass ...

Um fünf Uhr morgens war Noelle auf und angezogen, saß in ihrem Zimmer und blickte auf den riesigen Feuerball hinaus, der über dem Ägäischen Meer aufstieg. Das erinnerte sie an einen anderen Morgen in Paris, an dem sie früh aufgestanden war und sich angezogen hatte und auf Larry wartete – nur würde er dieses Mal kommen. Weil sie dafür gesorgt hatte, dass er kommen musste. So wie Noelle ihn früher benötigt hatte, so benötigte er jetzt sie, auch wenn er noch nichts davon wusste.

Demiris schickte eine Nachricht in ihre Zimmer hinauf, dass er gern mit ihr frühstücken würde, aber sie war zu erregt, und sie fürchtete, dass ihre Stimmung seine Neugier wecken könnte. Längst hatte sie erkannt, dass Demiris die Empfindsamkeit einer Katze besaß: Ihm entging nichts. Wieder ermahnte Noelle sich, vorsichtig zu sein. Sie wollte mit Larry selbst auf ihre Weise abrechnen. Sie hatte lange und intensiv darüber nachgedacht, dass sie Constantin Demiris als unwissentliches Werkzeug benutzte. Falls er es je entdecken sollte, würde ihm das nicht behagen.

Noelle trank eine halbe Tasse des starken griechischen Kaffees und aß ein halbes frisches Brötchen. Sie hatte keinen Appetit. Ihre Gedanken beschäftigten sich fieberhaft mit der Begegnung, die in wenigen Stunden stattfinden würde. Sie hatte ungewöhnliche Sorgfalt für ihr Make-up und die Wahl ihres Kleides aufgewendet, und sie wusste, dass sie schön war.

Kurz nach elf hörte Noelle die Limousine vor dem Haus vorfahren. Sie atmete tief ein, um ihre Nervosität zu beherrschen, und ging dann langsam zum Fenster. Larry Douglas stieg aus dem Wagen. Noelle beobachtete ihn, als er auf die Haustür zuging, und es war, als ob der Lauf der Jahre verschwände und sie beide wieder in Paris wären. Larry wirkte gereifter, und der Krieg und das Leben hatten seinem Gesicht neue Linien hinzugefügt, aber sie machten ihn nur noch anziehender, als er gewesen war. Als Noelle ihn aus zehn Meter Entfernung durch das Fenster sah, spürte sie wieder die animalische Anziehung, fühlte die alte Begierde, und als sie in ihr aufwallte, vermischte sie sich mit dem Hass und erfüllte sie mit einem Gefühlsrausch, der nahezu einer Klimax gleichkam. Sie warf einen letzten schnellen Blick in den Spiegel und ging dann nach unten, um dem Mann zu begegnen, den sie vernichten wollte.

Während Noelle die Stufen hinunter schritt, fragte sie sich, wie Larry reagieren würde, wenn er sie sah. Hatte er vor seinen Freunden und vielleicht sogar vor seiner Frau damit geprahlt, dass Noelle Page ihn einst geliebt hatte? Sie fragte sich, wie schon Hunderte von Malen zuvor, ob er den Zauber dieser Tage und Nächte, die sie gemeinsam in Paris verbrachten, je wieder durchlebt hatte, und ob er bedauerte, was er ihr angetan hatte. Wie musste es an seiner Seele gezehrt haben, dass Noelle international berühmt geworden war und sein eigenes Leben aus einer Reihe kleiner Versager bestand! Noelle wollte etwas davon jetzt in Larrys Augen erkennen, wenn sie zum ersten Male seit beinahe sieben Jahren einander gegenübertraten.

Noelle hatte die Empfangshalle erreicht, als sich die Vordertür öffnete und der Butler ihn hereinführte. Larry starrte beeindruckt in die riesige Halle, ehe er sich umdrehte und Noelle sah. Er blickte sie lange und mit dem Ausdruck der Bewunderung für eine schöne Frau an. »Guten Tag«, sagte er höflich. »Ich bin Larry Douglas. Ich habe eine Verabredung mit Mr. Demiris.«

Sein Gesicht spiegelte kein Anzeichen des Erkennens wider. Nicht das geringste.

Auf der Fahrt zum Hotel durch die Straßen Athens war Catherine benommen von der Fülle der Ruinen und Monumente, die sie überall erblickte. Vor sich hatte sie den atemberaubenden Anblick des weißmarmornen Parthenon hoch oben auf der Akropolis. Überall waren Hotels und Bürohäuser, doch auf eine seltsame Weise erschienen die neueren Gebäude Catherine provisorisch und unbeständig, während der Parthenon unsterblich und zeitlos in die kristallklare Luft ragte.

»Imposant, nicht wahr?« Larry lächelte. »So ist die ganze Stadt. Eine einzige schöne Ruine.«

Sie kamen an einem großen Park im Zentrum der Stadt vorbei, in dessen Mitte Fontänen tanzten. Hunderte von Tischen mit grünen und orangen Pfosten säumten den Park, und der Himmel über ihnen war von blauen Sonnensegeln verdeckt.

»Das ist der Verstopfungsplatz«, erklärte Larry.

»Was?«

»Richtig heißt er Verfassungsplatz. Den ganzen Tag sitzen Leute an diesen Tischen und trinken griechischen Kaffee und lassen die Welt an sich vorüberziehen.«

Fast in jedem Block gab es Straßencafes, und an den Ecken verkauften Männer frisch gefischte Schwämme. Überall wurden Blumen feilgeboten, und die Stände waren ein Rausch leuchtend bunter Blüten.

»Die Stadt ist so weiß«, sagte Catherine. »Es blendet einen.« Die Suite im Hotel war geräumig und bezaubernd. Von ihr aus überblickte man den Syntagma-Platz im Zentrum der Stadt. Im Wohnraum standen schöne Blumen und eine große Schale mit Obst.

»Es ist herrlich, Liebling«, sagte Catherine, während sie durch die Räume ging.

Der Page hatte ihre Koffer abgestellt, und Larry gab ihm ein Trinkgeld. »Para poli«, sagte der Junge.

»Parakalo«, antwortete Larry.

Der Page ging und schloss die Tür hinter sich.

Larry ging auf Catherine zu und legte die Arme um sie. »Willkommen in Griechenland.« Er küsste sie gierig, und sie spürte die Härte seines Körpers, der sich gegen ihre Weichheit presste, und sie wusste, wie sehr er sie vermisst hatte, und war froh. Er führte sie ins Schlafzimmer.

Auf dem Frisiertisch lag ein kleines Päckchen. »Öffne es«, forderte Larry sie auf.

Ihre Finger lösten die Umhüllung, und in einer Schachtel lag ein kleiner aus Jade geschnittener Vogel. Obwohl Larry sehr beschäftigt gewesen war, hatte er daran gedacht, und Catherine war gerührt. Irgendwie war der Vogel ein Talisman, ein

Vorzeichen dafür, dass alles gut gehen würde, dass die Probleme der Vergangenheit hinter ihnen lagen.

Als sie sich liebten, sprach Catherine stumm ein kleines Dankgebet, war dankbar dafür, in den Armen ihres Mannes zu liegen, den sie so sehr liebte, in einer der erregendsten Städte der Welt zu sein, ein neues Leben zu beginnen. Dies war der alte Larry, und alle ihre Schwierigkeiten hatten ihre Ehe nur gestärkt.

Jetzt konnte ihnen nichts mehr zustoßen.

Am nächsten Morgen beauftragte Larry einen Makler, Catherine einige Wohnungen zu zeigen. Der Makler erwies sich als ein kleiner dunkler Mann mit einem kräftigen Schnurrbart. Er hieß Dimitropoulos und sprach sehr schnell in einer Sprache, die er gewiss für perfektes Englisch hielt, die aber aus griechischen Wörtern bestand, in die gelegentlich eine unverständliche englische Phrase eingeflochten war.

Catherine appellierte an sein Mitleid – ein Trick, zu dem sie in den kommenden Monaten noch oft greifen würde – und überredete ihn, sehr langsam zu sprechen, damit sie einige der englischen Wörter herauslesen und versuchen konnte, kühn zu erraten, was er meinte.

Als viertes zeigte er ihr eine helle und sonnige Vierzimmerwohnung. Sie lag, wie sie später erfuhr, im Stadtteil Kolonaki, dem eleganten Vorort von Athen, dessen Straßen von schönen Wohnhäusern und schicken Läden gesäumt wurden.

Als Larry an diesem Abend ins Hotel zurückkam, berichtete Catherine ihm von der Wohnung, und zwei Tage später zogen sie dort ein.

Larry war tagsüber fort, versuchte aber, zum Abendessen bei Catherine zu Hause zu sein. Das Abendessen wird in Athen zwischen neun und zwölf Uhr eingenommen. Zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags macht jeder Siesta, und danach sind die Läden wieder bis in den späten Abend hinein geöffnet. Catherine war von der Stadt restlos gefesselt. An ihrem dritten

Abend in Athen brachte Larry einen Freund mit nach Hause, Graf George Pappas, einen attraktiven Griechen, ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, groß und schlank, mit dunklem Haar und einem Schimmer von Grau an den Schläfen. Er war von einer eigentümlichen altmodischen Würde, die Catherine gefiel. Er führte sie zum Abendessen in eine kleine Taverne in der Plaka, dem alten Teil der Stadt. Die Plaka bestand aus einigen steilen Morgen Land, die im Herzen der City von Athen willkürlich zusammengeworfen worden waren, mit gewundenen Gäßchen und verfallenden, ausgetretenen Treppen, die zu winzigen Häusern aus der Zeit der Türkenherrschaft führten, als Athen nicht mehr als nur ein Dorf war. Die Plaka war ein Ort der weißgetünchten, windschiefen Häuser, des frischen Obstes und der Blumenstände, des herrlichen Dufts von im Freien geröstetem Kaffee, jaulender Katzen und lautstarker Straßenschlägereien. Die Wirkung war bezaubernd. In jeder anderen Stadt, fand Catherine, würde ein Stadtteil wie dieser zu den Slums gehören. Hier war er ein Monument.

Die Taverne, in die Graf Pappas sie führte, lag auf einer Dachterrasse, von der aus man die Stadt überblickte. Die Kellner waren in farbenfrohe Trachten gekleidet.

»Was möchten Sie gern essen?« fragte der Graf Catherine.

Ratlos studierte sie die fremde Speisekarte. »Wollen Sie nicht lieber für mich bestellen? Ich fürchte, ich würde den Wirt bestellen.«

Graf Pappas suchte ein reichhaltiges Menü, eine Vielzahl von Gerichten aus, um Catherine die Möglichkeit zu geben, alles zu probieren. Sie aßen dolmadhes, Fleischklöße in Weinlaub; musakas, eine saftige Fleischpastete mit Auberginen; stifadho, geschmorten Hasen mit Zwiebeln – Catherine wurde erst verraten, was es war, als sie die Hälfte gegessen hatte, und danach bekam sie keinen Bissen mehr hinunter – und taramo-salata, den griechischen Salat aus Kaviar mit Olivenöl und Zitrone. Der Graf bestellte dazu eine Flasche Retsina.

»Dieser Wein ist unser Nationalgetränk«, erklärte er. Er sah Catherine amüsiert zu, wie sie ihn probierte. Der Wein hatte einen herben, harzigen Geschmack, und Catherine schluckte ihn tapfer hinunter.

»Was immer ich gegessen habe«, keuchte sie, »ich glaube, dies hat mich davon geheilt.«

Während sie aßen, begannen drei Musiker, Bouzouki-Musik zu spielen. Sie war lebhaft und fröhlich und mitreißend, und sie beobachteten, wie Gäste von ihren Plätzen aufstanden und auf der Tanzfläche zu der Musik zu tanzen begannen. Catherine war erstaunt, dass nur Männer tanzten – und wie sie tanzten! Es gefiel ihr ungeheuer.

Sie verließen das Restaurant erst nach drei Uhr morgens. Der Graf brachte sie zu ihrer neuen Wohnung. »Haben Sie schon irgend etwas besichtigt?« fragte er Catherine.

»Eigentlich nicht«, gestand sie. »Ich warte darauf, dass Larry Zeit dafür hat.«

Der Graf wandte sich an Larry. »Vielleicht könnte ich Catherine einiges zeigen, bis wir gemeinsam etwas unternehmen können.«

»Das wäre großartig«, antwortete Larry. »Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht?«

»Es wäre mir ein Vergnügen«, erwiderte der Graf. Er wandte sich an Catherine. »Würden Sie mich als Führer akzeptieren?«

Sie sah ihn an und dachte an Dimitropoulos, den kleinen Wohnungsmakler, der so fließend Unverständliches sprach.

»Ich würde mich sehr freuen«, erwiderte sie aufrichtig.

Die nächsten Wochen waren faszinierend. Catherine verbrachte den Morgen damit, die Wohnung aufzuräumen, und am Nachmittag, wenn Larry fort war, holte der Graf sie ab und zeigte ihr die Sehenswürdigkeiten.

Sie fuhren nach Olympia hinaus. »Dies ist der Schauplatz der ersten olympischen Spiele«, erklärte ihr der Graf. »Sie wurden hier tausend Jahre lang regelmäßig, trotz Kriegen, Pestilenz und Hungersnöten, abgehalten.«

Catherine betrachtete bewundernd die Ruinen der großen Arena, dachte an die Erhabenheit der Wettkämpfe, die hier über die Jahrhunderte stattgefunden hatten, an die Triumphe, an die Niederlagen.

»Da redet man so viel von den Sportplätzen von Eton«, sagte sie. »Hier war es, wo der Geist der Sportlichkeit wirklich seinen Anfang nahm, oder nicht?«

Der Graf lachte. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Die Wahrheit ist etwas peinlich.«

Catherine blickte interessiert auf. »Warum?«

»Bei dem ersten Wagenrennen, das hier veranstaltet wurde, ist geschummelt worden.«

»Geschummelt?«

»Ich fürchte, ja«, bekannte der Graf. »Sehen Sie, da war ein reicher Fürst namens Pelops, der gegen einen Rivalen antrat. Sie entschlossen sich zu einem Wagenrennen, um zu sehen, wer der Bessere sei. In der Nacht vor dem Rennen machte sich Pelops an einem Rad des Wagens seines Rivalen zu schaffen. Als das Rennen begann, war die gesamte Bevölkerung anwesend, um ihrem Favoriten zuzujubeln. In der ersten Kurve löste sich das Rad vom Wagen des Rivalen, und der Wagen stürzte um. Pelops' Rivale verwickelte sich in den Zügeln und wurde zu Tode geschleift. Pelops fuhr weiter zum Sieg.«

»Das ist entsetzlich«, sagte Catherine. »Was hat man mit ihm gemacht?«

»Das ist wirklich das Blamabelste an der Geschichte«, antwortete Graf Pappas. »Die gesamte Bevölkerung hatte durchschaut, was Pelops getan hatte. Er wurde dadurch zu einem so großen Helden, dass einer der riesigen Giebel am Zeustempel zu Olympia ihm gewidmet wurde. Er ist noch vorhanden.« Er lächelte schief. »Ich fürchte, dieser Schurke lebte später herrlich und in Freuden. Tatsache ist«, fügte er hinzu, »dass das gesamte Gebiet südlich von Korinth nach ihm

Peloponnes genannt wurde.«

»Und dann wird behauptet, Verbrechen machten sich nicht bezahlt«, sagte Catherine.

Wenn Larry frei hatte, durchstreifte er mit Catherine zusammen die Stadt. Sie entdeckten wunderbare Geschäfte, wo sie stundenlang um Preise feilschten, und abgelegene kleine Restaurants, von denen sie Besitz ergriffen. Larry war ein fröhlicher und charmanter Gesellschafter, und Catherine war dankbar, dass sie ihre Stellung in den Vereinigten Staaten aufgegeben hatte, um mit ihrem Mann zusammen zu sein.

Larry war in seinem Leben nie glücklicher gewesen. Die Stellung bei Demiris war der Traum seines Lebens.

Die Bezahlung war gut, aber das interessierte Larry nicht. Ihn interessierten nur die herrlichen Maschinen, die er flog. Er brauchte genau eine Stunde, um die Hawker Siddeley fliegen zu lernen, und fünf weitere Flüge, um sie im Griff zu haben. Meistens flog er mit Paul Metaxas, Demiris' sorglosem kleinen griechischen Kopiloten. Metaxas war von dem plötzlichen Ausscheiden Ian Whitestones überrascht worden und sah dessen Nachfolger mit Unbehagen entgegen. Er hatte über Larry Douglas Geschichten gehört, und es gefiel ihm nicht gerade, was er gehört hatte. Douglas jedoch schien von seiner neuen Stellung wirklich begeistert zu sein, und Metaxas erkannte schon beim ersten Flug, dass Douglas ein überragender Pilot war.

Nach und nach gab Metaxas seine Vorbehalte auf, und die beiden Männer wurden Freunde.

Wenn Larry nicht flog, studierte er die Maschinen von Demiris. Und am Ende konnte er alle besser fliegen als jeder vor ihm.

Die Vielseitigkeit seiner Aufgaben faszinierte Larry. Er flog Mitarbeiter von Demiris auf Geschäftsreisen nach Brindisi, Korfu und Rom oder holte Gäste ab und brachte sie zu einer Party auf Demiris' Insel oder zum Skilaufen in dessen Schweizer Chalet. Er gewöhnte sich daran, Leute zu fliegen, deren Bilder er ständig auf den Frontseiten der Zeitungen und Magazine sah, und erheiterte Catherine mit Geschichten über sie. Er flog den Präsidenten eines Balkanstaates, einen britischen Premierminister, einen arabischen Ölscheich mit seinem ganzen Harem. Er flog Opernsänger und eine Ballettkompanie und das Ensemble eines Broadway-Stückes zu einer einzigen Vorstellung in London aus Anlass von Demiris' Geburtstag. Er flog Richter des Supreme Court, einen Kongressabgeordneten und einen ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Während dieser Flüge verbrachte Larry die meiste Zeit im Cockpit, aber hin und wieder wanderte er nach hinten in die Kabine, um sich zu vergewissern, dass seine Passagiere es behaglich hatten. Manchmal hörte er Bruchstücke der Unterhaltungen von Finanzmagnaten über bevorstehende Fusionen oder Börsentransaktionen. Larry hätte aus diesen Informationen ein Vermögen machen können, aber er interessierte sich nicht dafür. Was ihn beschäftigte, waren die Flugzeuge, die er steuerte, kraftvolle und lebende Maschinen unter seiner Kontrolle.

Es dauerte zwei Monate, bis Larry Demiris selbst zum ersten Mal flog.

Sie flogen in der Piper, und Larry brachte seinen Arbeitgeber von Athen nach Dubrovnik. Es war ein wolkenreicher Tag, und entlang der Route waren stürmische Winde und Regenböen gemeldet worden. Larry hatte sorgfältig den am wenigsten stürmischen Kurs ermittelt, aber die Luft war so voller Turbulenzen, dass er ihnen unmöglich ganz ausweichen konnte.

Eine Stunde nachdem sie Athen verlassen hatten, ließ Larry das Signal »Anschnallen« aufleuchten und sagte zu Metaxas: »Pass' auf, Paul, das kann uns unseren Job kosten.«

Zu Larrys Überraschung erschien Demiris im Cockpit. »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?« fragte er.

»Sie sind der Chef«, antwortete Larry. »Es wird sehr stürmisch werden.«

Metaxas überließ seinen Sitz Demiris, und Demiris schnallte sich an. Larry wäre es lieber gewesen, wenn der Kopilot für den Notfall neben ihm gesessen hätte, aber das Flugzeug gehörte Demiris.

Der Sturm dauerte annähernd zwei Stunden. Larry umging den riesigen Wolkenberg, der sich vor ihnen herrlich weiß und tödlich auftürmte.

»Wunderschön«, meinte Demiris dazu.

»Das sind Mörder«, sagte Larry. »Kumulus. Sie erscheinen so hübsch und schaumig, weil in ihnen Luftströmungen herrschen, die nach oben steigen. Das Innere dieser Wolken kann ein Flugzeug innerhalb von zehn Sekunden zerreißen. Man kann in weniger als einer Minute tausend Meter steigen oder fallen, ohne die Kontrolle über die Maschine zu haben.«

»Ich bin überzeugt, dass Ihnen das nicht passieren wird«, sagte Demiris gelassen.

Die Winde packten das Flugzeug und versuchten, es über den Himmel zu fegen, aber Larry kämpfte darum, es unter Kontrolle zu behalten. Er vergaß die Anwesenheit von Demiris, konzentrierte sich ganz auf die Maschine, die er flog, nutzte jede Erfahrung, die er je gesammelt hatte. Schließlich war die Maschine aus dem Sturm heraus. Larry drehte sich schweißgebadet um und stellte fest, dass Demiris das Cockpit verlassen hatte. Metaxas saß in dem Sitz des Kopiloten.

»Das war ein miserabler erster Flug für ihn, Paul«, sagte Larry. »Ich könnte Ärger bekommen.«

Er rollte auf dem kleinen, von Bergen gesäumten Flugplatz von Dubrovnik aus, als Demiris unter der Tür zum Cockpit erschien.

»Sie hatten recht«, sagte Demiris zu Larry. »Sie sind sehr gut in Ihrem Beruf. Ich bin zufrieden.«

Und Demiris war verschwunden.

Eines Morgens, als Larry sich zu einem Flug nach Marokko bereit machte, rief Graf Pappas an und schlug vor, mit Catherine eine Fahrt über Land zu machen. Larry bestand darauf, dass sie zusagte. »Bist du denn nicht eifersüchtig?« fragte sie.

»Auf den Grafen?« Larry lachte.

Und plötzlich ging Catherine ein Licht auf. In der ganzen Zeit, in der sie mit dem Grafen zusammen gewesen war, hatte er ihr nicht ein einziges Mal Avancen gemacht oder ihr einen anzüglichen Blick zugeworfen. »Ist er homosexuell?« fragte sie.

Larry nickte. »Das ist der Grund, weshalb ich dich seiner liebevollen Fürsorge überlassen habe.«

Der Graf holte Catherine frühzeitig ab, und sie fuhren nach Süden, der weiten Ebene von Thessalien entgegen. Schwarzgekleidete Frauen wanderten die Straßen entlang, tief gebeugt unter den Holzlasten, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatten.

»Warum leisten die Männer nicht die schwere Arbeit?« fragte Catherine.

Der Graf warf ihr einen amüsierten Blick zu.

»Das wollen die Frauen nicht«, erwiderte er. »Ihre Männer sollen in der Nacht frisch für andere Dinge sein.«

Eine Lektion für uns alle, dachte Catherine gequält.

Am späten Nachmittag näherten sie sich dem drohend aussehenden Pindos-Gebirge, dessen zerklüftete Felsen hoch in den Himmel ragten. Die Straße wurde durch eine Schafherde blockiert, die von einem Schäfer und einem zottigen Hund bewacht wurde. Graf Pappas hielt an, um zu warten, bis die Schafe die Straße freigaben. Verwundert beobachtete Catherine den Hirtenhund, der nach den Fesseln ausbrechender Schafe schnappte, sie in der Herde hielt und in die Richtung zwang, in der er sie haben wollte.

»Dieser Hund ist beinahe menschlich«, rief Catherine verwundert aus.

Der Graf sah sie nur kurz an. In seinem Blick lag etwas, was sie nicht verstand.

»Was ist denn?« fragte sie.

Der Graf zögerte. »Es ist eine recht unerfreuliche Geschichte.«

»Ich bin schließlich erwachsen.«

Der Graf sagte: »Dies hier ist eine wilde Gegend. Das Land ist felsig und ungastlich. Im besten Fall sind die Ernten dürftig, und wenn das Wetter schlecht war, gibt es überhaupt keine Ernte, aber dafür viel Hunger.« Seine Stimme verklang.

»Erzählen Sie weiter«, drängte Catherine.

»Vor einigen Jahren herrschte hier ein schwerer Sturm, und die Ernte wurde vernichtet. Es gab für alle nur sehr wenig zu essen. Im ganzen Gebiet wurden die Hirtenhunde rebellisch. Sie verließen die Höfe, zu denen sie gehörten, und rotteten sich in großen Rudeln zusammen.« Als er weiter sprach, versuchte er, das Entsetzen aus seiner Stimme zu verbannen. »Sie begannen die Höfe anzugreifen.«

»Und töteten die Schafe?« fragte Catherine beklommen.

Er schwieg kurz, ehe er antwortete. »Nein. Sie töteten ihre Herren. Und fraßen sie auf.«

Catherine starrte ihn tief schockiert an.

»Man musste aus Athen Truppen entsenden, um die menschliche Herrschaft hier wiederherzustellen. Es dauerte beinahe einen Monat.«

»Wie grässlich.«

»Der Hunger löst entsetzliche Dinge aus«, sagte Graf Pappas ruhig.

Die Schafe hatten jetzt die Straße geräumt. Catherine sah noch einmal zu dem Hirtenhund hinüber und schauderte.

Im Laufe der Wochen begannen für Catherine die Dinge, die ihr so fremd und seltsam erschienen waren, vertraut zu werden. Sie fand die Menschen offen und freundlich. Sie wusste bald, wo sie ihre Besorgungen machen und wo sie in der Voukou-restiou-Straße ihre Kleider kaufen konnte. Griechenland war ein Wunder an organisierter Untüchtigkeit, und das musste man hinnehmen und genießen. Niemand hatte es eilig, und wenn man jemanden nach der Richtung fragte, konnte man sicher sein, dass er einen dahin brachte, wohin man wollte. Oder wenn man ihn fragte, wie weit es sei, antwortete er vielleicht: »Enos sigarou dromos.« Catherine lernte, dass das »Eine Zigarettenlänge weit« hieß. Sie wanderte durch die Straßen und erforschte die Stadt und trank den warmen, dunklen Wein des griechischen Sommers.

Catherine und Larry besuchten Mykonos mit seinen farbenfrohen Windmühlen und Melos, wo die Venus von Milo gefunden worden war. Aber Catherines Lieblingsort war Paros, eine anmutige grüne Insel, die von einem Blüten übersäten Berg gekrönt wurde. Als ihr Boot anlegte, stand ein Führer am Kai. Er fragte, ob er sie auf Maultieren auf den Gipfel des Berges bringen sollte, und sie bestiegen zwei knochige Maultiere.

Catherine trug einen breitkrempigen Strohhut zum Schutz vor der heißen Sonne. Als sie und Larry den steilen Pfad zum Berggipfel hinauf ritten, riefen ihnen schwarzgekleidete Frauen »kalimera« zu und reichten Catherine frische Kräuter als Geschenk, Oregano und Basilikum, die sie unter ihr Hutband stecken sollte. Nach einem zweistündigen Ritt erreichten sie ein Plateau, eine schöne Baumbestandene Ebene, die von Millionen prächtiger Blumen bedeckt war. Der Führer hielt die Maultiere an, und sie bestaunten diese unglaubliche Farbenpracht.

»Es heißen Tal der Schmetterlinge«, sagte der Führer in unbeholfenem Englisch.

Catherine sah sich nach einem Schmetterling um, entdeckte aber keinen. »Warum heißt es denn so?« fragte sie.

Der Führer lächelte ganz so, als ob er auf diese Frage gewartet hätte. »Ich zeige Ihnen«, sagte er. Er stieg von seinem

Maultier und ergriff einen großen abgefallenen Ast. Er ging auf einen Baum zu und schlug mit aller Wucht den Ast gegen den Stamm. Im Bruchteil einer Sekunde stiegen die »Blüten« von Hunderten von Bäumen plötzlich in einem wilden Regenbogen der Flucht in die Luft und ließen die Bäume kahl zurück. Die Luft erfüllten Hunderttausende farbenfroher Schmetterlinge, die im Sonnenlicht tanzten.

Catherine und Larry bewunderten den Anblick. Der Führer beobachtete die beiden. Sein Gesicht verriet tiefen Stolz, als ob er glaubte, das schöne Wunder geschaffen zu haben, das sie vor sich sahen. Es war einer der schönsten Tage in Catherines Leben, und sie dachte, wenn sie sich einen vollkommenen Tag aussuchen könnte, um ihn noch einmal zu erleben, dann wäre es dieser Tag, den sie mit Larry auf Paros verbrachte.

»He, wir kriegen heute morgen eine VIP.« Paul Metaxas grinste vergnügt. »Warte, bis du sie siehst.«

»Wer ist es denn?«

»Noelle Page, die Dame des Chefs. Du darfst sie ansehen, aber nicht anfassen.«

Larry Douglas erinnerte sich an den kurzen Anblick, den er von der Frau in Demiris' Haus am Morgen seiner Ankunft in Athen gehabt hatte. Sie war eine Schönheit und kam ihm bekannt vor, aber natürlich nur deshalb, weil er sie auf der Leinwand gesehen hatte, in einem französischen Film, in den Catherine ihn einmal mitschleifte. Niemand brauchte Larry die Lehren der Selbsterhaltung beizubringen. Selbst wenn die Welt nicht von willigen weiblichen Wesen erfüllt gewesen wäre, hätte er sich niemals in irgendeiner Weise der Freundin von Constantin Demiris genähert. Larry liebte seine Arbeit zu sehr, um sie durch eine derartige Dummheit zu gefährden. Nun, vielleicht würde er sie um ihr Autogramm für Catherine bitten.

Die Limousine, die Noelle zum Flughafen brachte, wurde mehrmals durch Arbeitertrupps aufgehalten, die die Straße reparierten, aber Noelle war die Verzögerung nur recht. Zum ersten Mal seit der Begegnung in Demiris' Haus würde sie Larry Douglas sehen. Noelle war tief getroffen von dem, was sich ereignet hatte. Oder richtiger, von dem, was sich nicht ereignet hatte. Im Lauf der vergangenen sechs Jahre hatte Noelle sich ihre Wiederbegegnung auf hunderterlei verschiedene Weise vorgestellt. In Gedanken hatte sie die Szene wieder und wieder durchgespielt. Aber nie wäre sie darauf gekommen, dass Larry sie nicht wieder erkennen würde. Das wichtigste Ereignis in ihrem Leben war für ihn nur eine belanglose Affäre gewesen, eine von Hunderten. Nun, ehe sie mit ihm fertig war, würde er sich an sie erinnern.

Larry überquerte den Flugplatz, den Flugplan in der Hand, als eine Limousine vor dem großen Flugzeug vorfuhr und Noelle Page ausstieg. Larry ging zum Wagen und sagte höflich: »Guten Morgen, Miss Page. Ich bin Larry Douglas und werde Sie und Ihre Gäste nach Cannes bringen.«

Noelle wendete sich ab und ging an ihm vorbei, so als ob er nichts gesagt hätte, als ob er nicht existierte. Larry stand da, blickte ihr ratlos nach.

Dreißig Minuten später waren die anderen Passagiere, ein Dutzend, an Bord der Maschine, und Larry und Paul Metaxas starteten. Sie flogen die Gruppe an die Cóte d'Azur, wo sie abgeholt und auf Demiris' Jacht gebracht werden sollte. Es war ein leichter Flug, abgesehen von den im Sommer normalen Turbulenzen vor der südfranzösischen Küste. Larry setzte die Maschine weich auf und rollte zu der Stelle, wo einige Wagen auf seine Passagiere warteten. Als Larry mit seinem untersetzten kleinen Kopiloten ausstieg, ging Noelle auf Metaxas zu, ignorierte Larry völlig und sagte in verächtlichem Ton: »Der neue Pilot ist ein Stümper, Paul. Sie sollten ihm ein paar Flugstunden geben.« Danach ging sie zu einem der Wagen, fuhr ab und ließ Larry benommen und hilflos vor Ärger zurück.

Er tröstete sich damit, dass sie eine verdammte Hexe wäre und er sie wahrscheinlich an einem schlechten Tag erwischt hätte. Aber der nächste Zwischenfall, zu dem es eine Woche später kam, überzeugte ihn, dass er vor einem ernsthaften Problem stand.

Auf Demiris' Befehl hin holte er Noelle in Oslo ab, um sie nach London zu fliegen. Aufgrund seiner früheren Erfahrungen arbeitete er seinen Flugplan mit besonderer Sorgfalt aus. Im Norden lag ein Hochdruckgebiet, und im Osten konnte sich womöglich eine Gewitterfront bilden. Larry stellte seinen Flugplan für eine Route auf, die diese Gebiete umging, und der Flug erwies sich als vollkommen ruhig. Er brachte die Maschine in einer makellosen Dreipunktlandung auf den Boden. Danach begaben er und Paul Metaxas sich nach hinten in die Passagierkabine. Noelle Page trug gerade Lippenstift auf. »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, Miss Page«, sagte Larry respektvoll.

Noelle blickte kurz mit ausdruckslosem Gesicht auf und wandte sich dann an Paul Metaxas: »Ich bin immer nervös, wenn ich mit einem unfähigen Piloten fliege.«

Larry spürte, wie er rot wurde. Er wollte etwas erwidern, aber Noelle sagte zu Metaxas: »Bitte sagen Sie ihm, er soll in Zukunft nicht mit mir sprechen, wenn ich ihn nicht anrede.«

Metaxas schluckte und sagte: »Jawohl, Madame.«

Larry starrte Noelle wuterfüllt an, als sie aufstand und das Flugzeug verließ. Wäre er seinem Impuls gefolgt, dann hätte er sie geohrfeigt, aber er wusste, dass das sein Ende bedeuten würde. Er liebte seine Arbeit mehr als alles andere je zuvor und wollte sie nicht gefährden. Er wusste, wenn er seine Stellung verlor, würde er nie wieder irgendwo als Pilot unterkommen. Nein, lieber wollte er in Zukunft sehr vorsichtig sein.

Als Larry nach Hause kam, sprach er mit Catherine über den Vorfall.

»Sie hat es auf mich abgesehen«, sagte Larry.

»Sie muss eine entsetzliche Person sein«, meinte Catherine. »Könntest du sie in irgendeiner Weise beleidigt haben?«

»Ich habe kein Dutzend Wörter mit ihr gesprochen.«

Catherine nahm seine Hand. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie tröstend. »Du wirst sie schon noch für dich gewinnen. Warte nur ab.«

Am nächsten Tag, als Larry Constantin Demiris zu einem kurzen Besuch in die Türkei flog, kam Demiris ins Cockpit und nahm Metaxas' Platz ein. Er entließ den Kopiloten mit einer Handbewegung, und Larry war mit Demiris allein. Sie saßen schweigend auf ihren Plätzen und blickten auf die dünnen Stratuswolken hinaus, die die Maschine durchschnitt.

»Miss Page hat eine Abneigung gegen Sie«, sagte Demiris endlich.

Larry spürte, wie sich seine Hände fester um das Steuer schlössen, und lockerte bewusst seinen Griff, um sich zu entspannen. Er zwang sich zu einem ruhigen Ton. »Hat sie – hat sie gesagt, weshalb?«

»Sie sagte, Sie wären unhöflich zu ihr gewesen.«

Larry öffnete den Mund, um zu protestieren, überlegte es sich dann jedoch. Er musste das Problem auf seine eigene Weise lösen.

»Es tut mir leid. Ich werde versuchen, achtsamer zu sein, Mr. Demiris«, sagte er ruhig.

Demiris stand auf. »Tun Sie das. Ich empfehle Ihnen sehr, Miss Page in Zukunft nicht wieder zu beleidigen.« Er verließ das Cockpit.

Nicht wieder! Er zermarterte sich das Hirn und versuchte zu erraten, womit er sie beleidigt haben könnte. Vielleicht mochte sie einfach seinen Typ nicht. Oder sie war eifersüchtig, weil Demiris ihn mochte und ihm vertraute, aber das war unsinnig. Nichts von dem, was Larry sich dachte, erschien sinnvoll. Und doch hatte Noelle Page es auf seine Entlassung abgesehen.

Larry dachte daran, was es für ihn bedeuten würde, wieder stellungslos zu sein, das entwürdigende Ausfüllen von Fragebogen bei Bewerbungen wie ein dummer Schuljunge, das

Vorstellen und das Warten, die endlosen Stunden, in denen er versuchte, die Zeit in billigen Bars und mit Amateurhuren totzuschlagen. Er erinnerte sich daran, wie geduldig und nachsichtig Catherine gewesen war und wie sehr er sie deswegen gehasst hatte. Nein, das alles wollte er nicht noch einmal durchmachen. Ein weiteres Versagen würde er nicht ertragen.

Bei einem Zwischenaufenthalt in Beirut wenige Tage später kam Larry an einem Kino vorbei und sah, dass Noelle Page die Hauptrolle in dem Film spielte, der gezeigt wurde. Einem Impuls folgend ging er hinein, bereit, den Film und seinen Star abscheulich zu finden, aber Noelle war so brillant, dass er gegen seinen Willen völlig von ihr hingerissen war. Doch wieder kam sie ihm irgendwie bekannt vor. Am folgenden Montag flog Larry Noelle und einige Geschäftsfreunde von Demiris nach Zürich. Larry wartete, bis Noelle Page allein war, ehe er sich ihr näherte. Er hatte gezögert sie anzusprechen, weil er sich an ihre letzte Warnung erinnerte, war aber zu der Überzeugung gekommen, die einzige Möglichkeit, ihre Abneigung zu überwinden, sei, sich die größte Mühe zu geben, freundlich zu ihr zu sein. Alle Schauspielerinnen sind eigensüchtig und hören es gern, wenn man ihnen sagt, dass sie gut sind. So trat er an sie heran und sagte mit ausgesuchter Höflichkeit: »Verzeihen Sie, Miss Page, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Sie neulich in einem Film gesehen habe. >Das andere Gesichte Ich glaube, Sie sind eine der größten Schauspielerinnen, die ich je gesehen habe.«

Noelle starrte ihn einen Augenblick an, und dann erwiderte sie: »Ich würde gern glauben, dass Sie ein besserer Kritiker sind als Pilot, aber ich bezweifle sehr, dass Sie dazu die erforderliche Intelligenz und den nötigen Geschmack besitzen.« Damit ging sie fort.

Larry stand wie angewurzelt da. Er hatte das Gefühl, geschlagen worden zu sein. Einen Augenblick lang war er

versucht, ihr zu folgen und ihr zu sagen, was er von ihr hielt, aber er wusste, dass er ihr damit in die Hände spielen würde. Nein, von nun an würde er einfach nur seine Arbeit tun und sich so fern von ihr halten wie möglich.

Während der nächsten Wochen war Noelle bei verschiedenen Flügen sein Passagier. Larry sprach kein Wort zu ihr und gab sich die größte Mühe, es so einzurichten, dass sie ihn nicht sah. Er mied die Kabine und ließ alle erforderlichen Mitteilungen an die Passagiere durch Metaxas überbringen. Von Noelle Page erfolgten keine weiteren Bemerkungen, und Larry gratulierte sich, dass er sein Problem gelöst hatte.

Es erwies sich jedoch, dass er sich zu früh gratulierte.

Eines Morgens schickte Demiris nach Larry. »Miss Page fliegt mit einem vertraulichen Auftrag von mir nach Paris. Ich wünsche, dass Sie an ihrer Seite bleiben.«

»Ja, Mr. Demiris.«

Demiris musterte ihn einen Augenblick, setzte dazu an, noch etwas hinzuzufügen, überlegte es sich aber. »Das ist alles.«

Noelle war der einzige Passagier auf diesem Flug nach Paris, und Larry entschloss sich, mit der Piper zu fliegen. Er veran-lasste Metaxas, für die Behaglichkeit seines Passagiers zu sorgen, und hielt sich während des ganzen Flugs im Cockpit auf. Nachdem sie gelandet waren, ging er zu Noelle in die Kabine und sagte: »Entschuldigen Sie, Miss Page, Mr. Demiris hat mich beauftragt, Sie zu begleiten, solange Sie in Paris sind.«

Sie blickte verächtlich zu ihm auf und sagte: »Nun gut. Nur lassen Sie es mich nicht merken, dass Sie in meiner Nähe sind.« Er nickte in eisigem Schweigen.

Sie fuhren in einem Privatwagen von Orly in die Stadt. Larry saß vorn beim Chauffeur und Noelle auf dem Rücksitz. Während der Fahrt in die City sprach sie nicht mit ihm. Das erste Mal hielten sie bei Paribas, der Banque de Paris et des Bas. Larry ging mit Noelle in die Halle und wartete dort, während sie in das Büro des Präsidenten und dann hinab in den Keller geführt wurde, wo sich die Tresorfächer befanden. Noelle war etwa dreißig Minuten lang fort, und als sie zurückkam, ging sie wortlos an Larry vorbei. Er blickte ihr einen Augenblick nach, dann folgte er ihr.

Das nächste Ziel war die Rue du Faubourg-St.-Honore. Hier schickte Noelle den Wagen fort. Larry folgte ihr in ein Kaufhaus und blieb in ihrer Nähe stehen, während sie ihre Einkäufe machte. Danach reichte sie ihm die Pakete zum Tragen. Sie kaufte in einem halben Dutzend Geschäften ein: bei Hermes Handtaschen und Gürtel, bei Guerlain Parfüm, bei Celine Schuhe, bis Larry mit Paketen überladen war. Falls Noelle sein Missbehagen bemerkte, zeigte sie es nicht. Larry hätte ein Hündchen sein können, das sie an der Leine mit sich führte.

Als sie von Celine herauskamen, begann es zu regnen. Alle Fußgänger suchten eilig Schutz. »Warten Sie hier«, befahl Noelle.

Larry blieb stehen und sah sie in einem Restaurant auf der anderen Straßenseite verschwinden. Zwei Stunden lang wartete er im strömenden Regen, die Arme voller Pakete, und verfluchte sie und verfluchte sich, weil er sich ihre Behandlung gefallen ließ. Er befand sich in einer Falle und wusste nicht, wie er aus ihr herauskommen sollte.

Und er hatte die böse Vorahnung, dass es noch schlimmer kommen würde.

Catherine begegnete Demiris zum ersten Mal in seiner Villa. Larry war dorthin gegangen, um ein Paket abzuliefern, das er in Kopenhagen mit dem Flugzeug abgeholt hatte, und Catherine begleitete ihn in das Haus. Sie stand in der riesigen Halle und bewunderte eines der Gemälde, als sich eine Tür öffnete und Demiris herauskam. Er beobachtete sie einen Augenblick und fragte dann: »Mögen Sie Manet, Mrs. Douglas?«

Catherine drehte sich schnell um und fand sich der legendären Gestalt gegenüber, von der sie so viel gehört hatte. Sie hatte zwei unmittelbare Eindrücke: Constantin Demiris war größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte, und er strahlte eine überwältigende Energie aus, die ihr fast Furcht einflößte. Catherine war überrascht, dass er ihren Namen kannte und wusste, wer sie war. Er gab sich denkbar große Mühe, sie von ihrer Befangenheit zu befreien. Erfragte Catherine, wie ihr Griechenland gefalle, ob ihre Wohnung bequem sei, und sagte, sie solle es ihn wissen lassen, ob er irgendwie dazu beitragen könne, ihr den Aufenthalt angenehm zu machen. Er wusste sogar – Gott allein mochte wissen, woher! -, dass sie kleine Vögel sammelte. »Ich habe einen sehr hübschen gesehen«, sagte er. »Den werde ich Ihnen schicken.«

Larry erschien, und er und Catherine gingen.

»Wie gefällt dir Demiris?« fragte Larry.

»Er ist ein Charmeur«, antwortete sie. »Kein Wunder, dass du gern für ihn arbeitest.«

»Und ich werde weiter für ihn arbeiten.« In seinem Ton lag ein verhaltener Zorn, den Catherine nicht verstand.

Am folgenden Tag erhielt Catherine einen wunderschönen Vogel aus Porzellan.

Danach traf Catherine noch zweimal mit Constantin Demiris zusammen, das eine Mal, als sie mit Larry ein Rennen besuchte, das andere Mal bei einer Weihnachtsparty, die Demiris in seiner Villa gab. Beide Male bemühte er sich sehr, Catherine gegenüber charmant zu sein. Alles in allem, fand Catherine, war Constantin Demiris eine sehr bemerkenswerte Persönlichkeit.

Im August begannen die Festspiele in Athen. Zwei Monate lang bot die Stadt Schauspiele, Ballette, Opern, Konzerte – alle fanden im Herodes Atticus, dem antiken Freilichttheater am Fuß der Akropolis, statt. Catherine sah mehrere der Aufführungen mit Larry, und wenn er fort war, ging sie mit Graf Pappas hin. Es war faszinierend, die antiken Stücke in ihrem Originalrahmen von dem Volk dargestellt zu sehen, das sie geschaffen hatte.

Eines Abends, nachdem Catherine und Graf Pappas eine Aufführung von Medea gesehen hatten, sprachen sie über Larry.

»Er ist ein interessanter Mensch«, sagte Graf Pappas. »Poly-mechanos.«

»Was heißt das?«

»Es ist schwer zu übersetzen.« Der Graf überlegte einen Augenblick. »Es bedeutet, >fruchtbar in Einfällen<.«

»Meinen Sie >einfallsreich

»Ja, aber es bedeutet mehr als das. Jemand, der immer gleich eine Idee zur Hand hat, einen neuen Plan.«

»Polymechanos«, wiederholte Catherine. »Das ist mein Mann.«

Über ihnen stand ein schöner, erhabener Mond. Die Nacht war mild und lau. Sie gingen durch die Plaka zum Omonia-Platz. Als sie die Fahrbahn überquerten, kam ein Wagen um die Ecke auf sie zugerast, und der Graf riss Catherine zurück und brachte sie in Sicherheit. »Idiot!« rief er dem davonrasen-den Fahrer nach.

»Hier scheinen alle Leute so zu fahren«, sagte Catherine.

Der Graf lächelte schief. »Wissen Sie, warum? Die Griechen haben den Übergang zum Auto noch nicht geschafft. In Gedanken reiten sie immer noch auf Eseln.«

»Sie scherzen.«

»Bedauerlicherweise nicht. Wenn Sie einen Einblick in die Mentalität der Griechen haben wollen, dann lesen Sie keinen Reiseführer. Lesen Sie die alten griechischen Tragödien. Die Wahrheit ist, dass wir noch in vergangene Jahrhunderte gehören. Emotionell sind wir sehr primitiv. Wir sind von grandiosen Leidenschaften erfüllt, von tiefen Freuden und von großem Leiden, und wir haben nicht gelernt, sie mit dem Lack der Zivilisation zu überdecken.«

»Ich weiß nicht, ob das so schlecht ist«, erwiderte Catherine.

»Vielleicht nicht, aber es verzerrt die Wirklichkeit. Wenn uns Außenstehende betrachten, dann sehen sie nicht, was sie zu sehen glauben. Es ist genauso, wie wenn man einen fernen Stern betrachtet. Man sieht den Stern selbst gar nicht, sondern eine Lichtstrahlung, die vielleicht Millionen Jahre zuvor ausgesandt wurde. Genauso ist es mit uns Griechen. Sie sehen in uns die Ausstrahlung der Vergangenheit.«

Sie hatten den Platz erreicht und kamen jetzt an einer Reihe kleiner Läden vorbei, in deren Fenstern Schilder mit der Aufschrift »Wahrsagen« standen.

»Es gibt hier wohl sehr viele Wahrsager?« fragte Catherine.

»Wir sind ein höchst abergläubisches Volk.«

Catherine schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich glaube nicht daran.«

Sie kamen zu einer kleinen Taverne. Auf einem handgemalten Schild im Fenster stand: »MADAME PIRIS, WAHRSAGERIN«.

»Glauben Sie an Hexen?« fragte Graf Pappas.

Catherine blickte ihn an, um zu sehen, ob er scherze. »Nur zu Walpurgis.«

»Mit Hexe meine ich nicht Besenstiele und schwarze Katzen und brodelnde Kessel.«

»Sondern?«

Er deutete mit dem Kopf auf das Schild. »Madame Piris ist eine Hexe. Sie kann in der Vergangenheit und in der Zukunft lesen.«

Er sah die Skepsis auf Catherines Gesicht. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte Graf Pappas. »Vor vielen Jahren war ein Mann namens Sophocles Vassily Polizeichef von Athen. Er war ein Freund von mir, und ich hatte meinen Einfluss benutzt, um ihm zu diesem Amt zu verhelfen. Vassily war ein sehr ehrenhafter Mann. Es gab Leute, die ihn korrumpieren wollten, und da er sich nicht korrumpieren ließ, beschlossen sie, ihn zu beseitigen.« Er fasste Catherine am

Arm, und sie überquerten die Straße zum Park hinüber.

»Eines Tages kam Vassily zu mir und sagte mir, man trachte ihm nach dem Leben. Er war ein sehr mutiger Mann, aber da die Bedrohung von einem mächtigen und rücksichtslosen Bandenchef kam, beunruhigte sie ihn. Detektive wurden mit der Beobachtung des Bandenchefs beauftragt, aber Vassily hatte trotzdem die dunkle Vorahnung, dass er nicht mehr lange leben würde. Er kam also zu mir.«

Catherine hörte fasziniert zu. »Was haben Sie getan?« fragte sie.

»Ich habe ihm geraten, Madame Piris aufzusuchen.« Er schwieg, seine Gedanken wanderten rastlos in einem dunklen Bereich der Vergangenheit.

»Ging er zu ihr?« fragte Catherine schließlich.

»Wie bitte? Ah, ja. Sie sagte Vassily, dass der Tod ihn unerwartet und schnell treffen werde, und warnte ihn vor Löwen zur Mittagszeit. Es gibt in Griechenland keine Löwen, außer ein paar alten zahnlosen im Zoo und den steinernen, die Sie auf Delos gesehen haben.«

Catherine nahm die Spannung in Pappas' Stimme wahr, während er weiter sprach.

»Vassily ging in den Zoo, um persönlich die Käfige zu überprüfen und um sich zu vergewissern, dass die Löwen sicher eingesperrt waren, und ließ Nachforschungen nach allen wilden Tieren anstellen, die in letzter Zeit nach Athen gebracht worden waren. Es gab keine.

Eine Woche verging, nichts geschah, und Vassily kam zu der Ansicht, dass die alte Hexe sich geirrt habe und er ein abergläubischer Narr sei, weil er auf sie gehört hatte. Am Sonnabend morgen ging ich zum Polizeipräsidium, um ihn abzuholen. Es war der vierte Geburtstag seines Sohnes, und wir wollten zur Feier des Tages eine Bootsfahrt nach Kyron unternehmen.

Ich fuhr vor dem Präsidium vor, gerade als die Glocke vom

Rathaus zwölf schlug. Als ich den Eingang erreichte, ereignete sich im Innern des Gebäudes eine ungeheure Explosion. Ich rannte zu Vassilys Dienstzimmer.« Seine Stimme klang hoch und gezwungen. »Von dem Büro war nichts übrig geblieben – und auch von Vassily nicht.«

»Wie entsetzlich«, murmelte Catherine.

Sie gingen eine Weile schweigend weiter. »Aber die Hexe hatte sich getäuscht, nicht wahr?« fragte Catherine. »Er kam nicht durch einen Löwen um?«

»Das ist es ja gerade. Die Polizei rekonstruierte, was geschehen war. Wie gesagt, es war der vierte Geburtstag des Jungen. Vassilys Schreibtisch war von Geschenken überhäuft, die er seinem Sohn mitbringen wollte. Jemand hatte noch ein Geburtstagsgeschenk gebracht. Es war ein Spielzeug, das er auf Vassilys Schreibtisch gelegt hatte.«

Catherine spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Einen Spielzeuglöwen.«

Graf Pappas nickte. »Ja. >Hüten Sie sich vor Löwen zur Mittagszeit^«

Catherine schauderte. »Mich überläuft es kalt.«

Er blickte verständnisvoll auf sie hinab. »Madame Piris ist keine Wahrsagerin, zu der man zum Spaß gehen sollte.«

Sie hatten den Park durchquert und die Piräus-Straße erreicht. Ein freies Taxi kam vorbei. Der Graf winkte es heran, und zehn Minuten später war Catherine wieder in ihrer Wohnung.

Während sie sich auszog, erzählte sie Larry die Geschichte, und dabei überkamen sie wieder kalte Schauder. Larry drückte sie fest an sich und umarmte sie, aber es dauerte lange, bis Catherine einschlafen konnte.

Noelle und Catherine

Athen 1946

Wäre Noelle Page nicht gewesen, hätte Larry Douglas keine Sorgen gehabt. Er war da, wo er sein wollte, tat das, was er tun wollte. Ihm gefielen seine Aufgabe, die Menschen, mit denen er zusammenkam, und der Mann, für den er arbeitete. Sein Privatleben war in gleicher Weise befriedigend. Wenn er nicht flog, verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit mit Catherine. Da Larrys Arbeitszeit aber so wechselhaft war, wusste Catherine nicht immer, wo er sich gerade aufhielt, und Larry fand zahllose Gelegenheiten, seine eigenen Wege zu gehen. Mit Graf Pappas und Paul Metaxas, seinem Kopiloten, besuchte er Parties, von denen sich zahlreiche zu Orgien auswuchsen. Griechische Frauen sind leidenschaftlich und feurig. Er hatte eine neue Bekanntschaft gemacht, Helena, eine Stewardess, die bei Demiris angestellt war, und als sie fern von Athen einen Zwischenaufenthalt hatten, teilten sie und Larry das Hotelzimmer. Ja, Larry Douglas war der Überzeugung, dass sein Leben im großen ganzen perfekt sei.

Wenn nicht die blonde Hure, Demiris' Geliebte, gewesen wäre.

Larry hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, weshalb Noelle Page ihn verabscheute, aber was es auch war, es gefährdete seine Existenz. Larry hatte versucht, höflich, gleichgültig und freundlich zu sein, doch jedes Mal war es Noelle Page gelungen, ihn als Dummkopf hinzustellen. Larry wusste, dass er zu Demiris gehen konnte, aber er machte sich keine Illusionen darüber, was geschehen würde, wenn es zu einer Wahl zwischen ihm und Noelle kommen sollte. Zweimal hatte er mit Paul Metaxas ausgemacht, er solle Noelles Flüge übernehmen, doch kurz vor jedem Flug hatte Demiris' Sekretärin ihn angerufen und ihm mitgeteilt, Mr. Demiris wünsche, dass Larry selbst die Maschine steuere.

An einem frühen Morgen Ende November bekam Larry einen Anruf, dass er Noelle Page am Nachmittag nach Amsterdam fliegen solle. Larry setzte sich mit dem Flughafen in Verbindung und erhielt einen negativen Bericht über das Wetter in Amsterdam. Nebel beginne aufzukommen, und am Nachmittag rechne man mit einer Sichtweite gleich Null. Larry rief Demiris' Sekretärin an, um ihr mitzuteilen, dass es unmöglich sei, an diesem Tag nach Amsterdam zu fliegen. Die Sekretärin sagte, sie würde zurückrufen. Fünfzehn Minuten später war sie am Telefon, um zu sagen, Miss Page würde um vierzehn Uhr startbereit auf dem Flughafen sein. Larry setzte sich wieder mit dem Flughafen in Verbindung, denn inzwischen konnte eine Wetterbesserung eingetreten sein, aber er erhielt denselben Bescheid.

»Lieber Himmel!« rief Paul Metaxas aus. »Die muss es aber verdammt eilig haben, nach Amsterdam zu kommen.«

Larry hatte jedoch das Gefühl, dass es gar nicht um Amsterdam ginge. Es war ein Zweikampf des Willens zwischen ihnen beiden. Von ihm aus konnte Noelle Page an einem Berggipfel zerschellen und ab mit Schaden, aber Larry wollte verdammt sein, wenn er dieser dummen Hure wegen seinen Hals riskierte. Er versuchte, Demiris ans Telefon zu bekommen und mit ihm zu sprechen, doch Demiris war in einer Sitzung und nicht zu erreichen. Larry warf den Hörer auf die Gabel, kochend vor Wut. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als zum Flughafen zu fahren und zu versuchen, seinem Passagier den Flug auszureden. Er traf um 13.30 Uhr auf dem Flughafen ein. Um fünfzehn Uhr war Noelle Page immer noch nicht erschienen. »Wahrscheinlich hat sie es sich überlegt«, meinte Metaxas.

Aber Larry wusste es besser. Je mehr Zeit verstrich, um so wütender wurde er, bis ihm klar wurde, dass dies ihre Absicht war. Sie versuchte, ihn zu einer unüberlegten Handlung zu treiben, die ihn seine Stellung kosten würde. Larry war im

Flughafengebäude und sprach mit dem Manager des Flughafens, als Demiris' wohlbekannter grauer Rolls vorfuhr und Noelle Page ausstieg. Larry ging zu ihr hinaus.

»Ich fürchte, aus dem Flug wird nichts, Miss Page«, sagte er und bemühte sich, seine Stimme ausdruckslos klingen zu lassen. »Der Flughafen von Amsterdam liegt in dichtem Nebel.«

Noelle sah an Larry vorbei, als ob er nicht existierte, und sagte zu Paul Metaxas: »Die Maschine ist doch mit automatischen Landegeräten ausgerüstet, oder nicht?«

»Doch, das ist sie«, antwortete Metaxas verlegen.

»Ich bin wirklich überrascht«, sagte sie darauf, »dass Mr. Demiris einen Piloten engagiert hat, der ein Feigling ist. Ich werde mit ihm darüber sprechen.«

Noelle drehte sich um und ging zum Flugzeug. Metaxas blickte ihr nach und sagte: »Mein Gott! Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.

So hat sie sich noch nie benommen. Es tut mir leid, Larry.« Larry sah Noelle nach, während sie über das Flugfeld ging. Ihr blondes Haar wehte im Wind. Nie in seinem Leben hatte er einen Menschen so sehr gehasst.

Metaxas beobachtete ihn. »Fliegen wir?« fragte er.

»Wir fliegen.«

Der Kopilot stieß einen tiefen, bedeutungsvollen Seufzer aus, und die beiden Männer gingen langsam zu der Maschine.

Noelle Page saß in der Kabine und blätterte gelassen in einer Modezeitschrift, als die beiden in das Flugzeug kamen. Larry starrte sie einen Augenblick an. Er war so wutgeladen, dass er sich zu sprechen fürchtete. Er ging ins Cockpit und begann mit den Überprüfungen vor dem Start.

Zehn Minuten später bekam er vom Turm die Freigabe für den Start, und die Maschine hob ab nach Amsterdam.

Die erste Hälfte des Flugs verlief ereignislos. Die Schweiz lag schneebedeckt unter ihnen. Als sie über Deutschland waren, brach die Dämmerung herein. Larry funkte Amsterdam um eine Wettermeldung an. Von dort wurde gemeldet, dass von der Nordsee Nebel hereinwehe und dichter werde. Er verfluchte sein Pech. Wenn der Wind gewechselt und den Nebel vertrieben hätte, wäre sein Problem gelöst gewesen, doch jetzt musste er sich entschließen, ob er in Amsterdam eine Instrumentenlandung wagen oder einen anderen Flughafen anfliegen sollte. Er fühlte sich versucht, nach hinten zu gehen und mit seinem Passagier darüber zu sprechen, doch er konnte den verächtlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht vor sich sehen.

»Sonderflug eins-null-neun, geben Sie bitte Ihren Flugplan bekannt.« Das war der Tower von München. Larry musste schnell eine Entscheidung treffen. Er konnte immer noch in Brüssel, Köln oder Luxemburg landen.

Oder in Amsterdam.

Wieder meldete sich knarrend die Stimme: »Sonderflug eins-null-neun, geben Sie bitte Ihren Flugplan bekannt.«

Larry schaltete auf Sprechen um. »Sonderflug eins-null-neun an Tower München. Wir fliegen nach Amsterdam.« Er kippte den Schalter zurück und merkte, dass Metaxas ihn beobachtete.

»Mein Gott, ich hätte doch meine Lebensversicherung verdoppeln sollen«, sagte Metaxas. »Glaubst du wirklich, dass wir es schaffen?«

»Wenn du es ganz genau wissen willst«, entgegnete Larry verbittert, »es ist mir scheißegal.«

»Großartig. Ich bin in einem Flugzeug mit zwei komplett Verrückten!« stöhnte Metaxas.

In der nächsten Stunde wurde Larry völlig vom Steuern des Flugzeugs beansprucht. Kommentarlos hörte er die laufenden Wettermeldungen ab. Er hoffte immer noch, dass der Wind seine Richtung ändern würde, aber als er noch dreißig Minuten von Amsterdam entfernt war, lautete der Wetterbericht immer noch gleich. Dichter Nebel. Der Flughafen war für jeden Verkehr geschlossen, außer für Notfälle. Larry nahm Kontakt

mit dem Kontrollturm in Amsterdam auf. »Sonderflug eins-null-neun an Tower Amsterdam. Nähern uns Flughafen von 75 Meilen ostwärts Köln, ETA neunzehnhundert.«

Beinahe augenblicklich antwortete eine knarrende Stimme über das Funkgerät. »Tower Amsterdam an Sonderflug eins-null-neun. Unser Flughafen ist geschlossen. Empfehlen Ihnen Rückkehr nach Köln oder Landung in Brüssel.«

Larry sprach in das Handmikrofon: »Sonderflug eins-null-neun an Tower Amsterdam. Negativ. Wir sind in Notlage.«

Metaxas drehte sich überrascht zu ihm um.

Eine andere Stimme meldete sich im Funkgerät. »Sonderflug eins-null-neun, hier Operationschef Flughafen Amsterdam. Wir sind völlig eingenebelt. Sicht gleich Null, wiederhole: Sicht gleich Null. Worin besteht Ihre Notlage?«

»Unser Treibstoff geht zur Neige«, antwortete Larry. »Wir haben kaum genug, Amsterdam zu erreichen.«

Metaxas' Blicke wanderten zu den Treibstoffmessern. Sie zeigten halbvolle Tanks an. »Um Himmels willen«, platzte Metaxas heraus, »wir könnten bis nach China fliegen!«

Das Funkgerät war stumm. Plötzlich setzte es wieder knisternd ein: »Amsterdam Tower an Sonderflug eins-null-neun. Landung freigegeben. Wir holen Sie herein.«

»Verstanden.« Larry kippte den Schalter zurück und wandte sich an Metaxas. »Lass den Treibstoff ab«, befahl er.

Metaxas schluckte und fragte dann mit quäkender Stimme: »Treibstoff ablassen?«

»Du hast richtig verstanden, Paul. Lass nur so viel in den Tanks, dass es zur Landung reicht.«

»Aber, Larry ...«

»Verdammt, widersprich mir jetzt nicht. Wenn wir mit halbvollen Tanks ausrollen, nehmen sie uns die Lizenz so schnell, dass wir's gar nicht merken.«

Metaxas nickte düster und griff nach einem Hebel. Er begann zu pumpen und behielt dabei den Treibstoffmesser genau im

Auge. Fünf Minuten später befanden sie sich im Nebel, eingehüllt in weiche weiße Watte, die alles auslöschte außer dem schwach erhellten Cockpit, in dem sie saßen. Es war ein gespenstisches Gefühl, abgeschnitten von Zeit und Raum und der übrigen Welt. Zum letzten Mal hatte Larry dieses Gefühl in einem Link Trainer durchlebt, aber das war gewissermaßen ein Spiel ohne Risiko gewesen. Jetzt war der Einsatz Leben oder Tod. Was mochte wohl sein Passagier machen? fragte er sich. Er hoffte, sie bekäme einen Herzanfall. Wieder meldete sich der Kontrollturm von Amsterdam.

»Kontrollturm Amsterdam an Sonderflug eins-null-neun. Ich bringe Sie über A. L. S. ein. Befolgen Sie meine Anweisungen bitte genau. Wir haben Sie auf unserem Radarschirm. Drehen Sie 3 Grad West und halten Sie die gegenwärtige Höhe, bis weitere Anweisungen folgen. Bei Ihrer gegenwärtigen Fluggeschwindigkeit sollten Sie in achtzehn Minuten landen.«

Die Stimme im Funkgerät klang angespannt. Aus gutem Grund, dachte Larry grimmig. Ein kleiner Fehler, und das Flugzeug würde ins Meer rasen. Larry nahm die Korrektur vor und verschloss seine Gedanken für alles andere außer der körperlosen Stimme, die den einzigen Weg zum Überleben wies. Er flog die Maschine so, als sei sie ein Teil seiner selbst, er flog sie mit Herz und Geist und Seele. Er war sich dumpf der Nähe von Paul Metaxas bewusst, der schwitzend neben ihm saß und ständig mit leiser, gepresster Stimme die Instrumente ablas. Doch wenn sie aus dieser Situation lebendig herauskommen sollten, dann war es Larry Douglas zu verdanken. Larry hatte niemals einen so dichten Nebel erlebt. Er war ein gespenstischer Feind, der ihn von allen Seiten anfiel, ihn blendete, ihn täuschte, ihn zu verleiten suchte, den tödlichen Fehler zu begehen. Er raste mit einer Geschwindigkeit von vierhundert Kilometern in der Stunde dahin, war unfähig, weiter zu sehen als bis zu der Windschutzscheibe des Cockpits vor sich. Piloten hassten Nebel, und ihre erste Regel war:

Steige über ihn weg oder tauche unter ihm durch, aber gehe ihm aus dem Weg! Jetzt konnte er das nicht, denn er war durch die Laune einer überspannten Person auf ein unerreichbares Ziel festgelegt. Er war hilflos der Barmherzigkeit seiner Instrumente ausgeliefert, die falsch anzeigen konnten, und der Männer auf dem Boden, die Fehler begehen konnten. Wieder meldete sich die Stimme im Funkgerät, und sie schien Larry einen neuen, nervösen Ton zu haben.

»Tower Amsterdam an Sonderflug eins-null-neun. Sie kommen zum ersten Teil Ihres Landeanflugs. Fahren Sie die Landeklappen aus und gehen Sie tiefer. Gehen Sie auf zweitausend Fuß ... auf fünfzehnhundert Fuß ... auf tausend Fuß ...«

Noch immer kein Anzeichen des Flughafens unten. Sie hätten irgendwo in der Mitte des Nichts sein können. Er spürte aber, wie der Boden der Maschine entgegenraste.

»Verringern Sie die Fluggeschwindigkeit auf hundertzwanzig ... Fahren Sie das Fahrwerk aus ... Sie sind in sechshundert Fuß ... Geschwindigkeit einhundert ... Sie sind in vierhundert Fuß ...« Und immer noch kein Anzeichen dieses gottverdammten Flughafens! Die Decke der alles einhüllenden Watte schien jetzt dichter.

Metaxas' Stirn glänzte vor Schweiß. »Wo, zum Teufel, ist er?« murmelte er.

Larry warf einen schnellen Blick auf den Höhenmesser. Die Nadel näherte sich der Marke für dreihundert Fuß, dann war sie darunter. Der Boden raste ihnen mit hundert Meilen in der Stunde entgegen. Der Höhenmesser zeigte nur noch hundertfünfzig Fuß an. Irgend etwas stimmte nicht. Er müsste jetzt die Lichter des Flughafens sehen können. Er strengte seine Augen an, um weiter sehen zu können, aber er nahm nichts als den verräterischen, blendenden Nebel wahr, der an der Windschutzscheibe vorbei strich.

Larry vernahm Metaxas' Stimme, angespannt und heiser: »Wir sind auf sechzig Fuß.« Und immer noch nichts.

»Vierzig Fuß.«

Und der Boden raste ihnen in der Dunkelheit weiter entgegen.

»Zwanzig Fuß.«

Es hatte keinen Sinn. Noch zwei Sekunden, und sie hatten den Sicherheitsbereich überschritten und würden zerschellen. Er musste augenblicklich eine Entscheidung treffen.

»Ich bringe sie wieder hinauf«, sagte Larry. Seine Hände schlössen sich fester um die Steuersäule, und er begann sie zurückzuziehen, doch in diesem Augenblick flammte auf dem Boden vor ihm eine Reihe elektrischer Lichtpfeile auf und beleuchtete die Landebahn unten. Zehn Sekunden später hatten sie aufgesetzt und rollten auf das Flughafengebäude von Schiphol zu.

Als sie zum Halten gekommen waren, stellte Larry mit gefühllosen Fingern die Motoren ab und blieb dann lange regungslos sitzen. Schließlich stemmte er sich auf die Füße und stellte zu seiner Überraschung fest, dass ihm die Knie zitterten. Er bemerkte einen seltsamen Geruch und blickte Metaxas an. Metaxas grinste verlegen. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe in die Hosen gemacht.« Larry sah auf ihn herab und nickte. »Für uns beide«, sagte er. Er drehte sich um und ging in die Kabine. Die Hure saß ruhig da und blätterte gelassen in einer Zeitschrift! Larry blieb vor ihr stehen. Alles in ihm drängte ihn, ihr die Meinung zu sagen, wünschte sich verzweifelt, den Schlüssel zu ihrer Handlungsweise zu finden. Noelle Page musste wissen, wie nahe sie in den vergangenen Minuten dem Tode gewesen war, und dennoch saß sie heiter und gelassen da, und nicht ein Haar an ihr war in Unordnung geraten.

In drückendem Schweigen fuhren sie nach Amsterdam hinein. Noelle auf dem Rücksitz des Mercedes 300 und Larry vorn bei dem Chauffeur. Metaxas war auf dem Flughafen zurückgeblieben, um die Maschine warten zu lassen. Der Nebel war immer noch dicht, und sie fuhren langsam, bis er sich plötzlich lichtete, als sie den Lindenplatz erreichten.

Sie fuhren über den Platz, überquerten die Amstel auf der Eider-Brücke und hielten vor dem Amstel-Hotel an. Als sie in der Halle waren, sagte Noelle zu Larry: »Holen Sie mich um Punkt zehn ab.« Dann drehte sie sich um und ging auf die Fahrstühle zu, dicht hinter ihr der sich verneigende Manager. Ein Page führte Larry in ein kleines unbehagliches Einzelzimmer im ersten Stock auf der Rückseite des Hotels. Das Zimmer lag neben der Küche, und durch die Wand konnte Larry das Klappern des Geschirrs und die Vielfalt der Gerüche aus den dampfenden Kesseln wahrnehmen.

Larry warf einen Blick in das Zimmer und sagte ungehalten: »Hier würde ich nicht einmal einen Hund unterbringen.«

»Verzeihung«, sagte der Page sich entschuldigend. »Miss Page hat für Sie das billigste Zimmer verlangt, das wir haben.«

Gut, gut, dachte Larry, ich werde einen Weg finden, sie zu schlagen. Constantin Demiris ist nicht der einzige Mann auf der Welt, der einen Privatpiloten braucht. Morgen fange ich an mich umzuhören. Ich habe eine Menge seiner reichen Freunde kennen gelernt. Ein halbes Dutzend davon wäre verdammt froh, wenn sie mich bekämen. Doch dann schränkte er ein: Nicht, wenn Demiris mich hinauswirft. Wenn das passiert, wird mich keiner auch nur anfassen. Ich hänge nun einmal hier.

Das Bad war unten am Gang, und Larry packte seinen Koffer aus, nahm einen Morgenmantel heraus, damit er ins Bad gehen konnte, doch dann dachte er: Zum Teufel damit, warum sollte ich ihretwegen baden? Hoffentlich stinke ich wie ein Schwein.

Er ging auf einen Drink, den er dringend brauchte, in die Hotelbar. Er war bei seinem dritten Martini, als er auf die Uhr über der Bar blickte und feststellte, dass es 10 Uhr 15 war. Punkt zehn Uhr, hatte sie gesagt. Larry geriet in Panik. Hastig legte er ein paar Geldscheine auf die Bar und eilte zum Fahrstuhl. Noelle bewohnte die Kaisersuite im 5. Stock.

Unwillkürlich rannte er durch den langen Korridor und fluchte über sich selbst, dass er sich dies antun ließ. Er klopfte an ihre Tür und suchte in Gedanken nach Vorwänden, um seine Verspätung zu entschuldigen. Niemand reagierte auf sein Klopfen, und als Larry den Türknopf drehte, fand er die Tür unverschlossen. Er trat in den großen, luxuriös ausgestatteten Salon und blieb einen Augenblick unsicher stehen, ehe er rief: »Miss Page.« Es kam keine Antwort. Das war also ihr Plan.

Es tut mir leid, Costa Liebling, aber ich sagte dir gleich, dass er unzuverlässig ist. Ich hatte ihn gebeten, mich um zehn Uhr abzuholen, aber er saß unten in der Bar und betrank sich. Ich musste ohne ihn gehen.

Larry vernahm ein Geräusch aus dem Bad und ging darauf zu. Die Badezimmertür stand offen. Er ging hinein, gerade als Noelle Page unter der Dusche hervorkam. Sie hatte nichts an außer einem Frottiertuch, das sie sich als Turban um den Kopf geschlungen hatte.

Noelle drehte sich um und sah ihn unter der Tür stehen. Eine Entschuldigung drängte sich Larry auf die Lippen, er versuchte, ihrer Empörung zuvorzukommen, doch noch ehe er ein Wort herausbrachte, sagte Noelle ungerührt: »Reichen Sie mir das Badetuch«, als ob er eine Zofe wäre. Oder ein Eunuch. Larry hätte sich mit ihrer Empörung oder ihrem Zorn abfinden können, aber ihre arrogante Gleichgültigkeit ließ etwas in ihm aushaken.

Er trat auf sie zu und packte sie. Er wusste, dass er damit alles, was er sich wünschte, fortwarf, um der billigen Befriedigung einer kleinlichen Rache willen, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Die Wut in ihm hatte sich seit Monaten angesammelt, genährt von den Demütigungen, die er von ihr erfahren hatte, den vorsätzlichen Beleidigungen, den Erniedrigungen, der Gefährdung seines Lebens. Alles das brannte in ihm, als er nach ihrem nackten Körper griff. Wenn Noelle geschrieen hätte, hätte Larry sie bewusstlos geschlagen. Aber sie sah den wilden Ausdruck auf seinem Gesicht und gab keinen Laut von sich, als er sie aufhob und ins Schlafzimmer trug.

In Larry meldete sich eine Stimme, die ihm zu schrie einzuhalten, sich zu entschuldigen, zu sagen, dass er betrunken wäre, davonzurennen, ehe es für ihn zu spät war, sich zu retten, aber er wusste, dass es schon zu spät war. Es gab kein Zurück mehr. Er warf sie brutal aufs Bett.

Er konzentrierte sich auf ihren Körper, weigerte sich, an die Strafe zu denken, die ihn dafür treffen würde. Er machte sich keine Illusionen darüber, was Demiris mit ihm tun würde, denn die Ehre des Griechen würde sich nicht damit bescheiden, dass er ihn lediglich hinauswürfe. Larry kannte den Magnaten gut genug, um zu wissen, dass dessen Rache weit schrecklicher sein würde, und obwohl er das wusste, konnte er sich nicht zurückhalten.

Sie lag auf dem Bett und blickte zu ihm auf, ihre Augen funkelten. Er warf sich über sie und drang in sie ein, erkannte erst in diesem Augenblick, wie sehr er sich schon die ganze Zeit gewünscht hatte, genau das zu tun, und irgendwie verschmolz der Trieb vollständig mit dem Hass, und er spürte, dass ihre Arme sich um seinen Nacken schlangen und sie ihn an sich drückte, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte, und sie sagte: »Willkommen daheim«, und es fuhr Larry durch den Sinn, dass sie verrückt sei oder dass sie ihn mit einem anderen verwechsle, doch das war ihm gleichgültig, denn ihr Körper zuckte und wand sich unter ihm, und er vergaß alles andere in dem Gefühl dessen, was ihm widerfuhr, und in der plötzlichen, wundervollen Erkenntnis, dass jetzt alles gut war.

Noelle und Catherine

Athen 1946

Unerklärlicherweise war die Zeit Catherines Feind geworden. Zunächst bemerkte sie es nicht, und wenn sie zurückblickte, konnte sie nicht den genauen Augenblick bezeichnen, seitdem die Zeit gegen sie arbeitete. Sie hatte nicht bemerkt, wann Larrys Liebe gestorben war oder warum oder wie, aber eines Tages war sie nicht mehr da, verschwunden im Gang der Zeit, und alles, was übrig blieb, war ein kaltes, hohles Echo. Tag für Tag saß sie allein in der Wohnung und versuchte zu ergründen, was geschehen, was fehlgeschlagen war. Es gab nichts Bestimmtes, woran Catherine sich entsinnen konnte, keinen einzelnen Augenblick der Erkenntnis, auf den sie deuten und sagen konnte: Das war es, das war der Punkt, an dem Larry aufhörte, mich zu lieben. Vielleicht hatte es begonnen, als Larry von einem dreiwöchigen Aufenthalt in Afrika zurückkam, wohin er Demiris zu einer Safari gebracht hatte. Larry hatte Catherine mehr gefehlt, als sie für möglich gehalten hatte. Er ist die ganze Zeit über fort, dachte sie. Es ist wie im Krieg, nur gibt es diesmal keinen Feind.

Aber darin irrte sie sich. Es gab einen Feind.

»Ich habe dir die gute Neuigkeit noch gar nicht berichtet«, sagte Larry. »Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen. Siebenhundert im Monat. Was sagst du dazu?«

»Das ist wunderbar«, antwortete sie. »Um so früher können wir nach Hause zurück.« Sie sah, wie sein Gesicht finster wurde. »Was ist denn?«

»Hier sind wir zu Hause«, entgegnete Larry knapp.

Sie blickte ihn verständnislos an. »Nun ja, zur Zeit«, stimmte sie nachgiebig zu, »aber ich meine – du wirst doch nicht für immer hier leben wollen.«

»Du hast es nie so gut gehabt«, entgegnete Larry. »Du lebst

hier wie in der Sommerfrische.«

»Aber es ist nicht wie das Leben in Amerika.«

»Scheiß auf Amerika«, antwortete Larry. »Vier Jahre lang habe ich mein Leben dafür riskiert, und was hat es mir eingebracht? Eine Handvoll billiger Orden. Nach dem Krieg wollten sie mir nicht einmal einen Job geben.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach sie. »Du ...«

»Was ich?«

Catherine wollte keinen Streit provozieren, schon gar nicht am Abend seiner Heimkehr. »Nichts, Liebling«, sagte sie. »Du bist müde. Wir werden bald schlafen gehen.«

»Das werden wir nicht.« Er ging an die Bar, um sich einen Drink einzuschenken. »Im Argentina Night Club ist ein neues Programm. Ich habe Paul Metaxas gesagt, dass ich ihn mit ein paar Freunden dort treffen würde.«

Catherine sah ihn an. »Larry« Sie musste sich Mühe geben, dass ihre Stimme gefasst klang. »Larry, wir haben uns fast einen Monat lang nicht gesehen. Wir haben nie die Möglichkeit, einfach – einfach beieinander zu sitzen und uns zu unterhalten.«

»Ich kann es nicht ändern, dass mich mein Beruf nach auswärts führt«, erwiderte er. »Glaubst du vielleicht, ich wäre nicht gern bei dir?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich muss ein Orakel befragen.«

Darauf legte er seinen Arm um sie und strahlte sie mit seinem unschuldigen Jungenlächeln an. »Zum Teufel mit Metaxas und der ganzen Bande. Wir bleiben heute zu Hause, nur wir zwei allein. Einverstanden?«

Catherine sah ihm ins Gesicht und wusste, dass sie unvernünftig war. Selbstverständlich konnte er nichts dafür, dass sein Beruf ihn von ihr fortführte. Und wenn er nach Hause zurückkam, war es nur natürlich, dass er andere Leute sehen wollte. »Lass uns doch ausgehen, wenn du gern möchtest«, schlug sie vor.

Er zog sie dicht an sich. »Wir bleiben allein, nur wir zwei.«

Das ganze Wochenende über verließen sie die Wohnung nicht. Catherine kochte, und sie liebten sich und saßen vor dem Feuer und unterhielten sich und spielten Romme und lasen, und es war alles so, wie Catherine es sich nur wünschen konnte.

Am Sonntagabend, nach einem köstlichen Essen, das Catherine zubereitet hatte, gingen sie zu Bett und liebten sich wieder. Sie lag im Bett und sah Larry nach, der nackt ins Bad ging, und dachte, was für ein schöner Mann er sei und wie glücklich sie wäre, dass er ihr gehöre, und das Lächeln stand ihr noch im Gesicht, als Larry sich unter der Badezimmertür umdrehte und beiläufig sagte: »Triff für die nächste Woche jede Menge Verabredungen, damit wir nicht wieder aneinanderkleben und uns langweilen.« Damit ging er ins Bad und ließ Catherine mit erstarrtem Lächeln zurück.

Oder hatten die Schwierigkeiten vielleicht mit Helena, der schönen griechischen Stewardess, angefangen? An einem heißen Sommernachmittag war Catherine einkaufen gewesen. Larry war auswärts. Sie erwartete ihn am nächsten Tag zurück und wollte ihn mit einem seiner Lieblingsgerichte überraschen. Als Catherine, die Arme voller Lebensmittel, den Markt verließ, fuhr ein Taxi an ihr vorbei. Auf dem Rücksitz saß Larry, den Arm um ein Mädchen in Stewardessenuniform gelegt. Catherine erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf ihre lachenden Gesichter, und dann bog das Taxi um eine Ecke und war verschwunden.

Catherine stand wie benommen da, und erst als ein paar kleine Jungen ihr zu Hilfe kamen, bemerkte sie, dass die Lebensmitteltüten ihren kraftlosen Fingern entglitten waren. Die Buben hatten Catherine geholfen, alles aufzusammeln, und sie war nach Hause geschwankt, ihr Verstand weigerte sich zu denken. Sie hatte versucht sich einzureden, dass es nicht Larry gewesen sei, den sie in dem Taxi gesehen hatte, es war jemand, der ihm ähnlich sah. Die Wahrheit aber war, dass es niemand auf der Welt gab, der Larry ähnelte. Er war einmalig, eine unvergleichliche Schöpfung der Natur. Und er gehörte ganz ihr. Ihr und der Dunkelhaarigen in dem Taxi und wie vielen anderen noch?

Catherine blieb die ganze Nacht auf und wartete darauf, dass Larry durch die Tür träte, und als er nicht nach Hause kam, wusste sie, dass keine Entschuldigung, die er vorbringen mochte, ihre Ehe noch zusammenhalten könnte, und sie hatte auch keine Entschuldigung für sich selbst. Er war ein Lügner und Betrüger, und sie konnte nicht länger mit ihm verheiratet bleiben.

Larry kam erst am späten Nachmittag des folgenden Tages zurück.

»Hallo«, begrüßte er sie vergnügt, als er die Wohnung betrat. Er stellte seine Flugtasche ab und sah sie an. »Was ist los?«

»Wann bist du zurückgekommen?« fragte Catherine steif.

Larry sah sie überrascht an. »Vor ungefähr einer Stunde. Warum?«

»Ich sah dich gestern mit einem Mädchen in einem Taxi.« So einfach ist das also, dachte Catherine. Das sind die Worte, die meiner Ehe ein Ende setzen. Er wird es abstreiten, und ich werde ihn einen Lügner nennen, werde ihn verlassen und ihn nie wieder sehen.

Larry stand vor ihr und blickte sie an.

»Los«, sagte sie. »Sag schon, dass du es nicht warst.« Larry sah sie weiter an und nickte. »Natürlich war ich es.« Der plötzliche scharfe Schmerz, den Catherine in ihrer Magengrube verspürte, ließ sie erkennen, wie sehr sie gewünscht hatte, dass er es ableugnen würde.

»Mein Gott«, sagte er. »Was hast du dir denn gedacht?« Sie wollte sprechen, und ihre Stimme bebte vor Zorn. »Ich« Larry hob die Hand. »Sage nichts, was dir später leid tun könnte.« Catherine blickte ihn ungläubig an. »Was mir leid tun könnte?«

»Ich flog gestern schnell nach Athen zurück, um ein Mädchen namens Helena Merelis für Demiris nach Kreta zu bringen. Helena arbeitet bei ihm als Stewardess.«

»Aber ...« Es war möglich. Larry konnte die Wahrheit sagen; oder war er polymechanos, fruchtbar im Erfinden? »Warum hast du mich nicht angerufen?« fragte Catherine.

»Habe ich«, entgegnete Larry kurz. »Es hat sich niemand gemeldet. Du warst aus, oder?«

Catherine schluckte. »Ich – ich war einkaufen fürs Abendessen.« »Ich habe keinen Hunger«, sagte Larry abweisend. »Nörgeln verdirbt mir immer den Appetit.« Er drehte sich um und ging zur Tür hinaus, ließ Catherine stehen, die die rechte Hand erhoben hatte, als ob sie ihn wortlos beschwören wollte zurückzukehren.

Kurz danach fing Catherine an zu trinken. Es begann auf eine recht harmlose Weise. Sie erwartete Larry um sieben Uhr zum Essen, und als es neun wurde und er noch nicht angerufen hatte, trank Catherine einen Kognak, um die Zeit totzuschlagen. Bis zehn hatte sie dann mehrere getrunken, und bis er dann nach Hause kam, falls er kam, war das Essen längst verdorben und sie etwas angetrunken. So konnte sie leichter ertragen, was ihrem Leben widerfuhr.

Catherine konnte sich selbst nicht länger die Tatsache verheimlichen, dass Larry sie betrog und sie wahrscheinlich vom ersten Tag ihrer Ehe an betrogen hatte. Als sie eines Tages eine seiner Uniformhosen durchsuchte, ehe sie sie zur Reinigung schickte, fand sie in der Tasche ein Spitzentaschentuch, steif von Sperma. An seiner Unterhose war Lippenstift.

Sie stellte sich Larry in den Armen einer anderen Frau vor. Und sie wollte ihn umbringen.

Noelle und Catherine

Athen 1946

Wie die Zeit zu Catherines Feind geworden war, so wurde sie zu Larrys Freund. Die Nacht in Amsterdam war nichts weniger als ein Wunder gewesen. Larry hatte eine Katastrophe herausgefordert, und gerade dabei hatte er unglaublicherweise die Lösung für alle seine Probleme gefunden. Das ist das Glück der Douglas, dachte er befriedigt.

Doch er wusste, dass es mehr als Glück war. Es war ein finsterer, perverser Instinkt in ihm, der ihn drängte, das Schicksal herauszufordern, bis an die Grenze des Todes und der Vernichtung vorzustoßen, ein Testen, ein Aufbäumen seiner selbst gegen das Geschick bei einem Einsatz von Leben oder Tod.

Larry erinnerte sich an einen Morgen über den Truck Islands in der Südsee, als ein Schwärm japanischer Zeros aus der Wolkendecke herausgeschossen kam. Er flog am äußersten Flügel, und die Japaner konzentrierten ihren Angriff auf ihn. Drei Zeros hatten ihn von dem übrigen Geschwader abgedrängt und eröffneten das Feuer auf ihn. In einer Art Hellsichtigkeit, die ihn im Augenblick der Gefahr überkam, war er sich des Vorhandenseins der Inseln unter sich bewusst, der Dutzende von Schiffen, die auf der rollenden See auf und ab wogten, der dröhnenden Flugzeuge, die in dem leuchtendblauen Himmel aufeinander zustießen. Es war einer der glücklichsten Augenblicke in Larrys Leben, war Lebenserfüllung und Verspottung des Todes.

Er hatte seine Maschine abtrudeln lassen und sie hinter einer Zero abgefangen. Er hatte den Japaner explodieren sehen, als er mit seinen Maschinengewehren das Feuer eröffnete. Die zwei anderen Flugzeuge stießen von beiden Seiten auf ihn herunter. Larry beobachtete, wie sie auf ihn zurasten, und zog seine Maschine im letzten Augenblick in einem Immelmann hoch, und die beiden Japaner kollidierten in der Luft. Es war ein Augenblick, den Larry später in Gedanken oft genoss.

Aus irgendeinem Grund hatte er sich in der Nacht in Amsterdam daran erinnert. Er hatte Noelle wild und hemmungslos geliebt, und nachher hatte sie in seinen Armen gelegen und von ihnen beiden, von ihrem Zusammensein vor dem Krieg in Paris gesprochen. Plötzlich tauchte ihm eine verschwommene Erinnerung an ein lebenshungriges junges Mädchen auf, aber mein Gott, seit damals waren ihm Hunderte lebenshungriger junger Mädchen begegnet, und Noelle war für ihn nicht mehr als eine flüchtige Erinnerung aus der Vergangenheit.

Welch ein Glück, dachte Larry, dass ihre Wege sich zufällig, nach all den langen Jahren, wieder gekreuzt hatten.

»Du gehörst mir«, sagte Noelle. »Jetzt bist du mein.«

Etwas in ihrem Ton machte Larry unruhig. Aber schließlich, fragte er sich, was habe ich zu verlieren?

Solange er Noelle beherrschte, konnte er ewig bei Demiris bleiben, wenn er wollte.

Sie sah ihn prüfend an, als ob sie in seinen Gedanken läse, und in ihren Augen lag ein seltsamer Ausdruck, den Larry nicht deuten konnte.

Doch was hatte das schon zu besagen?

Nach einem Rückflug von Marokko lud Larry Helena zum Abendessen ein und verbrachte die Nacht in ihrer Wohnung.

Am Morgen fuhr er zum Flughafen hinaus, um seine Maschine zu inspizieren. Er aß mit Paul Metaxas zu Mittag.

»Du siehst aus, als hättest du den Hauptgewinn gezogen«, sagte Metaxas. »Kannst du mir nicht was davon abgeben?«

»Junge«, antwortete Larry grinsend, »du würdest nicht damit zu Rande kommen. Dazu muss man Meister in dem Fach sein.«

Die gemeinsame Mahlzeit verlief angenehm, und danach fuhr Larry in die Stadt zurück, um Helena abzuholen, die ihn auf dem bevorstehenden Flug begleiten sollte.

Er klopfte an der Tür ihrer Wohnung, und nach langer Zeit öffnete Helena vorsichtig. Sie war nackt. Larry starrte sie an, erkannte sie zuerst fast nicht. Ihr Gesicht und ihr Körper waren eine Ansammlung böser Schrammen und geröteter Schwellungen. Ihre Augen waren schmerzende Schlitze. Sie war von einem Profi zusammengeschlagen worden.

»Mein Gott, was ist passiert?« rief Larry entsetzt.

Helena öffnete den Mund, und Larry sah, dass ihr drei der oberen Vorderzähne ausgeschlagen worden waren. »Z-zwei Männer«, stammelte sie. »Sie kamen gleich, nachdem du fort warst.«

»Hast du nicht die Polizei gerufen?« fragte Larry fassungslos.

»Sie – sie haben gesagt, sie würden mich umbringen, wenn ich sie verriete. Sie meinten es ernst, Larry.« Sie war unter einem schweren Schock und stützte sich an der Tür.

»Haben sie dich beraubt?«

»N-nein. Sie dr-drangen hier ein und vergewaltigten mich und dann – dann schlugen sie mich zusammen.«

»Zieh dir etwas an«, befahl er. »Ich bringe dich ins Krankenhaus.«

»Ich kann – ich kann doch nicht auf die Straße mit meinem Gesicht«, stammelte sie.

Selbstverständlich hatte sie recht. Larry telefonierte mit einem befreundeten Arzt und bat ihn herzukommen.

»Es tut mir leid, aber ich kann nicht bleiben«, erklärte er Helena. »Ich muss mit Demiris in einer halben Stunde abfliegen. Ich komme zu dir, sobald ich wieder zurück bin.«

Aber er sah sie nie wieder. Als Larry zwei Tage später zurückkam, stand die Wohnung leer, und die Wirtin sagte ihm, die junge Dame sei ausgezogen, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Selbst dann argwöhnte Larry die Wahrheit noch nicht. Erst einige Nächte später, als er bei Noelle war und sie liebte, erhielt er einen Hinweis darauf, was geschehen war.

»Du bist so gottverdammt phantastisch«, sagte er. »Ich habe noch nie jemanden wie dich kennen gelernt.«

»Gebe ich dir alles, was du dir wünschst?« fragte sie.

»Ja«, stöhnte er. »Oh, mein Gott, ja.«

Noelle hielt in ihrem Tun inne. »Dann schlafe niemals mit einer anderen Frau«, sagte sie leise. »Das nächste Mal bringe ich sie um.«

Larry erinnerte sich ihrer Worte: Du gehörst mir. Plötzlich nahmen sie eine neue, drohende Bedeutung an. Zum ersten Mal hatte er eine Vorahnung, dass dies keine gelegentliche nächtliche Affäre sei, die er jederzeit abbrechen könne, wenn ihm danach zumute war. Er spürte das kalte, tödliche, ungreifbare Zentrum in Noelle Page, und ein Schauer von Furcht überlief ihn. Während dieser Nacht setzte er ein halbes Dutzend Mal dazu an, das Gespräch auf Helena zu bringen, doch jedes Mal hielt er sich zurück aus Furcht vor dem Wissen, aus Furcht, es in Worte zu kleiden, ganz als ob Worte mehr Gewalt hätten als die Tat selbst. Wenn Noelle dazu fähig war ...

Beim Frühstück am nächsten Morgen beobachtete er Noelle insgeheim, suchte nach Anzeichen von Grausamkeit, Sadismus, doch alles, was er sah, war eine liebende, schöne Frau, die ihm amüsante Anekdoten erzählte, jeden seiner Wünsche erriet und erfüllte. Ich muss mich in ihr täuschen, dachte er. Doch danach wich er vorsichtig allen Verabredungen mit Mädchen aus, und nach wenigen Wochen hatte er jedes Verlangen danach verloren, weil er von Noelle vollkommen besessen war.

Von Anfang an wies Noelle Larry darauf hin, dass sie ihre Affäre vor Constantin Demiris unbedingt geheim halten müssten.

»Nie darf der geringste Schatten eines Verdachts auf uns fallen«, schärfte Noelle ihm ein.

»Warum soll ich mir nicht ein Apartment mieten?« schlug Larry vor. »Einen Ort, an dem wir ...«

Noelle schüttelte den Kopf. »Nicht in Athen. Irgend jemand würde mich erkennen. Lass mich darüber nachdenken.«

Zwei Tage später schickte Demiris nach Larry. Zunächst war Larry beunruhigt, fragte sich, ob der griechische Magnat etwas über Noelle und ihn in Erfahrung gebracht hätte, aber Demiris begrüßte ihn freundlich und begann mit ihm ein Gespräch über ein neues Flugzeug, dessen Kauf er erwog.

»Es ist ein umgebauter Mitchell-Bomber«, erläuterte Demi-ris. »Ich möchte, dass Sie ihn sich ansehen.«

Larrys Gesicht leuchtete auf. »Das ist ein großartiges Flugzeug«, sagte er. »Durch sein Gewicht und seine Größe ist es das komfortabelste Flugzeug, das Sie bekommen können.«

»Wie viel Passagiere kann es befördern?«

Larry dachte einen Augenblick nach. »Mit allem Luxus neun. Dazu der Pilot, ein Navigator und ein Bordmechaniker. Die Maschine macht vierhundertachtzig Meilen in der Stunde.«

»Das klingt recht interessant. Wollen Sie sie für mich überprüfen und mir dann berichten?«

»Ich kann es kaum erwarten.« Larry grinste vergnügt.

Demiris erhob sich. »Übrigens, Douglas. Miss Page will morgen früh nach Berlin. Ich wünsche, dass Sie sie hinfliegen.«

»Jawohl, Sir«, antwortete Larry und fügte dann arglos hinzu: »Hat Miss Page Ihnen berichtet, dass wir etwas besser miteinander auskommen?«

Demiris blickte auf. »Nein«, antwortete er überrascht. »Tatsache ist, dass sie sich erst heute morgen bei mir über Ihre Überheblichkeit beschwerte.«

Larry starrte ihn erschrocken an, doch dann begriff er und versuchte schnell, seinen Fehler zu kaschieren. »Ich gebe mir Mühe, Mr. Demiris«, sagte er ernst. »Ich werde mir noch mehr Mühe geben.«

Demiris nickte. »Tun Sie das. Sie sind der beste Pilot, den ich je hatte, und es wäre zu bedauerlich, wenn ...« Er verstummte, aber das, was er sagen wollte, war eindeutig.

Auf der Fahrt nach Hause machte Larry sich die größten Vorwürfe. Er sollte lieber daran denken, dass er jetzt in der höchsten Liga spielte. Noelle war klug genug gewesen zu erkennen, dass jede plötzliche Änderung in ihrer Einstellung gegenüber Larry Demiris misstrauisch machen würde. Das bisherige Verhältnis zwischen ihnen beiden war eine perfekte Tarnung für das, was sie taten. Demiris versuchte, sie einander näher zu bringen. Der Gedanke ließ Larry laut auflachen. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass er etwas besaß, wovon einer der mächtigsten Männer der Welt glaubte, dass es ihm gehöre.

Auf dem Flug nach Berlin übergab Larry das Steuer an Paul Metaxas und sagte ihm, er gehe in die Kabine, um mit Noelle Page zu sprechen.

»Hast du keine Angst, dass dir der Kopf abgerissen wird?« fragte Metaxas.

Larry zögerte. Er fühlte sich versucht zu prahlen, unterdrückte diesen Impuls aber. »Sie ist ein Erzluder«, sagte er schulterzuckend. »Aber wenn ich keinen Weg finde, um sie zugänglicher zu machen, könnte ich leicht einmal auf dem Hintern landen.«

»Viel Glück«, wünschte Metaxas nüchtern.

»Danke.«

Larry schloss sorgfältig die Tür zum Cockpit hinter sich und ging in den Salon, wo Noelle saß. Die beiden Stewardessen befanden sich im hinteren Teil der Maschine. Larry wollte sich Noelle gegenüber setzen.

»Sei vorsichtig«, warnte sie leise. »Jeder, der bei Constantin arbeitet, liefert ihm Berichte.«

Larry blickte zu den Stewardessen hinüber und dachte an Helena.

»Ich habe etwas für uns gefunden«, sagte Noelle. Ihr Ton war freudig erregt.

»Ein Apartment?«

»Ein Haus. Weißt du, wo Rafina liegt?«

Larry schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Es ist ein kleines Dorf am Meer, hundert Kilometer nördlich von Athen. Wir haben eine abgelegene Villa dort.«

Er nickte. »In wessen Namen hast du sie gemietet?«

»Ich habe sie gekauft«, antwortete Noelle. »Unter einem anderen Namen.«

Larry fragte sich, wie man sich vorkommen musste, wenn man in der Lage war, eine Villa zu kaufen, nur um gelegentlich mit jemandem ins Heu zu hopsen. »Großartig«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.«

Sie musterte ihn einen Augenblick. »Wirst du Schwierigkeiten haben, von Catherine fort zu kommen?«

Larry sah Noelle überrascht an. Zum ersten Mal erwähnte sie seine Frau. Er hatte gewiss kein Geheimnis aus seiner Ehe gemacht, aber es war merkwürdig, Noelle Catherines Namen aussprechen zu hören. Offensichtlich hatte sie Nachforschungen angestellt, und wie er sie allmählich kannte, waren es wahrscheinlich gründliche Nachforschungen. Sie wartete auf seine Antwort. »Nein«, sagte er. »Ich komme und gehe, wie es mir passt.«

Noelle nickte befriedigt. »Gut. Constantin geht in Geschäften auf eine Kreuzfahrt nach Dubrovnik. Ich habe ihm schon gesagt, dass ich nicht mitfahren kann. Wir haben zehn herrliche Tage vor uns. Aber du gehst jetzt besser.«

Larry drehte sich um und ging ins Cockpit zurück.

»Wie war es?« fragte Metaxas. »Hast du was erreicht?«

»Nicht viel«, antwortete Larry. »Es braucht Zeit.«

Larry besaß einen Wagen, ein Citroen-Kabriolett, aber Noelle bestand drauf, dass er sich bei einer kleinen Autovermietung in Athen einen Leihwagen nahm. Noelle war allein nach Rafina vorausgefahren, und Larry sollte sie dort treffen. Die angenehme Fahrt führte auf einer staubigen Bergstraße hoch über dem Meer entlang. Zweieinhalb Stunden von Athen entfernt, kam

Larry in ein winziges, reizendes, an die Küste gekuscheltes Dorf. Noelle hatte ihm genaue Anweisungen gegeben, so dass er im Dorf nicht anzuhalten und nachzufragen brauchte. Er erreichte den Dorfrand, bog nach links ab und fuhr über einen Feldweg, der zum Meer führte. Dort standen mehrere Villen, jede für sich hinter hohen Mauern abgeschlossen. Am Ende einer Felsstraße stand auf einem über das Meer hinausragenden Vorsprung eine große luxuriöse Villa.

Larry fuhr vors Tor und drückte auf die Klingel. Einen Augenblick später schwang das elektrische Tor auf. Er fuhr hindurch, und das Tor schloss sich hinter ihm. Er befand sich auf einem großen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte. Die Seiten des Hofs waren von Blumenrabatten umsäumt. Das Haus selbst war eine typische mediterrane Villa, uneinnehmbar wie eine Festung. Die Vordertür öffnete sich, und Noelle erschien in einem weißen Baumwollkleid. Lächelnd standen sie einander gegenüber, und dann lag sie in seinen Armen.

»Komm und sieh dir dein neues Haus an«, sagte sie eifrig und zog ihn hinein.

Das Innere des Hauses bestand aus höhlenartigen, weitläufigen Räumen mit gewölbten Decken. Unten befanden sich ein sehr großer Wohnraum, eine Bibliothek, ein Speisesaal und eine altmodische Küche mit einem runden Herd in der Mitte. Die Schlafräume lagen oben.

»Wie sieht es mit der Bedienung aus?« fragte Larry.

»Du siehst sie vor dir.«

Larry betrachtete sie überrascht. »Willst du selbst kochen und saubermachen?«

Sie nickte. »Wenn wir wieder fort sind, kommt ein Ehepaar her, um zu putzen, aber es wird uns nicht zu Gesicht bekommen. Ich habe alles mit einer Agentur arrangiert.«

Larry grinste zynisch.

In Noelles Stimme lag ein warnender Ton. »Begeh ja nicht den Fehler, Constantin Demiris zu unterschätzen. Wenn er uns

auf die Sprünge kommt, wird er uns beide umbringen.«

Larry lächelte. »Du übertreibst«, sagte er. »Dem Alten mag es nicht passen, aber ...«

Ihre blauen Augen blickten fest in die seinen. »Er wird uns beide töten.« In ihrer Stimme lag etwas, das ein Gefühl böser Vorahnungen in ihm auslöste.

»Ist das wirklich dein Ernst?«

»Ich war nie ernster in meinem Leben. Er kennt keine Rücksicht.«

»Aber wenn du sagst, er würde uns töten«, widersprach Larry, »das heißt doch nicht ...«

»Er wird nicht auf uns schießen«, sagte Noelle entschieden, »sondern er wird eine komplizierte, raffinierte Methode finden, und er wird niemals dafür zur Rechenschaft gezogen werden.« Ihr Ton wurde leichter. »Aber er wird uns nicht auf die Spur kommen, Liebling. Komm, ich will dir unser Schlafzimmer zeigen.« Sie nahm ihn bei der Hand, und sie stiegen die weit geschwungene Treppe hinauf. »Wir haben vier Gästezimmer«, sagte sie und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Und wir können sie alle ausprobieren.« Sie führte ihn in den Hauptschlafraum, ein riesiges Eckzimmer, von wo man auf das Meer hinausblickte. Durch das Fenster konnte Larry auf eine große Terrasse hinab sehen und auf einen kurzen Pfad, der sich zum Wasser hinunterschlängelte. Dort befand sich ein Landesteg, an dem ein großes Segelboot und ein Motorboot festgemacht lagen. »Wem gehören die Boote?«

»Dir«, antwortete sie. »Sie sind dein Begrüßungsgeschenk.« Er drehte sich um und sah, dass sie ihr Baumwollkleid abgestreift hatte. Sie war nackt. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie im Bett.

Die nächsten zehn Tage vergingen wie im Flug. Noelle war quicklebendig, eine Nymphe, ein Luftgeist, ein Dutzend schöner Dienerinnen, die Larry jeden Wunsch erfüllten, noch ehe er wusste, was er sich wünschte. Er fand die Bibliothek der

Villa mit seinen Lieblingsbüchern und -platten bestückt. Noelle kochte seine Lieblingsgerichte mit aller Perfektion, segelte mit ihm, schwamm mit ihm in dem warmen blauen Meer, umarmte ihn, massierte ihn abends, bis er einschlief. In gewisser Weise waren sie zwei Gefangene, denn sie wagten nicht, einen anderen Menschen zu sehen. Jeden Tag entdeckte Larry neue Seiten an Noelle. Sie unterhielt ihn mit faszinierenden Anekdoten von berühmten Leuten, die sie kannte. Sie versuchte, mit ihm über Wirtschaft und Politik zu diskutieren, bis sie entdeckte, dass er sich für keines von beiden interessierte.

Sie spielten Poker und Romme, und Larry wurde wütend, weil er nie gewann. Noelle brachte ihm Schach und Halma bei, und in beidem konnte er sie niemals schlagen. An ihrem ersten Sonntag in der Villa bereitete sie ein köstliches Picknick, und sie saßen am Strand in der Sonne und genossen es. Während sie aßen, blickte Noelle auf und sah in der Ferne zwei Männer, die in ihrer Richtung den Strand entlang geschlendert kamen.

»Lass uns hineingehen«, sagte Noelle.

Larry blickte auf und sah die beiden Männer. »Mein Gott, sei doch nicht so ängstlich. Das sind zwei Dorfbewohner, die einen Spaziergang machen.«

»Sofort hinein«, befahl sie.

»Na gut«, sagte er mürrisch, über den Vorfall und ihren Ton gereizt.

»Hilf mir zusammenzupacken.«

»Warum lassen wir die Sachen nicht einfach hier?« fragte er.

»Weil sie Verdacht erregen würden.«

Schnell stopften sie alles in den Picknickkorb und gingen zurück ins Haus. Larry war den Rest des Nachmittags schweigsam. Mit seinen Gedanken beschäftigt, saß er in der Bibliothek, während Noelle in der Küche arbeitete.

Spät am Nachmittag kam sie in die Bibliothek und setzte sich zu seinen Füßen nieder. Mit ihrem untrüglichen Sinn für seine Gedanken sagte sie: »Denk nicht länger an sie.«

»Das waren doch nur ein paar idiotische Dörfler«, knurrte Larry. »Ich hasse es, mich wie ein Verbrecher zu verkriechen.« Er sah sie an, und sein Ton änderte sich. »Ich will mich nicht vor jedem verstecken müssen. Ich liebe dich.«

Noelle wusste, dass es diesmal die Wahrheit war. Sie dachte an die Jahre, in denen sie geplant hatte, Larry zu vernichten, und an die wilde Freude, mit der sie sich seine Vernichtung vorgestellt hatte. Und dennoch: In dem Augenblick, als Noelle Larry wieder gesehen hatte, wusste sie sofort, dass noch etwas Tieferes als Hass in ihr lebte. Als sie ihn bis an den Rand des Todes getrieben hatte, ihn auf diesem schrecklichen Flug nach Amsterdam gezwungen hatte, ihrer beider Leben zu riskieren, war es gewesen, als ob sie in einer wilden Herausforderung des Schicksals seine Liebe zu ihr auf die Probe stellte. Sie war vorn bei Larry im Cockpit gewesen, hatte mit ihm das Flugzeug gesteuert, mit ihm gelitten, gewusst, dass sie zusammen sterben würden, wenn er starb, und er hatte sie beide gerettet. Und als er in Amsterdam zu ihr ins Zimmer kam und sie liebte, waren ihr Hass und ihre Liebe mit ihren beiden Körpern ineinander verschmolzen, und irgendwie hatte sich die Zeit ausgedehnt und war zusammengeschrumpft, und sie waren wieder in ihrem kleinen Hotelzimmer in Paris, und Larry sagte zu ihr: »Warum heiraten wir eigentlich nicht? Lassen wir uns von irgendeinem Maire auf dem Land trauen«, und Gegenwart und Vergangenheit waren berauschend eins geworden, und da erkannte Noelle, dass sie zeitlos waren, immer zeitlos gewesen waren, dass in Wirklichkeit sich nichts geändert hatte und dass die Tiefe ihres Hasses auf Larry der Höhe ihrer Liebe zu ihm entsprang. Wenn sie ihn vernichtete, würde sie sich selbst vernichten, denn sie selbst hatte sich ihm vor langer Zeit schon vollständig hingegeben, und nichts konnte das jemals ändern.

Noelle schien es, dass alles, was sie in ihrem Leben erreicht hatte, durch Hass errungen worden war. Der Betrug ihres Vaters hatte sie geformt und gebildet, zäh gemacht und gehärtet, mit Rachsucht erfüllt, die durch nichts Geringeres als ein eigenes Königreich, in dem sie allmächtig war, in dem sie nie wieder betrogen werden, nie wieder verletzt werden konnte, zu befriedigen war. Das hatte sie schließlich erreicht. Und jetzt war sie bereit, alles für diesen Mann aufzugeben. Weil sie jetzt wusste, dass sie sich nie etwas anderes gewünscht hatte, als dass Larry sie brauchte, sie liebte. Und endlich brauchte und liebte er sie. Und das war schließlich ihr wahres Königreich.

Noelle und Catherine

Athen 1946

Für Larry und Noelle waren die nächsten drei Monate eine jener seltenen idyllischen Perioden, in denen alles glatt geht, alles stimmt, eine magische Zeit des Treibens von einem wundervollen Tag zum nächsten, ohne die geringste Wolke am Horizont. Larry tat in seiner Arbeitszeit das, was er liebte: Er flog. Und jedes Mal, wenn er freie Zeit hatte, verbrachte er einen Tag oder ein Wochenende oder eine Woche mit Noelle in der Villa in Rafina. Anfangs hatte Larry befürchtet, dieses Übereinkommen würde zu einem Mühlstein werden, der ihn in jene Art Häuslichkeit hinab zöge, die er verabscheute, doch jedes Mal, wenn er Noelle sah, war er entzückter, und er begann, sich begierig auf die Stunden zu freuen, die er mit ihr verbringen konnte. Als sie einmal ein Wochenende absagen musste, weil sie Demiris unerwartet auf eine Reise begleitete, blieb Larry allein in der Villa und war wütend und eifersüchtig und stellte sich Noelle und Demiris zusammen vor. Als er Noelle an dem darauf folgenden Wochenende sah, war sie von seinem Ungestüm überrascht und erfreut.

»Du hast mich vermisst«, sagte sie.

Er nickte. »Sehr.«

»Gut.«

»Was macht Demiris?«

Sie zögerte einen Augenblick. »Alles in Ordnung.«

Larry hatte ihr Zögern bemerkt. »Was ist?«

»Ich dachte an etwas, was du gesagt hast.«

»Was denn?«

»Du hast gesagt, dass du es hasst, dich wie ein Verbrecher zu verkriechen. Ich hasse es auch. In jedem Augenblick, in dem ich mit Demiris zusammen war, wollte ich mit dir Zusammensein. Ich habe dir einmal gesagt, Larry, dass ich dich ganz für

mich haben will. Das meinte ich im Ernst. Ich will dich mit niemandem teilen. Ich will, dass du mich heiratest.«

Er starrte sie überrascht an. Darauf war er nicht gefasst gewesen. Noelle beobachtete ihn. »Willst du mich heiraten?«

»Das weißt du doch. Aber wie? Du sagst mir ständig, was Demiris tun wird, wenn er hinter unser Geheimnis kommt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er wird nicht dahinter kommen. Nicht, wenn wir schlau sind und es richtig planen. Ich bin nicht sein Eigentum. Ich werde ihn verlassen. Dagegen kann er nichts unternehmen. Er ist zu stolz, als dass er versuchen würde, mich zurückzuhalten. Ein oder zwei Monate später gibst du deine Stellung auf. Wir gehen irgendwohin, getrennt, in die Vereinigten Staaten vielleicht. Dort können wir heiraten. Ich habe mehr Geld, als wir je brauchen werden. Ich kaufe dir ein Charterunternehmen oder eine Fliegerschule oder was du haben willst.«

Er stand vor ihr und hörte ihr zu, wog ab, was er aufgeben sollte, gegen das, was er gewinnen würde. Und was gab er schon auf? Einen kümmerlichen Job als Pilot. Der Gedanke, eigene Flugzeuge zu besitzen, ließ ihn erschauern. Er konnte eine eigene umgebaute Mitchell besitzen. Oder vielleicht eine neue DC-6, die gerade herausgekommen war. Vier Motoren, fünfundachtzig Passagiere. Und Noelle, ja, er wollte Noelle haben. Mein Gott, warum zögerte er überhaupt noch?

»Und was wird aus meiner Frau?« fragte er.

»Sag ihr, dass du dich von ihr scheiden lässt.«

»Ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden sein wird.«

»Du sollst sie nicht darum bitten«, erwiderte Noelle, »du sollst es ihr sagen.« Ein endgültiger, unerbittlicher Ton lag in ihrer Stimme.

Larry nickte. »Also gut.«

»Du wirst es nicht bedauern, Liebling, ich verspreche es dir«, sagte Noelle.

Für Catherine hatte die Zeit ihren 24-Stunden-Rhythmus

verloren, für sie war der Ablauf der Zeit durcheinander geraten, und Tag und Nacht gingen in eins über. Larry war fast nie zu Hause, und sie hatte es schon lange aufgegeben, ihre Freunde zu sehen, weil sie nicht mehr die Kraft hatte, sich neue Ausreden auszudenken oder Menschen gegenüberzutreten. Graf Pappas hatte ein halbes Dutzend Mal versucht, sie zu sehen, und hatte es schließlich aufgegeben. Sie war nur noch fähig, auf Umwegen mit Menschen umzugehen: durch das Telefon oder über Briefe oder Telegramme. Von Angesicht zu Angesicht versteinerte sie, und jede Unterhaltung prallte an ihr ab. Sie brachte Schmerz, und Menschen brachten Schmerz, und die einzige Linderung fand Catherine in dem wunderbaren Vergessen durch Alkohol. Oh, wie er die Leiden milderte, die Pein der Zurückweisungen löste und die erbarmungslose Sonne der Wirklichkeit, die auf alle nieder brannte, besänftigte.

Als Catherine nach Athen gekommen war, hatten sie und William Fräser sich oft geschrieben, Neuigkeiten ausgetauscht und sich über die Tätigkeit ihrer gemeinsamen Freunde und Feinde auf dem laufenden gehalten. Doch als Catherines Probleme mit Larry begannen, hatte sie nicht mehr das Herz, an Fräser zu schreiben. Seine letzten drei Briefe blieben unbeantwortet, und sein letzter Brief blieb ungeöffnet. Sie besaß einfach nicht die Energie, es mit irgend etwas außerhalb des Mikrokosmos ihres Selbstbedauerns, in dem sie gefangen war, aufzunehmen.

Eines Tages traf ein Telegramm für Catherine ein, und es lag noch eine Woche später ungeöffnet auf dem Tisch, als es an der Tür klingelte und William Fräser erschien. Catharine starrte ihn ungläubig an. »Bill«, sagte sie dumpf. »Bill Fräser!«

Er wollte etwas sagen, und dann sah sie, wie an die Stelle der Freude in seinem Blick etwas anderes trat, etwas Erschrockenes und Schockiertes.

»Bill, mein Lieber«, sagte sie. »Was tust du hier?«

»Ich musste geschäftlich nach Athen«, erklärte Fräser. »Hast du mein Telegramm nicht bekommen?«

Catherine blickte ihn an, versuchte sich zu erinnern. »Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Es war übersät mit alten Zeitungen, vollen Aschbechern und halbgeleerten Tellern. »Es tut mir leid, dass hier eine solche Unordnung herrscht«, sagte sie mit einer vagen Handbewegung. »Ich hatte viel zu tun.«

Fräser betrachtete sie besorgt. »Geht es dir nicht gut, Catherine?«

»Mir? Mir geht's phantastisch. Wie ist es mit einem kleinen Drink?«

»Es ist erst elf Uhr vormittags.«

Sie nickte. »Du hast recht. Du hast völlig recht, Bill. Es ist zu früh für einen Drink, und um die Wahrheit zu gestehen, ich würde nicht daran denken, wenn ich nicht feiern wollte, dass du hergekommen bist. Du bist der einzige in der ganzen Welt, der mich um elf Uhr vormittags zu einem Drink veranlassen könnte.«

Fräser sah bedrückt zu, wie Catherine zum Getränkeschrank schwankte und für sich einen großen und für ihn einen kleineren Drink einschenkte.

»Magst du griechischen Kognak?« fragte sie, während sie ihm sein Glas brachte. »Früher habe ich ihn verabscheut, aber man gewöhnt sich daran.«

Fräser nahm sein Glas und stellte es ab. »Wo ist Larry?« fragte er ruhig.

»Larry? Oh, der gute alte Larry fliegt irgendwo in der Gegend herum. Er arbeitet für den reichsten Mann der Welt. Demiris gehört alles, sogar Larry.«

Er sah sie prüfend an. »Weiß Larry, dass du trinkst?«

Catherine stellte heftig ihr Glas hin und blieb schwankend vor ihm stehen. »Was meinst du damit, ob Larry weiß, dass ich trinke?« entgegnete sie empört. »Wer sagt, dass ich trinke? Nur weil ich das Wiedersehen mit einem alten Freund feiern will, brauchst du noch nicht über mich herzufallen.«

»Catherine«, begann er, »ich bin ...«

»Glaubst du, du kannst hier hereinkommen und mich beschuldigen, ein Trunkenbold zu sein?«

»Es tut mir leid, Catherine«, sagte Fräser bedrückt. »Ich glaube, du brauchst Hilfe.«

»Da irrst du dich aber«, entgegnete sie schroff. »Ich brauche keine Hilfe. Und weißt du, warum? Weil ich – weil ich, weil ich selbst ...« Sie suchte nach einem Wort und gab es schließlich auf. »Ich brauche keine Hilfe.«

Fräser blickte sie an. »Ich muss jetzt zu einer Besprechung«, sagte er. »Willst du mit mir zu Abend essen?«

»Ja.« Sie nickte.

»Gut, ich hole dich um acht Uhr ab.«

Catherine sah Bill Fräser nach, als er ging. Dann ging sie langsam ins Schlafzimmer, öffnete die Tür zum Kleiderschrank und starrte in den Spiegel an der Rückseite der Tür. Sie stand starr da, war unfähig zu glauben, was sie vor sich sah, überzeugt, dass der Spiegel ihr einen furchtbaren Streich spielte. Innerlich war sie noch das hübsche kleine, von ihrem Vater angebetete Mädchen, noch das junge College-Girl, das mit Ron Peterson in einem Motelzimmer stand und ihn sagen hörte: »Mein Gott, Cathy, du bist das verdammt Schönste, das ich je zu Gesicht bekommen habe.« Und Bill Fräser hielt sie in seinen Armen und sagte: »Du bist so schön, Catherine.« Und Larry sagte: »Bleibe so schön, Cathy, du bist überwältigend.« Und sie blickte in den Spiegel und krächzte laut: »Wer ist das?«, und die elende, formlose Frau im Spiegel begann zu weinen, hoffnungslose, leere Tränen, die ihr über das verkommene, aufgequollene Gesicht liefen. Stunden später klingelte es an der Tür. Sie hörte Bill Fräsers Stimme rufen: »Catherine, Catherine, bist du da?«, und dann klingelte es wieder, und schließlich verstummte die Stimme, und das Klingeln hörte auf, und Catherine war allein mit der Fremden im Spiegel.

Um neun Uhr am folgenden Morgen nahm Catherine ein Taxi zur Patission-Straße. Der Arzt hieß Nikodes und war ein großer stämmiger Mann mit einer weißen zottigen Mähne, einem klugen Gesicht mit freundlichen Augen und gelassenem, zwanglosem Benehmen.

Eine Schwester führte Catherine in sein Sprechzimmer, und Dr. Nikodes deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, Mrs. Douglas.«

Catherine setzte sich, nervös und angespannt, und versuchte, das Zittern ihres Körpers zu unterdrücken.

»Und was ist Ihr Problem?«

Sie setzte zur Antwort an und brach dann hilflos ab. Mein Gott, dachte sie, wie soll ich anfangen? »Ich brauche Hilfe«, brachte sie schließlich heraus. Ihre Stimme klang trocken und krächzend, und sie gierte nach einem Drink.

Der Arzt lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete sie. »Wie alt sind Sie?«

»Achtundzwanzig.« Sie beobachtete sein Gesicht, als sie sprach. Er versuchte, seinen Schock zu verbergen, aber sie durchschaute ihn und war auf eine perverse Weise erfreut.

»Sie sind Amerikanerin?«

»Ja.«

»Sie leben in Athen?«

Sie nickte.

»Wie lange leben Sie schon hier?«

»Tausend Jahre. Wir sind vor dem Peloponnesischen Krieg hierher gezogen.«

Der Doktor lächelte. »Dieses Gefühl habe ich manchmal auch.« Er bot Catherine eine Zigarette an. Sie griff danach und versuchte, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Falls Dr. Nikodes es bemerkte, sagte er nichts. Er gab ihr Feuer. »Welche Art Hilfe brauchen Sie denn, Mrs. Douglas?«

Catherine sah ihn hilflos an. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß es nicht.«

»Fühlen Sie sich krank?«

»Ich bin krank. Ich muss sehr krank sein. Ich bin hässlich geworden.« Sie wusste, dass sie nicht weinte, und doch fühlte sie, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.

»Trinken Sie, Mrs. Douglas?« fragte der Doktor freundlich.

Catherine starrte ihn voller Panik an, fühlte sich in die Ecke gedrängt, angegriffen. »Manchmal.«

»Wie viel?«

Sie holte tief Atem. »Nicht viel. Es – es kommt darauf an.«

»Haben Sie heute schon etwas getrunken?« fragte er.

»Nein.«

Er saß da und betrachtete sie prüfend. »Sie sind in Wirklichkeit gar nicht hässlich«, sagte er sanft. »Sie haben Übergewicht, Ihr Körper ist aufgeschwemmt, und Sie haben Ihre Haut und Ihr Haar nicht gepflegt. Unter dieser Oberfläche befindet sich aber eine sehr attraktive junge Frau.«

Sie brach in Tränen aus, und er saß dabei und ließ sie sich ausweinen. Schwach vernahm Catherine durch ihr Schluchzen, dass der Summer auf dem Schreibtisch des Arztes mehrmals ertönte, aber der Doktor ignorierte ihn. Das krampfhafte Schluchzen ließ schließlich nach. Catherine zog ihr Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Können Sie mir helfen?«

»Das hängt völlig von Ihnen ab«, erwiderte Dr. Nikodes. »Wir wissen ja nicht genau, worin Ihr Problem besteht.«

»Sehen Sie mich doch an«, hielt Catherine ihm entgegen.

Er schüttelte den Kopf. »Das ist kein Problem, Mrs. Douglas, das ist ein Symptom. Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber wenn ich Ihnen helfen soll, müssen wir vollkommen offen miteinander sein. Wenn eine attraktive junge Frau sich so gehen lässt wie Sie, muss es einen sehr triftigen Grund dafür geben. Lebt Ihr Mann noch?«

»An Feiertagen und Wochenenden.«

Er musterte sie. »Leben Sie mit ihm zusammen?«

»Wenn er zu Hause ist.«

»Was ist er von Beruf?«

»Er ist Constantin Demiris' Privatpilot.« Sie bemerkte die Reaktion auf dem Gesicht des Arztes, aber ob er auf den Namen Demiris reagierte oder ob er von Larry etwas wusste, konnte sie nicht sagen. »Haben Sie schon mal von meinem Mann gehört?« fragte sie.

»Nein.« Aber das konnte gelogen sein. »Lieben Sie Ihren Mann, Mrs. Douglas?«

Catherine öffnete den Mund, um zu antworten, hielt aber inne. Sie wusste, dass das, was sie sagen würde, sehr wichtig war, nicht nur für den Arzt, sondern auch für sie selbst. Ja, sie liebte ihren Mann, und ja, sie hasste ihn, und ja, manchmal hatte sie eine solche Wut auf ihn, dass sie wusste, sie wäre fähig ihn zu töten, und ja, manchmal war sie von Zärtlichkeit für ihn so überwältigt, dass sie wusste, sie würde gern für ihn sterben, und wie lautete das Wort, das das alles ausdrücken konnte? Vielleicht war es Liebe. »Ja«, sagte sie.

»Liebt er Sie?«

Catherine dachte an die anderen Frauen in Larrys Leben und an seine Untreue, und sie dachte an die schreckliche Fremde im Spiegel in der vergangenen Nacht, und sie konnte Larry keinen Vorwurf machen, dass er sie nicht begehrte. Aber wer wollte sagen, was an erster Stelle stand? Hatte die Frau im Spiegel seine Untreue herbeigeführt, oder war die Frau im Spiegel die Folge seiner Untreue? Sie bemerkte, dass ihre Wangen wieder nass von Tränen waren.

Catherine schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Hatten Sie mal einen Nervenzusammenbruch?«

Sie sah ihn argwöhnisch an. »Nein. Meinen Sie, dass ich einen brauche?«

Er lächelte nicht. Er sprach langsam, wählte seine Worte sorgfältig. »Die menschliche Psyche ist eine delikate Sache, Mrs. Douglas. Sie kann nur eine bestimmte Menge Schmerz ertragen, und wenn der Schmerz unerträglich wird, flüchtet sie in die verborgenen Bereiche des Bewusstseins, die wir gerade erst zu erforschen beginnen. Ihre Gefühle sind in einem sehr hohen Maß belastet.« Er sah sie einen Augenblick lang an. »Ich glaube, es war gut, dass Sie zu mir gekommen sind, um Hilfe zu suchen.«

»Ich weiß, dass ich etwas nervös bin«, sagte Catherine abwehrend. »Deshalb trinke ich. Um mich zu entspannen.«

»Nein«, antwortete er schonungslos. »Sie trinken, um zu entfliehen.« Nikodes stand auf und trat zu ihr. »Ich glaube, wir können wahrscheinlich eine ganze Menge für Sie tun. Mit >wir< meine ich Sie und mich. Es wird nicht einfach sein.«

»Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Zunächst werde ich Sie in eine Klinik zu einer gründlichen Untersuchung schicken. Meiner Ansicht nach wird man dort nicht feststellen, dass Ihnen grundlegend etwas fehlt. Als nächstes werden Sie das Trinken einstellen. Dann werde ich Ihnen eine Diät verordnen. Soweit alles klar?«

Catherine zögerte, ehe sie nickte.

»Sie werden sich bei einer Gymnastikschule anmelden, wo Sie sich regelmäßig ausarbeiten werden, bis Sie körperlich wieder fit sind. Ich kenne eine ausgezeichnete Physiotherapeu-ten, die Ihnen Massagen geben wird. Sie werden einmal wöchentlich in einen Schönheitssalon gehen. Das alles nimmt Zeit in Anspruch, Mrs. Douglas, aber Sie sind nicht über Nacht in diesen Zustand gekommen, und er kann auch nicht über Nacht behoben werden.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie in wenigen Monaten – sogar schon in wenigen Wochen – anfangen werden, wie eine andere Frau auszusehen und sich auch so zu fühlen. Wenn Sie in den Spiegel blicken, werden Sie stolz sein – und wenn Ihr Mann Sie ansieht, wird er Sie attraktiv finden.«

Catherine starrte ihn an, ihr Herz schlug höher. Ihr war, als ob eine unerträgliche Last tief in ihrem Inneren von ihr genommen, als ob ihr plötzlich eine neue Lebenschance gegeben worden wäre.

»Sie müssen sich darüber im klaren sein, dass ich Ihnen dieses Programm nur empfehlen kann«, sagte der Doktor. »Sie selbst müssen es durchführen.«

»Das werde ich«, sagte Catherine inbrünstig. »Ich verspreche es.«

»Das Trinken aufzugeben, wird das schwerste sein.«

»O nein«, widersprach Catherine. Und als sie es sagte, wusste sie, dass es die Wahrheit war. Der Arzt hatte recht, sie hatte getrunken, um zu entfliehen. Jetzt hatte sie ein Ziel, wusste sie, wohin sie ging. Sie würde Larry zurückgewinnen. »Ich werde keinen Tropfen mehr anrühren«, sagte sie fest.

Der Arzt blickte ihr ins Gesicht und nickte zufrieden. »Ich glaube Ihnen, Mrs. Douglas.«

Catherine stand auf. Es bestürzte sie, wie plump und unbeholfen ihr Körper war, doch das würde jetzt alles anders werden. »Ich werde mir jetzt lieber ein paar eng anliegende Kleider kaufen«, meinte sie mit einem zaghaften Lächeln.

Dr. Nikodes schrieb etwas auf eine Karte. »Dies ist die Adresse der Klinik. Man wird Sie erwarten. Ich sehe Sie nach den Untersuchungen wieder.«

Auf der Straße sah Catherine sich nach einem Taxi um, dann dachte sie: Zum Teufel damit! Ich kann mit dem Training gleich anfangen. Sie ging also zu Fuß. Sie kam an einem Schaufenster vorbei und blieb stehen, um ihr Spiegelbild zu betrachten.

Sie war vorschnell gewesen, Larry die Schuld für den Zerfall ihrer Ehe zu geben, ohne je zu fragen, welchen Anteil an der Schuld sie selbst hatte. Warum sollte er nach Hause kommen wollen zu jemandem, der aussah wie sie? Wie langsam und verstohlen hatte sich diese Fremde eingeschlichen, ohne dass sie es bemerkte? Sie fragte sich, wie viele Ehen auf die gleiche Weise zerbrochen waren, nicht mit einem Knall – und davon hat es in der letzten Zeit nicht viel gegeben, dachte Catherine sarkastisch, sondern mit einem Winseln, wie der gute alte T. S. Eliot sagte. Nun, das lag alles in der Vergangenheit. Von nun an würde sie nicht mehr zurückblicken, sondern nur noch vorwärts in eine wundervolle Zukunft sehen.

Catherine hatte den eleganten Distrikt Salonika erreicht. Sie kam an einem Schönheitssalon vorbei, und einem plötzlichen Impuls folgend, kehrte sie um und trat ein. Der Empfangsraum war mit weißem Marmor ausgekleidet, weitläufig und elegant. Eine hochnäsige Empfangsdame sah Catherine missbilligend an und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich möchte einen Termin für morgen Vormittag«, sagte Catherine. »Ich wünsche alles, komplett.« Der Name des Starfriseurs kam ihr plötzlich in den Sinn. »Ich wünsche von Aleko bedient zu werden.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen einen Termin geben, aber Sie werden sich mit jemand anderem begnügen müssen.«

»Hören Sie«, sagte Catherine fest. »Sagen Sie Aleko, dass er mich entweder bedienen wird, oder ich werde überall in Athen erzählen, dass ich eine seiner Stammkundinnen bin.«

Die Augen der Frau weiteten sich entsetzt. »Ich – ich werde sehen, was sich tun lässt«, versprach sie hastig. »Kommen Sie morgen früh um zehn.«

»Danke«, antwortete Catherine. »Ich werde pünktlich sein.« Damit ging sie.

Vor sich sah sie eine kleine Taverne mit einem Schild im Fenster: »Madame Piris – Wahrsagerin«. Irgendwie kam es ihr bekannt vor, und plötzlich erinnerte sie sich, dass Graf Pappas ihr eine Geschichte über Madame Piris erzählt hatte. Es war etwas von einem Polizeibeamten und einem Löwen gewesen, aber an die Einzelheiten konnte sie sich nicht erinnern. Catherine glaubte nicht ans Wahrsagen, aber der Impuls hineinzugehen war unwiderstehlich. Sie brauchte Zuspruch, jemanden, der sie in ihrer Zuversicht auf eine wundervolle

Zukunft bestärkte, der ihr sagte, dass ihr Leben wieder schön und lebenswert werden würde. Sie öffnete die Tür und ging hinein.

Nach dem hellen Sonnenlicht brauchte Catherine einige Augenblicke, um sich an das düstere Halbdunkel des Raumes zu gewöhnen. Sie erkannte eine Bar in der Ecke und ein Dutzend Tische mit Stühlen. Ein müde wirkender Kellner kam auf sie zu und sprach sie auf griechisch an.

»Nichts zu trinken, danke«, sagte Catherine. Sie genoss es, diese Worte aus dem eigenen Mund zu hören, und wiederholte sie. »Nichts zu trinken. Ich möchte Madame Piris sprechen. Ist sie da?«

Der Kellner deutete auf einen freien Tisch in der Ecke, und Catherine ging hinüber und setzte sich. Wenige Minuten später spürte sie, dass jemand neben ihr stand, und blickte auf.

Die Frau war unglaublich alt und hager, schwarz gekleidet, mit einem Gesicht, das von der Zeit zu tiefgefurchten Winkeln und Flächen ausgedörrt worden war.

»Sie wollten mich sprechen?« Ihr Englisch war stockend.

»Ja«, sagte Catherine. »Ich möchte eine Sitzung, bitte.«

Die Frau setzte sich und hob eine Hand, und der Kellner kam an den Tisch und brachte eine Tasse dicken schwarzen Kaffee auf einem kleinen Tablett. Er stellte es vor Catherine hin.

»Für mich nicht«, sagte Catherine. »Ich ...«

»Trinken Sie«, befahl Madame Piris.

Catherine sah sie überrascht an, dann griff sie nach der Tasse und trank einen Schluck von dem Kaffee. Er war stark und bitter. Sie setzte die Tasse ab.

»Mehr«, sagte die alte Frau.

Catherine wollte protestieren, aber dachte dann: Zum Teufel, was sie hier beim Wahrsagen verlieren, machen sie mit dem Kaffee wieder weit. Sie nahm noch einen Schluck. Es schmeckte scheußlich. »Noch einmal«, sagte Madame Piris.

Catherine hob die Schultern und trank einen letzten Schluck.

Auf dem Boden der Tasse war ein dicker, schleimiger Satz. Madame Piris nickte, griff nach der Tasse und nahm sie Catherine aus der Hand. Sie starrte lange Zeit in die Tasse hinein, ohne etwas zu sagen. Catherine kam sich albern vor. Was hat eine nette, intelligente Frau wie ich in einem solchen Lokal zu suchen und eine verrückte alte, in eine leere Kaffeetasse starrende Griechin zu beobachten?

»Sie kommen aus weiter Ferne«, sagte die alte Frau plötzlich.

»Genau«, sagte Catherine schnippisch.

Madame Piris sah ihr in die Augen, und in dem Blick der alten Frau lag etwas, was Catherine schaudern ließ.

»Gehen Sie nach Hause.«

Catherine schluckte: »Ich bin zu Hause.«

»Gehen Sie zurück, wo Sie hergekommen sind.«

»Meinen Sie nach Amerika?«

»Irgendwohin. Gehen Sie von hier fort – schnell!«

»Warum?« fragte sie. Entsetzen überkam sie. »Was ist denn hier?«

Die alte Frau schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war rau, und es fiel ihr schwer, die Worte herauszubringen. »Es ist überall um Sie herum.«

»Was denn?«

»Gehen Sie fort!« Eine unwiderstehliche Eindringlichkeit lag in der Stimme der alten Frau, wie der hohe, gellende Schrei eines Tieres, das Schmerzen leidet. Catherine spürte, wie sich ihr die Haare sträubten.

»Sie machen mir Angst«, stöhnte sie. »Bitte sagen Sie mir, was es ist!«

Die alte Frau schüttelte mit wilden Blicken langsam den Kopf. »Gehen Sie, ehe es Sie trifft.«

Catherine spürte, wie die Panik in ihr wuchs. Das Atmen fiel ihr schwer. »Ehe mich was trifft?«

Das Gesicht der alten Frau war von Schmerz und Entsetzen verzerrt. »Der Tod. Er kommt auf Sie zu.« Und damit stand sie auf und verschwand ins Hinterzimmer.

Mit klopfendem Herzen saß Catherine da. Ihre Hände zitterten, sie schlang sie fest ineinander, um das Zittern zu unterdrücken. Ihr Blick fiel auf den Kellner, und sie wollte sich etwas zu trinken bestellen, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte sich nicht durch eine verrückte alte Frau ihre strahlende Zukunft zerstören lassen. Tief atmend saß sie da, bis sie ihre Selbstbeherrschung wieder gewonnen hatte, und nach langer Zeit erhob sie sich, griff nach ihrer Tasche und ihren Handschuhen und verließ die Taverne.

In dem strahlend hellen Sonnenlicht fühlte Catherine sich gleich wohler. Es war albern gewesen, sich von einer alten Frau Angst einjagen zu lassen. Eine Hexe wie sie sollte eingesperrt werden, statt dass man ihr erlaubte, anderen Leuten Schrecken einzujagen. Von jetzt an, gelobte Catherine sich, würde sie sich nur noch an Weissagungen in Knallbonbons halten.

Als sie in ihre Wohnung zurückkam, sah sie sich im Wohnzimmer um, und es war, als ob sie es zum ersten Mal erblickte. Es bot einen bedrückenden Anblick. Überall dicker Staub, und Kleidungsstücke lagen im Zimmer verstreut. Catherine fand es unglaublich, dass sie die Unordnung in ihrem trunkenen Zustand nicht wahrgenommen haben sollte. Nun, als erstes würde sie die Wohnung tadellos in Ordnung bringen. Sie wendete sich der Küche zu, als sie hörte, wie im Schlafzimmer eine Schublade zugeschoben wurde. Ihr Herz klopfte plötzlich erschrocken, und sie näherte sich vorsichtig der Schlafzimmertür.

Larry war im Schlafzimmer. Ein geschlossener Koffer lag auf seinem Bett, und mit dem Packen eines zweiten war er gerade fertig geworden. Catherine blieb stehen und sah ihm einen Augenblick lang zu. »Falls das für das Rote Kreuz sein sollte«, sagte sie, »ich habe schon eine Spende gegeben.«

Larry blickte auf. »Ich gehe.«

»Wieder ein Flug für Demiris?«

»Nein«, antwortete er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Diesmal für mich. Ich gehe fort.«

»Larry ...«

»Darüber gibt es keine Diskussion mehr.«

Sie trat in das Schlafzimmer, kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. »Doch, doch. Wir haben eine Menge zu bereden. Ich war heute beim Arzt, und er versprach mir, ich würde völlig geheilt werden.« Ihre Worte überstürzten sich. »Ich werde das Trinken aufgeben und ...«

»Cathy, es ist vorbei. Ich will die Scheidung.«

Diese Worte trafen sie wie eine Serie von Schlägen in die Magengrube. Sie presste fest den Mund zusammen, damit sie sich nicht übergeben musste, versuchte, die Galle hinunterzu-würgen, die ihr in die Kehle stieg. »Larry«, begann sie. Sie sprach langsam, damit ihre Stimme nicht zitterte. »Ich mache dir keine Vorwürfe. Ein großer Teil ist meine Schuld – vielleicht der größte -, aber es wird anders werden. Ich werde mich ändern – ich meine es aufrichtig.« Sie streckte flehend die Hand aus. »Ich bitte dich, gib mir eine Chance.«

Larry drehte sich um. Seine dunklen Augen waren kalt und voller Verachtung. »Ich liebe eine andere. Alles, was ich von dir erwarte, ist die Scheidung.«

Catherine stand einen Augenblick reglos vor ihm, drehte sich dann um und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich auf die Couch und starrte auf eine griechische Modezeitschrift, während er fertig packte. Sie hörte Larrys Stimme sagen: »Mein Anwalt wird sich mit dir in Verbindung setzen« und danach das Zuschlagen der Wohnungstür. Catherine saß auf der Couch und blätterte Seite für Seite der Zeitschrift um. Als sie damit fertig war, legte sie sie ordentlich in die Mitte des Tisches. Dann stand sie auf, ging ins Badezimmer und öffnete das Apothekenschränkchen. Sie nahm eine Rasierklinge heraus und schnitt sich die Pulsadern auf.

Noelle und Catherine

Athen 1946

Gespenster in Weiß umgaben sie, und sie schwebten umher und trieben dann ins Nichts davon, mit leisem Flüstern in einer Sprache, die Catherine nicht verstand; aber sie verstand, dass es die Hölle war und dass sie für ihre Sünden büßen musste. Man hatte sie auf das Bett geschnallt, und sie vermutete, das sei ein Teil ihrer Strafe, und sie war froh über die Riemen, denn sie spürte, wie die Erde im Raum rotierte, und fürchtete, von dem Planeten abzustürzen. Das Teuflischste, was man ihr angetan hatte, war, dass man ihre Nerven an die Außenseite ihres Körpers gezerrt hatte, so dass sie alles tausendfach spürte, und es war unerträglich. Ihr Körper war voll von schrecklichen und ihr unbekannten Geräuschen. Sie konnte hören, wie ihr Blut durch die Adern rann, und es war wie ein rauschender roter Fluss, der sie durchströmte. Sie hörte das Pochen ihres Herzens, und es klang wie eine ungeheure Trommel, die von einem Riesen geschlagen wurde. Sie hatte keine Augenlider, und das weiße Licht drang ihr ins Gehirn und blendete sie mit seiner Helligkeit. Alle Muskeln ihres Körpers lebten, waren in ständiger ruheloser Bewegung, wie ein Nest von Schlangen unter ihrer Haut, die bereit waren zuzustoßen.

Fünf Tage nachdem Catherine in das Evangelismos Hospital eingeliefert worden war, schlug sie die Augen auf und fand sich in einem kleinen weißen Krankenzimmer wieder. Eine Schwester in einem gestärkten weißen Kittel zog ihr die Bettdecke zurecht, und Dr. Nikodes drückte ihr ein Stethoskop auf die Brust.

»He, das ist kalt«, protestierte sie schwach.

Er sah sie an und sagte: »Sieh da, wer ist denn hier wach?«

Catherine ließ ihre Blicke langsam durch den Raum wandern. Das Licht schien normal zu sein, und sie konnte nicht länger das Rauschen ihres Blutes oder das Dröhnen ihres Herzens oder das Sterben ihres Körpers wahrnehmen.

»Ich dachte, ich wäre in der Hölle.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Waren Sie auch.«

Sie blickte auf ihre Handgelenke. Aus irgendeinem Grund waren sie verbunden. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Fünf Tage.«

Plötzlich erinnerte sie sich an den Grund für die Verbände. »Wahrscheinlich habe ich etwas sehr Dummes getan«, sagte sie.

»Ja.«

Sie presste die Augen zu und sagte: »Es tut mir leid.« Dann öffnete sie die Augen wieder, und es war Abend, und Bill Fräser saß auf dem Stuhl neben ihrem Bett und betrachtete sie. Auf dem Nachttisch standen Blumen und lagen Süßigkeiten.

»Hallo«, sagte er vergnügt. »Du siehst schon viel besser aus.«

»Besser als was?« fragte sie mit schwacher Stimme.

Er legte seine Hand auf die ihre. »Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt, Catherine.«

»Es tut mir schrecklich leid, Bill.« Ihre Stimme versagte, und sie fürchtete, sie würde weinen müssen.

»Ich habe dir ein paar Blumen und Süßigkeiten mitgebracht. Wenn du dich kräftiger fühlst, bringe ich dir auch Bücher.«

Sie blickte ihn an, sah in sein freundliches, markantes Gesicht und dachte: Warum liebe ich ihn nicht? Warum liebe ich den Mann, den ich hasse? Warum musste Gott sich mir als Groucho Marx offenbaren? »Wie bin ich hier hergekommen?« fragte Catherine.

»In einem Krankenwagen.«

»Ich meine – wer hat mich gefunden?«

Fräser antwortete nicht gleich. »Ich«, sagte er dann. »Ich habe dich mehrmals angerufen, und als du dich nicht meldetest, wurde ich unruhig und drang in die Wohnung ein.«

»Wahrscheinlich sollte ich dir dafür dankbar sein«, sagte sie, »aber, ehrlich gesagt, bin ich noch nicht so sicher.«

»Willst du darüber sprechen?«

Catherine schüttelte den Kopf, und durch die Bewegung begann ihr Kopf zu pochen. »Nein«, sagte sie leise.

Fräser nickte. »Ich muss morgen früh nach Hause fliegen. Ich bleibe aber mit dir in Verbindung.«

Sie spürte einen sanften Kuss auf der Stirn und schloss die Augen, um die Welt auszuschließen, und als sie ihre Augen wieder öffnete, war sie allein, und es war mitten in der Nacht.

Am nächsten Morgen besuchte Larry sie. Catherine sah ihm entgegen, als er ins Zimmer trat und sich auf den Stuhl neben ihrem Bett setzte. Sie hatte erwartet, dass er abgespannt und unglücklich aussehen würde, aber in Wahrheit sah er wunderbar aus, schlank und sonnengebräunt und gelöst. Catherine wünschte sich verzweifelt, dass sie sich das Haar hätte kämmen und Lippenstift auftragen können. »Wie fühlst du dich, Cathy?« fragte er. »Prächtig. Selbstmord bekommt mir immer ausgezeichnet.« »Man hatte nicht damit gerechnet, dass du durchkommen würdest.« »Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.« »Es ist nicht sehr nett von dir, so etwas zu sagen.« »Aber es ist doch wahr, Larry, oder nicht? Dann wärst du mich doch los gewesen.«

»Um Gottes willen, ich will dich doch nicht so loswerden. Ich will doch nur die Scheidung.«

Sie blickte ihn an, diesen bronzebraunen, gut aussehenden Mann, den sie geheiratet hatte. Sein Gesicht war jetzt etwas verlebter, der Mund ein wenig härter, sein jungenhafter Charme etwas abgenutzt. Woran hängte sie sich noch? Sieben Jahre voller Träume? Sie hatte sich ihm mit soviel Liebe und hohen Hoffnungen hingegeben, und sie konnte sie nicht aufgeben, konnte nicht ertragen sich einzugestehen, dass ihr Leben sich in eine dürre Einöde verwandelt hatte. Sie dachte an Bill Fräser und ihre Freunde in Washington und die glücklichen Tage mit ihnen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal laut gelacht oder auch nur gelächelt hatte. Doch alles das spielte in Wirklichkeit keine Rolle. Letzten Endes wollte sie Larry nicht gehen lassen, weil sie ihn immer noch liebte. Er stand vor ihr und wartete auf ihre Antwort. »Nein«, sagte Catherine. »Nie werde ich in eine Scheidung einwilligen.«

Larry traf Noelle an jenem Abend in dem verlassenen Kloster Kaisariani und berichtete ihr über sein Gespräch mit Catherine.

Noelle hörte ihm gespannt zu und fragte: »Meinst du, dass sie ihre Ansicht ändern wird?«

Larry schüttelte den Kopf. »Catherine kann dickköpfig wie der Teufel sein.«

»Du musst noch einmal mit ihr sprechen.«

Das tat Larry. In den nächsten drei Wochen erschöpfte er jedes Argument, das er sich denken konnte. Er flehte, schmeichelte, tobte, bot ihr Geld an, doch nichts konnte Catherine rühren. Sie liebte ihn nach wie vor, und sie war sicher, wenn er es nur versuchte, könnte auch er sie wieder lieben.

»Du bist mein Mann«, sagte sie eigensinnig, »und du wirst mein Mann bleiben, bis ich sterbe.«

Er wiederholte vor Noelle, was sie gesagt hatte.

Noelle nickte. »Ja«, sagte sie.

Larry sah sie überrascht an. »Was ja?«

Sie lagen am Strand bei der Villa. Unter ihnen ausgebreitete weiche weiße Badetücher schützten ihre Körper vor dem heißen Sand. Der Himmel war von einem tiefen berauschenden Blau, von weißen Zirruswölkchen gefleckt.

»Du musst sie loswerden.« Sie erhob sich und schlenderte zur Villa zurück, ihre langen, graziösen Beine schritten leicht über den Sand. Larry blieb liegen, ratlos, glaubte, sie missverstanden zu haben. Sie konnte doch nicht gemeint haben, er solle Catherine töten.

Und dann erinnerte er sich an Helena.

Sie saßen auf der Terrasse und aßen zu Abend. »Siehst du denn das nicht ein? Sie verdient nicht zu leben«, sagte Noelle. »Sie hält dich nur aus Rachsucht fest. Sie versucht, dein Leben zu ruinieren, unser Leben, Liebling.«

Sie lagen rauchend im Bett, die glühenden Enden ihrer Zigaretten blinkten in der Unendlichkeit der Spiegel an der Decke.

»Du würdest ihr einen Gefallen tun. Sie hat schon einmal versucht, sich umzubringen. Sie will sterben.«

»Ich könnte es nie, Noelle.«

»Wirklich nicht?«

Sie streichelte sein nacktes Bein, strich zu seinem Bauch hinauf und beschrieb kleine Kreise mit der Spitze ihrer Fingernägel. »Ich werde dir helfen.«

Er wollte den Mund öffnen, um zu protestieren, aber Noelles Hände hatten ihn gefunden und begannen, an ihm zu arbeiten, sich in entgegen gesetzter Richtung zu bewegen, die eine sanft und langsam, die andere hart und schnell. Und Larry stöhnte und griff nach ihr und verdrängte Catherine aus seinen Gedanken.

Irgendwann in der Nacht erwachte Larry, in kaltem Schweiß gebadet. Er hatte geträumt, Noelle sei fortgelaufen und habe ihn verlassen. Sie lag neben ihm im Bett, und er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Den Rest der Nacht über lag er wach, dachte daran, was es für ihn bedeutete, wenn er sie verlöre. Er war sich nicht bewusst, dass er eine Entscheidung getroffen hatte, aber am Morgen, während Noelle das Frühstück bereitete, fragte er plötzlich: »Was passiert, wenn wir gefasst werden?«

»Wenn wir schlau sind, passiert das nicht.« Falls seine Kapitulation sie befriedigte, verriet sie es durch kein Zeichen.

»Noelle«, sagte er ernst, »jeder in Athen weiß, dass Catherine und ich uns getrennt haben. Wenn ihr etwas zustößt, wird die Polizei verdammt misstrauisch werden.«

»Selbstverständlich wird sie das«, stimmte Noelle gelassen zu. »Deshalb muss alles sehr sorgfältig geplant werden.«

Sie deckte für sie beide den Frühstückstisch, setzte sich und begann zu essen. Larry schob seinen Teller von sich, ohne ihn anzurühren.

»Ist es nicht gut?« fragte Noelle besorgt.

Er starrte sie an, fragte sich, was für ein Mensch sie sein musste, dass sie ihr Frühstück genießen konnte, während sie den Mord an einer anderen Frau plante.

Später, als sie segelten, sprach Larry wieder davon, und je mehr sie darüber sprachen, um so wirklicher wurde es. Was als flüchtige Idee begonnen hatte, gewann durch Worte Fleisch, bis es Tatsache geworden war.

»Es muss wie ein Unfall aussehen«, sagte Noelle, »damit es nicht zu einer Untersuchung durch die Polizei kommt. Die Polizei in Athen ist sehr klug.«

»Und was wird, wenn sie doch untersucht?«

»Sie wird es nicht. Der Unfall wird sich nicht hier ereignen.«

»Wo denn?«

»In Ioannina.« Sie neigte sich vor und begann zu sprechen.

Er hörte aufmerksam zu, während sie ihren Plan erläuterte, jeden Einwand widerlegte, den er erhob, brillant improvisierte. Als Noelle schließlich fertig war, musste Larry zugeben, dass ihr Plan fehlerfrei war. So konnte es ihnen wirklich gelingen.

Paul Metaxas war nervös. Das im allgemeinen joviale Gesicht des griechischen Piloten war streng und gespannt, und seine Mundwinkel zuckten nervös. Er hatte keinen Termin bei Constantin Demiris, und man drang nicht einfach bei dem großen Mann ein, aber Metaxas hatte dem Butler gesagt, es sei dringend, und jetzt stand Paul Metaxas in der riesigen Halle von Demiris' Villa vor dem großen Mann, starrte ihn an und stammelte unbeholfen: »Ich – ich bitte sehr um Entschuldigung, dass ich Sie belästige, Herr Demiris.« Er wischte sich verstohlen die schweißigen Hände an der Hose seiner Fliegeruniform ab.

»Ist etwas mit einem der Flugzeuge passiert?«

»Nein, ich – es – es handelt sich um etwas Persönliches.«

Demiris sah ihn ohne jedes Interesse an. Es gehörte zu seinen Prinzipien, sich nicht mit den Angelegenheiten seiner Untergebenen abzugeben. Dafür hatte er seine Sekretäre. Er wartete darauf, dass Metaxas weiter sprach.

Paul Metaxas wurde mit jedem Augenblick nervöser. Er hatte eine Reihe schlafloser Nächte verbracht, ehe er den Entschluss gefasst hatte, der ihn jetzt hierher führte. Was er jetzt tat, widersprach seinem Charakter und war ihm selbst widerwärtig, aber er war ein Mann von uneingeschränkter Loyalität, und seine Treuepflicht galt in erster Linie Constantin Demiris.

»Es handelt sich um Mademoiselle Page«, sagte er.

Darauf folgte ein Augenblick des Schweigens.

»Kommen Sie mit«, sagte Demiris. Er ging dem Piloten in die getäfelte Bibliothek voraus und schloss die Tür. Demiris nahm eine flache ägyptische Zigarette aus seinem Platinetui und zündete sie an. Er musterte den schwitzenden Metaxas. »Was ist mit Mademoiselle Page?« fragte er fast gedankenverloren.

Metaxas schluckte. Sollte er einen Fehler begangen haben? Wenn er die Situation richtig eingeschätzt hatte, würde seine Information mit Interesse aufgenommen werden, doch wenn er sich irrte ...

Er verfluchte seine Voreiligkeit, die ihn hierher geführt hatte, aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als bei der Stange zu bleiben.

»Es – es geht um sie und Larry Douglas.« Er beobachtete das Gesicht von Demiris, versuchte, in dessen Ausdruck zu lesen. Es verriet nicht das geringste Anzeichen von Interesse. Mein Gott! Metaxas zwang sich weiterzustammeln. »Sie – sie leben zusammen in einem Haus am Strand in Rafina.«

Demiris schnippte die Asche von seiner Zigarette in eine tiefe, bauchige Goldschale. Metaxas hatte das Gefühl, gleich verabschiedet zu werden und einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, der ihn seine Stellung kosten würde. Seine Worte begannen sich zu überstürzen.

»Meine – meine Schwester ist Haushälterin in einer der Villen dort. Sie sieht die beiden ständig am Strand zusammen. Sie erkannte Mademoiselle Page nach den Bildern in den Zeitschriften, aber sie dachte nicht weiter darüber nach, bis sie vor einigen Tagen zum Flughafen kam, um mit mir zu Abend zu essen. Ich stellte sie Larry Douglas vor und – also da sagte sie mir, dass er der Mann ist, mit dem Mademoiselle Page zusammenlebt.«

Demiris' olivdunkle Augen starrten ihn ohne jeden Ausdruck an.

»Ich – ich dachte mir, dass Sie das wissen sollten«, endete Metaxas lahm.

Als Demiris sprach, klang seine Stimme völlig tonlos. »Wie Mademoiselle Page ihr Privatleben verbringt, ist ihre eigene Angelegenheit. Ich bin überzeugt, sie wird es wenig schätzen, dass man ihr nachspioniert.«

Metaxas' Stirn war schweißbedeckt. Mein Gott, er hatte die Situation falsch beurteilt. Und er hatte doch nur loyal sein wollen. »Glauben Sie mir, Herr Demiris, ich habe nur versucht...«

»Ich bin überzeugt, dass Sie nur meinen Interessen dienen wollten. Sie haben sich geirrt. Sonst noch etwas?«

»Nein – nein, Herr Demiris.« Metaxas drehte sich um und floh.

Constantin Demiris lehnte sich in seinem Sessel zurück. Seine dunklen Augen starrten blicklos ins Leere.

Um neun Uhr am folgenden Morgen erhielt Metaxas einen Anruf, der ihn anwies, sich bei Demiris' Minenunternehmen im Kongo zu melden. Dort sollte Metaxas zehn Tage damit verbringen, Ausrüstung von Brazzaville zur Mine zu fliegen.

An einem Mittwochmorgen, bei seinem dritten Flug, zerschellte die Maschine im dichten grünen Urwald. Niemals wurden Spuren von Metaxas' Leiche oder dem Wrack gefunden.

Zwei Wochen nachdem Catherine aus dem Krankenhaus entlassen worden war, kam Larry sie besuchen. Es war ein Samstagabend, und Catherine stand in der Küche und bereitete sich ein Omelett zu. Die Geräusche beim Kochen verhinderten, dass sie hörte, wie die Vordertür geöffnet wurde, und sie nahm Larrys Anwesenheit erst wahr, als sie sich umdrehte und ihn in der Tür stehen sah. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, und er sagte: »Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Ich bin nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«

Catherine spürte, wie ihr Herz schneller schlug, und verachtete sich selbst dafür, dass er immer noch diese Wirkung auf sie haben konnte.

»Mir geht es ganz gut«, antwortete sie. Sie drehte sich wieder um und nahm das Omelett aus der Pfanne.

»Riecht gut«, sagte Larry. »Ich hatte keine Zeit, zu Abend zu essen. Würdest du mir auch so eins zubereiten, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht?«

Sie sah ihn für einen langen Augenblick an und zuckte die Schultern.

Sie machte Abendessen für ihn, war durch seine Anwesenheit aber so entnervt, dass sie selbst keinen Bissen essen konnte. Er sprach mit ihr, erzählte ihr von einem Flug, von dem er gerade zurückgekommen war, und eine amüsante Anekdote über einen der Freunde von Demiris. Er war der alte Larry, herzlich und charmant und unwiderstehlich, als ob zwischen ihnen nichts vorgefallen wäre, als ob er nicht ihr Zusammenleben zerstört hätte.

Nach dem Essen half Larry Catherine das Geschirr spülen und abtrocknen. Er stand neben ihr am Abwaschbecken, und seine Nähe bereitete ihr körperlichen Schmerz. Wie lange lag es schon zurück? Sie ertrug es nicht, daran zu denken.

»Es hat mir wirklich gut geschmeckt«, sagte Larry mit seinem raschen, jungenhaften Grinsen. »Danke, Cathy.«

Und damit, dachte Catherine, war es vorüber.

Drei Tage später klingelte das Telefon, und es war Larry, der von Madrid aus anrief, um ihr zu sagen, dass er auf dem Weg nach Hause sei, und um sie zu fragen, ob sie am Abend mit ihm zum Essen ausgehen wolle. Catherine umklammerte den Hörer, lauschte auf seine freundliche, gelassene Stimme und war entschlossen, nicht zu gehen. »Ich bin heute zum Abendessen frei«, sagte sie.

Sie dinierten bei Tourkolimano am Hafen von Piräus. Catherine war kaum fähig, ihr Essen anzurühren. Das Zusammensein mit Larry war eine viel zu schmerzliche Erinnerung an andere Restaurants, in denen sie gegessen hatten, an zu viele gemeinsam verbrachte, angeregte Abende in der seit langem toten Vergangenheit, an die Liebe, die für sie beide ihr Leben lang andauern sollte.

»Du isst ja nicht, Cathy. Soll ich etwas anderes für dich bestellen?« fragte er besorgt.

»Ich habe erst spät Mittag gegessen«, log sie. Wahrscheinlich wird er mich nie wieder einladen, dachte Catherine, aber wenn er es tut, werde ich nein sagen.

Wenige Tage später rief Larry an, und sie aßen zusammen Mittag in einem bezaubernden Restaurant in einer versteckt gelegenen Gasse beim Syntagma Platz. Es nannte sich Gerofi-nikas, »Die alte Palme«, und man erreichte es durch eine lange, kühle Passage, vor der eine Palme stand. Sie bekamen eine ausgezeichnete Mahlzeit, dazu Hymettos, den leichten, trockenen griechischen Wein. Larry war in seiner besten Form.

Am folgenden Sonntag bat er Catherine, mit ihm nach Wien zu fliegen. Sie aßen zusammen im Hotel Sacher und flogen noch am gleichen Abend zurück. Es war ein wunderbarer Abend mit Wein und Musik und Kerzenlicht, aber Catherine hatte das gespenstische Gefühl, dass der Abend irgendwie nicht

ihr gehörte. Er gehörte jener anderen Catherine Douglas, die seit langem tot und begraben war. Als sie in die Wohnung zurückkamen, sagte sie: »Danke, Larry, es war ein schöner Tag.«

Er trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und begann sie zu küssen. Catherine erstarrte und machte sich, von einer plötzlichen, unerwarteten Panik erfüllt, frei.

»Nein«, sagte sie.

»Cathy ...«

»Nein!«

Er nickte. »Nun gut. Ich verstehe.«

Sie zitterte am ganzen Körper. »Wirklich?«

»Ich weiß, wie schlecht ich mich benommen habe«, sagte Larry leise. »Wenn du mir die Chance gibst, will ich es wiedergutmachen, Cathy.«

Mein Gott, dachte sie. Sie presste die Lippen zusammen, zwang sich, nicht zu weinen, und schüttelte den Kopf. Ihre Augen schimmerten von unvergessenen Tränen. »Es ist zu spät«, flüsterte sie.

Und sie stand da und sah ihm stumm nach, wie er durch die Tür ging.

Innerhalb einer Woche bekam Catherine wieder Nachricht von Larry. Er schickte ihr Blumen mit einigen Zeilen und danach kleine Vögel aus den verschiedenen Ländern, in die er flog. Offensichtlich hatte er sich sehr darum bemüht, denn sie waren von einer erstaunlichen Vielfalt: einer aus Porzellan, einer aus Jade, einer aus Teakholz, und sie war gerührt, dass er daran dachte.

Als eines Tages das Telefon läutete und sie Larrys Stimme sagen hörte: »Hör mal, ich habe ein wunderbares griechisches Restaurant entdeckt, in dem man die beste chinesische Küche außerhalb von Peking bekommt«, lachte sie und sagte: »Ich kann es gar nicht erwarten.«

Und das war der Zeitpunkt, an dem es wirklich wieder

begann. Langsam, tastend, zögernd, aber es war ein Anfang. Larry versuchte nicht wieder, sie zu küssen, sie hätte es auch nicht zugelassen, denn Catherine wusste, wenn sie ihren Gefühlen nachgab, wenn sie sich aus ganzem Herzen diesem Mann hingab, den sie liebte, und er sie wieder betrog, würde er sie zerstören. Endgültig und für immer. Und so ging sie mit ihm essen und lachte mit ihm, doch ständig war sie tief innerlich auf der Hut, blieb wachsam abwehrend, unberührt und unberührbar.

Sie waren fast jeden Abend zusammen. An manchen Abenden bereitete Catherine selbst das Essen zu Hause zu, an anderen führte Larry sie aus. Einmal erwähnte sie die Frau, von der Larry gesagt hatte, dass er sie liebe, und er hatte knapp geantwortet: »Das ist vorbei«, und Catherine brachte nie wieder die Sprache darauf. Sie achtete genau auf Anzeichen dafür, dass Larry sich mit anderen Frauen traf, aber es gab keine. Er war sehr aufmerksam zu ihr, drängte nie, forderte nie. Es war, als ob er für die Vergangenheit büßte.

Und dennoch gestand Catherine sich selbst ein, dass es etwas mehr als das war. Er schien sich wirklich für sie als Frau zu interessieren. Abends stand sie dann nackt vor dem Spiegel und prüfte ihr Spiegelbild und versuchte sich zu erklären, warum. Ihr Gesicht war nicht schlecht, das Gesicht eines früher einmal hübschen Mädchens, das Schmerz erlitten hatte, eine Traurigkeit in den ernsten grauen Augen, die ihr entgegensahen. Ihre Haut war etwas schwammig, und ihr Kinn war schwerer, als es hätte sein dürfen, aber an ihrem Körper war sonst nichts weiter auszusetzen, was durch Diät und Massage nicht hätte behoben werden können. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie darüber nachgedacht hatte und mit aufgeschnittenen Pulsadern wieder zu sich gekommen war. Ein Schauder überlief sie. Zum Teufel mit Larry, dachte sie trotzig. Wenn er mich wirklich will, muss er mich nehmen, wie ich bin.

Sie waren auf einer Party gewesen, und Larry hatte sie um vier Uhr morgens nach Hause gebracht. Der Abend war herrlich gewesen, Catherine hatte ein neues Kleid getragen und sehr attraktiv ausgesehen, sie hatte die Leute zum Lachen gebracht, und Larry war stolz auf sie. Als sie in die Wohnung kamen, griff Catherine nach dem Lichtschalter, doch Larry legte seine Hand über die ihre und sagte: »Warte,

ich kann es leichter im Dunkeln sagen.« Sein Körper war ihr nahe, aber berührte sie nicht, und dennoch spürte sie, wie seine physische Ausstrahlung auf sie wirkte.

»Ich liebe dich, Cathy«, sagte er. »Ich habe in Wirklichkeit nie eine andere geliebt. Gib mir noch einmal eine Chance.«

Dann schaltete er das Licht ein, um sie anzusehen. Sie stand vor ihm, starr und verstört, einer Panik nahe. »Ich weiß, dass du jetzt vielleicht noch nicht wieder bereit bist, aber wir könnten langsam beginnen.« Er lächelte sein liebes jungenhaftes Grinsen. »Wir könnten damit anfangen, Händchen zu halten.«

Er griff nach ihrer Hand. Und sie zog ihn an sich, und sie küssten sich, und seine Lippen waren sanft und zärtlich und vorsichtig, und die ihren waren fordernd und wild, mit all der aufgestauten Sehnsucht, die sich in diesen langen, einsamen Monaten in ihr angesammelt hatte. Und sie waren zusammen im Bett, liebten sich, und es war, als ob keine Zeit verstrichen wäre und sie auf ihrer Hochzeitsreise wären. Aber es war mehr als das. Die Leidenschaft war noch da, frisch und wunderbar, doch dankbar für das, was sie zusammen hatten, das Wissen, dass nun alles gut war, dass sie diesmal einander nicht verletzen würden.

»Was hieltest du davon, wenn wir zusammen auf eine zweite Hochzeitsreise führen?« fragte Larry.

»O ja, Liebling. Können wir das?«

»Gewiss. Mir steht ein Urlaub zu. Wir fahren am Samstag ab. Ich kenne einen wunderbaren kleinen Ort, wo wir hinfahren könnten. Er heißt Ioannina.«

Noelle und Catherine

Athen 1946

Die Fahrt nach Ioannina dauerte neun Stunden. Catherine erschien die Landschaft beinahe biblisch, aus einem anderen Zeitalter stammend. Sie fuhren am tiefblauen Meer entlang, an kleinen weiß getünchten Häuschen vorbei, mit Kreuzen an den Dächern, und an endlosen Obstgärten, Zitronen und Kirschen und Äpfeln und Orangen. Jeder Zoll des Landes war terrassiert und bestellt, und die Fenster und Dächer der Bauernhäuser waren in fröhlichen blauen Farben gestrichen, wie aus Trotz gegen das harte Leben, das dem steinigen Boden abgerungen wurde. Gruppen hoher, anmutiger Zypressen wuchsen in reicher Fülle überall auf den steilen Berghängen.

»Sieh doch, Larry«, rief Catherine aus. »Sind sie nicht wunderschön?«

»Nicht für die Griechen«, entgegnete Larry.

Catherine blickte ihn an. »Wie meinst du das?«

»Sie betrachten sie als böse Vorzeichen. Sie schmücken ihre Friedhöfe damit.«

Sie fuhren an Feldern mit primitiven Vogelscheuchen vorbei, an jedem Zaun waren Tuchfetzen angebunden.

»Die Krähen müssen hier sehr einfältig sein«, meinte Catherine lachend.

Sie fuhren durch eine Reihe kleiner Dörfer mit unglaublichen Namen: Mesolongion und Agelkastron und Etolikon und Amphilochia.

Spät am Nachmittag erreichten sie das Dorf Rion, das sich sanft am Fluss Rio hinunterzog, wo sie die Fähre nach Ioannina nehmen wollten.

Catherine las Larry aus dem Reiseführer vor.

»Hoch in das Pindos-Gebirge eingeschmiegt, in einer steilen, von aufragenden Gipfeln umgebenen Kluft, nimmt Ioannina, aus der Ferne gesehen, die Gestalt eines Doppeladlers an, unter dessen Klauen der grundlose See Pamvotis liegt, auf dem Ausflugsboote Touristen über das dunkelgrüne Wasser zur Insel in der Mitte des Sees und weiter zu dem fernen Ufer auf der anderen Seite bringen.«

»Klingt wunderbar«, sagte Larry.

Sie trafen am späten Nachmittag ein und fuhren unmittelbar zu ihrem Hotel, einem alten schönen, gut erhaltenen einstöckigen Bau auf einer Anhöhe hoch über dem Ort, um den eine Anzahl von Bungalows für Gäste im Gelände verstreut lagen. Ein alter Mann in Uniform kam heraus, um sie in Empfang zu nehmen. Er blickte in ihre glücklichen Gesichter.

»Hochzeitsreisende«, sagte er. Catherine blickte Larry an und lächelte. »Woran erkennen Sie das?«

»Das sieht man immer«, erklärte ihr der alte Mann. Er führte sie ins Foyer, wo sie sich eintrugen, und zeigte ihnen dann ihren Bungalow. Er bestand aus einem Wohnraum und einem Schlafzimmer, Bad und Küche und einer großen gepflasterten Terrasse. Über die Wipfel von Zypressen hinweg hatte man einen herrlichen Blick auf den unten liegenden Ort und den düsteren, brütenden See. Die Aussicht hatte etwas von der unwirklichen Schönheit einer Ansichtskarte.

»Viel ist es nicht« – Larry lächelte -, »aber es ist alles für dich.«

»Ich nehme es gern!« rief Catherine begeistert.

»Glücklich?« fragte er.

Sie nickte. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich schon einmal so glücklich war.« Sie trat zu ihm und drängte sich fest an ihn. »Lass mich niemals von dir gehen«, flüsterte sie.

Seine kräftigen Arme umfingen sie, drückten sie eng an sich. »Das werde ich nicht«, versprach er.

Während Catherine auspackte, schlenderte Larry zum Haupthaus zurück, um sich mit dem Empfangschef zu unterhalten.

»Was fängt man hier denn so an?« fragte Larry.

»Alles, was man will«, antwortete der Empfangschef stolz. »Wir haben im Hotel ein eigenes Mineralbad. Rings um den Ort kann man wandern, fischen, schwimmen, Kahn fahren.«

»Wie tief ist der See denn?« fragte Larry beiläufig.

Der Empfangschef zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand, mein Herr. Der See ist vulkanischen Ursprungs. Er ist grundlos.«

Larry nickte nachdenklich. »Was ist denn mit den Höhlen hier in der Gegend?« fragte er.

»Ah, die Höhlen von Perama. Sie sind nur wenige Meilen von hier entfernt.«

»Sind sie schon erforscht?«

»Einige. Manche sind noch geschlossen.«

»Aha«, sagte Larry.

Der Empfangschef fuhr fort: »Wenn Sie gern Bergsteigen, empfehle ich Ihnen den Tsoumerka. Falls Mrs. Douglas sich nicht vor der Höhe fürchtet.«

»Nein.« Larry lächelte. »Sie ist eine recht erfahrene Bergsteigerin.«

»Dann wird es ihr sehr gefallen. Sie haben Glück mit dem Wetter. Wir hatten einen meltemi erwartet, aber er ist ausgeblieben. Jetzt wird er wohl nicht mehr kommen.«

»Was ist ein meltemi?« fragte Larry.

»Ein sehr starker Wind, der aus Norden weht. Wahrscheinlich ähnelt er Ihren Hurrikanen. Wenn er kommt, bleibt jeder im Haus. In Athen erlaubt man dann nicht einmal Ozeandampfern auszulaufen.«

»Ich bin froh, dass wir ihn verpasst haben«, sagte Larry.

Als Larry in den Bungalow zurückkam, schlug er Catherine vor, zum Abendessen in den Ort hinunterzugehen. Sie folgten dem steilen, felsigen Pfad, der den Abhang hinunter zum Dorfrand führte. Ioannina bestand aus einer Hauptstraße, der König-Georg-Straße, von der zwei oder drei schmalere Straßen abzweigten. Von diesen Straßen führte ein Gewirr enger

Feldwege zu den Häusern und Wohnungen ab. Die Gebäude waren alt und verwittert, aus Steinen erbaut, die mit Karren aus dem Gebirge heruntergeschafft worden waren.

In der Mitte der König-Georg-Straße war ein Seil gespannt, so dass die Autos auf der linken Seite fuhren und die rechte für die Fußgänger freigehalten wurde.

»Das sollten sie einmal auf der Pennsylvania Avenue in Washington versuchen«, meinte Catherine.

Auf dem Dorfplatz war ein hübscher kleiner Park mit einem hohen Turm, der eine große beleuchtete Uhr an der Spitze hatte. Eine von mächtigen Platanen gesäumte Straße führte zum See hinunter. Es schien Catherine, dass alle Straßen zum Wasser führten. Sie konnte das Gefühl nicht unterdrücken, dass der See etwas Furchterregendes hatte, etwas Fremdartiges, Drohendes. Überall am Ufer entlang wuchs dichtes, hohes Schilf, das wie gierig greifende Finger aufragte, als ob es auf jemanden wartete, um ihn zu packen.

Catherine und Larry schlenderten durch das farbenfrohe kleine Einkaufsviertel, in dem sich zu beiden Seiten der Straße Laden an Laden drängte. Es gab einen Juwelier und daneben einen Bäcker, eine offene Fleischerei, eine Taverne, ein Schuhgeschäft. Vor dem Friseur standen Kinder und sahen stumm zu, wie ein Kunde rasiert wurde. Catherine fand, sie seien die schönsten Kinder, die sie je gesehen hatte.

Früher hatte Catherine mit Larry schon darüber gesprochen, dass sie gern ein Kind hätte, aber er hatte den Gedanken immer von sich gewiesen, hatte gesagt, er sei noch nicht soweit, eine Familie zu gründen. Jetzt mochte er vielleicht anderer Meinung sein. Catherine blickte zu ihm auf, als er neben ihr herging, größer als die anderen Männer. Er sah aus wie ein griechischer Gott, und sie entschloss sich, mit ihm über diese Frage zu sprechen, ehe sie abreisten. Schließlich waren sie ja auf Hochzeitsreise.

Sie kamen an einem Kino vorbei, dem Palladium. Zwei sehr alte amerikanische Filme wurden gespielt. Sie blieben stehen, um sich die Plakate anzusehen.

»Haben wir ein Glück«, scherzte Catherine. »Südlich von Panama mit Roger Pryor und Virginia Vale und Der Staatsanwalt im Fall Carter.«

»Habe nie davon gehört«, sagte Larry abschätzig. »Dieses Kino muss noch älter sein, als es aussieht.«

Sie aßen an dem Platz musakas, saßen im Freien unter einem unglaublich großen Vollmond und gingen zum Hotel zurück und liebten sich. Es war ein vollkommener Tag.

Am nächsten Vormittag fuhren Catherine und Larry durch die schöne Umgebung, erforschten eine schmale Straße, die sich am See entlang wand, ein paar Meilen weit an dem felsigen Ufer entlang führte und sich dann zurück in die Berge hinaufschlängelte. Steinerne Häuser klebten dicht am Rand steiler Abhänge. Hoch über dem See entdeckten sie im Wald ein riesiges weiß getünchtes Gebäude, das wie ein altes schloss aussah.

»Was ist denn das?« fragte Catherine.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Larry.

»Lass uns nachsehen.«

»Einverstanden.«

Larry lenkte den Wagen in eine Fahrspur, die zu dem Gebäude hinaufführte, quer über eine Wiese, auf der Ziegen grasten und ein Hirte ihnen nachstarrte, als sie an ihm vorbeikamen. Sie hielten vor dem verlassenen Zugang zu dem Gebäude. Aus der Nähe sah es wie die Ruine einer alten Burg aus.

»Das muss ein übrig gebliebenes schloss von Riesen sein«, sagte Catherine. »Wahrscheinlich aus Grimms Märchen.«

»Möchtest du es wirklich genau wissen?« fragte Larry.

»Aber ja. Vielleicht kommen wir gerade noch rechtzeitig, um eine Jungfrau aus Not und Gefahr zu retten.«

Larry warf Catherine schnell einen merkwürdigen Blick zu.

Sie stiegen aus und gingen zu dem massiven hölzernen Tor, in dessen Mitte sich ein riesiger eiserner Türklopfer befand. Larry klopfte einige Male, dann warteten sie. Es war kein Laut zu hören außer dem Summen der Insekten auf der Wiese und dem Flüstern der Brise im hohen Gras.

»Anscheinend ist niemand zu Hause«, sagte Larry.

»Vielleicht schaffen sie gerade die Leichen beiseite«, flüsterte Catherine.

Plötzlich begann das riesige Tor sich knarrend langsam zu öffnen. Eine schwarz gekleidete Nonne stand vor ihnen.

Catherine war überrascht. »Ver-Verzeihung«, stammelte sie. »Wir wussten nicht, was das hier ist. Es ist kein Schild oder sonst etwas da.«

Die Nonne sah die beiden einen Augenblick an, dann winkte sie ihnen einzutreten. Sie traten durchs Tor und befanden sich in einem Hof, der die Mitte eines weitläufigen Anwesens bildete. Es herrschte eine seltsame, bedrückende Stille, und Catherine erkannte plötzlich, was hier fehlte: der Laut menschlicher Stimmen.

Sie wandte sich an die Nonne und fragte: »Was ist das hier?«

Die Nonne schüttelte stumm den Kopf und bedeutete ihnen zu warten. Sie blickten ihr nach, als die Nonne sich umdrehte und auf ein altes Steinhaus auf der anderen Seite des Hofs zuging.

»Sie geht Bela Lugosi holen«, flüsterte Catherine.

Hinter dem Gebäude konnten sie auf einem Bergvorsprung, der hoch über dem See aufragte, einen von Reihen hoher Zypressen eingefassten Friedhof sehen.

»Hier könnte einem das Gruseln ankommen«, meinte Larry. »Es ist, als ob man in ein anderes Jahrhundert geraten wäre«, antwortete Catherine. Ohne es zu merken, flüsterten sie, fast als fürchteten sie, die lastende Stille zu brechen. Hinter den Fenstern des Hauptbaus nahmen sie neugierige Gesichter wahr, die zu ihnen hinausstarrten, nur weibliche, alles in Schwarz gekleidete Gestalten.

»Es ist eine Art religiöses Irrenhaus«, meinte Larry.

In der Tür des Hauses erschien eine große schlanke Frau und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Sie trug die Tracht einer Nonne und hatte ein angenehmes, freundliches Gesicht.

»Ich bin Schwester Teresa«, sagte sie: »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir kamen hier zufällig vorbei«, erklärte Catherine, »und dieses Haus weckte unsere Neugier.« Sie blickte zu den Gesichtern hinüber, die aus den Fenstern spähten. »Wir wollten Sie nicht stören.«

»Wir werden nicht von vielen Besuchern beehrt«, sagte Schwester Teresa. »Wir haben fast keinen Kontakt zur Außenwelt. Wir gehören zum Orden der Karmeliterinnen. Wir haben ein Schweigegelübde abgelegt.«

»Für wie lange?« fragte Larry.

»Gia panta – für den Rest unseres Lebens. Ich bin hier die einzige, der zu sprechen erlaubt ist, und nur dann, wenn es notwendig ist.«

Catherine sah sich in dem großen stillen Hof um und unterdrückte einen Schauder. »Verlässt keine je dieses Haus?«

Schwester Teresa lächelte. »Nein. Dazu besteht kein Grund. Unser Leben spielt sich in diesen Mauern ab.«

»Entschuldigen Sie, dass wir Sie gestört haben«, sagte Catherine.

Schwester Teresa nickte. »Keine Ursache. Gehen Sie mit Gott.«

Catherine und Larry gingen wieder durch das große Tor, das sich langsam hinter ihnen schloss. Catherine drehte sich noch einmal um. Es kam ihr wie ein Gefängnis vor, aber in gewisser Weise erschien es ihr noch schlimmer. Vielleicht, weil es eine freiwillig auferlegte Buße war, ein Verzicht, und Catherine dachte an die jungen Frauen, die sie hinter den Fenstern wahrgenommen hatte, hier eingemauert, für den Rest ihres Lebens von der Welt abgeschlossen in dem tiefen, ewigen

Schweigen des Grabes. Sie wusste, dass sie diesen Ort niemals vergessen würde.

Noelle und Cotherine

Athen 1946

Früh am nächsten Morgen ging Larry ins Dorf hinunter. Er bat Catherine mitzukommen, aber sie lehnte ab, sagte, dass sie lange schlafen wolle. Doch sowie er fort war, stand Catherine auf, kleidete sich eilig an und ging in den Gymnastiksaal des Hotels, den sie sich am Tag vorher angesehen hatte. Die Gymnastiklehrerin, eine griechische Amazone, musterte kritisch ihren Körper.

»Sie sind faul gewesen, sehr faul«, schalt sie Catherine. »Das war einmal ein guter Körper. Wenn Sie bereit sind, hart an sich zu arbeiten, Theou thelondos – so Gott will -, können Sie wieder in Form kommen.«

»Dazu bin ich bereit«, sagte Catherine. »Wollen mal sehen, wie Gott mich in Form bringt.«

Unter der Anleitung der Amazone trainierte Catherine täglich, ertrug die Qualen folternder Massagen, eine spartanische Diät und anstrengende Übungen. Das alles hielt sie vor Larry verborgen, doch nach dem vierten Tag waren die Veränderungen an ihr so erkennbar, dass er sich dazu äußerte.

»Der Aufenthalt hier scheint dir gut zu bekommen«, sagte er. »Du siehst wie eine ganz andere Frau aus.«

»Ich bin auch eine andere Frau«, erwiderte Catherine plötzlich schüchtern.

Am Sonntag morgen ging Catherine in die Kirche. Sie hatte noch nie eine griechisch-orthodoxe Messe erlebt. In einem so kleinen Dorf wie Ioannina hatte sie mit einer kleinen ländlichen Kirche gerechnet, aber zu ihrer Überraschung kam sie in eine große reich verzierte Kathedrale mit schönen kunstvollen Schnitzereien an den Wänden und an der Decke und einem Marmorfußboden. Vor dem Altar stand ein Dutzend großer silberner Kandelaber, und die Wände ringsum schmückten

Fresken mit biblischen Darstellungen. Der Priester war ein schmächtiger, dunkelhäutiger Mann mit einem schwarzen Bart. Er trug eine prunkvolle gold-rote Robe und eine hohe schwarze Kopfbedeckung und stand auf etwas, was Catherine für eine Sänfte auf einem Podium hielt.

An den Wänden standen einzelne Holzbänke und daneben eine Reihe einfacher Stühle. Die Männer saßen vorn in der Kirche und die Frauen hinten. Wahrscheinlich kommen die Männer zuerst in den Himmel, dachte Catherine.

Ein Gesang auf griechisch begann, und der Priester stieg von der Plattform herunter und ging zum Altar. Ein roter Vorhang teilte sich, und dahinter erschien ein reich gekleideter, weißbärtiger Patriarch. Auf einem Tisch vor ihm standen eine mit Juwelen geschmückte symbolische Kopfbedeckung und ein goldenes Kreuz. Der alte Mann entzündete drei zusammengebundene Kerzen, die die Heilige Dreieinigkeit darstellten, wie Catherine vermutete, und reichte sie dem Priester.

Die Messe dauerte eine Stunde, und Catherine gab sich dem Anblick und dem Gesang hin und dachte, wie glücklich sie sei. Sie beugte den Kopf zu einem Dankgebet.

Am nächsten Morgen frühstückten Catherine und Larry auf der Terrasse ihres Bungalows, von wo man den See überblickte. Es war ein einmalig schöner Tag. Die Sonne schien, und eine milde Brise wehte vom Wasser herauf. Ein freundlicher junger Kellner hatte ihnen das Frühstück gebracht. Catherine war noch im Neglige, und als der Kellner kam, schlang Larry seine Arme um Catherine und küsste sie auf den Nacken. »Was für eine herrliche Nacht«, murmelte Larry.

Der Kellner hatte sein Lächeln unterdrückt und sich diskret zurückgezogen. Catherine war etwas verlegen geworden. Es sah Larry so gar nicht ähnlich, vor Fremden zärtlich zu sein. Er hatte sich wirklich verändert, dachte Catherine. Es schien, als legte Larry jedes Mal seinen Arm um Catherine und zeigte ihr seine Zuneigung, wenn ein Stubenmädchen oder ein Page in das Zimmer kam, ganz als ob er aller Welt zeigen wollte, wie sehr er sie liebte. Catherine fand das sehr rührend.

»Ich habe für diesen Vormittag große Pläne«, sagte Larry. Er deutete nach Osten, wo man einen riesigen Gipfel in den Himmel aufragen sah. »Wir steigen auf den Berg Tsoumerka.«

»Ich habe ein Prinzip«, erklärte Catherine. »Ich klettere nie auf etwas, was ich nicht buchstabieren kann.«

»Ach komm, man sagt, man hätte eine phantastische Aussicht von da oben.«

Catherine sah, dass Larry es ernst meinte. Sie blickte wieder zu dem Berg hinauf. Er sah aus, als ob er steil in die Höhe ragte. »Klettern ist nicht gerade meine Stärke, Liebling«, sagte sie.

»Es ist ein leichter Spaziergang, überall führen Fußwege hinauf.« Er zögerte. »Aber wenn du nicht mitgehen willst, kann ich ja allein gehen.« Die Enttäuschung war in seiner Stimme deutlich herauszuhören.

Es wäre so einfach, nein zu sagen, so einfach, hier unten zu sitzen und den Tag zu genießen. Die Versuchung war fast übermächtig. Aber Larry wollte, dass sie mit ihm ginge. Das genügte Catherine.

»Also gut. Ich will nur sehen, ob ich irgendwo einen Berghut auftreibe«, sagte sie.

Larrys Gesicht zeigte eine solche Erleichterung, dass Catherine froh war, sich entschlossen zu haben mitzugehen. Außerdem konnte es interessant werden.

Sie war noch nie auf einen Berg gestiegen.

Sie fuhren zu einer Wiese am Rand des Ortes, wo der Weg auf den Berg begann, und parkten den Wagen. Neben dem Weg war ein kleiner Imbissstand, und Larry kaufte Sandwiches, Obst, Schokolade und eine große Thermosflasche mit Kaffee.

»Wenn es da oben hübsch ist«, sagte er dem Verkäufer, »dann verbringen meine junge Frau und ich vielleicht die

Nacht dort.«

Er drückte Catherine an sich, und der Verkäufer grinste.

Catherine und Larry gingen bis zu der Stelle, an der der Fußpfad bergauf begann. Eigentlich waren es zwei Pfade, die in entgegen gesetzten Richtungen auseinander führten. Catherine gestand sich ein, dass es nach einem leichten Aufstieg aussah. Die Pfade waren breit und nicht zu steil. Als sie den Kopf hob, um zum Gipfel hinaufzusehen, erschien er ihr drohend und abweisend, aber ganz so hoch würden sie wohl nicht hinaufsteigen. Sie würden ein Stück weit nach oben klettern und dann picknicken.

»Hier entlang«, sagte Larry und führte Catherine zu dem Pfad, der nach links abzweigte. Als sie den Aufstieg begannen, sah ihnen der griechische Verkäufer besorgt nach. Sollte er ihnen nachlaufen und ihnen sagen, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatten? Der Weg, dem die beiden jetzt folgten, war gefährlich und nur erfahrenen Bergsteigern zu empfehlen. In diesem Augenblick kamen neue Kunden an seinen Stand, und er dachte nicht weiter an die beiden Amerikaner.

Die Sonne schien warm, doch als sie höher kamen, wurde der Wind kühler, und Catherine fand die Kombination von beidem herrlich erfrischend. Es war ein schöner Tag, und sie war mit dem Mann zusammen, den sie liebte. Von Zeit zu Zeit blickte Catherine nach unten und war überrascht, wie hoch sie schon hinaufgestiegen waren. Die Luft schien dünner zu werden und das Atmen schwieriger. Sie ging jetzt hinter Larry, weil der Pfad so schmal geworden war, dass sie nicht mehr nebeneinander gehen konnten. Sie fragte sich, wann sie wohl rasten und picknicken würden.

Larry bemerkte, dass Catherine hinter ihm zurückblieb, und er hielt an, um auf sie zu warten.

»Es tut mir leid«, keuchte Catherine, »aber die Höhe macht mir etwas zu schaffen.« Sie sah nach unten. »Es wird lange dauern, wieder hinunter zusteigen.«

»Nein, nicht sehr«, entgegnete Larry. Er drehte sich um und stieg weiter den steilen Pfad bergauf. Catherine blickte ihm nach, seufzte und kletterte verbissen hinter ihm her.

»Ich hätte einen Schachspieler heiraten sollen«, rief sie ihm nach. Larry gab keine Antwort.

Sie hatten eine plötzliche scharfe Biegung des Pfades erreicht und standen vor einem schmalen hölzernen Steg mit einem Seil als Handlauf, der über eine tiefe Schlucht führte. Der Steg schwankte im Wind und sah nicht so aus, als ob er das Gewicht eines Menschen sicher tragen könnte. Larry setzte einen Fuß auf eine morsche Planke des Stegs, und sie gab unter seinem Gewicht etwas nach, trug ihn aber. Er sah nach unten. Die Schlucht war einige hundert Meter tief. Larry begann hinüberzugehen, erprobte vorsichtig jeden Schritt und hörte dann Catherines Stimme: »Larry!«

Er drehte sich um. Sie hatte den Steg erreicht.

»Wir gehen doch nicht hier hinüber?« fragte Catherine. »Der Steg trägt doch keine Katze.«

»Wir müssen wohl, wenn du nicht fliegen kannst.«

»Aber das sieht doch nicht sicher aus.«

»Jeden Tag gehen Leute hier herüber.« Larry drehte sich um und ging weiter und ließ Catherine am Anfang des Stegs zurück.

Catherine betrat den Steg, der unter ihr zu beben begann. Sie blickte in die tiefe Schlucht unter sich, und Furcht überkam sie. Das war kein Vergnügen mehr, das war gefährlich. Catherine blickte geradeaus und sah, dass Larry beinahe die andere Seite der Schlucht erreicht hatte. Sie biss die Zähne zusammen, packte das Seil und begann hinüberzugehen, wobei der Steg bei jedem Schritt unter ihr schwankte. Larry war drüben, hatte sich umgedreht und beobachtete sie. Catherine tastete sich langsam vor, hielt sich mit einer Hand an dem Seil fest und versuchte, nicht in den Abgrund zu blicken. Larry konnte die Angst auf ihrem Gesicht sehen. Als Catherine Larrys Seite erreichte, zitterte sie, entweder vor Schrecken oder von dem kalten Wind, der von den schneebedeckten Berggipfeln herunter strich.

Catherine sagte: »Ich glaube nicht, dass ich zum Bergsteiger geschaffen bin. Könnten wir jetzt zurück, Liebling?«

Larry sah sie überrascht an. »Aber wir haben doch noch gar nichts von der Aussicht gesehen, Cathy.«

»Was ich davon gesehen habe, reicht mir mein Leben lang.«

Er schob seinen Arm unter den ihren. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er lächelnd. »Da vor uns ist eine schöne ruhige Stelle für unser Picknick. Dort machen wir Rast. Was meinst du?«

Catherine nickte zögernd. »Also gut.«

»So ist es recht.«

Larry lächelte sie flüchtig an, drehte sich um und stieg weiter bergauf. Catherine folgte ihm. Sie musste zugeben, dass der Blick auf den Ort und das Tal tief unten atemberaubend schön war, ein friedliches, idyllisches Bild wie aus einem Reiseprospekt. Jetzt war sie froh, dass sie mitgekommen war. Es war sehr lange her, seit sie Larry zum letzten Mal so begeistert gesehen hatte. Er schien von einer Erregung besessen zu sein, die ständig wuchs, je höher sie kamen. Sein Gesicht war gerötet, und er plauderte von allen möglichen Nichtigkeiten, als ob er ständig reden müsste, um einen Teil seiner nervösen Spannung abzureagieren. Alles schien ihn zu begeistern: der Aufstieg, die Aussicht, die Blumen neben dem Weg. Jede Sache schien eine außergewöhnliche Bedeutung für ihn anzunehmen, als ob seine Sinne über das normale Maß angespornt würden. Er stieg mühelos aufwärts, war nicht einmal außer Atem, während die ständig dünner werdende Luft Catherine keuchen ließ.

Ihre Füße wurden bleischwer. Ihr Atem ging jetzt in mühsamen Stößen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon bergauf kletterten, doch wenn sie hinabblickte, war das Dorf nicht mehr als eine Miniatur. Es schien Catherine, dass der Pfad steiler und schmaler wurde. Er wand sich an einem steilen Abhang entlang, und Catherine hielt sich so nahe an der Bergseite, wie sie nur konnte. Larry hatte gesagt, es wäre ein leichter Weg. Für eine Bergziege vielleicht, dachte Catherine. Der Pfad war fast nicht mehr vorhanden, und nirgends war ein Anzeichen zu entdecken, dass er von jemandem begangen wurde. Die Blumen waren verschwunden, und die einzige Vegetation bestand aus Moos und bräunlichen Flechten, die aus dem Fels zu wachsen schienen. Catherine war sich nicht sicher, wie lange sie noch weiterklettern konnte. Als sie um eine scharfe Biegung kamen, brach der Pfad plötzlich völlig ab, und vor ihren Füßen lag ein schwindelerregender Abgrund.

»Larry!« Es war wie ein Schrei.

Er war augenblicklich an Catherines Seite. Er packte sie am Arm und zog sie zurück, half ihr über Felsen hinweg zu der Stelle, wo der Pfad weiterführte. Catherines Herz klopfte wild. Ich muss verrückt sein, dachte sie, ich bin zu alt, um auf Safaris zu gehen. Von der Höhe und der Anstrengung war ihr schwindlig, und ihr dröhnte der Kopf. Sie drehte sich zu Larry um, wollte etwas sagen, und über ihm, nach der nächsten Biegung, sah sie den Gipfel des Berges. Sie waren am Ziel.

Catherine lag auf dem flachen Boden und gewann ihre Kräfte zurück, spürte, wie der kalte Wind in ihrem Haar spielte. Der Schrecken war verflogen. Jetzt brauchte sie nichts mehr zu fürchten. Larry hatte gesagt, der Abstieg wäre leicht. Larry setzte sich neben sie.

»Fühlst du dich besser?« fragte er.

Sie nickte. »Ja^« Ihr Herz schlug nicht mehr so heftig, und sie begann wieder normal zu atmen. Sie holte tief Luft und lächelte zu ihm auf. »Den schweren Teil haben wir doch hinter uns?« fragte sie.

Larry blickte sie nachdenklich an. Dann sagte er: »Ja, er liegt hinter uns, Cathy.«

Catherine stützte sich auf einen Ellbogen. Auf dem kleinen Gipfelplateau war eine Beobachtungsplattform aus Holz angelegt worden. Ein altes Geländer fasste sie ein. Von dort hatte man einen überwältigenden Ausblick auf ein herrliches Panorama. Wenige Schritte weiter erkannte Catherine den Pfad, der auf der anderen Seite des Berges hinabführte.

»Oh, Larry, wie ist das schön!« rief Catherine aus. »Ich komme mir vor wie Magellan.« Sie lächelte ihm zu, aber Larry blickte weg, und Catherine merkte, dass er ihr nicht zuhörte. Er schien in Gedanken verloren zu sein – gespannt, als ob ihn etwas beunruhigte. Catherine blickte auf und sagte: »Sieh mal da!« Eine schaumige weiße Wolke kam auf sie zu, getrieben von dem frischen Bergwind. »Sie kommt zu uns herüber. Ich habe noch nie in den Wolken gestanden. Es muss wie im Himmel sein.«

Larry sah, wie Catherine aufstand und zu dem brüchigen hölzernen Geländer am Rand des Abgrunds trat. Auf die Ellbogen gestützt, beugte sich Larry, plötzlich aufmerksam geworden, vor und beobachtete die auf Catherine zu treibende Wolke. Sie hatte sie nahezu erreicht und hüllte sie langsam ein.

»Ich werde mittendrin stehen«, rief sie ihm zu, »und sie direkt durchziehen lassen!«

Einen Augenblick später war Catherine in dem wirbelnden grauen Dunst verschwunden.

Leise erhob sich Larry vom Boden. Einen Augenblick lang blieb er regungslos stehen, dann bewegte er sich lautlos zu ihr hin. Sekunden später war er im Nebel untergetaucht. Er hielt inne, er wusste nicht genau, wo er sich befand. Dann hörte er vor sich ihre Stimme: »O Larry, das ist wunderbar, komm zu mir.«

Langsam bewegte er sich in der Richtung des Tons ihrer von der Wolke gedämpften Stimme. »Es ist wie ein milder Regen«, rief sie. »Kannst du es spüren?« Die Stimme war jetzt näher, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er machte einen weiteren

Schritt vorwärts, tastete mit ausgestreckten Händen nach ihr.

»Larry, wo bist du?«

Jetzt konnte er ihre Gestalt wahrnehmen, schattenhaft im Nebel, unmittelbar vor sich, dicht am Rand des Abgrunds. Seine Hände streckten sich nach ihr aus, und in diesem Augenblick zog die Wolke an ihnen vorüber. Sie drehte sich um, und sie standen einander gegenüber, kaum einen Meter voneinander entfernt.

Überrascht trat sie einen Schritt zurück, so dass ihr rechter Fuß unmittelbar am Rand des Abgrunds stand. »Oh, du hast mich erschreckt!« rief sie aus.

Larry trat einen weiteren Schritt auf sie zu, lächelte sie aufmunternd an und streckte beide Hände nach ihr aus. In diesem Augenblick vernahm er eine laute Stimme hinter sich, die sagte: »Alles, was recht ist, bei uns in Denver haben wir aber höhere Berge als den da.«

Erschrocken fuhr Larry herum. Sein Gesicht war weiß. Eine Gruppe Touristen mit einem griechischen Führer tauchte auf dem Pfad auf, der auf der anderen Seite des Berges heraufführte. Der Führer blieb stehen, als er Catherine und Larry sah.

»Guten Morgen«, sagte er überrascht. »Sie müssen auf der Ostseite heraufgestiegen sein.«

»Ja«, antwortete Larry knapp.

Der Führer schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Man hätte Ihnen sagen sollen, dass dieser Weg sehr gefährlich ist. Der andere Aufstieg ist viel leichter.«

»Das nächste Mal werde ich dran denken«, sagte Larry. Seine Stimme klang heiser.

Die Erregung, die Catherine an ihm beobachtet hatte, schien verflogen, als ob plötzlich ein Schalter ausgeknipst worden wäre.

»Sehen wir zu, dass wir hier fortkommen«, sagte Larry.

»Aber – wir sind doch gerade erst gekommen. Ist etwas los?«

»Nein«, entgegnete er schroff. »Ich hasse bloß Pöbelansammlungen.«

Sie nahmen den leichten Pfad bergab, und unterwegs sprach Larry kein Wort. Er schien von eiskalter Wut erfüllt zu sein, und Catherine wusste nicht, warum. Sie war überzeugt, dass sie nichts gesagt oder getan hatte, worüber er gekränkt sein konnte. Als die anderen Leute aufgetaucht waren, hatte sich sein Verhalten abrupt geändert. Plötzlich glaubte Catherine, den Grund für seine schlechte Laune erraten zu haben, und lächelte. Er hatte sie in der Wolke lieben wollen! Deshalb war er mit ausgestreckten Armen auf sie zugekommen. Und seine Absicht war durch die Touristengruppe vereitelt worden. Beinahe hätte sie vor Freude laut herausgelacht. Sie beobachtete Larry, der vor ihr den Pfad hinab schritt, und ein Gefühl der Wärme erfüllte sie. Ich werde es wiedergutmachen, wenn wir im Hotel sind, gelobte sie sich.

Doch als sie in ihren Bungalow zurückkehrten und sie die Arme um ihn legte und ihn küsste, wehrte Larry sie ab und sagte, er sei müde.

Noch um drei Uhr morgens lag Catherine wach in ihrem Bett, sie war zu erregt, um zu schlafen. Der Tag war lang und voller unerwarteter Ängste gewesen. Sie dachte an den Bergpfad und den schwankenden Steg und die Kletterei über den nackten Fels. Schließlich schlief sie doch ein.

Am nächsten Morgen ging Larry zum Empfangschef.

»Sie haben neulich von diesen Höhlen gesprochen«, sagte er.

»Ja«, antwortete der Empfangschef, »die Höhlen von Perama. Sehr farbig, sehr interessant. Sie dürfen Sie sich nicht entgehen lassen.«

»Ich werde sie mir wohl ansehen müssen«, sagte Larry leichthin. »Ich selbst mache mir nichts aus Höhlen, aber meine Frau hat von ihnen gehört und bedrängt mich ständig, mit ihr hinzugehen. Sie hat eine Vorliebe für abenteuerliche Unternehmen.«

»Ich bin überzeugt, sie werden Ihnen beiden gefallen, Mr.

Douglas. Versäumen Sie aber nicht, einen Führer zu nehmen.«

»Braucht man denn einen?« fragte Larry.

Der Empfangschef nickte. »Es ist unbedingt zu empfehlen. Es ist ein paar Mal zu Tragödien gekommen, weil Besucher sich verirrten.« Er senkte die Stimme. »Ein junges Paar ist bis auf den heutigen Tag noch nicht wieder gefunden worden.«

»Wenn es so gefährlich ist«, fragte Larry, »warum lässt man die Leute dann hinein?«

»Nur die neu entdeckten Teile sind gefährlich«, erklärte der Empfangschef. »Sie sind noch nicht ausreichend erforscht und haben keine Beleuchtung. Aber mit einem Führer brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

»Um welche Zeit werden die Höhlen geschlossen?«

»Um sechs.«

Larry fand Catherine im Freien unter einem riesigen Oxya-baum, der schönen griechischen Eiche, ausgestreckt. Sie las.

»Wie ist das Buch?« fragte er.

»Man könnte darauf verzichten.«

Er hockte sich neben sie. »Der Empfangschef hat mir etwas von Höhlen hier in der Nähe erzählt.«

Etwas alarmiert blickte Catherine auf. »Höhlen?«

»Er sagt, man müsste sie gesehen haben. Alle Hochzeitsreisenden gehen hin. Wenn man sich in den Höhlen etwas wünscht, geht der Wunsch in Erfüllung.« Seine Stimme klang jungenhaft und ungestüm. »Was hältst du davon?«

Catherine zögerte einen Augenblick. Sie dachte, was für ein kleiner Junge Larry in Wirklichkeit war. »Wenn du es gern möchtest«, antwortete sie.

Er lächelte. »Fein«, sagte er. »Wir gehen nach dem Mittagessen. Ich fahre schnell in den Ort, um etwas zu besorgen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein«, antwortete er, »ruh dich nur aus. Ich bin bald wieder da.«

Sie nickte. »Gut.«

Er drehte sich um und ging.

Im Ort fand Larry einen kleinen Gemischtwarenladen, in dem er eine Taschenlampe, Ersatzbatterien und ein dickes Knäuel Schnur kaufen konnte.

»Wohnen Sie im Hotel oben?« fragte der Ladenbesitzer, als er Larry das Wechselgeld herausgab.

»Nein«, antwortete Larry, »ich bin nur auf der Durchreise hier, auf dem Weg nach Athen.«

»An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig«, riet ihm der Mann.

Larry sah ihn scharf an. »Weshalb?«

»Es kommt ein Sturm auf, man kann die Schafe blöken hören.«

Um drei Uhr kehrte Larry ins Hotel zurück. Um vier Uhr machten Catherine und Larry sich auf den Weg zu den Höhlen. Ein böiger Wind war aufgekommen, und von Norden zogen große Gewitterwolken herauf, die bald die Sonne verdeckten.

Die Höhlen von Perama liegen dreißig Kilometer östlich von Ioannina. Im Lauf von Jahrhunderten hatten sich dort riesige Stalagmiten und Stalaktiten gebildet, die die Formen von Tieren und Säulen und Portalen angenommen hatten. Die Höhlen waren ein bedeutender Anziehungspunkt für Touristen.

Als Catherine und Larry ankamen, war es fünf Uhr, eine Stunde vor der Schließung. Larry kaufte an der Kasse zwei Eintrittskarten und eine Broschüre. Ein schäbig gekleideter Führer kam auf sie zu und bot seinen Dienst an.

»Nur fünfzig Drachmen«, beteuerte er, »und Sie bekommen von mir die beste Führung.«

»Wir brauchen keinen Führer«, entgegnete Larry kurz angebunden.

Catherine sah ihn an. Sein scharfer Ton überraschte sie.

Er fasste Catherine unter. »Komm jetzt.«

»Meinst du nicht, dass wir doch einen Führer nehmen sollten?«

»Wozu? Das ist reine Beutelschneiderei. Wir brauchen nur hineinzugehen und uns die Höhle anzusehen. In der Broschüre hier steht alles, was wir wissen wollen.«

»Gut«, sagte Catherine nachgiebig.

Der Eingang zur Höhle war größer, als sie erwartet hatte. Er war von Flutlichtern hell erleuchtet und wimmelte von Touristen. Wände und Decke der Höhle waren über und über mit aus dem Fels gehauenen gewaltigen Figuren bedeckt: Vögeln und Riesen und Blumen und Kronen.

»Das ist phantastisch«, rief Catherine aus. Sie studierte die Broschüre. »Niemand weiß, wie alt das ist.«

Ihre Stimme, von der Felsendecke zurückgeworfen, klang hohl. Über ihren Köpfen hingen Stalaktiten herunter. Ein in den Fels gehauener Tunnel führte in eine zweite, kleinere Halle, die von an der Decke befestigten nackten Glühbirnen beleuchtet wurde. Hier waren weitere phantastisch geformte Gebilde, eine wilde, ungeordnete Ansammlung von Kunstwerken der Natur. Am hinteren Ende befand sich ein Schild mit der Aufschrift: Achtung, Gefahr. Nicht weitergehen.

Hinter dem Schild lag der Zugang zu einer gähnend schwarzen Höhle. Larry schlenderte unauffällig darauf zu und sah sich nach allen Seiten um. Catherine betrachtete interessiert ein Steingebilde in der Nähe des Eingangs. Larry nahm das Schild und warf es beiseite. Er kam zu Catherine zurück.

»Hier ist es feucht«, sagte sie. »Wollen wir nicht wieder gehen?«

»Nein.« Larrys Ton klang entschieden.

Sie sah ihn überrascht an.

»Es gibt hier noch mehr zu sehen«, erklärte Larry. »Der Empfangschef im Hotel hat mir gesagt, die interessantesten Partien lägen in dem neuen Teil. Er meinte, wir dürften uns das nicht entgehen lassen.«

»Wo ist das?« fragte Catherine.

»Dort drüben.« Larry nahm sie am Arm, und sie gingen auf den Hintergrund der Höhle zu und blieben vor dem klaffenden schwarzen Loch stehen.

»Da können wir nicht hinein«, sagte Catherine. »Es ist ja dunkel drin.«

Larry tätschelte ihren Arm. »Keine Sorge. Er hat mir geraten, eine Taschenlampe mitzunehmen.« Er zog sie aus der Tasche. »Hier. Siehst du?« Er knipste sie an, und ihr dünner Strahl fiel in einen langen, dunklen Gang aus uraltem Fels.

Catherine starrte in den düsteren Tunnel. »Das sieht so weit aus«, sagte sie zweifelnd. »Bist du überzeugt, dass es sicher ist?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Larry. »Hier werden sogar Schulkinder hergeführt.«

Catherine zögerte noch. Sie wünschte, sie könnte in der Nähe der anderen Besucher bleiben. Das hier kam ihr gefährlich vor. »Also gut«, fügte sie sich.

Sie traten in den Tunnel. Sie waren erst wenige Schritte vorgedrungen, als der Lichtkreis der Haupthöhle hinter ihnen von der Finsternis verschlungen wurde. Der Gang bog unvermittelt nach links ab und zog sich dann in einer Kurve nach rechts. Sie waren allein in einer kalten, zeitlosen Urwelt. Im Widerschein der Taschenlampe nahm Catherine gelegentlich kurz Larrys Gesicht wahr und bemerkte den gleichen entschlossenen Ausdruck, den es beim Aufstieg auf den Berg gezeigt hatte. Sie umklammerte seinen Arm.

Vor ihnen lag eine Abzweigung. Catherine konnte die niedrige Felsendecke des Tunnels an der Stelle sehen, an der er in zwei verschiedenen Richtungen weiter verlief. Sie dachte an Theseus und den Minotaurus und fragte sich unwillkürlich, ob sie den beiden hier begegnen würde. Sie öffnete den Mund, um Larry vorzuschlagen umzukehren, doch noch ehe sie sprechen konnte, sagte Larry: »Wir gehen nach links weiter.«

Sie blickte ihn an und sagte mit einer Stimme, von der sie hoffte, dass sie gelassen klang: »Liebling, meinst du nicht, dass wir hier umkehren sollten? Es ist schon spät. Die Höhlen werden geschlossen.«

»Sie sind bis neun Uhr offen«, entgegnete Larry. »Es gibt hier eine bestimmte Höhle, die ich finden möchte. Sie wurde kürzlich erst erschlossen. Sie soll phantastisch sein.« Er ging weiter.

Catherine zögerte, suchte nach einem Vorwand, nicht weitergehen zu müssen. Doch schließlich, warum sollten sie nicht auch forschen? Larry machte es Freude. Wenn es ihn glücklich machte, dann würde sie die größte – wie hieß der Ausdruck? – Höhlenforscherin der Welt werden.

Larry blieb stehen und wartete auf sie. »Kommst du?« fragte er ungeduldig.

Sie versuchte, enthusiastisch zu klingen. »Aber ja. Verlier mich nur nicht«, antwortete sie.

Larry entgegnete nichts. Sie nahmen die linke Abzweigung und drangen vorsichtig auf kleinen Steinen, die ihnen unter den Füßen fortrutschten, weiter vor. Larry griff in die Tasche, und einen Augenblick später hörte Catherine etwas auf den Boden fallen. Larry ging weiter.

»Hast du etwas fallen lassen?« fragte Catherine. »Ich glaube, ich hörte etwas«

»Ich bin mit dem Fuß gegen einen Stein gestoßen«, sagte er. »Lass uns schneller gehen.« Und sie drangen weiter vor, ohne dass Catherine bemerkte, dass hinter ihnen ein Knäuel Schnur abgewickelt wurde.

Die Decke der Höhle schien niedriger zu werden und die Wände feuchter und – Catherine lachte über sich selbst, als sie das dachte -bedrohlicher. Ihr schien, als ob der Tunnel auf sie eindringe, drohend und bösartig. »Mir scheint, dass wir hier nicht willkommen sind«, sagte Catherine.

»Sei nicht albern, Cathy. Es ist schließlich nur eine Höhle.«

»Weshalb, meinst du, sind wir hier die einzigen?«

Larry zögerte. »Nicht viele wissen etwas von diesem Teil.«

Sie gingen weiter und weiter, bis Catherine schließlich jedes

Gefühl für Ort und Zeit verlor.

Der Gang wurde noch enger, und sie stießen sich immer wieder an unerwarteten scharfen Felsvorsprüngen zu beiden Seiten.

»Wie weit, meinst du, ist es noch?« fragte Catherine. »Wir müssten beinahe schon in China sein.«

»Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Ihre Stimmen klangen gedämpft und hohl, wie eine Reihe fortlaufend ersterbender Echos.

Jetzt wurde es kalt, aber es war eine feuchte, klamme Kälte. Catherine fror. Der Strahl der Taschenlampe fiel vor ihnen auf eine weitere Abzweigung. Sie gingen bis dorthin und blieben dann stehen. Der nach rechts führende Gang schien enger zu sein als der linke.

»Hier sollte man Wegweiser mit Neonleuchten anbringen«, sagte Catherine. »Wahrscheinlich sind wir schon zu weit gegangen.«

»Nein«, erwiderte Larry. »Ich bin sicher, dass wir uns nach rechts halten müssen.«

»Mir wird jetzt wirklich kalt, Liebling«, sagte sie. »Lass uns umkehren.«

Er drehte sich um und sah sie an. »Wir sind doch beinahe da, Cathy.« Er drückte ihren Arm. »Ich wärme dich, wenn wir wieder in unserem Bungalow sind.« Er bemerkte den zögernden Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Ich mach' dir einen Vorschlag. Wenn wir die Stelle in den nächsten zwei Minuten nicht finden, drehen wir um und gehen nach Hause. Einverstanden?«

Catherine wurde leichter ums Herz. »Einverstanden«, sagte sie dankbar.

»Dann komm.«

Sie drangen in den rechten Tunnel ein. Der Strahl der Taschenlampe zeichnete ein gespenstisches, schwankendes Muster auf dem grauen Fels vor ihnen. Catherine sah über die

Schulter zurück, und hinter ihr herrschte vollkommene Finsternis. Es war, als ob die kleine Taschenlampe aus der höllischen Finsternis ein Stück Helligkeit herausschälte, die sie wie ein winziger Mutterleib aus Licht umschloss und sie Schritt für Schritt weiter trug.

Plötzlich blieb Larry stehen. »Verdammt!« sagte er.

»Was ist denn?«

»Ich glaube, wir haben doch die falsche Richtung eingeschlagen.«

Catherine nickte. »Also gut, dann gehen wir eben zurück.«

»Ich will mich erst vergewissern. Warte hier auf mich.«

Sie blickte ihn überrascht an. »Wo willst du denn hin?«

»Nur wenige Schritte zurück zu der Abzweigung.« Seine Stimme klang gezwungen und unnatürlich.

»Ich komme mit dir.«

»Ich schaffe es allein schneller, Catherine. Ich will nur die Stelle überprüfen, an der wir das letzte Mal abgebogen sind.« Es klang ungeduldig. »In zehn Sekunden bin ich wieder da.«

»Gut«, und sie fügte sich voller Unbehagen.

Catherine blieb zurück und sah Larry nach, der sich umgedreht hatte und in die Dunkelheit eindrang, aus der sie gekommen waren, eingehüllt von einem Strahlenkranz aus Licht, wie ein schwebender Engel in den Eingeweiden der Erde. Einen Augenblick später war das Licht verschwunden, und sie war in der schwärzesten Dunkelheit versunken, die sie je erlebt hatte. Zitternd stand sie da, zählte in Gedanken die Sekunden. Und dann die Minuten.

Larry kam nicht zurück.

Catherine wartete, spürte die Finsternis um sich wie eine drohende, unsichtbare Dünung. Sie rief laut: »Larry!« Ihre Stimme war rau und unsicher, und sie räusperte sich und versuchte es noch einmal lauter: »Larry!« Sie konnte hören, wie der Laut schon wenige Schritte von ihr entfernt erstarb, von der Finsternis gemordet. Es war, als ob hier nichts leben

könnte, und Catherine begann die ersten tastenden Fühler des Entsetzens zu spüren. Selbstverständlich ist Larry gleich wieder da, sagte sie sich. Ich brauche nur hier stehen zubleiben und ruhig abzuwarten.

Die drohenden Minuten krochen vorbei, und sie begann sich vor Augen zu halten, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Larry konnte einen Unfall erlitten haben. Er konnte auf losen Steinen ausgeglitten und mit dem Kopf gegen einen der kantigen Vorsprünge an den Seitenwänden geschlagen sein. Vielleicht lag er in diesem Augenblick wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden und verblutete. Oder vielleicht hatte er sich verirrt. Die Taschenlampe konnte ausgegangen sein, und er war vielleicht irgendwo in den Eingeweiden der Höhle gefangen wie sie.

Das Gefühl des Erstickens begann Catherine zu packen, würgte sie, erfüllte sie mit sinnloser Panik. Sie drehte sich um und begann sich langsam in die Richtung vorzutasten, aus der sie gekommen war. Der Tunnel war eng, und falls Larry irgendwo hilflos und verletzt auf dem Boden lag, fand sie ihn vielleicht. Bald würde sie die Stelle erreichen, an der der Gang sich geteilt hatte. Sie bewegte sich vorsichtig, lose Steine rollten ihr unter den Füßen fort. Sie glaubte, in der Ferne einen Laut wahrzunehmen, und blieb stehen, um zu lauschen. Larry ? Er war verklungen, und sie bewegte sich weiter vor, und dann hörte sie wieder etwas. Es war ein schwirrendes Geräusch, so als ob jemand ein Tonbandgerät ablaufen ließe. Hier unten war jemand!

Catherine schrie laut auf und lauschte dann, wie der Klang ihrer Stimme von der Stille ertränkt wurde. Da war es wieder! Das schwirrende Geräusch. Es kam auf sie zu. Es wurde lauter, raste ihr mit einem heftigen, heulenden Windstoß entgegen. Es kam näher und näher. Plötzlich sprang es sie in der Dunkelheit an; kalte und klamme Haut streifte ihre Wange und küsste ihre Lippen, und sie spürte etwas auf ihrem Kopf krabbeln und scharfe Klauen in ihrem Haar, und ihr Gesicht wurde von zahllosen Schlägen wild trommelnder Schwingen eines namenlosen Gräuels getroffen, der sie in der Dunkelheit überfiel.

Sie wurde ohnmächtig.

Sie lag auf scharfen, spitzen Steinen, und die Schmerzen brachten sie zum Bewusstsein. Ihre Wange war warm und klebrig, und es dauerte eine Minute, bis Catherine begriff, dass es ihr eigenes Blut war. Sie erinnerte sich an die Schwingen und Klauen, die sie im Dunkeln attackiert hatten, und sie begann zu zittern.

In der Höhle gab es Fledermäuse.

Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie von Fledermäusen wusste. Irgendwo hatte sie gelesen, dass sie fliegende Ratten wären und in Scharen von Tausenden aufträten. Das einzige, was sie ihrem Gedächtnis noch entlocken konnte, war, dass es blutsaugende Fledermäuse, Vampire, gäbe, und diesen Gedanken verdrängte sie schleunigst wieder. Widerstrebend setzte Catherine sich auf, ihre aufgeschürften Handflächen brannten wie Feuer.

Du kannst hier nicht sitzen bleiben, sagte sie sich, du musst aufstehen und etwas unternehmen. Unter Schmerzen zwang sie sich auf die Füße. Sie hatte einen Schuh verloren, und ihr Kleid war zerrissen, aber Larry würde ihr morgen ein neues kaufen. Sie stellte sich vor, wie sie beide in den kleinen Laden im Ort unten gingen, lachend und glücklich, und für sie ein weißes Sommerkleid kauften, aber irgendwie wurde aus dem Kleid ein Fetzen, und wieder geriet sie in Panik. Sie musste sich zwingen, weiter an morgen zu denken und nicht an den Alptraum, der sie hier umfing. Sie musste weitergehen. Doch in welche Richtung? Sie hatte sich um sich selbst gedreht. Wenn sie in die falsche Richtung ging, würde sie noch tiefer in die Höhle geraten, aber sie wusste, dass sie hier nicht bleiben durfte. Catherine versuchte zu schätzen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie die Höhle betreten hatten. Es musste eine Stunde her sein, vielleicht sogar zwei Stunden. Sie konnte unmöglich wissen, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Bestimmt würde man nach Larry und ihr suchen. Aber was würde werden, wenn niemand sie vermisste? Es wurde nicht registriert, wer die Höhle betrat und sie verließ. Sie konnte für immer hier unten sein.

Sie zog den anderen Schuh aus und begann zu gehen, machte langsame, behutsame Schritte, streckte ihre brennenden Hände aus, um zu vermeiden, dass sie gegen die rauen Seiten des Tunnels stieß. Die längste Reise beginnt mit einem einzigen Schritt, sagte sich Catherine. Das sagen die Chinesen, und wie weise sie sind! Sie haben das Feuerwerk und Chop Suey erfunden und waren zu klug, sich in einer dunklen Höhle unter der Erde zu verirren, wo niemand sie finden konnte. Wenn ich weitergehe, werde ich auf Larry oder einige Touristen stoßen, und dann kehren wir ins Hotel zurück und nehmen einen Drink und lachen über das Ganze. Alles, was ich tun muss, ist weitergehen.

Plötzlich blieb sie stehen. In der Ferne konnte sie wieder das schwirrende Geräusch hören, das wie ein gespenstischer Geisterexpress auf sie zuraste, und sie zitterte am ganzen Körper und schrie. Einen Augenblick später waren sie über ihr, zu Hunderten, schwärmten über sie, schlugen mit ihren kalten, klammen Schwingen nach ihr und bedeckten sie mit ihren pelzigen Rattenkörpern in einem Alptraum unaussprechlichen Entsetzens.

Das letzte, woran sie sich erinnerte, ehe sie das Bewusstsein verlor, war, dass sie Larrys Namen rief.

Sie lag auf dem kalten, feuchten Boden der Höhle. Ihre Augen waren geschlossen, aber ihr Verstand war plötzlich hellwach, und sie dachte: Larry will mich töten. Es war, als ob ihr Unterbewusstsein ihr diesen Gedanken eingegeben hätte. In einer Reihe kaleidoskopartig aufleuchtender Bilder hörte sie

Larry sagen: Ich liebe eine andere ... ich will die Scheidung ..., und Larry kam mit ausgestreckten Händen durch die Wolke auf dem Berggipfel auf sie zu ... Sie erinnerte sich, wie sie den steilen Berg hinunterblickte und sagte: Es wird lange dauern, wieder hinunter zu steigen, und wie Larry sagte: Nein, nicht sehr... Und sie hörte Larry sagen: Wir brauchen keinen Führer ... Ich glaube, wir haben die falsche Richtung eingeschlagen. Warte hier ... ich bin in zehn Sekunden zurück ... Und dann kam die entsetzliche Finsternis.

Larry hatte gar nicht zu ihr zurückkommen wollen. Die Aussöhnung, die Hochzeitsreise ... das waren alles Vorspiegelungen, Teile eines Plans, sie zu ermorden. Die ganze Zeit über, als sie selbstgefällig Gott gedankt hatte, dass er ihr eine zweite Chance gab, hatte Larry geplant, sie zu töten. Und es war ihm gelungen, denn Catherine wusste, dass sie niemals hier herauskommen würde. Sie war lebendig in dieser schwarzen Gruft des Grauens begraben. Die Fledermäuse waren fort, aber sie spürte und roch den schmutzigen Schleim, den sie überall auf ihrem Gesicht und ihrem Körper zurückgelassen hatten, und sie wusste, dass sie wiederkommen würden. Sie wusste nicht, ob sie bei einem neuen Überfall ihren Verstand behalten würde. Bei dem Gedanken begann sie wieder zu zittern, und sie zwang sich, langsam und tief zu atmen.

Und dann hörte Catherine es wieder und wusste, dass sie es nicht noch einmal ertragen konnte. Es begann mit einem leisen Summen, und dann kam eine laute Welle von Geräuschen auf sie zu. Es folgte ein plötzlicher Angstschrei, und er hallte wider und wider durch die Dunkelheit, und die anderen Geräusche wurden lauter und lauter, und in dem schwarzen Tunnel tauchte Licht auf, und sie hörte Stimmen rufen, und Hände streckten sich nach ihr aus und hoben sie auf, und sie wollte sie vor den Fledermäusen warnen, aber sie musste weiter schreien, weiter schreien ...

Noelle und Catherine

Athen 1946

Sie lag still und starr, damit die Fledermäuse sie nicht finden konnten, und lauschte auf das Schwirren ihrer Schwingen mit fest geschlossenen Augen.

Eine Männerstimme sagte: »Es ist ein Wunder, dass wir sie gefunden haben.«

»Wird sie sich wieder erholen?«

Das war Larrys Stimme.

Plötzlich überflutete Catherine neues Entsetzen. Es war, als ob ihr Körper von kreischenden Nerven erfüllt wäre, die sie drängten zu fliehen. Ihr Mörder war gekommen. Sie stöhnte: »Nein ...« Dann öffnete sie die Augen. Sie lag in ihrem Bett im Bungalow. Larry stand am Fußende des Bettes und neben ihm ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Larry kam auf sie zu. »Catherine ...«

Sie zuckte zurück. »Fass mich nicht an!« Ihre Stimme war schwach und heiser.

»Catherine!« Larry sah tief besorgt aus.

»Schicken Sie ihn von hier fort«, flehte Catherine.

»Sie steht noch unter dem Schock«, sagte der Fremde. »Es ist vielleicht besser, wenn Sie im anderen Zimmer warten.«

Larry musterte Catherine einen Augenblick mit ausdruckslosem Gesicht. »Natürlich. Ich will nur ihr Bestes.« Er drehte sich um und ging hinaus.

Der Fremde trat näher. Er war ein kleiner dicker Mann mit freundlichem Gesicht und einem gewinnenden Lächeln. Er sprach englisch mit starkem Akzent. »Ich bin Doktor Kazomi-des. Sie haben ein sehr unerfreuliches Erlebnis hinter sich, Mrs. Douglas, aber ich versichere Ihnen, dass Sie sich wieder völlig erholen werden. Eine leichte Gehirnerschütterung und ein schwerer Schock, doch in wenigen Tagen sind Sie wieder ganz gesund.« Er seufzte. »Man sollte diese verdammten Höhlen schließen. Das war das dritte Unglück in diesem Jahr.«

Catherine wollte den Kopf schütteln, ließ es aber, weil er heftig zu schmerzen begann. »Es war kein Unglück«, sagte sie mit belegter Stimme. »Er hat versucht, mich zu töten.«

Er sah auf sie hinab. »Wer hat versucht, Sie zu töten?« Ihr Mund war ausgetrocknet und ihre Zunge geschwollen. Es fiel ihr schwer, die Worte herauszubringen. »M-mein Mann.«

»Nein«, widersprach er.

Er glaubte ihr nicht. Catherine schluckte und versuchte es noch einmal. »Er – er ließ mich in der Höhle zurück, damit ich sterbe.«

Er schüttelte den Kopf. »Es war ein Unglücksfall. Ich gebe Ihnen eine Spritze, und wenn Sie aufwachen, werden Sie sich viel wohler fühlen.«

Eine Welle der Angst durchflutete sie. »Nein!« flehte sie. »Begreifen Sie denn nicht? Ich werde nie wieder aufwachen. Bringen Sie mich von hier fort. Bitte!«

Der Arzt lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich habe Ihnen gesagt, dass es Ihnen bald wieder gut gehen wird, Mrs. Douglas. Was Sie brauchen, ist ein guter langer Schlaf.« Er griff in seine schwarze Ärztetasche und suchte nach einer Spritze.

Catherine versuchte sich aufzusetzen, aber ein schneidender Schmerz schoss ihr durch den Kopf, und im gleichen Augenblick war sie schweißgebadet. Sie fiel aufs Bett zurück, und in ihrem Kopf hämmerte es unerträglich.

»Sie dürfen sich noch nicht bewegen«, sagte Dr. Kazomides. »Sie haben Entsetzliches durchgemacht.« Er nahm die Spritze heraus, zog eine bernsteingelbe Flüssigkeit auf und wandte sich ihr zu. »Drehen Sie sich bitte um. Wenn Sie erwachen, werden Sie sich wie neu geboren fühlen.«

»Ich werde nicht mehr erwachen«, flüsterte Catherine. »Er wird mich im Schlaf ermorden.«

Das Gesicht des Arztes verriet Besorgnis. Er trat zu ihr. »Drehen Sie sich bitte um, Mrs. Douglas.«

Sie starrte ihn abweisend an.

Behutsam drehte er sie auf die Seite, schob ihr Nachthemd hoch, und sie spürte den scharfen Einstich an ihrer Hüfte. »Schon passiert.«

Sie rollte sich auf den Rücken zurück und flüsterte: »Jetzt haben Sie mich umgebracht.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Mrs. Douglas«, sagte der Arzt ruhig. »Wissen Sie, wie wir Sie gefunden haben?«

Sie wollte den Kopf schütteln, erinnerte sich aber an den Schmerz. Seine Stimme klang sanft. »Ihr Mann hat uns zu Ihnen geführt.«

Sie starrte ihn verständnislos an, begriff nicht, was er sagte.

»Er schlug die falsche Richtung ein und verirrte sich in der Höhle«, erklärte er. »Als er Sie nicht wieder finden konnte, geriet er außer sich. Er alarmierte die Polizei, und wir organisierten auf der Stelle einen Suchtrupp.«

Sie sah ihn an. Sie verstand immer noch nicht. »Larry ... hat Hilfe holen lassen?«

»Er war in einer scheußlichen Verfassung. Er machte sich die größten Vorwürfe.«

Sie lag da und versuchte zu begreifen, versuchte, sich auf diese neue Kenntnis einzustellen. Wenn Larry sie hätte töten wollen, hätte er keinen Suchtrupp organisiert und hätte nicht um ihre Sicherheit gebangt. Sie geriet in schreckliche Verwirrung. Der Arzt beobachtete sie mitfühlend.

»Sie werden jetzt schlafen«, befahl er ihr. »Ich komme morgen früh wieder, um nach Ihnen zu sehen.«

Sie hatte geglaubt, der Mann, den sie liebte, sei ein Mörder. Sie wusste, dass sie es Larry sagen und ihn um Verzeihung bitten musste, aber ihr Kopf wurde immer schwerer, und wieder und wieder fielen ihr die Augen zu. Ich sage es ihm später, dachte sie, wenn ich aufwache. Er wird verstehen und mir verzeihen. Alles wird wieder wundervoll, wie es war ...

Sie wurde von einem plötzlichen scharfen Krachen geweckt und riss die Augen auf. Ihr Puls raste. Stürmischer Regen prasselte gegen das Schlafzimmerfenster, und ein aufzuckender Blitz erhellte alles mit einem blassen bläulichen Licht, in dem das Zimmer wie ein überbelichtetes Farbfoto aussah. Der Wind krallte sich an das Haus, versuchte es von der Stelle zu jaulen, und der Regen knatterte auf das Dach und dröhnte gegen das Fenster wie tausend winzige Trommeln. Alle paar Sekunden folgte den Blitzen grollendes Donnerrollen.

Das Donnern hatte Catherine geweckt. Sie stützte sich auf und blickte auf die kleine Uhr neben dem Bett. Sie war benommen von dem Schlafmittel, das der Arzt ihr gegeben hatte, und sie musste die Augen zusammenkneifen, um die Zahlen auf dem Zifferblatt zu erkennen. Es war drei Uhr nachts. Sie war allein. Larry war sicher im anderen Zimmer und hielt, besorgt um sie, Nachtwache. Sie musste ihn sehen, um sich zu entschuldigen. Vorsichtig schob Catherine die Beine aus dem Bett und versuchte aufzustehen. Ihr wurde schwindlig, und sie drohte zu fallen. Sie klammerte sich an den Bettpfosten, bis die Welle verebbt war. Mit unsicheren Schritten schleppte sie sich zur Tür, ihre Muskeln waren steif, und das Dröhnen in ihrem Kopf wurde zu einem quälenden, schmerzenden Pochen. Einen Augenblick stand sie da, hielt sich an dem Türknauf, um sich zu stützen, dann öffnete sie die Tür und trat in den Wohnraum.

Larry war nicht da. In der Küche brannte Licht, und sie ging schwankend darauf zu. Larry stand mit dem Rücken zu ihr in der Küche, und sie rief: »Larry!« Aber das Grollen des Donners übertönte ihre Stimme. Ehe sie noch einmal rufen konnte, kam eine Frau in ihr Blickfeld. Larry sagte: »Es ist gefährlich für dich, dass du« Der heulende Wind machte seine nächsten Worte unverständlich.

»– musste kommen. Ich musste mich vergewissern, dass«

»– uns zusammen sehen. Niemand wird je —«

»– habe dir doch gesagt, ich würde dafür sorgen«

»– schiefging. Sie können uns gar nichts«

»– jetzt, während sie schläft«

Catherine stand wie gelähmt da, war unfähig, sich zu rühren. Es war, als ob sie stroboskopischen Klängen zuhörte, schnellen, peitschenden Wortfolgen. Der Rest der Sätze ging im heulenden Wind und im Krachen des Donners verloren.

»– wir müssen uns beeilen, ehe sie«

Alle die alten Schrecken kehrten zurück, ließen sie erbeben, verschlangen sie in unbeschreiblich widerwärtiger Panik. Ihr Alptraum war die Wahrheit gewesen. Er hatte versucht, sie zu töten. Sie musste von hier fort, ehe sie sie finden konnten, ehe sie von ihnen ermordet wurde. Langsam, am ganzen Körper zitternd, wich sie zurück. Sie stieß gegen eine Lampe, die umzufallen drohte, aber sie konnte sie noch rechtzeitig halten. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie befürchtete, man könnte es über den Lärm von Donner, Wind und Regen hinweg hören. Sie erreichte die Vordertür und öffnete sie, und der Wind riss sie ihr beinahe aus den Händen.

Catherine trat in die Nacht hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie war im Nu von dem kalten, peitschenden Regen durchnässt, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nur ihr dünnes Nachthemd anhatte. Es spielte keine Rolle. Die Flucht war das einzig Wichtige. Durch den strömenden Regen sah sie in der Ferne das Licht der Hotelhalle. Sie könnte hingehen und um Hilfe bitten. Aber würde man ihr glauben? Sie erinnerte sich an das Gesicht des Arztes, als sie ihm sagte, Larry wolle sie töten. Nein, man würde sie für hysterisch halten, würde sie Larry wieder ausliefern. Sie musste von hier fort. Sie ging auf den steilen, steinigen Pfad zu, der in den Ort hinunterführte.

Der stürmische Regen hatte den Pfad zu einem schlammigen, schlüpfrigen Morast aufgeweicht, der ihre Füße saugend festhielt und sie so behinderte, dass sie das Gefühl hatte, sie liefe in einem Alptraum und versuchte vergeblich, im Zeitlupentempo zu entkommen, während ihre Verfolger hinter ihr herrasten. Ständig glitt sie aus und fiel zu Boden, und ihre Füße bluteten von den scharfen Steinen auf dem Pfad, aber sie bemerkte es nicht. Sie stand unter einem Schock, bewegte sich wie ein Automat, fiel, wenn ein Windstoß sie niederwarf, raffte sich wieder auf und bewegte sich weiter auf dem Pfad bergab zum Ort hinunter, ohne zu bemerken, wo sie lief. Den strömenden Regen spürte sie nicht mehr.

Der Pfad ging plötzlich in eine dunkle, verlassene Straße am Rand des Ortes über. Sie taumelte weiter wie ein gehetztes Tier, ohne zu wissen, dass sie einen Fuß vor den anderen setzte, verstört von den grauenerregenden Geräuschen der Nacht und den zuckenden Blitzen, die den Himmel in ein Inferno verwandelten.

Sie erreichte den See und blieb stehen und starrte auf ihn hinaus, während der Wind an ihrem dünnen Nachthemd zerrte. Das stille Wasser hatte sich in ein kochendes, tobendes Meer verwandelt, von einem dämonischen Wind gepeitscht, der hohe, brutal gegeneinander prallende Wellen aufwühlte.

Catherine stand und versuchte sich zu erinnern, was sie hier wollte. Und plötzlich wusste sie es wieder. Sie war auf dem Weg zu Bill Fräser. Er wartete auf sie in seinem schönen Haus, damit sie heiraten könnten. Auf der anderen Seite des Wassers entdeckte Catherine ein schwaches gelbes Licht im strömenden Regen. Dort war Bill und wartete. Aber wie sollte sie zu ihm gelangen? Sie blickte nach unten und sah Ruderboote an ihren Anlegeplätzen liegen. Sie tanzten im schäumenden Wasser auf und ab und zerrten an ihrer Vertäuung.

Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie kletterte zu einem der Boote hinunter und stieg hinein. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht, als sie den Strick losband, der das Boot an der Landungsbrücke festhielt. Augenblicklich löste sich das Boot vom Steg, bäumte sich, plötzlich frei, mit den Wellen hoch auf. Catherine wurde von den Füßen gerissen. Sie zog sich auf eine Sitzbank und griff nach den Rudern, versuchte sich zu erinnern, wie Larry sie gehandhabt hatte. Aber es gab keinen Larry. Es musste Bill gewesen sein. Ja, sie erinnerte sich, wie Bill mit ihr gerudert war. Sie wollten seine Mutter und seinen Vater besuchen. Jetzt tauchte sie die Ruder ein, aber die riesigen Wellen warfen das Boot von Seite zu Seite und wirbelten es herum, und die Ruder wurden ihr aus den Händen gerissen und ins Wasser gezogen. Sie sah ihnen nach, bis sie ihrem Blick entschwanden. Das Boot wurde auf die Mitte des Sees zu getrieben. Catherine klapperte vor Kälte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Körper. Sie spürte, dass ihr etwas auf die Füße klatschte, blickte hinunter und sah, dass sich das Boot mit Wasser füllte. Sie weinte, weil ihr Hochzeitskleid nass werden würde. Bill Fräser hatte es ihr gekauft, und jetzt würde er böse auf sie sein.

Sie trug ein Hochzeitskleid, weil sie mit Bill in der Kirche war, und der Geistliche, der wie Bills Vater aussah, sagte: Wenn jemand gegen diese Ehe Einspruch erheben will, so tue er es jetzt oder ... Und dann kam die Stimme einer Frau, die sagte: Jetzt, während sie schläft... Und die Lichter gingen aus, und Catherine war wieder in der Höhle, und Larry drückte sie zu Boden, und die Frau goss Wasser über sie, um sie zu ertränken. Sie sah sich nach dem gelben Licht in Bills Haus um, aber es war verschwunden. Er wollte sie nicht mehr heiraten, und nun hatte sie niemanden.

Das Ufer war jetzt sehr weit entfernt, irgendwo hinter dem strömenden, peitschenden Regen, und Catherine war allein in der stürmischen Nacht mit dem kreischenden Geisterwind des meltemi in den Ohren. Das Boot begann verräterisch zu schwanken, als die riesigen Wellen dagegen schlugen, aber Catherine fürchtete sich nicht mehr. Eine köstliche Wärme erfüllte allmählich ihren Körper, und der Regen fühlte sich wie

Samt auf ihrer Haut an. Sie faltete die Hände wie ein kleines Kind und begann ein Gebet zu sprechen, das sie als kleines Mädchen gelernt hatte:

»Müde bin ich, geh' zur Ruh, schließe beide Augen zu. Vater, lass die Augen Dein über meinem Bettchen sein.«

Ein wunderbares Glücksgefühl erfüllte sie, weil sie wusste, dass jetzt alles gut werden würde. Sie war auf dem Weg nach Hause.

In diesem Augenblick ergriff eine große Welle das Heck des Bootes, und langsam kenterte es auf dem schwarzen grundlosen See.

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