ERSTES BUCH

Noelle

Chicago 1919-1939

Jede Großstadt hat ein charakteristisches Image, eine Individualität, die ihr ihren besonderen Stempel aufdrückt. Chicago in den Zwanzigern war ein ruheloser, dynamischer Riese, roh und ohne Manieren, mit einem gestiefelten Fuß noch in der rücksichtslosen Ära jener Industriemagnaten, die seine Geburtshelfer waren: William B. Ogden und John Wentworth, Cyrus McCormick und George M. Pullman. Es war ein Königreich, das den Philip Armours und Gustavus Swifts und Marshall Fields gehörte. Es war der Herrschaftsbereich kalter Berufsgangster wie Hymie Weiss und Scarface Al Capone.

Eine der frühesten Kindheitserinnerungen Catherine Alexanders war, wie ihr Vater sie in eine Bar, deren Boden mit Sägemehl bestreut war, mitnahm und sie auf den schwindelnd hohen Hocker schwang. Sie war fünf Jahre alt und erinnerte sich, wie stolz ihr Vater war, als Fremde um sie herumstanden, um sie zu bewundern. Alle diese Männer bestellten Getränke, und ihr Vater zahlte. Sie erinnerte sich, wie sie ihren kleinen Körper an seinen Arm gedrückt hatte, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Er war erst am Abend zuvor in die Stadt zurückgekehrt, und Catherine wusste, dass er bald wieder abfahren würde. Er war Handlungsreisender und hatte ihr erklärt, seine Arbeit führe ihn in ferne Städte, und manchmal müsse er monatelang von ihr und ihrer Mutter fort sein, damit er ihr hübsche Geschenke mitbringen könne. Catherine hatte verzweifelt versucht, ein Abkommen mit ihm zu treffen. Wenn er bei ihr bliebe, würde sie auf die Geschenke verzichten. Ihr Vater hatte lachend gesagt, sie sei ein frühreifes Kind, und war dann wieder weggefahren. Und es hatte sechs Monate gedauert, bis sie ihn wieder sah. In diesen frühen Jahren schien ihre Mutter, die sie täglich sah, eine verschwommene, gestaltlose

Person, während ihr Vater, den sie immer nur kurz sah, deutlich und wunderbar klar in ihrer Erinnerung stand. Catherine dachte an ihn als an einen gut aussehenden, lachenden Mann voll sprühenden Humors und freundlicher, hochherziger Gesten. Die wenigen Male, die er nach Hause kam, waren wie Feiertage, voller Vergnügungen und Geschenke und Überraschungen.

Als Catherine sieben war, wurde ihr Vater entlassen, und ihr Leben bekam einen anderen Zuschnitt. Sie verließen Chicago und zogen nach Gary, Indiana, wo er als Verkäufer in einem Juweliergeschäft tätig war. Catherine kam in ihre erste Schule. Sie hatte ein argwöhnisches Verhältnis auf Armeslänge zu den anderen Kindern und hatte Angst vor ihren Lehrern, die ihre einsame Unnahbarkeit als Dünkel missdeuteten. Ihr Vater kam jeden Abend zum Essen nach Hause, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Catherine, dass sie eine richtige Familie waren wie andere Familien. Sonntags gingen alle drei zum Miller Beach, mieteten sich Pferde und ritten ein oder zwei Stunden auf den Dünen. Catherine gefiel das Leben in Gary, aber sechs Monate nachdem sie hingezogen waren, verlor ihr Vater seine Anstellung wieder, und sie zogen nach Harvey, einer Vorstadt von Chicago. Das Schuljahr hatte schon angefangen, und Catherine war das neue Mädchen, von den Freundschaften ausgeschlossen, die sich bereits gebildet hatten. Sie wurde als Einzelgängerin bekannt. Im sicheren Schutz ihrer eigenen Gruppen überfielen die Kinder den schlaksigen Neuankömmling mit grausamem Spott.

In den nächsten Jahren legte Catherine sich einen Panzer der Gleichgültigkeit als Schild gegen die Angriffe der anderen Kinder zu. Wenn der Panzer durchstoßen wurde, schlug sie mit schneidendem, beißendem Witz zurück. Sie beabsichtigte, ihre Peiniger zu spalten, damit sie sie in Ruhe ließen, aber dies zeitigte eine unerwartet andere Wirkung. Sie arbeitete an der Schulzeitung mit, und in ihrer ersten Besprechung eines

Musicals, das ihre Klassenkameraden aufgeführt hatten, schrieb sie: »Tommy Beiden blies im zweiten Akt ein Trompetensolo – daneben.« Der Satz wurde überall zitiert, und – Überraschung über Überraschung – Tommy Beiden kam am nächsten Tag in der Halle auf sie zu und sagte Catherine, er habe ihn für urkomisch gehalten.

In Englisch erhielten die Schüler die Aufgabe, Captain Horatio Hornblower zu lesen. Catherine hasste das Buch. Ihre Rezension bestand nur aus einem Satz, der in Form eines Wortspiels, des Inhaltes etwa: »Er kläfft nur, aber er beißt nicht«, ein vernichtendes Urteil abgab. Sie bekam eine »Eins« dafür. Ihre Klassenkameraden fingen an, ihre Bonmots zu zitieren, und in kurzer Zeit war sie als der Schulwitzbold bekannt.

In jenem Jahr wurde Catherine vierzehn, und ihr Körper begann, Anzeichen einer reifenden Frau zu verraten. Stundenlang prüfte sie sich vor dem Spiegel, brütete darüber nach, wie sie die Katastrophe, die sie widergespiegelt sah, abwenden könnte. Im Inneren war sie Myrna Loy, die die Männer mit ihrer Schönheit verrückt machte, aber ihr Spiegel – ihr unerbittlicher Feind – zeigte hoffnungslos wuscheliges schwarzes Haar, das sich einfach nicht zähmen ließ, ernste graue Augen, einen Mund, der stündlich breiter zu werden schien, und eine leichte Stupsnase. Vielleicht war sie nicht eigentlich hässlich, sagte sie sich vorsichtig, andererseits aber würde niemand Türen einrennen, um sie als Filmstar zu verpflichten. Sie zog die Wangen ein, zwinkerte lasziv mit den Augen und versuchte, ein Fotomodell zu mimen. Deprimierend. Eine andere Pose: Augen weit aufgerissen, gespannter Gesichtsausdruck, ein breites, freundliches Lächeln. Zwecklos. Sie war auch nicht der amerikanische Typ. Sie war gar nichts. Ihr Körper würde sich gut entwickeln, nahm sie mürrisch an, aber etwas Besonderes würde er nicht werden. Und das natürlich wollte sie mehr als alles andere auf der Welt: etwas

Besonderes sein, jemand sein, an den man sich erinnerte, und nie, nie, nie sterben.

In dem Sommer, in dem sie fünfzehn war, kam Catherine Science and Health von Mary Baker Eddy in die Hände, und die nächsten vierzehn Tage stand sie eine Stunde täglich vor dem Spiegel mit dem festen Willen, ihr Spiegelbild schön erscheinen zu lassen. Am Ende dieser Zeit war die einzige feststellbare Veränderung eine neue Pustel auf ihrem Kinn und ein Pickel auf ihrer Stirn. Sie aß keine Süßigkeiten mehr, warf Mary Baker Eddy weg und schaute nicht mehr in den Spiegel.

Catherine und ihre Familie waren nach Chicago zurückgezogen und hatten sich eine kleine trostlose Wohnung auf der Nordseite, in Rogers Park, genommen, weil die Miete billig war. Das Land bewegte sich tiefer in eine Wirtschaftskrise hinein. Catherines Vater arbeitete weniger und trank mehr, und er und ihre Mutter brüllten sich in einer endlosen Reihe von Vorwürfen und Beschuldigungen fortwährend an, was Catherine aus dem Hause trieb. Sie ging dann an den Strand, der ein halbes Dutzend Häuserblocks entfernt lag, lief am Ufer entlang und ließ ihren mageren Körper von dem frischen Wind beflügeln. Stundenlang starrte sie auf den ruhelosen grauen See hinaus, von einer verzweifelten Sehnsucht erfüllt, die sie nicht definieren konnte. Manchmal wünschte sie sich etwas so sehnlich, dass sie plötzlich von einem unerträglichen Schmerz befallen wurde.

Catherine hatte Thomas Wolfe entdeckt, und seine Bücher waren wie ein Spiegelbild der bittersüßen Nostalgie, die sie erfüllte, aber es war Sehnsucht nach einer Zukunft, die noch nicht stattgefunden hatte, als habe sie irgendwann und irgendwo einmal ein wunderbares Leben geführt und trachte rastlos danach, es wieder zu leben. Ihre Periode stellte sich ein, und während sie sich physisch in eine Frau verwandelte, wusste sie, dass ihre Bedürfnisse, ihre Sehnsüchte, das schmerzhafte Erwarten nichts Physisches waren und mit Sex nichts zu tun hatten. Es war das glühende und drängende Verlangen, anerkannt zu werden, sich über die Milliarden Menschen hinauszuheben, die die Erde bevölkerten, dass jeder wüsste, wer sie war, dass die Leute, wenn sie vorbeigingen, sagen würden: »Das ist Catherine Alexander, die große -.« Die große was? Da lag der Hase im Pfeffer. Sie wusste ja gar nicht, was sie wollte, wusste nur, dass sie sich verzweifelt danach sehnte. Wenn sie genug Geld hatte, ging sie Sonnabend nachmittags ins Kino, ins State and Lake Theatre oder zu den McVickers oder ins Chicago. Dabei ging sie völlig auf in der wundervollen, blasierten Welt Cary Grants und Jean Arthurs, lachte über Wallace Beery und Marie Dressler und litt Todesqualen bei Bettie Davis' romantischen Katastrophen. Sie fühlte sich Irene Dünne näher als ihrer Mutter.

Catherine war in ihrem letzten Semester auf der Senn High School, und ihr Erzfeind, der Spiegel, war endlich ihr Freund geworden. Das Mädchen im Spiegel hatte ein lebhaftes, interessantes Gesicht. Ihr Haar war kohlrabenschwarz und ihr Teint zart, kremigweiß. Sie hatte regelmäßige und feine Züge, einen edlen, sensiblen Mund und intelligente graue Augen. Ihre Figur war gut, ihre Brüste waren gut entwickelt, sie hatte sanft gewölbte Hüften und wohlgeformte Beine. Ein Hauch von Zurückhaltung war ihr eigen, ein Hochmut, dessen Catherine sich nicht bewusst war, als ob ihr Spiegelbild ein Charakteristi-kum besäße, das sie nicht hatte. Sie nahm an, dass es ein Teil des Schutzpanzers war, den sie seit ihren frühen Schultagen getragen hatte.

Die Depression hatte die Nation immer fester gepackt, hatte sie in eine Schraube genommen, die sich unaufhörlich zuzog. Catherines Vater war ständig in große Geschäfte verwickelt, die sich nicht zu verwirklichen schienen. Dauernd heckte er Pläne aus, machte Erfindungen, die Millionen Dollar einbringen würden. Er erfand einen Wagenheber, der oberhalb der Reifen eines Autos angebracht werden sollte und mittels eines

Knopfdrucks am Armaturenbrett bedient wurde. Keine der Autofabriken war interessiert. Er arbeitete ein rotierendes elektrisches Reklameschild für Warenhäuser aus. Es gab ein kurzes Aufflackern optimistischer Konferenzen, und dann verschwand die Idee in der Versenkung.

Er lieh sich Geld von seinem jüngeren Bruder Ralph in Omaha, um einen LKW für Schuhreparaturen auszurüsten, der in der Nachbarschaft herumfahren sollte. Stundenlang besprach er den Plan mit Catherine und ihrer Mutter. »Es kann nicht schief gehen«, erklärte er. »Stellt euch vor, der Schuhmacher kommt direkt vor die Haustür! Das hat noch keiner gemacht. Jetzt habe ich ein Schuhmobil draußen, stimmt's? Wenn es nur 20 Dollar pro Tag einbringt, dann sind das 120 Dollar in der Woche. Zwei LKW bringen 240 die Woche. In einem Jahr werde ich zwanzig Wagen haben. Das bedeutet 2400 Dollar die Woche. 125 000 im Jahr. Und das ist erst der Anfang ...« Zwei Monate später verschwanden der Schuhmacher und der LKW, und das war wieder einmal das Ende eines Traumes.

Catherine hatte gehofft, auf die Northwestern University gehen zu können. Sie war die Beste ihrer Klasse, aber selbst mit einem Stipendium würde es schwer werden, und der Tag näherte sich, das wusste Catherine, an dem sie von der Schule abgehen und sich eine Ganztagsarbeit suchen müsste. Sie würde sich eine Anstellung als Sekretärin verschaffen, war aber entschlossen, den Traum nie aufzugeben, der ihrem Leben eine so kostbare, wundervolle Bedeutung geben würde; und die Tatsache, dass sie nicht wusste, was der Traum oder seine Bedeutung wirklich waren, machte alles um so unerträglich trauriger und aussichtsloser. Sie sagte sich, wahrscheinlich befinde sie sich im späteren Abschnitt des Jugendalters. Ganz gleich, was es war, es war die Hölle. Kinder sind zu jung, um diesen Altersabschnitt durchzumachen, dachte sie verbittert.

Es gab zwei Jungen, die glaubten, in Catherine verliebt zu sein. Der eine war Tony Korman, der später einmal in das

Anwaltsbüro seines Vaters eintreten sollte und der dreißig Zentimeter kleiner als Catherine war. Er hatte eine käsige Haut und kurzsichtige, wässerige Augen, die sie bewundernd anblickten. Der andere war Dean McDermott, der dick und schüchtern war und Zahnarzt werden wollte. Dann war da natürlich Ron Peterson, aber der gehörte in eine eigene Kategorie. Ron war der Fußballstar von Senn High, und jedermann sagte, es sei eine todsichere Sache, dass er mit einem Sportstipendium aufs College gehen werde. Er war groß, breitschultrig, sah wie ein Matinee-Idol aus und war mit Abstand der beliebteste Junge in der Schule.

Das einzige, was Catherine davon abhielt, sich sofort mit Ron einzulassen, war die Tatsache, dass er von ihr überhaupt keine Notiz nahm. Jedes Mal, wenn sie im Schulkorridor an ihm vorüberging, klopfte ihr Herz wild. Sie dachte sich etwas Kluges und Herausforderndes aus, was sie zu ihm sagen würde, damit er sich mit ihr verabredete. Doch wenn sie sich ihm näherte, war ihre Zunge wie gelähmt, und sie gingen schweigend aneinander vorüber.

Das finanzielle Problem wurde jetzt brennend. Seit drei Monaten war die Miete überfällig, und der einzige Grund, weshalb sie nicht an die Luft gesetzt worden waren, lag darin, dass die Hausbesitzerin von Catherines Vater und seinen bombastischen Plänen und Erfindungen bestrickt war. Wenn Catherine ihm zuhörte, wurde sie von bitterer Traurigkeit erfüllt. Er war immer noch der alte, heiter, optimistisch, aber sie konnte hinter die löcherige Fassade blicken. Der wunderbare, sorglose Charme, der allem, was er tat, immer eine Patina von Frohsinn gegeben hatte, war verblichen. Er erinnerte Catherine an einen kleinen Jungen im Körper eines Mannes mittleren Alters, der Geschichten von der glorreichen Zukunft zusammenphantasierte, um die schäbigen Niederlagen der Vergangenheit zu verbergen. Mehr als einmal hatte sie es erlebt, dass er eine Dinner Party für ein Dutzend Leute bei

Henrici gab und am Schluss einen seiner Gäste quietsch vergnügt beiseite nahm und ihn anpumpte, um die Rechnung, plus einem fürstlichen Trinkgeld natürlich, bezahlen zu können. Immer großzügig, denn das war er seinem Ruf schuldig. Doch trotz all dieser Dinge und obgleich Catherine sich im klaren war, dass er ein nachlässiger und gleichgültiger Vater war, liebte sie diesen Mann, liebte seinen Enthusiasmus und seine lächelnde Energie in einer Welt mürrischer, grämlicher Menschen. Das war seine Begabung, und er war immer sehr großzügig damit umgegangen.

Am Ende, dachte Catherine, ging es ihm besser mit seinen wundervollen Träumen, die nie Wirklichkeit wurden, als ihrer Mutter, die sich fürchtete, überhaupt zu träumen.

Im April starb Catherines Mutter an einem Herzanfall. Es war Catherines erste Konfrontation mit dem Tod. Freunde und Nachbarn standen in der kleinen Wohnung herum, drückten ihr Beileid aus, mit der falschen geflüsterten Frömmigkeit, die das Unglück beschwört.

Der Tod hatte Catherines Mutter zu einer winzigen verwelkten Gestalt zusammenschrumpfen lassen, ohne Säfte oder Lebenskraft, oder vielleicht hatte das Leben ihr das schon angetan, dachte Catherine. Sie versuchte, Erinnerungen an ihre Mutter wachzurufen, an Ereignisse, die sie zusammen erlebt hatten, an Dinge, über die sie zusammen gelacht hatten, an Augenblicke, in denen ihre Herzen sich berührt hatten; aber immer wieder trat Catherines Vater vor ihr inneres Auge, lächelnd, eifrig und fröhlich. Es war, als wäre das Leben ihrer Mutter ein blasser Schatten, der vor dem Licht der Erinnerung entwich. Catherine starrte auf die wächserne Gestalt ihrer Mutter im Sarg, in einem einfachen schwarzen Kleid mit weißem Kragen, und dachte, was für ein vergeudetes Leben ist es gewesen. Und wozu alles ? Was Catherine schon vor Jahren empfunden hatte, kam wieder über sie, die Entschlossenheit, jemand zu werden, der Welt einen

Stempel aufzudrücken, so dass sie nicht in einem anonymen Grab enden würde und die Welt weder wüsste noch sich darum kümmerte, dass Catherine Alexander je gelebt hatte und gestorben und der Erde zurückgegeben worden war.

Zur Beerdigung kamen Catherines Onkel Ralph und seine Frau Pauline aus Omaha angeflogen. Ralph war zehn Jahre jünger als Catherines Vater und ähnelte seinem Bruder gar nicht. Er war in der Vitamin-Versandbranche tätig und sehr erfolgreich. Er war ein großer vierschrötiger Mann mit breiten Schultern, breitem Kinn und, wie Catherine überzeugt war, von anständiger Gesinnung. Seine Frau war wie ein Vogel, alles flatterte und zwitscherte an ihr. Es waren ehrbare Leute, und Catherine wusste, dass ihr Onkel seinem Bruder eine ganze Menge Geld geliehen hatte; andererseits spürte Catherine, dass sie nichts mit ihnen gemein hatte. Wie ihre Mutter waren es Menschen ohne Träume.

Nach der Beerdigung sagte Onkel Ralph, er wolle mit Catherine und ihrem Vater sprechen. Sie saßen in dem winzigen Wohnzimmer, Pauline huschte mit Tabletts mit Kaffee und Gebäck hin und her.

»Ich weiß, dass du finanziell ziemlich schwere Zeiten durchgemacht hast«, sagte Onkel Ralph zu seinem Bruder. »Du bist ein Träumer, warst es schon immer, aber du bist mein Bruder. Ich kann dich nicht untergehen lassen. Pauline und ich haben es besprochen. Ich möchte, dass du bei mir arbeitest.«

»In Omaha?«

»Du wirst ein gutes regelmäßiges Einkommen haben, und du kannst mit Catherine bei uns wohnen. Wir haben ein großes Haus.«

Catherines Herzschläge setzten aus. Omaha! Das Ende all ihrer Träume.

»Gib mir Bedenkzeit«, sagte ihr Vater.

»Wir werden den Sechs-Uhr-Zug nehmen«, erwiderte Onkel Ralph. »Lass mich deine Entscheidung wissen, ehe wir fahren.«

Als Catherine und ihr Vater allein waren, stöhnte er: »Oma-ha! Ich wette, die haben nicht mal ein anständiges Friseurgeschäft da.«

Aber Catherine wusste, dass er nur ihretwegen dieses Theater spielte. Anständiges Friseurgeschäft hin oder her, er hatte keine andere Wahl. Das Leben hatte ihn endlich zur Strecke gebracht. Sie fragte sich, wie es auf seine Gemütsverfassung wirken würde, wenn er sich an einen festen, langweiligen Job mit regelmäßigen Arbeitsstunden gewöhnen musste. Er wäre wie ein gefangener Vogel, der mit den Flügeln gegen die Käfigstäbe schlüge und an der Gefangenschaft stürbe. Was sie betraf, würde sie sich das Studium an der Northwestern University aus dem Kopf schlagen müssen. Sie hatte ein Stipendium beantragt, aber seither nichts mehr gehört. An jenem Nachmittag rief ihr Vater seinen Bruder an und sagte ihm, er würde die Stellung annehmen.

Am nächsten Morgen ging Catherine zum Rektor, um ihm zu erklären, dass sie auf eine Schule in Omaha überwechseln werde. Er stand hinter seinem Schreibtisch und sagte, ehe sie überhaupt den Mund aufmachen konnte: »Gratuliere, Catherine, Sie haben ein Vollstipendium für die Northwestern University gewonnen.« Catherine und ihr Vater besprachen die Sache eingehend an jenem Abend, und dann wurde beschlossen, dass er nach Omaha ziehe und Catherine auf die North-western ginge und in einem der Studentenwohnheime auf dem Campus lebe. Und zehn Tage später brachte Catherine ihren Vater zum La Salle Street Bahnhof, um sich von ihm zu verabschieden. Sie war von einem tiefen Einsamkeitsgefühl über seine Abreise durchdrungen, von einer Traurigkeit über das Abschiednehmen von dem Menschen, den sie am meisten liebte; und doch war sie begierig, den Zug abfahren zu sehen, von einer köstlichen Erregung bei dem Gedanken erfüllt, dass sie frei sein und zum ersten Mal ihr eigenes Leben führen würde. Sie stand auf dem Bahnsteig, sah das Gesicht ihres Vaters, an das Wagenfenster gepresst, um sie noch einmal zu sehen; ein ärmlich, gut aussehender Mann, der immer noch ehrlich glaubte, dass ihm eines Tages die Welt gehören würde.

Auf dem Heimweg erinnerte Catherine sich an etwas und lachte laut heraus. Um nach Omaha zu fahren, wo er eine dringend nötige Stellung antreten sollte, hatte ihr Vater ein Privatabteil gebucht.

Der Immatrikulationstag an der Northwestern war von kaum erträglicher Erregung erfüllt. Für Catherine hatte er eine ganz besondere Bedeutung, die sie nicht in Worte fassen konnte: Es war der Schlüssel, der die Tür öffnen würde zu all den Träumen und unaussprechlichen Ambitionen, die ihr Inneres schon so lange verzehrt hatten. Sie blickte sich in dem großen Saal um, wo Hunderte von Studenten sich angestellt hatten, um sich einzuschreiben, und dachte: Eines Tages werdet ihr alle wissen, wer ich bin. Ihr werdet sagen: »Ich ging mit Catherine Alexander auf die Uni.« Sie belegte die Höchstzahl aller Kurse und wurde einem Wohnheim zugewiesen. Am selben Morgen fand sie eine Nachmittags-Stellung als Kassiererin im Roost, einer beliebten Imbissstube mit Sandwiches und Bier gegenüber dem Campus. Ihr Gehalt betrug 15 Dollar die Woche, und wenn sie sich davon auch keinen Luxus leisten konnte, so reichte es doch für ihre Schulbücher und die nötigsten Anschaffungen.

Um die Mitte ihres zweiten Studienjahres kam Catherine zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich die einzige Jungfrau auf dem ganzen Campus war. In ihren Entwicklungsjahren hatte sie manchmal Unterhaltungsfetzen aufgeschnappt, wenn die Erwachsenen über Sex gesprochen hatten. Es klang wunderbar, und sie hatte nur die eine Angst, dass alles vorbei wäre, bis sie alt genug sein würde, um sich daran zu erfreuen. Jetzt sah es so aus, als ob sie recht gehabt hätte. Jedenfalls, soweit es sie betraf. Sex schien das einzige Gesprächsthema in den Schlafsälen, in den Klassenräumen, den Waschräumen und im Roost zu sein. Überall wurde darüber gesprochen, und Catherine war über die Offenheit dieser Unterhaltungen entsetzt.

»Jerry ist unglaublich. Er ist wie King Kong.«

»Meinst du seinen Schwanz oder sein Hirn?«

»Er braucht kein Hirn, Liebling. Ich bin gestern Abend sechsmal fertig geworden.«

»Bist du mal mit Ernie Robbins ausgegangen? Der ist klein, aber stark.«

»Alex hat mich um ein Rendezvous heut Abend gebeten. Wo ist der Schwindel?«

»Der Schwindel ist Alex. Kannst dir die Mühe sparen. Letzte Woche hat er mich zum Strand mitgenommen. Er zog mir den Schlüpfer aus und fummelte an mir herum, und ich fummelte an ihm herum, aber ich konnte ihn nicht finden.« Gelächter.

Catherine fand diese Unterhaltungen ordinär und widerlich, und doch versuchte sie, sich kein Wort entgehen zu lassen. Es war eine Übung in Masochismus. Wenn die Mädchen ihre sexuellen Heldentaten schilderten, stellte Catherine sich selbst mit einem Jungen im Bett vor und wie er sie rasend leidenschaftlich umarmte. Sie fühlte dann einen physischen Schmerz in der Leiste und drückte die Fäuste fest auf die Schenkel, versuchte, sich weh zu tun, damit sie den anderen Schmerz nicht spürte. Mein Gott, dachte sie, ich werde als Jungfrau sterben. Die einzige neunzehnjährige Jungfrau an der North-western. Was heißt Northwestern, vielleicht sogar in den Vereinigten Staaten! Die Jungfrau Catherine. Die Kirche wird mich heilig sprechen, und man wird einmal im Jahr Kerzen für mich anzünden. Was ist eigentlich mit mir los? Ich werde dir's sagen, antwortete sie sich selbst. Niemand hat dich aufgefordert, und es gehören zwei dazu. Ich meine, wenn man es richtig machen will, gehören zwei dazu.

Der meistgenannte Name in den Sexunterhaltungen der Mädchen war Ron Peterson. Er hatte sich an der Northwestern aufgrund eines Sportstipendiums eingeschrieben und war hier so beliebt, wie er es in der Senn High School gewesen war. Er war zum Vorsitzenden der ersten Semesterklasse gewählt worden. Catherine sah ihn in ihrem Lateinkurs am Tag des Semesterbeginns. Er sah noch besser aus als in der High School, war etwas kräftiger geworden, und sein Gesichtsausdruck hatte eine ruppige Hol's-der-Teufel-Reife angenommen. Nach dem Unterricht ging er auf sie zu, und ihr Herz fing an zu klopfen.

Catherine Alexander!

Hallo, Ron.

Bist du in dieser Klasse?

Ja.

Was für eine Chance für mich.

Wieso?

Wieso? Weil ich nichts von Latein verstehe und du ein Genie

bist. Wir werden uns wunderbar verstehen. Hast du etwas vor

heute Abend?

Nichts Besonderes. Sollen wir zusammen arbeiten?

Gehen wir an den Strand, wo wir allein sein können. Arbeiten

können wir immer noch.

Er starrte sie an.

»He! ... äh ... ?« Er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern.

Sie schluckte, versuchte selbst verzweifelt, sich daran zu erinnern. »Catherine«, sagte sie schnell, »Catherine Alexander.«

»Yeah. Wie gefällt es dir hier? Toll, was?«

Ihre Stimme sollte eifrig klingen, sie wollte ihm gefallen, ihm zustimmen, um ihn werben. »O ja«, sprudelte sie heraus, »es ist das«

Er blickte zu einem phantastischen blonden Mädchen hinüber, das an der Tür auf ihn wartete. »Wiedersehen«, sagte er und ging zu dem Mädchen.

Und das war das Ende der Geschichte von Aschenbrödel und dem Prinzen, dachte sie. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, er in seinem Harem und sie in einer windigen Höhle in Tibet.

Von Zeit zu Zeit sah Catherine Ron durch den Campus schlendern, immer mit einem anderen Mädchen und manchmal mit zwei oder drei. Mein Gott, kriegt er's nicht endlich mal satt? fragte sie sich. Sie stellte sich immer noch vor, dass er eines Tages zu ihr kommen würde, um sich in Latein von ihr helfen zu lassen, aber er sprach sie nie mehr an.

Nachts, einsam in ihrem Bett, dachte Catherine an all die anderen Mädchen, die in den Armen ihrer Boyfriends lagen, und der Boy, der zu ihr kam, war stets Ron Peterson. In ihrer Vorstellung zog er sie aus, und dann zog sie ihn langsam aus, wie sie's immer in den Liebesromanen machten; zuerst sein Hemd, und dann strich sie ihm sanft über die Brust, dann machte sie ihm die Hose auf und zog ihm die Shorts herunter. Er hob sie auf und trug sie zum Bett. Und hier pflegte Catheri-nes Sinn für Komik die Oberhand zu gewinnen: Er verrenkte sich den Rücken und klappte zusammen, vor Schmerz stöhnend und jammernd. Idiotin, sagte sie sich, du kannst es nicht mal in der Phantasie richtig machen. Vielleicht sollte sie ins Kloster gehen. Ob Nonnen auch sexuelle Vorstellungen hatten, und war es eine Sünde für sie zu onanieren? Ob Priester je Geschlechtsverkehr hatten?

Sie saß in einem kühlen, von Bäumen beschatteten Hof in einer reizenden alten Abtei außerhalb Roms und plätscherte mit den Fingern in dem Sonnen durch wärmten Wasser eines uralten Fischteiches. Die Pforte öffnete sich, und ein großer Priester betrat den Hof. Er trug einen breitrandigen Hut und eine schwarze Soutane und sah genau wie Ron Peterson aus.

Ah, scusi, signorina, sagte er leise, ich wusste nicht, dass ich einen Gast habe.

Catherine sprang schnell auf. Ich dürfte eigentlich nicht hier

sein, entschuldigte sie sich. Aber es war so schön, dass ich mich setzen und es ganz in mich aufnehmen musste.

Sie sind höchst willkommen. Er trat auf sie zu, und seine dunklen Augen funkelten. Mm cara ... ich belog Sie.

Sie belogen mich?

Ja. Seine Augen bohrten sich in die ihren. Ich wusste, dass Sie hier waren, weil ich Ihnen nachging.

Sie fühlte, wie sie innerlich bebte. Aber – aber, Sie sind Priester.

Bella signorina, ich bin zuerst ein Mann und dann ein Priester. Er stürzte vor, um sie in die Arme zu reißen, stolperte über den Saum seiner Soutane und fiel in den Fischteich.

Scheiße!

Ron Peterson kam jeden Tag nach den Vorlesungen ins Roost und nahm seinen Stammplatz in der Nische in der gegenüberliegenden Ecke ein. Die Nische füllte sich schnell mit seinen Freunden und wurde zum Mittelpunkt ausgelassener Unterhaltungen. Catherine stand hinter der Theke neben der Registrierkasse, und wenn Ron eintrat, nickte er ihr freundlich und abwesend zu und ging weiter. Er redete sie nie mit ihrem Namen an. Er hat ihn vergessen, dachte Catherine.

Aber jeden Tag schenkte sie ihm, wenn er hereinkam, ein breites Lächeln und wartete darauf, dass er Hallo sagte, sie um ein Rendezvous, ein Glas Wasser, ihre Jungfernschaft oder was immer bat. Sie hätte genauso gut ein Möbelstück sein können. Wenn sie die anwesenden Mädchen mit absoluter Objektivität musterte, kam sie zu dem Schluss, dass sie hübscher war als alle, außer einer, der phantastisch aussehenden Jean-Anne, der Blondine aus den Südstaaten, mit der Ron am häufigsten gesehen wurde. Außerdem war sie bestimmt intelligenter als alle zusammen. Was also um Himmels willen stimmte nicht mit ihr? Warum bat kein einziger Junge sie um ein Rendezvous? Die Antwort sollte sie am nächsten Tag erhalten.

Sie ging eilig durch den Campus zum Roost hinüber, als sie

Jean-Anne und eine Brünette, die sie nicht kannte, über den Rasen auf sich zukommen sah.

»Ach, da ist ja Miss Geistreich«, sagte Jean-Anne.

Und Miss Dussel, dachte Catherine neidisch. Laut sagte sie: »Was für ein mörderisches Literatur-Quiz, nicht wahr?«

»Sei nicht so herablassend«, entgegnete Jean-Anne. »Du kannst genug, um den Literaturkurs abzuhalten. Und das ist noch nicht alles, was du uns beibringen könntest, nicht wahr, Süße?«

Etwas in ihrem Ton trieb Catherine die Röte in die Wangen.

»Ich – äh – verstehe nicht.«

»Lass sie in Ruhe«, sagte die Brünette.

»Warum denn?« fragte Jean-Anne. »Für wen zum Teufel hält sie sich eigentlich?« Sie wandte sich an Catherine. »Willst du wissen, was alle von dir sagen?«

Gott, nein. »Ja.«

»Du seiest eine Lesbierin.«

Catherine starrte sie ungläubig an. »Ich soll was sein?«

»Eine Lesbierin, Baby. Du täuschst niemanden mit deinem Heiligenschein-Getue.«

»Das – das ist lächerlich«, stammelte Catherine.

»Glaubtest du wirklich, du könntest die Leute zum Narren halten?« fragte Jean-Anne. »Fehlt bloß noch, dass du ein Schild um den Hals trägst.«

»Aber ich – ich habe nie«

»Die Jungs bringen ihn für dich hoch, aber du lässt sie ihn nie reinstecken.«

»Wirklich«, platzte Catherine heraus.

»Hau ab«, sagte Jean-Anne. »Du bist nicht unser Typ.«

Sie gingen weiter, und sie sah ihnen wie betäubt nach.

In jener Nacht lag Catherine schlaflos im Bett.

Wie alt sind Sie, MISS Alexander?

Neunzehn.

Haben Sie je Geschlechtsverkehr mit einem Mann gehabt?

Noch nie.

Mögen Sie Männer?

Natürlich, wer mag sie nicht?

Haben Sie je das Verlangen gehabt, eine Frau zu lieben?

Catherine dachte lange und intensiv darüber nach. Natürlich war sie gelegentlich in andere Mädchen verschossen gewesen, in Lehrerinnen, aber das war Teil ihrer Entwicklung gewesen. Jetzt überlegte sie, wie es wäre, mit einer Frau Zärtlichkeiten auszutauschen, eng umschlungen, ihre Lippen auf die einer anderen Frau gepresst, ihr Körper von weichen, weiblichen Händen liebkost. Es schauderte sie. Nein! »Ich bin normal«, sagte sie laut. Aber wenn sie normal war, warum lag sie dann hier, allein? Warum war sie nicht irgendwo draußen und ließ sich aufs Kreuz legen wie alle anderen in der Welt? Vielleicht war sie frigide. Vielleicht müsste sie sich operieren lassen? Eine Leukotomie wahrscheinlich.

Als sich der Himmel im Osten hinter dem Schlafsaalfenster zu lichten begann, waren Catherines Augen immer noch offen, aber sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde ihre Jungfernschaft verlieren. Und der Glückliche würde der Hans Dampf in jedem Mädchenbett sein – Ron Peterson.

Marseille-Paris

1919-1939

Sie wurde als Prinzessin geboren.

Ihre frühesten Erinnerungen gingen auf eine weiße, mit einem Spitzenhimmel versehene Korbwiege zurück, die mit rosa Bändern verziert und mit weichen Stofftieren und schönen Puppen und goldenen Klappern gefüllt war. Schnell merkte sie, dass, wenn sie den Mund auftat und aus Leibeskräften schrie, jemand eilends herbeikam, um sie zu halten und zu trösten. Als sie ein halbes Jahr alt war, fuhr ihr Vater sie im Kinderwagen in den Garten, ließ sie die Blumen anrühren und sagte: »Sie sind schön, Prinzessin, aber du bist schöner als alle von ihnen.«

Sie hatte es gern, wenn ihr Vater sie zu Hause in seinen starken Armen hochhob und an ein Fenster trug, wo sie hinausblicken und die Dächer der hohen Gebäude sehen konnte. Und dann sagte er immer: »Das ist dein Königreich da draußen, Prinzessin.« Er zeigte auf die Masten der in der Bucht vor Anker schaukelnden Schiffe. »Siehst du diese großen Schiffe? Eines Tages wirst du sie alle unter deinem Kommando haben.«

Gäste kamen manchmal ins Schloss, um sie zu sehen, doch nur wenigen war es erlaubt, sie zu halten. Die anderen starrten auf sie in ihrem Kinderbettchen hinunter und konnten sich nicht genugtun über ihre unglaublich feinen Gesichtszüge, ihr entzückendes blondes Haar, ihre zarte, honigfarbene Haut, und ihr Vater sagte ganz stolz: »Selbst ein Unerfahrener würde sofort sehen, dass sie eine Prinzessin ist!« Und dann beugte er sich über ihr Bettchen und flüsterte: »Eines Tages wird ein schöner Prinz kommen und dich fortführen.« Und er wickelte sanft die warme rosa Decke um sie, und sie versank in einen zufriedenen Schlaf. Ihre Welt war ein rosaroter Traum von Schiffen, hohen Masten und Schlössern, und erst mit fünf Jahren begriff sie, dass sie die Tochter eines Marseiller Fischhändlers war, dass die Schlösser, die sie vom Fenster ihres Mansardenzimmers sah, die Lagerhäuser am Rande des stinkenden Fischmarktes waren, wo ihr Vater arbeitete, und dass ihre Marine aus der Flotte der alten Fischerboote bestand, die jeden Morgen vor Sonnenaufgang ausfuhr und am Nachmittag zurückkehrte, um ihre übel riechende Fracht in die Hafendocks auszuspeien.

Solcherart war das Königreich Noelle Pages.

Noelles Vater wurde von seinen Freunden gewarnt, was er tue, sei falsch. »Du darfst ihr keine Phantastereien in den Kopf setzen, Jacques. Sie wird sich für etwas Besseres halten als andere.« Und ihre Prophezeiungen sollten sich bewahrheiten.

Oberflächlich betrachtet ist Marseille eine gewalttätige Stadt, von jener Art primitiver Gewalttätigkeit, wie sie in jeder Hafenstadt entsteht, die von hungrigen Seeleuten mit zuviel Geld und schlauen Räubern, die es ihnen wieder abnehmen, wimmelt. Jedoch unterscheidet sich das Volk von Marseille von den übrigen Franzosen dadurch, dass es ein Solidaritätsgefühl hat, das vom gemeinsamen Existenzkampf herrührt, denn das Herzblut der Stadt kommt vom Meer, und die Fischer von Marseille gehören zur Fischerfamilie der ganzen Welt. Sie haben gleichermaßen Anteil an den Stürmen und den ruhigen Tagen, den plötzlichen Katastrophen und den reichen Ernten.

So kam es, dass Jacques Pages Nachbarn sich über sein Glück, eine solch unwahrscheinliche Tochter zu haben, freuten. Auch sie erkannten das Wunderbare, dass aus dem Mist der schmutzigen, ordinären Stadt eine echte Prinzessin hervorgegangen war.

Noelles Eltern kamen gar nicht über das Wunder der auserlesenen Schönheit ihrer Tochter hinweg. Noelles Mutter war eine plumpe Frau mit groben Zügen, Hängebrüsten, dicken Schenkeln und breiten Hüften. Noelles Vater war untersetzt, hatte breite Schultern und die kleinen misstrauischen Augen eines Bretonen. Sein Haar hatte die Farbe des nassen Sandes an den Stranden der Normandie. Anfänglich hatte es ihm geschienen, als habe die Natur einen Fehler gemacht, als könnte dieses feine blonde Märchengeschöpf nicht wirklich ihm und seiner Frau gehören, und wenn Noelle älter würde, müsste sie ein gewöhnliches, hausbackenes Mädchen wie die anderen Töchter seiner Freunde werden. Aber das Wunder wuchs und gedieh weiter, und Noelle wurde jeden Tag schöner.

Noelles Mutter war über das Auftauchen einer goldhaarigen Schönheit in der Familie weniger überrascht als ihr Mann. Neun Monate vor Noelles Geburt war Noelles Mutter einem strammen norwegischen Matrosen, frisch auf Landurlaub, begegnet. Er war ein riesiger Wikingergott mit blondem Haar und freundlichem, verführerischem Grinsen. Während Jacques auf Arbeit war, hatte der Matrose eine geschäftige Viertelstunde in ihrem Bett in der kleinen Wohnung verbracht.

Noelles Mutter war vor Angst fast gestorben, als sie sah, wie blond und schön ihr Baby war. Sie lief nur noch in der Furcht herum, ihr Mann würde mit vorwurfsvollem Finger auf sie zeigen und die Identität des wahren Vaters wissen wollen. Doch unglaublicherweise ließ ein krankhaftes Geltungsbedürfnis ihn das Kind als das seine akzeptieren.

»Sie muss auf skandinavisches Blut in meiner Familie hinauskommen«, pflegte er gegenüber seinen Freunden zu prahlen, »aber ihr könnt selbst sehen, dass sie meine Gesichtszüge hat.«

Seine Frau hörte dann still zu, nickte zustimmend und dachte, was für Dummköpfe doch die Männer waren.

Noelle war gerne mit ihrem Vater zusammen. Sie liebte seine unbeholfene Munterkeit und die merkwürdigen, interessanten Gerüche, die ihm anhafteten, doch gleichzeitig fürchtete sie seine Heftigkeit. Mit großen Augen sah sie zu, wie er ihre Mutter anbrüllte und ihr ins Gesicht schlug und sein Hals vor Zorn schwoll. Ihre Mutter schrie vor Schmerz auf, aber da war etwas über ihre Schmerzensschreie hinaus, etwas Animalisches und Sexuelles, und Noelle spürte Stiche der Eifersucht und wünschte, sie wäre an ihrer Mutter Stelle.

Aber ihr Vater war immer gütig zu Noelle. Er nahm sie gerne mit zu den Docks hinunter und protzte mit ihr vor den rauen, ungehobelten Männern, mit denen er arbeitete. Sie war dockauf, dockab als die Prinzessin bekannt und war stolz darauf, sowohl ihres Vaters als auch ihretwegen.

Sie wollte ihren Vater erfreuen, und weil er gerne aß, begann Noelle, für ihn zu kochen, machte ihm seine Lieblingsgerichte und ersetzte allmählich ihre Mutter in der Küche.

Mit siebzehn war die Verheißung von Noelles früher Schönheit mehr als erfüllt. Sie war zu einer äußerst feinen Frau herangereift. Sie hatte schöne zarte Züge, Augen von strahlendem Veilchenblau, und ihr Haar war seidig und aschblond. Ihre Haut war blühend und golden, als wäre sie in Honig getaucht worden. Ihre Figur war toll, sie hatte üppige, feste junge Brüste, eine schmale Taille, runde Hüften und lange, gut geformte Beine mit zarten Knöcheln. Ihre Stimme klang deutlich, gedämpft und lieblich. Es war eine starke, schwelende Sinnlichkeit um Noelle, aber das war nicht eigentlich ihr Zauber. Ihr Zauber bestand darin, dass unter der Sinnlichkeit eine unberührte Insel der Unschuld zu liegen schien, und diese Kombination war unwiderstehlich. Sie konnte nicht die Straße hinuntergehen, ohne eindeutige Anträge von Passanten zu bekommen. Es waren nicht die üblichen Angebote, die die Dirnen von Marseille als tägliche Münze bekamen, denn selbst die stumpfsinnigsten Männer sahen etwas Besonderes in Noelle, etwas, was sie noch nie gesehen hatten und vielleicht nie wieder sehen würden, und jeder war bereit, so viel zu zahlen, wie er sich leisten konnte, um sie einmal, und sei es noch so kurz, zu besitzen.

Auch Noelles Vater war sich ihrer Schönheit bewusst. Tatsächlich dachte Jacques Page an kaum etwas anderes. Er war sich des Interesses, das Noelle bei den Männern erregte, bewusst. Obgleich weder er noch seine Frau je mit Noelle über Sex sprachen, hielt er es für sicher, dass sie ihre Jungfernschaft noch besaß, das kleine Kapital einer Frau. Sein schlauer Bauernverstand gab sich langen und ernsten Überlegungen hin, wie er aus dem Glücksfall, den die Natur ihm unerwartet in den Schoß gelegt hatte, am besten Nutzen ziehen könnte. Seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Schönheit seiner Tochter sich für Noelle und für ihn so reichlich wie möglich bezahlt machte. Schließlich hatte er sie gezeugt, schließlich ernährte er sie, kleidete sie, schickte sie auf eine gute Schule – sie schuldete ihm alles. Und jetzt war die Zeit der Rückzahlung gekommen. Wenn er sie als die Geliebte eines reichen Mannes etablieren könnte, wäre es gut für sie, und er könnte das geruhsame Leben führen, das ihm zustand. Jeden Tag wurde es schwerer für einen ehrlichen Mann, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Schatten des Krieges hatte begonnen, sich über Europa auszubreiten. Die Nazis waren in einem blitzartigen Gewaltstreich, der Europa den Atem verschlug, in Österreich einmarschiert. Ein paar Monate später hatten die Nazis das Sudetenland besetzt und waren dann in die Slowakei einmarschiert. Trotz Hitlers Beteuerungen, er sei an weiteren Eroberungen nicht interessiert, hielt sich die Überzeugung, dass es einen größeren Konflikt geben werde.

Die Wucht der Ereignisse war in Frankreich deutlich zu spüren. Waren wurden knapp in den Geschäften und auf den Märkten, als die Regierung sich auf eine massive Verteidigung einzurichten und aufzurüsten begann. Bald, fürchtete Jacques, würde man den Fischfang einstellen, und was geschah dann mit ihm? Nein, die Antwort auf dieses Problem bestand darin, für seine Tochter einen geeigneten Liebhaber zu finden. Leider aber kannte er keine reichen Männer. Alle seine Freunde waren bettelarm wie er, und er hatte nicht die Absicht, einen Mann in ihre Nähe zu lassen, der seinen Preis nicht bezahlen konnte.

Der Ausweg aus Jacques Pages Dilemma wurde unbeabsichtigt von Noelle selbst herbeigeführt. In den letzten Monaten war Noelle zunehmend ruheloser geworden. Sie war nach wie vor eine gute Schülerin, aber die Schule begann sie zu langweilen. Sie sagte ihrem Vater, sie möchte sich eine Stelle suchen. Er betrachtete sie schweigend, wog schlau die Möglichkeiten ab.

»Was für eine Stelle?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Noelle. »Vielleicht könnte ich als Mannequin arbeiten, Papa.« – So einfach war das.

Jeden Nachmittag in der nächsten Woche ging Jacques Page nach der Arbeit nach Hause, badete sorgfältig, um den Fischgeruch aus seinen Händen und seinem Haar zu kriegen, zog seinen guten Anzug an und ging zur Canebiere hinunter, der Hauptstraße, die vom alten Hafen der Stadt zu den reicheren Bezirken führte. Er ging die Straße auf und ab, sah sich alle Modesalons an, ein schwerfälliger Bauer in einer Welt von Seide und Spitzen, aber er wusste nicht, noch kümmerte es ihn, dass er fehl am Platze war. Er hatte nur ein Ziel, und er fand es, als er das Bon Marche erreichte. Es war das feinste Modegeschäft in Marseille, aber das war nicht der Grund, warum er es wählte. Er wählte es, weil der Besitzer Monsieur Auguste Lanchon war. Lanchon war ein Fünfziger, ein hässlicher, glatzköpfiger Mann mit plumpen kurzen Beinen und einem lüsternen, ständig zuckenden Mund. Seine Frau, klein, mit dem Profil eines fein geschliffenen Beiles, arbeitete im Nähraum und überwachte laut die Schneider. Jacques warf einen einzigen Blick auf Monsieur Lanchon und seine Frau und wusste, dass er die Lösung seines Problems gefunden hatte.

Lanchon sah mit Abscheu den schäbig angezogenen Fremden durch die Tür seines Geschäftes treten. Er sagte grob: »Nun? Was kann ich für Sie tun?«

Jacques Page zwinkerte mit den Augen, bohrte seinen dicken Finger Lanchon in die Brust und grinste. »Es handelt sich darum, was ich für Sie tun kann, Monsieur. Ich werde meine Tochter bei Ihnen arbeiten lassen.«

Auguste Lanchon starrte mit einem Ausdruck der Ungläubigkeit den vor ihm stehenden Tölpel an.

»Was werden Sie«

»Sie wird morgen um neun Uhr hier sein.«

»Ich verstehe nicht«

Jacques Page war schon draußen. Ein paar Minuten später hatte Lanchon den Vorfall völlig vergessen. Um neun Uhr am anderen Morgen blickte Lanchon auf und sah Jacques Page in das Geschäft treten. Er wollte seinem Geschäftsführer schon sagen, er solle den Mann hinauswerfen, als er hinter ihm Noelle bemerkte. Sie kamen auf ihn zu, der Vater und seine unglaublich schöne Tochter, und der Alte grinste. »Da ist sie, bereit, die Stelle anzutreten.«

Auguste Lanchon starrte das Mädchen an und leckte sich über die Lippen.

»Guten Morgen, Monsieur«, sagte Noelle lächelnd. »Mein Vater sagte mir, Sie hätten eine Stelle für mich.«

Auguste Lanchon nickte, traute seiner eigenen Stimme nicht.

»Ja, ich – ich glaube, wir könnten etwas arrangieren«, brachte er stammelnd heraus. Er betrachtete ihr Gesicht und ihre Figur und konnte nicht glauben, was er da sah. Er konnte sich schon vorstellen, wie dieser nackte junge Körper sich unter ihm anfühlen würde.

Jacques Page sagte: »Nun, ich lasse Sie beide jetzt allein, damit Sie sich gegenseitig bekannt machen können«, schlug Lanchon kräftig auf die Schulter und zwinkerte dabei vieldeutig mit den Augen. Lanchon war sich über seine Absichten keineswegs im Zweifel.

Während der ersten paar Wochen kam Noelle sich vor, als wäre sie in eine andere Welt versetzt. Die Frauen, die in das Geschäft kamen, waren erstklassig angezogen und hatten ausgezeichnete Manieren, und die Männer ihrer Begleitung waren ganz anders als die ungehobelten lärmenden Fischer, mit denen sie aufgewachsen war. Es schien Noelle, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben keinen Fischgestank in der Nase hatte. Sie war sich seiner zwar nie bewusst gewesen, weil er immer ein Teil von ihr gewesen war. Jetzt aber hatte sich alles plötzlich verändert. Und das verdankte sie ihrem Vater. Sie war stolz darauf, wie gut er sich mit Monsieur Lanchon verstand. Er kam zwei- oder dreimal in der Woche ins Geschäft, und dann verschwanden die beiden schnell mal auf einen Cognac oder ein Bier, und wenn sie zurückkehrten, lag immer eine Atmosphäre der Kameradschaft um sie. Anfänglich hatte Noelle Monsieur Lanchon nicht gemocht, aber sein Benehmen ihr gegenüber war immer zurückhaltend. Von einem der Mädchen hatte sie gehört, Lanchons Frau habe ihn einmal im Lagerraum mit einem Modell in flagranti erwischt; darauf habe sie eine Schere ergriffen und ihn beinahe kastriert. Noelle merkte natürlich, dass Lanchons Augen ihr überallhin folgten, aber er war immer peinlich höflich. Wahrscheinlich, dachte sie mit Befriedigung, hat er vor meinem Vater Angst.

Zu Hause schien die Stimmung plötzlich viel freundlicher. Noelles Vater schlug ihre Mutter nicht mehr, und das ewige Gezanke hatte aufgehört. Es gab Steaks und Braten zum Essen, und nach dem Abendbrot zog Noelles Vater eine neue Pfeife hervor und füllte sie mit einem stark duftenden Tabak aus einem Lederbeutel. Er kaufte sich auch einen Sonntagsanzug. Die internationale Lage verschlechterte sich, und Noelle hörte sich die Unterhaltungen zwischen ihrem Vater und seinen Freunden an. Sie schienen alle über die bevorstehende Bedrohung ihrer Existenz beunruhigt, nur Jacques Page wirkte seltsam unbekümmert.

Am 1. September 1939 fielen Hitlers Truppen in Polen ein, und zwei Tage später erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg.

Die Mobilmachung lief an, und über Nacht wimmelten die

Straßen von Uniformen. Es hing eine Atmosphäre der Resignation über die Ereignisse in der Luft, ein Gefühl des dejä vu, als sähe man einen alten Film, den man früher schon gesehen hatte; aber es herrschte keine Furcht. Andere Länder mochten Grund haben, vor der Macht der deutschen Heere zu zittern, aber Frankreich war unbesiegbar. Es hatte die Magienot-Linie, eine unüberwindliche Festung, die Frankreich tausend Jahre lang vor einer Invasion schützen konnte. Es wurde ein Ausgehverbot verhängt und mit der Rationierung von Lebensmitteln begonnen, aber diese Dinge kümmerten Jacques Page nicht. Er schien sich verändert zu haben, war ruhiger geworden. Nur ein einziges Mal erlebte Noelle einen Wutausbruch, als sie eines Abends in der verdunkelten Küche einen Jungen küsste, mit dem sie sich gelegentlich getroffen hatte. Plötzlich ging das Licht an, und Jacques Page stand zornbebend in der Tür.

»Raus!« schrie er den entsetzten Jungen an. »Und nimm die Hände von meiner Tochter weg, du dreckiges Schwein!«

Der Junge floh in panischem Schrecken. Noelle versuchte, ihrem Vater zu erklären, dass sie nichts Unrechtes getan hatten, aber er war zu wütend, um überhaupt hinzuhören.

»Ich dulde nicht, dass du dich wegwirfst«, brüllte er. »Der Bursche ist ein Niemand, nicht gut genug für meine Prinzessin.«

In jener Nacht lag Noelle wach, staunend, wie sehr ihr Vater sie liebte, und sie gelobte, nie wieder etwas zu tun, was ihn wieder betrüben könnte.

Eines Abends kam kurz vor Geschäftsschluss ein Kunde, und Lanchon bat Noelle, einige Kleider vorzuführen. Als Noelle fertig war, hatten alle, außer Lanchon und seiner Frau, die im Büro die Bücher machte, das Geschäft bereits verlassen. Noelle ging in den leeren Ankleideraum, um sich umzuziehen. Sie war in BH und Höschen, als Lanchon herein trat. Er starrte sie an, und seine Lippen begannen zu zucken. Noelle schnappte ihr Kleid, doch ehe sie es anziehen konnte, trat Lanchon schnell auf sie zu und schob die Hand zwischen ihre Beine. In Noelle regte sich Abscheu, ihre Haut kribbelte. Sie wollte sich losreißen, aber Lanchon hielt sie fest gepackt, und er tat ihr weh.

»Du bist schön«, flüsterte er. »Schön. Ich werde dafür sorgen, dass du es guthast.«

In diesem Augenblick rief Lanchons Frau nach ihm, und er ließ Noelle widerstrebend los und hastete aus dem Zimmer.

Auf dem Heimweg überlegte Noelle, ob sie ihrem Vater von dem Vorgefallenen erzählen sollte. Wahrscheinlich würde er Lanchon umbringen. Sie verabscheute ihn und ertrug seine Nähe nicht, und doch wollte sie die Stelle. Außerdem wäre ihr Vater vielleicht enttäuscht, wenn sie kündigte. Sie beschloss, zunächst einmal nichts zu sagen und selbst einen Ausweg zu finden.

Am Freitag danach wurde Madame Lanchon angerufen, ihre Mutter in Vichy sei krank. Lanchon fuhr seine Frau zum Bahnhof und raste ins Geschäft zurück. Er ließ Noelle in sein Büro kommen und sagte ihr, er würde übers Wochenende mit ihr verreisen. Noelle starrte ihn an und glaubte zuerst, er mache Witze.

»Wir werden nach Vienne fahren«, stammelte er. »Dort gibt es eines der ganz großen Restaurants der Welt, Le Pyramide. Es ist teuer, aber das spielt keine Rolle, ich kann sehr großzügig zu denen sein, die nett zu mir sind. Wann kannst du fertig sein?«

Sie starrte ihn an. »Nie« war alles, was sie herausbrachte. Als sie sich umdrehte und nach vorn in den Laden flüchtete, blickte Monsieur ihr einen Augenblick wütend nach und riss dann den Telefonhörer auf seinem Schreibtisch hoch. Eine Stunde später trat Noelles Vater in das Geschäft. Er ging direkt auf Noelle zu, und ihr Gesicht leuchtete vor Erleichterung auf. Er hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte, und war ihr zu Hilfe gekommen. Lanchon stand an der Tür zu seinem Büro. Noelles

Vater packte sie am Arm und zog sie in Lanchons Büro. Dort fuhr er herum und sah sie an.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Papa«, sagte Noelle, »ich«

»Monsieur Lanchon erzählt mir, dass er dir ein großartiges Angebot machte, und du hast es abgelehnt.«

Sie starrte ihn verwirrt an. »Angebot? Er bat mich, übers Wochenende mit ihm wegzufahren.«

»Und du hast nein gesagt?«

Ehe sie antworten konnte, hatte ihr Vater auch schon die Hand gehoben und ihr eine schallende Ohrfeige gegeben. Sie stand in ungläubiger Verblüffung da, die Ohren klangen ihr, und wie durch einen trüben Nebel hörte sie ihren Vater sagen: »Du dumme Gans! Es wird Zeit, dass du anfängst, auch mal an andere zu denken, du egoistisches kleines Luder!« Und er gab ihr wieder eine Ohrfeige.

Dreißig Minuten später stand ihr Vater am Rinnstein und sah Noelle und Monsieur Lanchon nach Vienne abfahren.

Das Hotelzimmer bestand aus einem großen Doppelbett, billigen Möbeln und einem Waschständer mit Becken in einer Ecke. Monsieur Lanchon war nicht der Mann, der sein Geld zum Fenster hinauswarf. Er gab dem Hotelpagen ein kleines Trinkgeld, und sobald der draußen war, drehte Lanchon sich zu Noelle um und riss ihr die Kleider herunter. Er nahm ihre Brüste in seine heißen, feuchten Hände und presste sie.

»Mein Gott, bist du schön«, sagte er keuchend. Er zog ihr Unterrock und Höschen aus und stieß sie aufs Bett. Noelle lag bewegungslos, gleichgültig da, als stünde sie unter einem Schock. Auf der ganzen Fahrt hatte sie kein Wort gesprochen. Lanchon hoffte, sie war nicht krank. Er könnte es der Polizei oder, Gott verhüte es, seiner Frau nicht erklären. Hastig zog er sich aus, warf die Kleidungsstücke auf den Boden und stieg dann neben Noelle aufs Bett. Ihr Körper war noch herrlicher, als er erwartet hatte.

»Dein Vater sagt mir, du seiest noch nie gefickt worden.« Er grinste. »Nun, ich werde dir zeigen, wie ein Mann sich anfühlt.« Er wälzte seinen plumpen Leib auf sie und stieß ihr sein Organ zwischen die Beine. Er begann, immer stärker zuzustoßen, drängte sich in sie. Noelle fühlte nichts. In Gedanken hörte sie, wie ihr Vater sie anbrüllte. Du solltest dankbar sein, einen so freundlichen Herrn wie Monsieur Lanchon zu haben, der für dich sorgen will. Du brauchst bloß nett zu ihm zu sein. Du wir st es für mich tun. Und für dich selbst. Die ganze Szene war ein Alpdruck gewesen. Sie war sicher, dass ihr Vater sie irgendwie missverstanden hatte, aber als sie erklären wollte, hatte er sie wieder geschlagen und geschrieen: »Du wirst tun, was man dir sagt. Andere Mädchen wären dankbar für eine solche Chance.« Eine solche Chance. Sie blickte zu Lanchon auf, zu dem vierschrötigen hässlichen Körper, dem keuchenden Tiergesicht mit den Schweinsäuglein. Das war also der Prinz, an den ihr Vater sie verkauft hatte, ihr geliebter Vater, der sie wie seinen Augapfel hütete und es nicht ertrug, dass sie sich an einen Unwürdigen verschwendete. Und die Steaks, die plötzlich auf dem Tisch erschienen waren, kamen ihr in den Sinn und die neuen Pfeifen ihres Vaters und sein neuer Anzug – und sie wollte sich übergeben.

Es schien Noelle, dass sie in den nächsten paar Stunden starb und wiedergeboren wurde. Sie war als Prinzessin gestorben und als Hure wiedergeboren. Langsam war sie sich ihrer Umgebung, und was mit ihr geschah, bewusst geworden. Sie war von einem Hass erfüllt, wie sie ihn nicht für möglich gehalten hatte. Ihrem Vater würde sie seinen Verrat nie vergeben. Seltsamerweise hasste sie Lanchon nicht, denn sie verstand ihn. Er war ein Mann mit der allen Männern gemeinsamen Schwäche. Von jetzt an, beschloss Noelle, sollte diese Schwäche ihre Stärke werden. Sie würde lernen, sie zu benutzen. Ihr Vater hatte eigentlich recht gehabt. Sie war eine Prinzessin, und die Welt gehörte wirklich ihr. Und jetzt wusste sie, wie sie sie erobern konnte. Es war so einfach. Die Männer beherrschten die Welt, weil sie die Kraft, das Geld und die Macht hatten; daher musste man die Männer, oder zumindest einen, beherrschen. Aber dafür musste man gerüstet sein. Sie hatte noch viel zu lernen. Und das war der Anfang.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Monsieur Lanchon zu. Sie lag unter ihm, erlebte das männliche Organ in sich und was es einer Frau bedeuten konnte.

In seiner Raserei über dieses schöne Geschöpf unter seinem dicken, rammelnden Körper merkte Lanchon gar nicht, dass Noelle bloß dalag, aber es war ihm auch gleichgültig. Es genügte, dass sich seine Augen an ihr weideten, um ihn zu den höchsten Höhen der Leidenschaft zu führen, wie er es in Jahren nicht erlebt hatte. Er war an den auf ihn eingespielten Körper seiner Frau und die müde Ware der Huren von Marseille gewöhnt, und dieses frische junge Mädchen unter ihm war wie ein plötzliches Wunder in seinem Leben.

Aber für Lanchon begann das Wunder erst. Nachdem er Noelle zum zweiten Mal umarmt und sich ausgegeben hatte, sagte sie: »Lieg still.« Sie begann, mit ihrer Zunge, ihrem Mund und ihren Händen an ihm zu experimentieren, versuchte neue Varianten, fand die weichen, empfindlichen Stellen seines Körpers und machte sich an ihnen zu schaffen, bis Lanchon vor Lust laut aufschrie. Es war, als drückte sie eine Reihe von Knöpfen. Wenn Noelle dies tat, stöhnte er, und wenn sie das machte, wand er sich in Verzückung. Es war so leicht. Dies war ihre Schule, ihre Erziehung. Es war der Anfang der Macht.

Sie verbrachten drei Tage da und gingen nicht ein einziges Mal in Le Pyramide, und in diesen Tagen und Nächten brachte Lanchon ihr das wenige bei, das er von Sex kannte, und Noelle entdeckte sehr viel mehr.

Als sie nach Marseille zurückfuhren, war Lanchon der glücklichste Mann von ganz Frankreich. Früher hatte er flüchtige Liebschaften mit Ladenmädchen in den Chambres separees eines Restaurants gehabt; er hatte mit Prostituierten gefeilscht, war knickerig mit Geschenken für seine Geliebten und notorisch knauserig gegenüber Frau und Kindern gewesen. Jetzt erklärte er großmütig: »Ich werde dich in einem Appartement unterbringen, Noelle. Kannst du kochen?«

»Ja«, erwiderte Noelle.

»Gut. Ich werde jeden Tag zum Mittagessen zu dir kommen, und dann umarmen wir uns. Und an zwei oder drei Abenden der Woche komme ich zum Abendessen.« Er legte ihr die Hand aufs Knie, tätschelte es. »Wie klingt das?«

»Es klingt wundervoll«, entgegnete Noelle.

»Ich werde dir sogar ein Taschengeld geben. Kein großes«, fügte er schnell hinzu, »aber genug, dass du von Zeit zu Zeit ausgehen und dir hübsche Sachen kaufen kannst. Ich verlange nur, dass du niemanden außer mir empfängst. Du gehörst jetzt mir.«

»Wie du wünschst, Auguste«, sagte sie.

Lanchon seufzte zufrieden, und als er sprach, klang seine Stimme zärtlich: »Ich habe noch bei niemand je ein solches Gefühl gehabt. Und weißt du, warum?«

»Nein, Auguste.«

»Weil du mich wieder jung machst. Du und ich werden ein wundervolles Leben zusammen haben.«

Sie kamen spätabends in Marseille an, fuhren schweigend, Lanchon mit seinen Träumen beschäftigt, Noelle mit den ihren.

»Ich sehe dich morgen um neun Uhr im Geschäft wieder«, sagte Lanchon. Er überlegte. »Wenn du aber morgen früh müde bist, dann schlaf ein bisschen länger. Komm um halb zehn.«

»Danke, Auguste.«

Er zog eine Handvoll Francs aus der Tasche und hielt sie ihr hin.

»Da. Morgen Nachmittag siehst du dich nach einer Wohnung um. Damit leistest du eine Anzahlung, um sie uns zu sichern,

bis ich sie besichtigen kann.«

Sie starrte die Francs in seiner Hand an.

»Ist was nicht in Ordnung?« fragte Lanchon.

»Ich möchte, dass wir eine wirklich schöne Wohnung haben«, sagte Noelle, »in der wir uns wohl fühlen.«

»Ich bin kein reicher Mann«, wandte er ein.

Noelle lächelte verständnisvoll und legte ihm die Hand auf den Schenkel. Lanchon sah sie lange an und nickte dann.

»Du hast recht«, sagte er. Er fasste in seine Brieftasche und begann, Francnoten herunterzublättern, wobei er ihr Gesicht aufmerksam beobachtete.

Als sie zufrieden schien, hörte er auf, über seine eigene Großzügigkeit errötend. Was spielte es schließlich für eine Rolle? Lanchon war ein geriebener Geschäftsmann; er wusste, dies würde sicherstellen, dass Noelle ihn nie verließ.

Noelle sah ihm nach, als er glücklich davonfuhr, dann ging sie nach oben, packte ihre Sachen und nahm ihre Ersparnisse aus einem Versteck. Um zehn Uhr nachts saß sie im Zug nach Paris.

Als der Zug am frühen Morgen in Paris einfuhr, wimmelte die PLM-Station von ungeduldigen Reisenden, die soeben angekommen waren, und solchen, die ebenso ungeduldig aus der Stadt flüchteten. Der Lärm auf dem Bahnhof war betäubend, die Leute schrieen durcheinander, begrüßten sich fröhlich oder nahmen tränenreichen Abschied voneinander, stießen und schoben sich grob durch die Menge, aber Noelle hatte nichts dagegen. In dem Augenblick, in dem sie den Fuß vom Trittbrett des Zuges setzte, ehe sie überhaupt eine Möglichkeit hatte, die Stadt zu sehen, wusste sie, dass sie hier zu Hause war. Marseille schien eine fremde Stadt und Paris die Stadt, in die sie gehörte. Es war ein merkwürdiges, berauschendes Gefühl, und Noelle schwelgte darin, saugte die Geräusche, die Menge, die Erregung förmlich in sich ein. Es gehörte alles ihr. Sie brauchte es jetzt nur noch zu fordern. Sie nahm ihr Köfferchen und ging zum Ausgang.

Draußen im hellen Sonnenschein und in dem wie verrückt hin- und herflitzenden Verkehr zögerte Noelle, denn sie wurde sich plötzlich bewusst, dass sie kein Heim hatte. Ein halbes Dutzend Taxen stand aufgereiht vor dem Bahnhof. Sie stieg in die erste ein.

»Wohin?«

Sie zögerte. »Könnten Sie mir ein nettes, preiswertes Hotel empfehlen?«

Der Fahrer drehte sich um und sah sie abschätzend an. »Sind Sie neu in der Stadt?«

»Ja.«

Er nickte. »Sie werden eine Stelle brauchen, nehme ich an.«

»Ja.«

»Da haben Sie Glück«, sagte er. »Haben Sie schon mal als Mannequin gearbeitet?«

Noelles Herz hüpfte. »Ja, habe ich tatsächlich«, sagte sie.

»Meine Schwester arbeitet für eines der großen Modehäuser«, teilte er ihr vertraulich mit. »Gerade heute morgen erwähnte sie, eines der Mädchen habe gekündigt. Wollen Sie sehen, ob die Stelle noch frei ist?«

»Das wäre wunderbar«, erwiderte Noelle.

»Wenn ich Sie hinfahre, kostet das zehn Francs.«

Sie runzelte die Stirn.

»Es lohnt sich«, versprach er.

»Nun gut.« Sie lehnte sich zurück. Der Fahrer setzte den Wagen in Gang und fädelte sich in den wahnsinnigen Verkehr in Richtung Stadtzentrum ein. Er schwatzte unentwegt während der Fahrt, aber Noelle hörte kein Wort. Sie genoss in vollen Zügen den Anblick ihrer Stadt. Sie nahm an, dass Paris wegen der Verdunkelung gedämpfter war als gewöhnlich, aber Noelle kam die Stadt wie ein reines Wunder vor. Sie hatte eine ganz eigene Eleganz, einen Stil, ja, sogar einen eigenen Duft. Sie kamen an Notre-Dame vorbei, fuhren über den Pont Neuf zum rechten Ufer und bogen in Richtung des Marschall Foch Boulevard ein. In der Ferne konnte Noelle den die Stadt beherrschenden Eiffelturm sehen. Durch den Rückspiegel sah der Fahrer ihren Gesichtsausdruck.

»Hübsch, was?«

»Es ist schön«, antwortete Noelle ruhig. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie hier war. Es war ein für eine Prinzessin geeignetes Königreich ... für sie.

Die Taxe hielt vor einem dunkelgrauen Sandsteinhaus in der Rue de Provence.

»Wir sind da«, erklärte der Fahrer. »Das sind zwei Francs auf dem Taxameter und zehn Francs für mich.«

»Woher soll ich wissen, dass die Stelle noch zu haben ist?« fragte Noelle.

Der Fahrer zuckte die Schultern. »Ich sagte Ihnen ja, das Mädchen ist erst heute morgen gegangen. Wenn Sie nicht hineingehen wollen, bringe ich Sie zum Bahnhof zurück.«

»Nein«, erwiderte Noelle schnell. Sie öffnete ihre Handtasche, nahm zwölf Francs heraus und reichte sie dem Fahrer. Der starrte auf das Geld und sah sie dann an. Verlegen langte sie in ihre Tasche und gab ihm' noch einen Franc.

Er nickte und sah zu, wie sie ihr Köfferchen aus der Taxe hob.

Als er wegfahren wollte, fragte Noelle: »Wie heißt Ihre Schwester?«

»Jeanette.«

Noelle stand am Rinnstein und sah der davonfahrenden Taxe nach. Dann drehte sie sich um und sah sich das Haus an. An der Vorderfront war kein Schild, aber sie nahm an, dass ein fashionables Modehaus kein Schild brauchte. Jedermann wüsste, wo er es finden konnte. Sie hob ihr Köfferchen, ging zur Tür und läutete. Einige Augenblicke später wurde die Tür von einem Dienstmädchen in schwarzer Schürze geöffnet. Sie sah Noelle ausdruckslos an.

»Ja?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Noelle, »wie ich höre, ist hier eine Stelle als Mannequin frei.«

Das Mädchen starrte sie blinzelnd an.

»Wer hat Sie geschickt?«

»Jeanettes Bruder.«

»Kommen Sie herein.« Sie öffnete die Tür weiter, und Noelle trat in eine im Stil um 1800 herum gehaltene Empfangshalle. Ein riesiger Lüster hing von der Decke, einige weitere waren in der Halle verteilt, und durch eine offene Tür konnte Noelle ein mit antiken Möbeln eingerichtetes Wohnzimmer und eine nach oben führende Treppe sehen. Auf einem schönen Tisch mit Intarsien lagen Nummern des Figaro und des Echo de Paris. »Warten Sie hier. Ich werde fragen, ob Madame Delys Zeit hat, Sie jetzt zu empfangen.«

»Danke«, sagte Noelle. Sie stellte ihr Köfferchen auf den Boden und trat vor einen großen Wandspiegel. Ihre Kleider waren von der Bahnfahrt zerknittert, und plötzlich bedauerte sie, in ihrer Impulsivität hier hergefahren zu sein, ohne sich vorher frisch gemacht zu haben. Es war wichtig, einen guten Eindruck zu machen. Trotzdem, wie sie sich prüfend betrachtete, wusste sie, dass sie schön aussah. Sie wusste dies ohne Einbildung, nahm ihre Schönheit als einen Vermögenswert hin, den man benutzen konnte wie jeden anderen auch. Noelle drehte sich um, als sie im Spiegel ein Mädchen die Treppe herunterkommen sah. Das Mädchen hatte eine gute Figur und ein hübsches Gesicht, trug einen langen braunen Rock und eine hochgeschlossene Bluse. Offenbar war die Qualität der Mannequins hier hoch. Sie warf Noelle ein kurzes Lächeln zu und ging ins Wohnzimmer. Einen Augenblick später trat Madame Delys ein. Sie war eine Vierzigerin, war klein und untersetzt und hatte kalte, berechnende Augen. Sie trug ein Kleid, das nach Noelles Schätzung mindestens zweitausend Francs gekostet haben musste.

»Regina sagte mir, Sie suchen eine Stellung«, sagte sie.

»Ja, Madame«, erwiderte Noelle.

»Wo kommen Sie her?«

»Marseille.«

Madame Delys schnaubte. »Der Lauf stall betrunkener Seeleute.«

Noelle machte ein langes Gesicht.

Madame Delys tätschelte ihr die Schulter. »Macht nichts, meine Liebe. Wie alt sind Sie?«

»Achtzehn.«

Madame Delys nickte. »Das ist gut. Ich glaube, Sie werden meinen Kunden gefallen. Haben Sie Verwandte in Paris?«

»Nein.«

»Ausgezeichnet. Können Sie gleich mit der Arbeit beginnen?«

»O ja«, versicherte Noelle eifrig.

Von oben drang das Geräusch von Lachen herunter, und einen Augenblick später kam ein rothaariges Mädchen am Arm eines dicken Mannes mittleren Alters die Treppe herunter. Das Mädchen trug nur ein dünnes Neglige.

»Schon fertig?« fragte Madame Delys.

»Ich habe Angela erschöpft«, sagte der Mann grinsend. Dann sah er Noelle. »Wer ist diese kleine Schönheit?«

»Das ist Yvette, unser neues Mädchen«, sagte Madame Delys und fügte ohne zu zögern hinzu: »Sie kommt aus Antibes, ist die Tochter eines Prinzen.«

»Ich habe noch nie eine Prinzessin gepimpert«, rief der Mann aus. »Wie viel?«

»Fünfzig Francs.«

»Machen Sie keine Witze. Dreißig.«

»Vierzig. Und glauben Sie mir, Sie bekommen etwas für Ihr Geld.«

»Gemacht.«

Sie drehte sich nach Noelle um. Sie war verschwunden.

Noelle lief stundenlang durch die Straßen von Paris. Sie schlenderte die Champs-Elysees entlang, die eine Seite hinunter und die andere hinauf, wanderte durch die Lido Arkade und blieb vor jedem Geschäft stehen, um auf die unglaubliche Fülle von Schmuck und Kleidern und Lederwaren und Parfüms zu starren, und sie fragte sich, wie Paris aussah, als es noch keine Knappheit gab. Die in den Schaufenstern ausgestellten Waren waren verwirrend, und während ein Teil von ihr sich wie eine Bauerndirne vorkam, wusste ein anderer Teil, dass diese Dinge ihr eines Tages gehören würden. Sie ging durch den Bois und die Rue du Faubourg-St.-Honore hinunter und die Avenue Victor-Hugo entlang, bis sie müde und hungrig wurde. Ihre Handtasche und ihr Köfferchen hatte sie bei Madame Delys zurückgelassen, hatte aber nicht die Absicht zurückzugehen. Sie würde ihre Sachen abholen lassen.

Noelle war von dem, was sich da ereignet hatte, weder schockiert noch aus der Fassung gebracht. Sie kannte einfach den Unterschied zwischen einer Kurtisane und einer Hure. Huren veränderten den Gang der Geschichte nicht; Kurtisanen konnten dies. Inzwischen war sie ohne einen Sou. Sie musste einen Weg finden, sich über Wasser zu halten, bis sie morgen eine Stelle finden konnte. Die Dämmerung begann den Himmel zu streifen, und die Geschäftsleute und Hotelportiers waren eifrig damit beschäftigt, die Verdunkelungsrollos gegen mögliche Luftangriffe herunterzuziehen. Um ihr unmittelbares Problem zu lösen, musste Noelle jemanden finden, der ihr ein gutes warmes Abendbrot spendierte. Sie fragte einen Gendarm nach dem Weg und steuerte dann aufs Hotel Crillon zu. Außen bedeckten abstoßende eiserne Rollläden die Fenster, aber die Halle innen war ein Meisterstück gedämpfter Eleganz, gemütlich und unauffällig. Noelle ging selbstsicher hinein, als ob sie da hingehörte, und nahm in einem Sessel gegenüber dem Aufzug Platz. Sie hatte so etwas noch nie gemacht und war ein bisschen nervös. Aber sie erinnerte sich, wie leicht es gewesen war, mit Auguste Lanchon umzugehen. Die Männer waren wirklich sehr unkompliziert. Es gab nur eine Lehre, die ein Mädchen zu beherzigen hatte: Ein Mann war weich, wenn er hart war, und hart, wenn er weich war. Man musste also nur dafür sorgen, dass er hart blieb, bis er einem gab, was man haben wollte. Und als Noelle sich in der Halle umblickte, kam sie zu dem Schluss, dass es ein leichtes sein würde, die Aufmerksamkeit eines einsamen Mannes auf sich zu ziehen, der vielleicht gerade auf dem Weg zum Abendessen war. »Pardon, Mademoiselle.«

Noelle wandte den Kopf und blickte zu einem großen Mann in einem dunklen Anzug auf. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Detektiv gesehen, aber hier hatte sie gar keinen Zweifel.

»Warten Mademoiselle auf jemanden?«

»Ja«, erwiderte Noelle und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich warte auf einen Freund.«

Plötzlich war sie sich ihres zerknitterten Kleides und des Fehlens einer Handtasche heftig bewusst.

»Ist Ihr Freund ein Hotelgast?«

Sie bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. »Er – äh – nicht eigentlich.«

Er sah Noelle einen Augenblick prüfend an und sagte dann in scharfem Ton: »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«

»Ich – ich habe ihn nicht bei mir«, stammelte sie.

Der Detektiv sagte: »Würden Mademoiselle bitte mitkommen?« Er packte sie fest am Arm, und sie stand auf.

In diesem Augenblick nahm jemand ihren anderen Arm und sagte: »Entschuldige, dass ich mich verspätet habe, Cherie, aber du kennst ja diese verdammten Cocktailparties. Man muss sich mit Gewalt losreißen. Hast du lange gewartet?«

Noelle fuhr erstaunt zu dem Sprecher herum. Es war ein großer hagerer, zäh wirkender Mann, der eine ausländische, ungewohnte Uniform trug. Er hatte blauschwarzes Haar, und die Farbe seiner Augen war wie eine dunkle, stürmische See, dazu lange, dichte Wimpern. Seine Gesichtszüge glichen dem Bildnis auf einer alten florentinischen Münze. Es war ein unregelmäßiges Gesicht, dessen beide Hälften nicht ganz zusammenpassten, als ob die Hand des Prägers einen Augenblick ausgerutscht wäre. Ein außerordentlich lebhaftes und veränderliches Gesicht; man hatte den Eindruck, es sei bereit zu lächeln, zu lachen, sich zu verfinstern. Das einzige, was es davor bewahrte, weibisch schön zu sein, war ein kräftiges, maskulines Kinn mit einem tiefen Spalt.

Er machte eine Bewegung zum Detektiv hin. »Hat dieser Mann dich belästigt?« Seine Stimme klang tief, und er sprach französisch mit einem ganz leichten Akzent.

»N-nein«, antwortete Noelle verwirrt.

»Verzeihung, Sir«, sagte der Hoteldetektiv. »Ein Missverständnis. Wir haben seit einiger Zeit hier Ärger mit...« Er wandte sich an Noelle. »Entschuldigen Sie bitte, Mademoisel-le.«

Der Fremde drehte sich zu Noelle um. »Nun, ich weiß nicht. Was meinst du?«

Noelle schluckte und nickte schnell.

Der Mann sah den Detektiv an. »Mademoiselle ist großzügig. Aber seien Sie in Zukunft vorsichtig.« Er nahm Noelles Arm, und sie gingen auf die Tür zu.

Als sie auf die Straße traten, sagte Noelle: »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Monsieur.«

»Ich konnte Polizisten nie leiden.« Der Fremde grinste. »Soll ich Ihnen eine Taxe besorgen?«

Noelle starrte ihn an, und wieder stieg panischer Schrecken in ihr hoch, als sie sich ihre Lage vergegenwärtigte. »Nein.«

»Schön. Gute Nacht.« Er ging zum Stand hinüber und wollte in eine Taxe steigen, blickte sich noch einmal um und sah sie angewurzelt dastehen und ihm nachblicken. Im Hoteleingang stand der Detektiv. Der Fremde zögerte, dann ging er zu Noelle zurück. »Verschwinden Sie lieber hier«, riet er ihr, »unser

Freund interessiert sich immer noch für Sie.«

»Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll«, erwiderte sie.

Er nickte und fasste in die Tasche.

»Ich möchte Ihr Geld nicht«, sagte sie schnell.

Er sah sie erstaunt an. »Was wollen Sie dann?« fragte er.

»Mit Ihnen Abendbrot essen.«

Er lächelte und sagte: »Tut mir leid, ich habe eine Verabredung und bin schon zu spät dran.«

»Dann gehen Sie nur«, sagte sie. »Ich werde mich schon zurechtfinden.«

Er schob die Noten in die Tasche zurück. »Wie Sie meinen, Schätzchen«, sagte er. »Au Voir.« Er drehte sich um und ging wieder zu der Taxe zurück. Noelle sah ihm nach und fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Sie wusste, sie hatte sich dumm benommen, aber sie wusste auch, dass sie nicht anders hätte handeln können. Vom ersten Augenblick hatte sie etwas nie zuvor Empfundenes gefühlt, eine so starke Welle der Erregung, dass sie sie beinahe hätte berühren können. Sie kannte nicht einmal seinen Namen und würde ihn wahrscheinlich nie mehr wieder sehen. Noelle warf einen verstohlenen Blick zum Hotel hinüber und sah den Detektiv entschlossen auf sich zukommen. Es war ihre eigene Schuld. Diesmal würde sie sich nicht herausreden können. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, und als sie sich umdrehte, um zu sehen, wer es war, hakte der Fremde sie unter und zog sie zum Taxi hin, öffnete schnell die Tür und stieg neben ihr ein. Er nannte dem Fahrer eine Adresse. Der am Rinnstein stehende Detektiv starrte dem davonfahrenden Taxi nach.

»Was ist mit Ihrer Verabredung?« fragte Noelle.

»Es ist eine Party«, sagte er schulterzuckend. »Einer mehr oder weniger spielt keine Rolle. Ich heiße Larry Douglas. Wie heißen Sie?«

»Noelle Page.«

»Wo kommen Sie her, Noelle?«

Sie blickte ihn an, sah ihm in die leuchtend-dunklen Augen und antwortete: »Antibes. Ich bin die Tochter eines Prinzen.«

Er lachte, entblößte seine ebenmäßigen Zähne.

»Das ist aber nett, Prinzessin«, sagte er.

»Sind Sie Engländer?«

»Amerikaner.«

Sie musterte seine Uniform. »Amerika ist nicht im Krieg.«

»Ich bin in der britischen RAF«, erklärte er. »Sie hat soeben eine Kampfgruppe amerikanischer Flieger aufgestellt. Sie nennt sich Adler-Staffel.«

»Aber warum kämpfen Sie für England?«

»Weil England für uns kämpft«, sagte er. »Wir wissen es bloß noch nicht.«

Noelle schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Hitler ist ein Boche-Clown.«

»Vielleicht. Aber ein Clown, der weiß, was die Deutschen wollen: die Welt beherrschen.«

Noelle hörte fasziniert zu, als Larry über Hitlers Strategie sprach, den plötzlichen Austritt aus dem Völkerbund, den gemeinsamen Verteidigungspakt mit Japan und Italien. Sie war nicht fasziniert von dem, was er sagte, sondern von seinem Gesicht, dessen Anblick sie genoss, während er sprach. Seine dunklen Augen blitzten vor Begeisterung, leuchteten von einer überwältigenden, unwiderstehlichen Vitalität.

Noelle hatte noch niemanden wie ihn kennen gelernt. Er war – Seltenheit aller Seltenheiten – ein Verschwender seiner selbst. Er war offenherzig, freundlich und lebhaft, genoss das Leben und sorgte dafür, dass jeder in seiner Umgebung es auch genoss. Er war wie ein Magnet, der jeden, der sich ihm näherte, in seine Einflusssphäre zog.

Die Party, von der er gesprochen hatte, fand in einer kleinen Wohnung in der Rue Chemin Vert statt. In der Wohnung drängten sich lachende, schreiende Menschen, von denen die meisten jung waren. Larry stellte Noelle der Gastgeberin vor, einem raubvogelartigen, sexy aussehenden Rotkopf, und wurde dann von der Menge verschluckt. Dann und wann erhaschte Noelle einen flüchtigen Blick von ihm, umgeben von eifrigen jungen Mädchen, von denen jede versuchte, seine Aufmerksamkeit für sich einzufangen. Und doch hatte er nichts Egozentrisches an sich, dachte Noelle. Als wäre er sich gar nicht bewusst, wie attraktiv er war. Jemand brachte Noelle etwas zu trinken, und jemand anders erbot sich, ihr vom Büfett etwas zu essen zu bringen, aber plötzlich hatte sie keinen Hunger mehr. Sie wollte bei dem Amerikaner sein, wollte ihn von den Mädchen, die ihn umdrängten, weglotsen. Männer traten an sie heran und versuchten, sich mit ihr zu unterhalten, aber Noelles Gedanken waren woanders. Seit sie eingetreten waren, hatte der Amerikaner sie völlig übersehen, hatte getan, als existiere sie nicht. Und warum nicht? dachte Noelle. Warum sollte er sich um sie kümmern, wo er jedes Mädchen auf der Party haben konnte. Zwei Männer versuchten, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Der Raum war plötzlich unerträglich warm geworden. Sie überlegte sich, wie sie entkommen könnte.

Eine Stimme sagte in ihr Ohr: »Gehen wir«, und kurz darauf standen sie und der Amerikaner auf der Straße in der kühlen Nachtluft. Die Stadt war dunkel und still in Erwartung der unsichtbaren Deutschen am Himmel, und die Autos glitten geräuschlos wie Fische in einer schwarzen See durch die Straßen.

Sie konnten keine Taxe finden, also gingen sie zu Fuß, aßen in einem kleinen Bistro auf der Place des Victoires zu Abend, und Noelle entdeckte, dass sie vor Hunger fast starb. Sie betrachtete den ihr gegenübersitzenden Amerikaner prüfend und fragte sich, was ihr geschehen war. Es war, als hätte er einen Quell tief in ihrem Inneren berührt, von dessen Vorhandensein sie nie etwas gewusst hatte. Sie war noch nie so glücklich gewesen. Sie unterhielten sich über alles. Sie schilderte ihm ihr Milieu, und er erzählte ihr, dass er aus SüdBoston komme und Boston-Irländer sei.

»Wo haben Sie so gut Französisch gelernt?« fragte Noelle.

»Ich war als Band im Sommer immer in Cap d'Antibes. Mein alter Herr war ein Börsenmagnat, bis die Bären ihn erledigten.«

»Bären?«

Larry musste ihr die geheimnisvollen Techniken der Effektenbörse in Amerika erklären. Noelle war es gleich, worüber er redete, solange er nur redete.

»Wo leben Sie?«

»Nirgends.« Sie erzählte ihm von dem Taxichauffeur und Madame Delys und dem dicken Mann, der sie tatsächlich für eine Prinzessin hielt und vierzig Francs für sie bot, und Larry lachte lauthals.

»Wissen Sie noch, wo das Haus ist?«

»Ja.«

»Kommen Sie, Prinzessin.«

Als sie vor dem Haus in der Rue de Provence ankamen, wurde die Tür von demselben uniformierten Dienstmädchen geöffnet. Ihre Augen leuchteten auf, als sie den gut aussehenden Amerikaner sah, und verdüsterten sich, als sie sah, wer bei ihm war.

»Wir möchten Madame Delys sprechen«, sagte Larry. Er und Noelle traten in die Empfangshalle. Dahinter, im Wohnzimmer, saßen mehrere Mädchen. Das Dienstmädchen verschwand, und ein paar Minuten darauf trat Madame Delys ein. Sie wandte sich an Noelle: »Ah, ich hoffe, Sie haben sich's anders überlegt.«

»Nein«, sagte Larry freundlich. »Sie haben hier etwas, was der Prinzessin gehört.«

Madame Delys sah ihn fragend an.

»Ihr Köfferchen und ihre Handtasche.«

Madame zögerte einen Augenblick und ging dann hinaus. Ein paar Minuten später kehrte das Dienstmädchen mit Noelles

Handtasche und Koffer zurück. »Merci«, sagte Larry. »Gehen wir, Prinzessin.« In jener Nacht ging Noelle mit Larry in ein kleines sauberes Hotel in der Rue Lafayette. Es gab nichts darüber zu reden, war für beide unvermeidbar geworden. Ihre Umarmung in jener Nacht war aufregender als alles, was Noelle je gekannt hatte, ein wilder, primitiver Ausbruch, der beide schüttelte. Die ganze Nacht lag sie in Larrys Armen, hielt ihn fest, war glücklicher, als sie es sich je erträumt hatte.

Als sie am Morgen aufwachten, umarmten sie sich wieder und gingen aus, um die Stadt zu erforschen. Larry war ein großartiger Fremdenführer, und er ließ Paris als ein reizendes Spielzeug zu Noelles Belustigung erscheinen. Sie aßen in den Tuilerien zu Mittag, verbrachten den Nachmittag in Malmaison und wanderten stundenlang um die Place des Vosges am Ende von Notre-Dame, das älteste, von Ludwig XIII. erbaute Viertel von Paris. Er zeigte ihr Orte, die abseits von den Touristenströmen lagen, Maubert mit seinem pittoresken Straßenmarkt und den Quai de la Megisserie mit seinen Käfigen voll buntgefiederter Vögel und kreischender Tiere. Er führte sie durch den Marche de Buci, und sie hörten sich den Lärm der Verkäufer an, die die Vorzüge ihrer frischen Tomaten, ihrer auf Seetang gebetteten Austern, ihrer sauber mit Etikett versehenen Käsesorten anpriesen. Sie gingen zum Du Pont auf dem Montparnasse, aßen im Bateau Mouche zu Abend und landeten schließlich um vier 'Uhr morgens in Les Halles bei einer Zwiebelsuppe, zusammen mit den Fleischern und LKWFahrern. Und ehe sie sich's versahen, hatte Larry eine Menge Freunde gewonnen, und Noelle merkte, dass dies von seiner Gabe zu lachen herrührte. Er hatte ihr das Lachen beigebracht, und sie hatte gar nicht gewusst, dass sie lachen konnte. Es war wie das Geschenk eines Gottes. Sie war Larry dankbar und war sehr in ihn verliebt. Es dämmerte schon, als sie in ihr Hotelzimmer zurückkamen. Noelle war erschöpft, doch Larry war voll Energie, ein ruheloser Dynamo. Noelle lag im Bett und betrachtete ihn, wie er am Fenster stand und die Sonne über den Dächern von Paris aufgehen sah.

»Ich liebe Paris«, sagte er. »Es ist wie ein Tempel für die besten Dinge, die die Menschen je gemacht haben. Es ist eine Stadt der Schönheit, des guten Essens und der Liebe.« Er drehte sich grinsend zu ihr um. »Nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.« Noelle sah zu, wie er sich auszog und neben ihr ins Bett kletterte. Sie hielt ihn, liebte es, ihn zu fühlen, liebte seinen männlichen Geruch. Sie dachte an ihren Vater und wie er sie verraten hatte. Es war ein Irrtum von ihr gewesen, alle Männer nach ihm und Auguste Lanchon zu beurteilen. Jetzt wusste sie, dass es Männer wie Larry Douglas gab. Und sie wusste auch, dass es nie mehr einen anderen für sie geben würde.

»Weißt du, wer die beiden größten Männer waren, die je gelebt haben, Prinzessin?« fragte er.

»Du«, sagte sie.

»Die Brüder Wright. Sie gaben dem Menschen die wahre Freiheit. Bist du mal geflogen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir hatten ein Sommerhaus in Montauk – das liegt am Ende von Long Island -, und als Kind habe ich immer die Möwen beobachtet, wie sie durch die Luft kreisten und auf der Strömung schwebten, und ich hätte meine Seele hingegeben, bei ihnen da oben zu sein. Ich wusste, ich wollte Flieger werden, ehe ich überhaupt laufen konnte. Ein Freund unserer Familie nahm mich in einem alten Doppeldecker einmal mit, als ich neun war, und ich bekam meinen ersten Flugunterricht mit vierzehn. Da lebe ich erst richtig, wenn ich in der Luft bin.«

Und später:

»Es wird einen Weltkrieg geben. Deutschland will alles haben.«

»Frankreich wird es nicht bekommen, Larry. Niemand kommt über die Maginot-Linie hinaus.«

Er schnaubte. »Ich bin hundertmal darüber hinausgekommen.« Sie sah ihn verwirrt an. »In der Luft, Prinzessin. Dies wird ein Luftkrieg werden ... mein Krieg.«

Und später, beiläufig:

»Warum heiraten wir eigentlich nicht?«

Es war der glücklichste Augenblick in Noelles Leben.

Sonntag war ein entspannter, fauler Tag. Sie frühstückten in einem kleinen Straßencafe auf dem Montmartre, gingen in ihr Zimmer zurück und verbrachten fast den ganzen Tag im Bett. Noelle konnte gar nicht glauben, dass jemand so ekstatisch sein konnte. Es war ein reiner Zauber für sie, wenn sie sich umarmten, aber sie war genauso zufrieden, dazuliegen und Larry zuzuhören und ihn zu beobachten, wenn er ruhelos im Zimmer herumging. Ihr genügte es vollkommen, in seiner Nähe zu sein. Komisch, dachte sie, wie die Dinge sich entwickelten. Sie war als Prinzessin, wie ihr Vater sie nannte, aufgewachsen, und jetzt, obgleich als Witz, nannte Larry sie auch Prinzessin. Wenn sie bei Larry war, war sie etwas. Er hatte ihren Glauben an die Männer wiederhergestellt. Er war ihre Welt, und Noelle wusste, dass sie nie wieder etwas anderes brauchen würde, und es schien ihr einfach unglaublich, dass sie so viel Glück hatte, dass er dieselben Gefühle ihr gegenüber hegte.

»An sich wollte ich nicht heiraten, ehe dieser Krieg vorüber ist«, sagte er zu ihr. »Aber zum Teufel damit. Pläne werden gemacht, um geändert zu werden, stimmt's, Prinzessin?«

Sie nickte, von einem Glück erfüllt, das sie zu sprengen drohte.

»Lassen wir uns von irgendeinem Maire auf dem Land trauen«, sagte Larry. »Es sei denn, du möchtest eine große Hochzeit haben.«

Noelle schüttelte den Kopf. »Ich finde es auf dem Land wunderbar.«

Er nickte. »Abgemacht. Ich muss mich heute Abend bei meiner Staffel zurückmelden. Ich treffe mich mit dir hier am nächsten Freitag. Was meinst du dazu?«

»Ich – ich weiß nicht, ob ich es ertrage, so lange von dir getrennt zu sein.« Noelles Stimme zitterte.

Larry nahm sie in die Arme und hielt sie fest. »Liebst du mich?« fragte er.

»Mehr als mein Leben«, erwiderte Noelle einfach.

Zwei Stunden später war Larry auf dem Weg nach England. Er ließ sie nicht zum Flughafen mitkommen. »Ich mag diese Abschiede nicht«, sagte er. Er gab ihr eine große Handvoll Francnoten. »Kauf dir ein Hochzeitskleid, Prinzessin. Ich werde dich nächste Woche darin wieder sehen.« Und weg war er.

Noelle verbrachte die nächste Woche in einem Stadium der Euphorie. Sie ging zu den Orten zurück, wo sie und Larry gewesen waren, verbrachte Stunden damit, über ihr gemeinsames Leben zu träumen. Die Tage schienen sich hinzuschleppen, die Minuten rührten sich nicht, bis Noelle glaubte, sie würde den Verstand verlieren.

Sie ging in ein Dutzend Geschäfte auf der Suche nach einem Hochzeitskleid, bis sie bei Madeleine Vionett schließlich genau das fand, was sie wollte. Es war ein schönes Organzakleid mit hochgeschlossenem Mieder, langen Ärmeln mit einer Reihe von sechs Perlenknöpfen und drei Krinolinen-Unterröcken. Es kostete viel mehr, als Noelle erwartet hatte, aber sie zögerte nicht. Sie nahm das ganze Geld, das Larry ihr gegeben hatte, und fast all ihre Ersparnisse. Ihr ganzes Ich drehte sich um Larry. Sie überlegte sich, wie sie ihm eine Freude machen konnte, durchforschte ihre Erinnerung nach Dingen, die ihn belustigen könnten, nach Anekdoten, die ihn unterhalten würden. Sie kam sich wie ein Schulmädchen vor.

Auf diese Weise wartete Noelle in qualvoller Ungeduld auf den Freitag, und als er endlich kam, war sie schon ganz früh auf und verbrachte zwei Stunden mit Baden und Anziehen, zog Kleider an, zog Kleider wieder aus, versuchte zu erraten, welches Kleid Larry am besten gefallen würde. Sie zog ihr Hochzeitskleid an, zog es aber schnell wieder aus, aus Furcht, es könnte Unglück bringen. Sie war wahnsinnig vor Aufregung.

Um zehn Uhr stand Noelle vor dem Trumeauspiegel im Schlafzimmer und wusste, dass sie noch nie so schön ausgesehen hatte. Es lag nichts Egozentrisches in ihrer Bewertung; sie war einfach froh für Larry, froh, dass sie ihm dieses Geschenk machen konnte. Es wurde Mittag, und er war noch nicht erschienen, und Noelle wünschte, er hätte ihr gesagt, wann er voraussichtlich ankäme. Alle zehn Minuten rief sie die Rezeption unten an, ob eine Mitteilung für sie vorliege, und hob den Hörer immer wieder, um sicherzugehen, dass das Telefon in Ordnung war. Um sechs Uhr abends war immer noch keine Nachricht von ihm da. Um Mitternacht hatte er noch nicht angerufen, und Noelle saß zusammengesunken in einem Sessel, starrte auf das Telefon, wünschte, es würde läuten. Sie schlief ein, und als sie aufwachte, war es Sonnabend früh. Sie saß immer noch in ihrem Sessel, steif und kalt. Das Kleid, das sie so sorgfältig gewählt hatte, war zerknittert.

Noelle zog sich um und blieb den ganzen Tag im Zimmer, pflanzte sich vor dem offenen Fenster auf, sagte sich, wenn sie dabliebe, würde Larry erscheinen; wenn sie wegginge, würde ihm etwas Furchtbares zustoßen. Als der Sonnabend Vormittag sich in den Nachmittag hinzog, wurde sie von der Überzeugung durchdrungen, dass es einen Unfall gegeben hatte. Larrys Maschine war abgestürzt, und er lag in einem Feld oder in einem Hospital, verletzt oder tot. Die scheußlichsten Vorstellungen gingen Noelle durch den Kopf. Sie blieb die ganze Sonnabendnacht auf, krank vor Sorgen, hatte Angst, das Zimmer zu verlassen, und wusste nicht, wie sie Larry erreichen konnte.

Als Noelle am Sonntagmittag noch nichts von ihm gehört hatte, konnte sie es nicht mehr länger aushaken. Sie musste ihn anrufen. Aber wie? Im Krieg war es schwer, einen Anruf nach Übersee zu tätigen, und sie war noch nicht mal sicher, wo Larry war. Sie wusste nur, dass er bei der RAF war und in einer amerikanischen Staffel flog. Sie hob den Hörer ab und sprach mit der Telefonzentrale.

»Unmöglich«, sagte das Telefonfräulein rundheraus.

Noelle erklärte die Lage, und ob es nun ihre Worte waren oder die furchtbare Verzweiflung in ihrer Stimme, erfuhr sie nie, aber zwei Stunden später sprach sie mit dem Kriegsministerium in London. Dort konnte man ihr nicht helfen, doch sie wurde mit dem Luftfahrtministerium in Whitehall verbunden, das eine Verbindung mit Combat Operations herstellte, aber sie wurde getrennt, ehe sie eine Auskunft erhalten konnte. Nach vier weiteren Stunden kam wieder eine Verbindung zustande, und inzwischen war sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Air Operations konnten ihr keine Auskunft geben und schlugen vor, es beim Kriegsministerium zu versuchen.

»Mit dem habe ich gesprochen!« schrie Noelle ins Telefon. Sie schluchzte, und die männliche englische Stimme am anderen Ende sagte verlegen: »Bitte, Miss, so schlimm kann es nicht sein. Bleiben Sie einen Augenblick am Apparat.«

Noelle hielt den Hörer in der Hand und wusste, dass es hoffnungslos war. Sie war sicher, dass Larry tot war und dass sie nie erfahren würde, wie und wo er umgekommen war. Und schon wollte sie auflegen, als die Stimme wieder in ihr Ohr drang und fröhlich sagte: »Was Sie haben wollen, Miss, ist die Adler-Staffel. Das sind die Yanks, in Yorkshire stationiert. Es ist zwar ein bisschen regelwidrig, aber ich werde Sie mit Church Fenton, ihrem Flugfeld, verbinden. Die Jungs dort werden Ihnen helfen können.« Und dann war der Anschluss tot.

Erst um elf Uhr in jener Nacht konnte Noelle wieder eine

Verbindung bekommen. Eine geisterhafte Stimme sagte: »Luftwaffenstützpunkt Church Fenton«, und die Verbindung war so schlecht, dass Noelle ihn kaum hören konnte. Es klang, als spräche er vom Meeresboden aus. Auch er schien Schwierigkeiten zu haben, sie zu hören. »Lauter, bitte«, sagte er. Inzwischen waren Noelles Nerven derart gereizt, dass sie ihre Stimme kaum unter Kontrolle halten konnte.

»Ich möchte« – sie kannte nicht einmal seinen Rang. Leutnant?

Hauptmann? Major? »Ich möchte Larry Douglas sprechen. Ich bin seine Verlobte.«

»Ich kann Sie nicht hören, Miss. Können Sie bitte lauter sprechen?«

Am Rande der Verzweiflung schrie Noelle die Worte wieder hinaus, war sicher, dass der Mann am anderen Ende versuchte, ihr zu verheimlichen, dass Larry tot war. Aber einen wunderbaren Augenblick wurde die Verbindung ganz klar, und sie hörte die Stimme, als wäre er im Zimmer nebenan, sagen: »Leutnant Larry Douglas?«

»Ja«, sagte sie, ihre Erregung mit aller Gewalt beherrschend.

»Augenblick, bitte.«

Noelle wartete, wie es ihr schien, eine Ewigkeit, und dann kam die Stimme wieder und sagte: »Leutnant Douglas ist auf Wochenend-Urlaub. In dringenden Fällen ist er im Hotel Savoy, London, Ballsaal, General Davis' Party, zu erreichen.« Und die Verbindung brach ab.

Als das Stubenmädchen am nächsten Morgen hereinkam, um das Zimmer in Ordnung zu bringen, fand sie Noelle auf dem Boden, halb bewusstlos, vor. Das Mädchen starrte sie einen Augenblick an, überlegte sich, ob sie sich um ihre eigenen Dinge kümmern und wieder hinausgehen sollte. Warum passierten solche Sachen immer in ihren Zimmern? Sie ging hinüber und berührte Noelles Stirn. Sie war glühend heiß. Brummend watschelte das Mädchen in die Halle hinunter und bat den Portier, den Manager hinauf zuschicken. Eine Stunde später hielt ein Krankenwagen vor dem Hotel, und zwei junge Assistenzärzte mit einer Bahre wurden zu Noelles Zimmer gewiesen. Noelle war bewusstlos. Der junge leitende Assistenzarzt hob eines ihrer Augenlider, setzte ihr ein Stethoskop auf die Brust und horchte ihre rasselnden Atemzüge ab. »Lungenentzündung«, sagte er zu seinem Kollegen. »Raus mit ihr.«

Sie hoben Noelle auf die Bahre, und fünf Minuten später raste der Krankenwagen zum Hospital. Sie wurde unter ein Sauerstoffzelt gelegt, und es dauerte vier Tage, bis sie wieder völlig bei Bewusstsein war. Sie zog sich widerwillig aus den trüben grünen Tiefen der Vergessenheit empor, im Unterbewusstsein wissend, dass etwas Furchtbares geschehen war, und gegen die Erinnerung daran ankämpfend. Als das Furchtbare immer näher an die Oberfläche ihres Bewusstseins drang und sie sich mit allen Kräften dagegen wehrte, wurde es ihr plötzlich ganz klar. Larry Douglas. Noelle weinte, wurde von Schluchzern geschüttelt, bis sie schließlich in einen Halbschlaf sank. Sie fühlte, wie eine Hand sanft die ihre hielt, und wusste, dass Larry zu ihr zurückgekommen war und dass alles gut war. Noelle schlug die Augen auf und starrte einen Fremden in einem weißen Kittel an, der ihr den Puls fühlte. »Nun! Willkommen!« verkündete er fröhlich.

»Wo bin ich?« fragte Noelle.

»Im städtischen Zentralkrankenhaus.«

»Was tu ich hier?«

»Gesund werden. Sie hatten doppelseitige Lungenentzündung. Ich heiße Israel Katz.« Er war jung, hatte ein markantes, intelligentes Gesicht und tief liegende braune Augen.

»Sind Sie mein Arzt?«

»Assistenzarzt«, sagte er. »Ich habe Sie eingeliefert.« Er lächelte sie an. »Ich bin froh, dass Sie durchgekommen sind. Wir waren nicht sicher.«

»Wie lange bin ich schon hier?«

»Vier Tage.«

»Würden Sie mir einen Gefallen tun?« fragte sie schwach.

»Gern, wenn ich kann.«

»Rufen Sie das Hotel Lafayette an. Fragen Sie« – sie zögerte – »fragen Sie, ob eine Mitteilung für mich hinterlassen wurde.«

»Nun, ich habe schrecklich viel zu tun«

Noelle drückte heftig seine Hand. »Bitte. Es ist wichtig. Mein Verlobter versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen.«

Er grinste. »Kann ich ihm nachfühlen. Gut. Ich werde mich darum kümmern«, versprach er. »Und jetzt schlafen Sie ein bisschen.«

»Nicht, bis ich von Ihnen höre«, sagte sie.

Er ging hinaus, und Noelle lag wartend da. Natürlich hatte Larry versucht, sie zu erreichen. Es war einfach ein furchtbares Missverständnis gewesen. Er würde ihr alles erklären, und alles würde wieder gut sein.

Erst nach zwei Stunden kam Israel Katz zurück. Er trat an ihr Bett und stellte ein Köfferchen auf den Boden. »Ich habe Ihre Kleider mitgebracht. Ich bin selbst ins Hotel gegangen«, sagte er.

Sie blickte zu ihm auf, und er sah, wie ihr Gesicht sich spannte.

»Es tut mir leid«, sagte er verlegen. »Keine Mitteilung.«

Noelle starrte ihn lange an, drehte ihr Gesicht dann zur Wand, trockenen Auges.

Zwei Tage später wurde Noelle aus dem Krankenhaus entlassen. Israel Katz kam, um sich von ihr zu verabschieden. »Haben Sie eine Adresse, wo Sie hingehen können?« fragte er. »Oder eine Stelle?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was haben Sie für einen Beruf?«

»Ich bin Mannequin.«

»Da könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

Sie erinnerte sich an den Taxifahrer und Madame Delys. »Ich brauche keine Hilfe«, sagte sie.

Israel Katz schrieb einen Namen auf ein Stück Papier. »Wenn Sie sich's anders überlegen sollten, gehen Sie dahin. Es ist ein kleines Modehaus, gehört einer Tante von mir. Ich werde ihr Bescheid sagen. Haben Sie Geld?«

Sie antwortete nicht.

»Da.« Er zog ein paar Francs aus der Tasche und gab sie ihr. »Tut mir leid, dass ich nicht mehr habe. Assistenzärzte verdienen nicht sehr viel.«

»Danke«, sage Noelle.

Sie saß in einem kleinen Straßencafe, nippte an einem Kaffee und überlegte sich, wie sie die Stücke ihres Lebens wieder zusammensetzen konnte. Sie wusste, dass sie überleben musste, denn jetzt hatte sie einen Grund zu leben. Sie war erfüllt von einem tiefen, brennenden Hass, der sie derart verzehrte, dass für nichts anderes mehr Raum blieb. Sie war ein rächender Phönix, der aus der Asche der Leidenschaft, die Larry Douglas in ihr gemordet hatte, emporstieg. Sie würde nicht ruhen, bis sie ihn vernichtet hatte. Sie wusste nicht, wie oder wann, aber sie wusste, dass sie es eines Tages zuwege bringen würde.

Jetzt brauchte sie eine Stelle und ein Dach überm Kopf. Noelle öffnete ihre Handtasche und nahm den Zettel heraus, den der junge Assistenzarzt ihr gegeben hatte. Sie betrachtete ihn einen Augenblick und entschloss sich dann. An jenem Nachmittag suchte sie Israel Katz' Tante auf und bekam eine Anstellung als Vorführdame in einem kleinen zweitklassigen Modehaus in der Rue Boursault.

Israel Katz' Tante stellte sich als grauhaarige Frau mittleren Alters mit einem raubgierigen Gesicht und der Seele eines Engels heraus. Sie bemutterte alle ihre Mädchen, und die beteten sie an. Ihr Name war Madame Rose. Sie gab Noelle gleich einen Vorschuss auf ihr Gehalt und besorgte ihr eine

winzige Wohnung in der Nähe des Salons. Das erste, was Noelle beim Auspacken tat, war, ihr Hochzeitskleid aufzuhängen. Sie hängte es an den Wandschrank, so dass es das erste war, was sie beim Aufwachen sah, und das letzte, wenn sie sich abends auszog.

Noelle wusste, dass sie schwanger war, ehe es sichtbare Anzeichen dafür gab, ehe Tests gemacht worden waren, ehe ihre Periode ausblieb. Sie fühlte das neue Leben, das sich in ihrem Schoß bildete, und nachts im Bett starrte sie zur Decke empor und dachte darüber nach, und ihre Augen glühten vor wilder animalischer Freude.

An ihrem ersten freien Tag rief Noelle Israel Katz an und verabredete sich mit ihm zum Mittagessen.

»Ich bin schwanger«, sagte sie zu ihm.

»Woher wissen Sie das? Sind Tests gemacht worden?«

»Ich brauche keine Tests.«

Er schüttelte den Kopf. »Noelle, viele Frauen glauben, sie kriegen ein Kind, und kriegen keins. Wie oft ist Ihre Periode ausgeblieben?«

Sie schob die Frage ungeduldig beiseite. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Er starrte sie an. »Um das Kind abzutreiben? Haben Sie es mit dem Vater besprochen?«

»Der ist nicht hier.«

»Sie wissen, dass Abtreibungen verboten sind. Ich könnte in schreckliche Schwierigkeiten geraten.«

Noelle sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Was ist Ihr Preis?«

Sein Gesicht spannte sich ärgerlich. »Glauben Sie, alles hat seinen Preis, Noelle?«

»Natürlich«, sagte sie einfach. »Alles kann gekauft und verkauft werden.«

»Einschließlich Ihrer Person?«

»Ja, aber ich bin teuer. Wollen Sie mir helfen?«

Es folgte ein langes Zögern. »Gut. Ich möchte zuerst einige Tests machen.«

»Bitte, sehr gut.«

In der nächsten Woche machte Israel Katz für Noelle einen Termin mit dem Laboratorium des Krankenhauses aus. Als die Testergebnisse zwei Tage später vorlagen, rief er sie in der Arbeitszeit an. »Sie hatten recht«, sagte er. »Sie sind schwanger.«

»Ich weiß.«

»Ich habe Vorkehrungen getroffen, dass im Krankenhaus eine Ausschabung bei Ihnen gemacht werden kann. Ich habe erklärt, Ihr Mann sei bei einem Unfall umgekommen und Sie könnten das Kind nicht austragen. Wir werden die Operation nächsten Sonnabend vornehmen.«

»Nein«, sagte sie.

»Ist Sonnabend ein schlechter Tag für Sie?«

»Ich bin für die Abtreibung noch nicht bereit, Israel. Ich wollte nur wissen, ob ich mit Ihrer Hilfe rechnen kann.«

Madame Rose bemerkte die Veränderung an Noelle, nicht nur die physische, sondern etwas viel Tieferreichendes, ein Strahlen, eine innere Glut, von der sie erfüllt zu sein schien. Noelle ging mit einem steten leisen Lächeln herum, als ob sie ein wundervolles Geheimnis in sich bewahrte.

»Sie haben einen Liebhaber gefunden«, sagte Madame Rose. »Man kann es in Ihren Augen lesen.«

Noelle nickte. »Ja, Madame.«

»Er ist gut für Sie. Halten Sie ihn fest.«

»Das werde ich«, versprach Noelle. »Solange ich kann.«

Drei Wochen später rief Israel Katz an. »Ich habe nichts mehr von Ihnen gehört«, sagte er. »Haben Sie es denn vergessen?«

»Nein«, sagte Noelle. »Ich denke die ganze Zeit daran.«

»Wie fühlen Sie sich?«

»Wunderbar.«

»Ich habe mir den Kalender angesehen. Ich glaube, wir

sollten uns an die Arbeit machen.«

»Ich bin noch nicht bereit«, sagte Noelle.

Es vergingen drei Wochen, ehe Israel Katz wieder anrief.

»Hätten Sie Lust, mit mir zu Abend zu essen?« fragte er.

»Gern.«

Sie verabredeten sich in einem billigen Cafe in der Rue de Chat Qui Peche. Noelle hatte zuerst ein besseres Restaurant vorschlagen wollen, erinnerte sich aber dann, was Israel über die schlechte Bezahlung von Assistenzärzten gesagt hatte.

Er war schon da, als sie ankam. Während des Essens plauderten sie zwanglos, und erst beim Kaffee rückte Israel mit der Sprache heraus.

»Wollen Sie die Abtreibung immer noch machen lassen?« fragte er.

Noelle sah ihn überrascht an. »Natürlich.«

»Dann muss sie gleich gemacht werden. Sie sind jetzt mehr als zwei Monate schwanger.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht, Israel.«

»Ist das Ihre erste Schwangerschaft?«

»Ja.«

»Dann muss ich Ihnen etwas sagen, Noelle. Bis zu drei Monaten ist eine Abtreibung im allgemeinen eine leichte Sache. Der Embryo hat sich noch nicht voll entwickelt, und es ist nur eine einfache Ausschabung nötig, doch nach drei Monaten« – er zögerte – »ist es eine andere Operation und wird gefährlich. Je länger Sie warten, desto gefährlicher wird es. Ich möchte, dass Sie sich jetzt operieren lassen.«

Noelle beugte sich vor. »Wie sieht das Kind aus?«

»Jetzt?« Er zuckte die Schultern. »Ein Haufen Zellen. Natürlich sind alle Zellkerne schon vorhanden, um ein vollkommenes menschliches Wesen zu bilden.«

»Und nach drei Monaten?«

»Beginnt der Embryo, ein Mensch zu werden.«

»Kann erfühlen?«

»Er reagiert auf Schläge und laute Geräusche.«

Sie saß da, und ihre Augen hielten die seinen fest. »Kann er Schmerz empfinden?«

»Ich denke schon. Aber er wird von einer Hülle geschützt.« Plötzlich fühlte er sich unbehaglich. »Es wäre ziemlich schwer, ihn zu verletzen.«

Noelle schlug die Augen nieder und starrte auf den Tisch, schweigend und gedankenvoll.

Israel betrachtete sie einen Augenblick und sagte dann schüchtern: »Noelle, wenn Sie dieses Kind behalten wollen und fürchten sich davor, weil es keinen Vater haben wird ... nun, ich wäre bereit, Sie zu heiraten und dem Kind einen Namen zu geben.«

Sie blickte erstaunt auf. »Ich sagte Ihnen doch schon, ich möchte das Kind nicht haben. Ich möchte eine Abtreibung.«

»Dann, zum Donnerwetter, lassen Sie sie machen!« brüllte Israel. Er dämpfte die Stimme, als er merkte, dass andere Gäste ihn anstarrten. »Wenn Sie noch länger warten, gibt es keinen Doktor in ganz Frankreich, der sie macht. Verstehen Sie denn nicht? Wenn Sie zu lange warten, könnten Sie sterben!«

»Ich verstehe«, sagte Noelle ruhig. »Wenn ich dieses Kind bekommen sollte, auf welche Diät würden Sie mich setzen?«

Er fuhr sich verwirrt durch die Haare. »Viel Milch und Obst, mageres Fleisch.«

Auf ihrem Nachhauseweg ging Noelle rasch auf den Markt an der Ecke in der Nähe ihrer Wohnung und kaufte zwei Liter Milch und eine Kiste frisches Obst.

Zehn Tage später ging Noelle in Madame Roses Privatbüro und sagte ihr, sie sei in anderen Umständen, und bat um Urlaub.

»Wie lange?« fragte Madame Rose, Noelles Figur musternd.

»Sechs oder sieben Wochen.«

Madame Rose seufzte. »Sind Sie sicher, dass es das Beste ist, was Sie tun?«

»Ich bin sicher«, erwiderte Noelle.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Nichts.«

»Nun gut. Kommen Sie zurück, sobald Sie können. Ich werde die Kassiererin anweisen, Ihnen einen Vorschuss auf Ihr Gehalt auszuzahlen.«

»Danke, Madame.«

Die nächsten Wochen verließ Noelle ihre Wohnung nie, außer, um Lebensmittel zu kaufen. Sie war nicht hungrig und aß sehr wenig für sich selbst, aber sie trank riesige Mengen Milch und stopfte sich mit Obst voll. Sie war nicht allein in ihrer Wohnung. Das Kind war bei ihr, und sie sprach fortwährend mit ihm. Sie wusste, dass es ein Junge war, genau wie sie gewusst hatte, dass sie schwanger war. Sie hatte ihn Larry getauft.

»Du sollst groß und stark werden«, sagte sie, als sie ihre Milch trank. »Du sollst gesund ... gesund und stark sein, wenn du stirbst.« Jeden Tag lag sie im Bett und plante ihre Rache an Larry und seinem Sohn. Was sie im Schoß trug, war nicht Teil von ihr. Es gehörte ihm, und sie würde es töten. Es war das einzige von sich, was er ihr hinterlassen hatte, und sie würde es vernichten, wie er versucht hatte, sie zu vernichten.

Wie wenig Israel Katz sie begriffen hatte! Sie war nicht an einem formlosen Embryo interessiert, der nichts wusste. Sie wollte, dass Larrys Brut spürte, was ihm geschehen würde, sie sollte leiden, wie sie gelitten hatte. Das Hochzeitskleid hing jetzt neben ihrem Bett, immer in Sicht, ein Talisman des Bösen, eine Mahnung an seinen Verrat. Zuerst Larrys Sohn, dann Larry.

Das Telefon läutete oft, aber Noelle lag im Bett, in ihre Träume versunken, bis es aufhörte. Sicher war es Israel Katz, der sich mit ihr in Verbindung setzen wollte.

Eines Abends wurde an die Tür getrommelt. Noelle lag im Bett, hörte nicht hin, aber als das Trommeln nicht nachließ, schleppte sie sich schließlich zur Tür und öffnete.

Israel Katz stand mit sorgenvollem Gesicht da. »Mein Gott, Noelle, ich rufe Sie seit Tagen an.«

Er sah auf ihren geschwollenen Leib. »Ich glaubte schon, Sie hätten es woanders machen lassen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie werden es machen.«

Israel starrte sie an. »Haben Sie denn gar nicht verstanden, was ich Ihnen gesagt habe? Es ist zu spät! Niemand wird es machen.«

Er sah die leeren Milchflaschen und das Obst auf dem Tisch, blickte dann wieder zu ihr zurück. »Sie wollen das Kind also haben«, sagte er. »Warum geben Sie es nicht zu?«

»Sagen Sie mir, Israel, wie sieht es jetzt aus?«

»Wer?«

»Das Kind. Hat es Augen und Ohren? Finger und Zehen? Kann es Schmerz fühlen?«

»Um Himmels willen, Noelle, hören Sie auf. Sie reden, als ob ... als ob ...«

»Was?«

»Nichts.« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht.«

Sie lächelte leise. »Nein. Sie verstehen mich nicht.«

Er stand einen Augenblick da und überlegte.

»Na gut, ich stecke meinen Hals in die Schlinge für Sie, aber wenn Sie wirklich entschlossen sind abzutreiben, dann kriegen wir's hinter uns. Ich habe einen befreundeten Kollegen, der mir eine Gefälligkeit schuldet. Ich werde ...«

»Nein.«

Er starrte sie an.

»Larry ist noch nicht bereit«, sagte sie.

Drei Wochen später wurde Israel um vier Uhr morgens von einem wütenden Donnern des Concierge an seiner Tür geweckt. »Telefon, Monsieur Nachteule!« brüllte er. »Und sagen Sie dem Anrufer, es sei mitten in der Nacht, wo ehrbare

Leute schlafen!«

Israel stolperte aus dem Bett und ging noch halb schlafend in die Halle zum Telefon hinunter, fragte sich dabei, was für eine Krise das jetzt wieder war. Er hob den Hörer.

»Israel...«

Er erkannte die Stimme am anderen Ende nicht.

»Ja?«

»Jetzt ...«Es war ein Flüstern, geisterhaft anonym.

»Wer ist da?«

»Jetzt. Kommen Sie jetzt, Israel...«

Es lag etwas so Unheimliches, Schauerliches in der Stimme, dass es ihm kalt den Rücken hinunterlief. »Noelle?«

»Jetzt...«

»Zum Donnerwetter!« platzte er heraus. »Ich mach' es nicht. Es ist zu spät. Sie werden sterben, und ich will nicht verantwortlich dafür sein. Lassen Sie sich in ein Krankenhaus bringen.«

In seinem Ohr erklang ein Knacken, und er stand da, den Hörer in der Hand. Er warf den Hörer auf und ging in sein Zimmer zurück, seine Gedanken rasten. Er wusste, dass er nichts mehr tun konnte. Niemand könnte etwas tun. Sie war fünfeinhalb Monate schwanger. Er hatte sie immer und immer wieder gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Nun, es war ihre Sache. Er wollte nichts damit zu tun haben.

Er zog sich mit fliegenden Händen an, kalt vor Angst.

Als Israel Katz in ihre Wohnung trat, lag Noelle in einer Blutlache auf dem Boden. Ihr Gesicht war leichenblass, wies aber keine Anzeichen der rasenden Schmerzen auf, die ihren Körper gemartert haben mussten. Anscheinend trug sie ein Hochzeitskleid. Israel kniete sich neben sie. »Was ist passiert?« fragte er. »Wie kam —?« Er hielt inne, als sein Blick auf einen blutigen, verbogenen Drahtkleiderbügel neben ihren Füßen fiel.

»Um Gottes willen!« Maßlose Wut und gleichzeitig ein enttäuschendes Gefühl der Hilflosigkeit packten ihn. Das Blut sprudelte jetzt schneller, es war kein Augenblick zu verlieren.

»Ich hole einen Krankenwagen«, und er stand auf.

Noelle langte nach ihm, umklammerte seinen Arm mit erstaunlicher Kraft und zog ihn zu sich herunter.

»Larrys Kind ist tot«, sagte sie, und ihr Gesicht hellte sich zu einem wunderbaren Lächeln auf.

Ein Team von sechs Ärzten mühte sich fünf Stunden ab, Noelles Leben zu retten. Die Diagnose lautete Blutvergiftung, perforierte Gebärmutter und Schock. Alle Doktoren waren sich einig, dass sie kaum Überlebenschancen hatte. Um sechs Uhr an jenem Abend war Noelle außer Gefahr, und zwei Tage später saß sie aufrecht im Bett und konnte schon sprechen. Israel besuchte sie.

»Alle Ärzte sagen, es sei ein Wunder, dass Sie noch leben, Noelle.«

Sie schüttelte den Kopf. Es war einfach noch nicht Zeit für sie zu sterben. Sie hatte ihre erste Rache an Larry genommen, aber das war nur der Anfang. Es würde noch mehr kommen. Viel mehr. Zuerst jedoch musste sie ihn finden. Das brauchte Zeit. Aber sie würde es tun.

Catherine

Chicago 1939-1940

Die immer heftiger über Europa stürmenden Winde des Krieges schwächten sich an den Küsten der Vereinigten Staaten zu einem sanften, warnenden Lüftchen ab.

Im Northwestern Campus traten ein paar Jungen mehr in das ROTC1 ein; auf Studenten-Kundgebungen wurde Präsident Roosevelt aufgefordert, Deutschland den Krieg zu erklären, und ein paar ältere Semester meldeten sich freiwillig zur Armee. Im allgemeinen verharrte man jedoch in Selbstgefälligkeit, und die untergründige Welle, die bald das Land überfluten sollte, war noch kaum bemerkbar.

Als Catherine Alexander an jenem Oktobernachmittag zum Roost ging, um ihren Kassiererinnendienst anzutreten, fragte sie sich, ob der Krieg, wenn er käme, ihr Leben verändern würde. Sie kannte eine Veränderung, die sie selbst vornehmen musste, und sie war entschlossen, dies so schnell wie möglich zu tun. Sie wollte jetzt unbedingt wissen, wie es war, in den Armen eines Mannes zu liegen und geliebt zu werden, und sie wusste, dass sie es teils aus einem physischen Bedürfnis heraus wollte, aber auch, weil sie glaubte, eine wichtige und wundervolle Erfahrung zu versäumen. Mein Gott, wenn sie durch einen Autounfall umkäme und man bei einer Autopsie feststellte, dass sie noch Jungfrau war! Nein, da musste etwas geschehen. Gleich. Jetzt.

Catherine blickte sich im Roost vorsichtig um, sah aber das Gesicht, das sie suchte, nicht. Als Ron Peterson eine Stunde später mit Jean-Anne hereinkam, spürte Catherine, wie ihr ganzer Körper kribbelte und ihr Herz zu klopfen begann. Sie wandte sich ab, als die beiden an ihr vorübergingen, und sah aus dem Augenwinkel, dass sie auf Rons Nische zusteuerte und sich setzten. Überall im Raum hingen Werbesprüche. »PROBIEREN SIE UNSEREN DOPPELTEN SPEZIAL HAMBURGER« ... »KOSTEN SIE UNSER LOVER's DELIGHT« ... »VERSUCHEN SIE UNSER DREIFACH GEBRAUTES MALZBIER«.

Catherine holte tief Atem und ging zu der Nische hinüber. Ron Peterson sah die Speisekarte durch und versuchte, sich für etwas zu entscheiden. »Ich weiß nicht, was ich will«, sagte er.

»Wie hungrig bist du?« fragte Jean-Anne.

»Ich sterbe vor Hunger.«

»Dann versuch das.« Beide blickten überrascht auf. Catherine stand neben der Nische. Sie reichte Ron Peterson einen gefalteten Zettel, drehte sich um und ging zu ihrer Registrierkasse zurück.

Ron entfaltete den Zettel, las ihn und brach in Lachen aus. Jean-Anne betrachtete ihn kühl.

»Ist es ein Privatwitz, oder kann man auch etwas davon erfahren?«

»Privat«, sagte Ron grinsend und steckte den Zettel in die Tasche.

Ron und Jean-Anne gingen kurz danach. Ron sagte nichts, als er die Rechnung bezahlte, sah Catherine aber lange forschend an, lächelte und ging mit Jean-Anne am Arm hinaus. Catherine sah ihnen nach und kam sich wie eine Idiotin vor. Sie wusste noch nicht einmal, wie man einen erfolgreichen Annäherungsversuch bei einem Jungen machte.

Als ihre Schicht zu Ende war, zog Catherine ihren Mantel an, sagte gute Nacht zu dem Mädchen, das sie ablöste, und ging. Es war ein warmer Herbstabend, eine kühlende Brise wehte vom See her herein. Der Himmel hatte die Farbe purpurroten Samtes, an dem sanft schimmernde Sterne unerreichbar waren. Es war ein idealer Abend für was -? Catherine machte sich in Gedanken eine Liste.

Ich kann nach Hause gehen und mir das Haar waschen.

Ich kann in die Bibliothek gehen und mich auf die Lateinprüfung morgen vorbereiten.

Ich kann ins Kino gehen.

Ich kann mich im Gebüsch verstecken und den ersten vorbeikommenden Matrosen vergewaltigen.

Ich kann mit jemandem anbändeln.

Anbändeln, beschloss sie.

Als sie über den Campus zur Bibliothek ging, trat eine Gestalt hinter einem Laternenpfahl hervor.

»Hallo, Cathy. Wohin?«

Es war Ron Peterson. Er lächelte auf sie hinunter, und Cathe-rines Herz begann zu klopfen, bis es ihr die Brust sprengte. Sie hatte das Gefühl, es mache sich selbständig und hüpfe durch die Luft davon. Sie merkte, dass Ron sie anstarrte. Kein Wunder. Wie viele Mädchen kannte er, die diesen Herztrick zustande brachten? Sie wollte unbedingt ihr Haar kämmen, ihr Make-up auffrischen und ihre Strumpfnähte nachprüfen, trotzdem versuchte sie, ihre Nervosität nicht zu zeigen. Regel Nummer eins: Ruhe behalten.

Sie murmelte etwas in sich hinein.

»Wohin gehst du?«

Sollte sie ihm ihre Liste nennen? Um Gottes willen, nein! Er würde sie für verrückt halten. Das war ihre große Chance, und sie durfte sie sich nicht verderben. Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen waren so freundlich und einladend wie die Carole Lombards in Nothing Sacred.

»Ich hatte keine besonderen Pläne«, sagte sie lockend.

Ron blickte sie prüfend und unsicher an, war aus einem Urinstinkt heraus vorsichtig. »Würdest du gern etwas Besonderes unternehmen?« fragte er.

Das war's. Der Antrag. Der Punkt, von dem es keinen Rückzug gab. »Schlag was vor«, sagte sie, »ich mach' mit.« Und krümmte sich innerlich. Es klang unmöglich. Niemand sagte: »Schlag was vor, ich mach' mit.« Wahrscheinlich würde er sich

jetzt umdrehen und angewidert davongehen.

Aber nein. Es war unglaublich, doch er lächelte, nahm ihren Arm und sagte: »Gehen wir.«

Catherine ging wie betäubt mit ihm mit. So einfach war es gewesen. Sie war auf dem Weg, aufs Kreuz gelegt zu werden. Sie zitterte innerlich. Wenn er merkte, dass sie noch Jungfrau war, war es aus. Und was sollte sie reden, wenn sie mit ihm im Bett war? Redete man überhaupt während des Aktes, oder wartete man bis danach? Sie wollte nicht unhöflich sein, aber sie hatte keine Ahnung von den Regeln.

»Hast du schon Abendbrot gegessen?« fragte Ron.

»Abendbrot?« Sie blickte zu ihm auf, überlegte. Sollte sie Abendbrot gegessen haben? Wenn sie ja sagte, könnte er sie gleich ins Bett nehmen, und sie könnte es hinter sich bringen. »Nein«, sagte sie schnell. »Noch nicht.« Zum Donnerwetter, warum habe ich das gesagt? Jetzt habe ich alles verdorben. Aber Ron schien nicht aus der Fassung gebracht.

»Gut. Isst du gerne chinesisch?«

»Es ist meine Lieblingsküche.« Sie mochte es gar nicht, aber die Götter würden ihr bestimmt eine kleine Notlüge in der wichtigsten Nacht ihres Lebens durchgehen lassen.

»Drüben in Estes gibt es ein gutes chinesisches Lokal. Lum Fong heißt es. Kennst du es?«

Nein, aber sie würde es, solange sie lebte, nicht vergessen.

Was tatest du in der Nacht, in der du dein Jungfernhäutchen verlorst?

Oh, ich ging zuerst ins Lum Fang und habe mit Ron Peterson chinesisch gegessen.

War's gut?

Klar. Aber du kennst ja chinesisches Essen. Eine Stunde später war ich wieder sexy.

Sie waren an seinem Wagen angelangt, einem kastanienbraunen Reo-Kabriolett. Ron hielt Catherine die Tür auf, und sie setzte sich auf den Platz, auf dem all die anderen Mädchen, die sie beneidete, einmal gesessen hatten. Ron war bezaubernd, sah gut aus, ein Spitzenathlet. Und ein Sex-Verrückter. Das gäbe einen guten Filmtitel ab. Der Sex-Verrückte und die Jungfrau. Vielleicht hätte sie nicht gleich zustimmen und ein netteres Restaurant wie Henrici vorschlagen sollen, dann hätte Ron sich gedacht: Das ist die Art Mädchen, das ich nach Hause zu Mutter bringen möchte.

»Ich gab' was für deine Gedanken«, sagte er,

Du meine Güte! Na schön, er war also nicht gerade ein glänzender Unterhalter. Aber deswegen war sie auch nicht hier, nicht wahr? Sie blickte schmachtend zu ihm auf. »Ich dachte gerade an dich.« Sie kuschelte sich an ihn.

Er grinste. »Du hast mich tatsächlich getäuscht, Cathy.«

»Ja?«

»Ich hielt dich immer für ziemlich unnahbar – ich meine, nicht an Männern interessiert.«

Was du meinst, ist lesbisch, dachte Catherine, laut jedoch sagte sie: »Ich suche mir gerne Zeit und Ort selber aus.«

»Ich bin froh, dass du mich ausgesucht hast.«

»Ich auch.« Und sie war's auch. Sie konnte sicher sein, dass Ron ein guter Liebhaber war. Er war von jeder scharfen Studentin innerhalb eines Radius' von 150 Meilen getestet und für o. k. befunden worden. Es wäre demütigend gewesen, wenn sie ihr erstes sexuelles Erlebnis mit einem gleich ihr Unerfahrenen gehabt hätte. In Ron bekam sie einen Meister. Nach heute Nacht würde sie sich nicht mehr die Heilige Katharina nennen. Statt dessen würde sie wahrscheinlich als »Katharina die Große« bekannt. Und diesmal wüsste sie, was dieses »Große« bedeutete. Sie würde phantastisch im Bett sein. Es kam nur darauf an, nicht in Angstpsychose zu verfallen. Alle die wunderbaren Dinge, von denen sie in den kleinen grünen Büchern gelesen hatte, die sie vor ihren Eltern versteckt hatte, würden ihr passieren. Ihr Körper würde wie eine herrlich klingende Orgel sein. Oh, natürlich wusste sie, dass es zum ersten Mal weh tat; es war immer so. Aber sie würde sich nichts anmerken lassen. Sie würde fest mit dem Gesäß wackeln, weil die Männer es hassten, wenn eine Frau bloß bewegungslos dalag. Und wenn Ron in sie eindrang, würde sie sich auf die Lippe beißen, den Schmerz verbergen und ihn mit einem erotischen Schrei überdecken. »Was?«

Entsetzt drehte sie sich zu Ron um, merkte erst jetzt, dass sie laut aufgeschrieen hatte. »Ich – ich sagte nichts.«

»Du hast einen komischen Schrei ausgestoßen.«

»Wirklich?« Sie lachte gequält.

»Du bist eine Million Meilen weit weg.«

Sie überlegte sich, was er da gesagt hatte, und war alarmiert. Sie musste sich mehr wie Jean-Anne benehmen. Catherine legte ihm die Hand auf den Arm und rückte näher an ihn heran. »Ich bin ganz da«, sagte sie.

Sie versuchte, ihre Stimme kehlig klingen zu lassen, wie Jean Arthur in Calamity Jane.

Ron sah verwirrt auf sie hinunter, aber das einzige, was er in ihrem Gesicht lesen konnte, waren Erregung und Hingabe.

Lum Fong war ein trostloses, durchschnittliches chinesisches Lokal, unter der Hochbahn gelegen. Während des Essens konnten sie die über ihren Köpfen dahinratternden Züge hören, die das Geschirr auf dem Tisch zum Klappern brachten. Das Restaurant sah wie tausend andere chinesische Lokale in ganz Amerika aus, aber Catherine nahm die Einzelheiten der Nische, in der sie saßen, sorgfältig in sich auf, prägte sich die billige, fleckige Tapete, die angeschlagene chinesische Teekanne, die Soya-Saucen-Flecke auf der Tischdecke ein.

Ein kleiner chinesischer Ober trat an den Tisch und fragte, ob sie etwas zu trinken haben wollten. Catherine hatte einige wenige Male in ihrem Leben Whisky getrunken und verabscheute ihn, aber heute war Silvester, der 4. Juli, das Ende ihrer Jungfernschaft. Das musste gefeiert werden.

»Ich nehme einen Old-fashioned.«

»Scotch und Soda«, sagte Ron.

Der Ober entfernte sich unter Verbeugungen. Catherine fragte sich, ob es wahr sei, dass orientalische Frauen schräg gebaut waren.

»Ich weiß nicht, weshalb wir uns nicht schon längst angefreundet haben«, sagte Ron. »Alle sagen, du seiest das gescheiteste Mädchen auf der ganzen gottverdammten Universität.«

»Du weißt doch, wie die Leute übertreiben.«

»Und außerdem bist du verflucht hübsch.«

»Danke.« Sie versuchte, ihrer Stimme den Klang von Kathe-rine Hepburn in Alice Adams zu geben, und sah ihm bedeutungsvoll in die Augen. Sie war nicht mehr Catherine Alexander. Sie war eine Sex-Maschine. Sie war im Begriff, sich Mae West, Marlene Dietrich, Cleopatra zuzugesellen. Sie würden alle Bettschwestern sein.

Der Ober brachte den Cocktail, und sie schüttete ihn mit einem einzigen nervösen Schluck hinunter. Ron sah sie erstaunt an.

»Langsam, langsam«, sagte er warnend. »Das Zeug ist ziemlich stark.«

»Ich vertrag's«, meinte Catherine keck.

»Noch einmal dasselbe«, sagte er zum Ober. Ron langte über den Tisch und streichelte ihr die Hand. »Komisch, alle in der Schule haben dich falsch beurteilt.«

»Irrtum. Keiner konnte das.«

Er starrte sie an. Vorsicht, nicht geistreich sein. Die Männer zogen es vor, mit Mädchen ins Bett zu gehen, die außergewöhnlich große Brüste, kräftige Muskeln und ein Nichts an Hirn hatten.

»Ich habe – schon lange etwas für dich übrig gehabt«, sagte sie hastig.

»Das hast du aber streng geheim gehalten.« Ron zog den von ihr geschriebenen Zettel heraus und glättete ihn. »Versuchen

Sie unsere Kassiererin«, las er laut vor und lachte. »Das gefällt mir entschieden besser als Banana Split.« Er streichelte Catherines Arm, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter, genau wie es in den Büchern stand. Vielleicht würde sie nach dieser Nacht einen Leitfaden über Sex für all die armen dummen Jungfern schreiben, die nichts vom Leben wussten. Nach dem zweiten Drink begann Catherine, sie zu bemitleiden.

»Es ist ein Jammer.«

»Was ist ein Jammer?«

Wieder hatte sie laut gesprochen. Sie beschloss, dreist zu sein. »Ich bedauerte alle Jungfrauen in der Welt«, sagte sie.

Ron grinste Catherine an. »Darauf trinke ich einen Schluck.« Er hob sein Glas. Sie sah ihn dasitzen und offensichtlich ihre Gesellschaft genießen. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Alles würde großartig verlaufen. Er fragte, ob sie noch einen Drink haben wolle, aber Catherine lehnte ab. Sie wollte nicht alkoholisiert sein, wenn sie defloriert wurde. Defloriert? Gebrauchte man solche Worte heute noch? Ganz egal, sie wollte sich an jeden Augenblick, an jedes Gefühl erinnern. Oh, mein Gott, sie hatte keinen Schutz! Ob er? Sicherlich würde ein so erfahrener Mann wie Ron Peterson sich etwas überziehen, damit sie nicht schwanger würde. Und wenn er nun von ihr dasselbe erwartete? Wenn er etwa dachte, ein so erfahrenes Mädchen wie Catherine Alexander würde sicherlich etwas zu ihrem Schutz tragen? Ob sie ihn direkt darauf ansprechen könnte? Nein, eher sterben, hier am Tisch. Man könnte ihre Leiche dann wegtragen und ein feierliches chinesisches Begräbnis veranstalten.

Ron bestellte das Sechs-Gänge-Menü für $ 1,75, und Catherine tat so, als äße sie es, aber es hätte genauso gut chinesische Pappe sein können. Sie wurde allmählich so nervös, dass sie überhaupt nichts schmecken konnte. Ihre Zunge war plötzlich trocken, und ihr Gaumen fühlte sich seltsam erstarrt an. Wenn sie nun gerade einen Schlaganfall gehabt hatte? Sex nach einem Schlag, das würde sie wahrscheinlich töten. Vielleicht sollte sie Ron warnen. Es würde seinem Ruf schaden, wenn man in seinem Bett ein totes Mädchen fände. Oder vielleicht würde es ihn noch heben.

»Was ist los?« fragte Ron. »Du siehst blass aus.«

»Ich fühle mich großartig«, sagte Catherine unbekümmert.

»Ich bin ganz einfach nur sehr aufgeregt, weil ich mit dir zusammen bin.«

Ron sah sie beifällig an, seine braunen Augen nahmen jede Einzelheit ihres Gesichtes wahr, wanderten dann zu ihren Brüsten und blieben da haften. »Mir geht es genauso«, erwiderte er.

Der Ober hatte abgeräumt, und Ron hatte bezahlt. Er sah sie an, aber Catherine konnte sich nicht bewegen.

»Möchtest du noch etwas?« fragte Ron.

Ich? O ja! Ich möchte auf einem Bummelschiff nach China sein. Ich möchte in einem Kannibalenkessel sitzen und zum Dinner gekocht werden. Ich möchte meine Mutter!

Ron beobachtete sie, wartete. Catherine holte tief Atem. »Ich – ich wüsste nicht.«

»Gut.« Er dehnte die Silbe, lang und anhaltend, so dass sie ein Bett zwischen sie auf den Tisch zu stellen schien. »Gehen wir.« Er stand auf, und Catherine folgte. Das euphorische Gefühl, das die Drinks hervorgerufen hatten, war vollkommen verschwunden, und ihre Beine begannen zu zittern.

Als sie draußen in der milden Nachtluft waren, kam Catherine plötzlich ein Gedanke, der sie mit Erleichterung erfüllte. Er wird mich heute Nacht nicht ins Bett nehmen. Die Männer tun das nie bei der ersten Verabredung. Er wird mich wieder zum Abendessen einladen, und das nächste Mal gehen wir zu Henrici, und wir werden uns besser kennen lernen. Wirklich kennen lernen. Und wahrscheinlich werden wir uns verlieben – wahnsinnig -, und er wird mich seinen Eltern vorstellen, und dann wird alles gut sein ... und ich werde dieses dumme Angstgefühl nicht haben.

»Hast du ein besonderes Motel im Sinn?« fragte Ron.

Catherine starrte sprachlos zu ihm auf. Aus war's mit den Träumen von einem wohlerzogenen Musikabend bei seinen Eltern. Der Halunke plante, sie in einem Motel ins Bett zu nehmen! Nun, das wollte sie doch, oder nicht? War das nicht der Grund, weshalb sie diesen dämlichen Zettel geschrieben hatte ?

Rons Hand lag jetzt auf Catherines Schulter, glitt ihren Arm hinunter. Sie spürte ein warmes Gefühl in der Leistengegend. Sie schluckte und sagte: »Ein Motel ist wie das andere.«

Ron sah sie merkwürdig an, sagte aber nur: »O. K. Gehen wir.«

Sie stiegen in den Wagen und fuhren nach Westen. Catheri-nes Körper war zu Eis erstarrt, aber ihre Gedanken rasten. Das letzte Mal war sie als Achtjährige in einem Motel gewesen, als sie mit ihrer Mutter und ihrem Vater über Land gefahren war. Jetzt ging sie in eins, um mit einem Mann ins Bett zu gehen, der ihr völlig fremd war. Was wusste sie schon von ihm? Nur, dass er gut aussah, beliebt war und eine Nase für leichte Eroberungen hatte.

Ron griff nach ihrer Hand. »Deine Hände sind kalt«, sagte er.

»Kalte Hände, heiße Beine.« Oh, Jesus, dachte sie. Schon wieder. Aus irgendeinem Grund kam Catherine der Text von »Ah, Sweet Mystery of Life« in den Sinn. Nun, sie war dabei, das Geheimnis zu ergründen. Sie war dabei herauszufinden, was alles bedeutete. Die Bücher, die scharfen Anzeigen, die kaum verschleierten Liebestexte – »Schaukle mich in der Liebeswiege«, »Mach's noch mal«, »Vögel tun's«. O. K., dachte sie. Jetzt wird Catherine es tun.

Ron bog nach Süden in die Clark Street ein.

Beiderseits der Straße leuchteten riesige flimmernde rote Neonschilder in die Nacht und schrieen ihre Angebote billiger und zeitweiliger Zufluchtsorte für ungeduldige junge Liebespaare hinaus. »EASY REST MOTEL«, »OVERNIGHT MOTEL«, »COME INN«. (Das musste ein Freudsches Wortspiel sein!) »THE TRAVELLERS REST.« Der Mangel an Phantasie war erschütternd, andererseits aber waren die Besitzer solcher Etablissements wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt, Unzucht treibende junge Paare schnellstens ins Bett und wieder hinauszubefördern, als dass sie sich um eine gewählte Ausdrucksweise Gedanken machen könnten.

»Das ist ungefähr das beste«, sagte Ron und wies auf ein Schild vor ihnen.

»PARADISE INN – VACANCY.«

Es war symbolisch. Im Paradies war eine Stelle frei, und sie, Catherine Alexander, würde sie ausfüllen.

Ron fuhr den Wagen in den Hof neben ein kleines weiß gekalktes Büro mit einem Schild: LÄUTEN UND EINTRETEN. Der Hof bestand aus etwa zwei Dutzend nummerier-ten Holzbungalows.

»Wie sieht das aus?« fragte Ron.

Wie Dantes Inferno. Wie das Kolosseum in Rom, wenn die Christen den Löwen vorgeworfen werden sollten. Wie der Tempel von Delphi, wenn eine Vestalin aufs Kreuz gelegt werden sollte.

Catherine hatte wieder das prickelnde Gefühl in ihrer Leistengegend. »Phantastisch«, sagte sie. »Einfach phantastisch.«

Ron lächelte wissend. »Ich bin gleich wieder da.« Er legte Catherine die Hand aufs Knie, glitt ihren Schenkel hoch, gab ihr einen schnellen, unpersönlichen Kuss, stieg aus und ging in das Büro. Sie blickte ihm nach und versuchte, an nichts zu denken.

In der Ferne hörte sie eine Sirene heulen. Oh, mein Gott, dachte sie wütend. Eine Razzia! Die machen hier immer Razzien!

Die Tür des Büros öffnete sich, und Ron trat heraus, einen

Schlüssel in der Hand. Das näher kommende Sirenengeheul schien er nicht zu hören. Er kam zum Wagen, ging auf Catherines Seite und öffnete die Tür. »Alles erledigt«, sagte er. Die Sirene war jetzt eine kreischende Todesfee, die auf sie hinunter stieß. Ob die Polizei sie verhaften könnte, bloß weil sie hier auf dem Hof waren?

»Komm«, sagte Ron.

»Hörst du das nicht?«

»Was?«

Die Sirene fuhr an ihnen vorbei, heulte die Straße hinunter und entfernte sich. Verdammt! »Die Knülche«, sagte sie schwach.

Ein Ausdruck der Ungeduld trat auf Rons Gesicht.

»Wenn was nicht in Ordnung ist.« sagte er.

»Nein, nein«, unterbrach Catherine schnell. »Ich komme schon.« Sie stieg aus dem Wagen, und sie gingen auf einen der Bungalows zu. »Hoffentlich hast du meine Glückszahl«, sagte sie fröhlich.

»Was sagtest du?«

Catherine sah zu ihm auf und merkte plötzlich, dass kein Wort herausgekommen war. Ihr Mund war vollkommen trocken. »Nichts«, krächzte sie.

Sie erreichten die Tür, und sie trug die Nummer 13. Das genau hatte sie verdient. Es war ein Zeichen des Himmels, dass sie schwanger werden und Gott die heilige Katharina bestrafen würde.

Ron schloss auf und hielt ihr die Tür auf. Er knipste das Licht an, und Catherine trat hinein. Es war nicht zu glauben. Das Zimmer schien nur aus einem riesigen Doppelbett zu bestehen. Die einzigen anderen Möbelstücke waren ein unbequem aussehender Sessel in einer Ecke, ein kleiner Toilettentisch mit Spiegel und neben dem Bett ein beschädigtes Radio mit einem Schlitz für 25-Cent-Stücke. Niemand, der hier hereinkam, würde dieses Zimmer je für etwas anderes halten, als es war: ein Absteigequartier, wo ein Junge ein Mädchen hinbrachte, um es aufs Kreuz zu legen. Man könnte nicht sagen: Nun, hier sind wir also in einer Ski-Hütte – oder im Spielzimmer – oder im Hochzeitsgemach des Ambassador. Nein, das war klipp und klar ein billiges Liebesnest. Catherirc drehte sich nach Ron um. Der schob den Türriegel vor. Gut. Wenn die Sittenpolizei sie verhaften wollte, müsste sie zuerst die Tür aufbrechen. Sie stellte sich vor, wie sie splitternackt von zwei Polypen hinausgetragen würde, während ein Fotograf sie für die Titelseite der Chicago Daily News knipste.

Ron ging zu Catherine hinüber und legte die Arme um sie. »Bist du nervös?« fragte er.

Sie sah zu ihm auf und zwang sich zu einem Lachen, das Margaret Sullavan Ehre gemacht hätte. »Nervös? Ron, sei nicht blöd.«

Er betrachtete sie immer noch unsicher. »Du hast das schon mal gemacht, nicht, Cathy?«

»Ich führe nicht Buch.«

»Ich habe den ganzen Abend ein merkwürdiges Gefühl über dich gehabt.«

Jetzt kommt's. Er würde sie auf ihren Jungfernhintern hinausschmeißen und ihr sagen, sie solle zum Teufel gehen. Nun, das würde sie zu verhindern wissen. Heute Nacht.

»Was für ein Gefühl?«

»Ich weiß nicht.« Rons Stimme klang verwirrt. »In der einen Minute bist du sexy und ganz dabei, und in der nächsten sind deine Gedanken woanders, und du bist eiskalt. Als ob du zwei Menschen wärst. Welches ist nun die echte Catherine Alexander?«

Eiskalt, sagte sie mechanisch in sich hinein. Laut sagte sie: »Ich werde es dir zeigen.« Sie legte die Arme um ihn und küsste ihn auf die Lippen, und sie schmeckte chinesische Frühlingsrolle.

Er küsste sie noch fester und zog sie dicht an sich, strich ihr mit den Händen über die Brüste, liebkoste sie, schob ihr seine Zunge in den Mund. Catherine hatte ein fürchterliches Gefühl tief unten, und sie merkte, dass ihr Schlüpfer feucht wurde. Also, dachte sie, es wird wirklich passieren! Es wird wirklich passieren! Sie presste sich fester an ihn, von einer wachsenden, fast unerträglichen Erregung erfüllt.

»Ziehen wir uns aus«, sagte Ron heiser. Er trat zurück und begann, sein Jackett auszuziehen.

»Nein«, sagte sie, »lass mich's machen.« In ihrer Stimme lag ein neues Selbstvertrauen. Wenn das die Nacht aller Nächte war, würde sie ihre Sache gut machen. Sie würde sich an alles erinnern, was sie je gelesen oder gehört hatte. Ron sollte nicht in die Uni zurückgehen und den Mädchen kichernd erzählen, wie er mit einer dummen kleinen Jungfer im Bett herumgemurkst habe. Catherine mochte Jean-Annes Oberweite nicht haben, aber sie hatte ein zehnmal nützlicheres Hirn, und sie würde es einsetzen, um Ron im Bett so glücklich zu machen, dass er es gar nicht aushielte. Sie zog ihm sein Jackett aus, legte es aufs Bett und fasste dann nach seiner Krawatte.

»Halt«, sagte Ron. »Ich möchte zusehen, wie du dich ausziehst.«

Catherine blickte ihn an, schluckte, griff langsam nach ihrem Reißverschluss und stieg aus dem Kleid. Sie stand im BH, im Unterkleid, in Höschen, Schuhen und Strümpfen da.

»Weiter.«

Sie zögerte einen Augenblick, bückte sich und stieg aus ihrem Unterkleid.

»He, großartig! Weiter, weiter.«

Catherine setzte sich langsam aufs Bett und zog sorgfältig Schuhe und Strümpfe aus, versuchte dabei, es so sexy wie möglich zu machen. Plötzlich spürte sie Ron hinter sich, der ihr den BH öffnete. Sie ließ ihn aufs Bett fallen. Er stellte Catherine auf die Beine und begann, ihr die Höschen herunterzustrei-fen. Sie holte tief Atem, schloss die Augen und wünschte, woanders mit einem anderen Mann zu sein, einem Menschen, der sie liebte, den sie liebte, der schöne Kinder, die seinen Namen trügen, zeugen würde, der für sie kämpfen und für sie töten würde und dem sie eine liebende Gefährtin wäre. Eine Hure in seinem Bett, eine großartige Köchin in seiner Küche, eine charmante Gastgeberin in seinem Salon ... mit einem Mann, der einen Hundesohn wie Ron Peterson dafür umbringen würde, dass er es wagte, sie in dieses schäbige, entwürdigende Zimmer zu bringen. Ihr Höschen fiel zu Boden. Catherine schlug die Augen auf.

Ron starrte sie bewundernd an. »Mein Gott, Cathy, bist du schön«, sagte er. »Du bist wirklich schön.« Er beugte sich hinunter und küsste ihre Brust. Sie erhaschte einen Blick im Spiegel über dem Toilettentisch. Es war wie eine französische Posse, schäbig und schmutzig. Alles in ihr außer dem heißen Schmerz in ihrer Leiste sagte ihr, dass es traurig, hässlich und falsch war, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Ron riss mit hochrotem Gesicht die Krawatte herunter und knöpfte das Hemd auf. Er schnallte sich den Gürtel auf und zog sich bis auf die Shorts aus, setzte sich dann aufs Bett und zog Schuhe und Strümpfe aus. »Wirklich, Catherine«, sagte er mit erregter Stimme, »du bist das verdammt schönste Ding, das ich je zu Gesicht bekommen habe.«

Seine Worte vergrößerten nur Catherines panischen Schrecken. Ron stand auf, ein breites, vorwegnehmendes Grinsen auf dem Gesicht, und ließ seine Shorts auf den Boden fallen. Sein männliches Organ stand steif vor, wie eine riesige aufgeblühte Salami mit Haar darum. Es war das Größte, Unglaublichste, was Catherine je in ihrem Leben gesehen hatte.

»Wie gefällt dir das?« fragte er, stolz darauf hinunterblickend. Ohne zu denken, platzte Catherine heraus: »In Scheiben auf Roggenbrot. Mit Mostrich und Kopfsalat.«

Und sie sah, wie er klein und hässlich wurde.

In Catherines zweitem Studienjahr veränderte sich die Atmosphäre des Campus.

Zum ersten Mal wuchs die Unruhe über die Ereignisse in Europa, und zunehmend verbreitete sich das Gefühl, dass Amerika darin verwickelt werden würde. Hitlers Traum von der tausendjährigen Herrschaft des Dritten Reiches war auf dem Wege der Verwirklichung. Die Nazis hatten Dänemark besetzt und überfielen Norwegen.

In den letzten sechs Monaten hatten sich die Unterhaltungsthemen von Sex und Mode und Studentenbällen auf das ROTC, die Einberufung und das Leih-Pacht-Gesetz verlagert. Immer mehr College-Jungen erschienen in Armee- und Marineuniformen.

Eines Tages hielt Susie Roberts, eine ehemalige Schulkameradin, Catherine auf dem Gang an. »Ich möchte mich verabschieden, Cathy. Ich fahre weg.«

»Wohin?«

»Zum Klondike2.«

»Klondike?«

»Washington, D. C. Für alle Mädchen ist das eine Goldgrube. Es heißt, auf jedes Mädchen kämen mindestens hundert Männer. Gute Gewinnchancen.« Sie sah Catherine an. »Wozu willst du eigentlich hier noch versauern? Die Schule ist langweilig. Dort wartet die ganze große Welt auf einen.«

»Ich kann im Augenblick nicht weg«, sagte Catherine. An sich wusste sie nicht, warum: Sie hatte keine wirklichen Bindungen in Chicago. Sie stand in regelmäßigem Briefwechsel mit ihrem Vater und rief ihn ein- oder zweimal im Monat an, und jedes Mal klang es, als wäre er im Gefängnis.

Catherine war jetzt unabhängig. Je mehr sie über Washington nachdachte, desto aufregender schien es. An jenem Abend rief sie ihren Vater an und sagte ihm, sie wolle von der Uni abgehen und in Washington arbeiten. Er fragte sie, ob sie gerne nach Omaha kommen wolle, aber Catherine spürte das Widerstreben in seiner Stimme. Er wollte nicht, dass sie wie er in die Falle tappte.

Am nächsten Morgen ging Catherine aufs Dekanat für Studentinnen und teilte mit, dass sie von der Uni abgehe. Catherine schickte Susie Roberts ein Telegramm und saß tags darauf im Zug nach Washington, D. C.

Noelle

Paris 1940

Am Sonnabend, dem 14. Juni, marschierte die deutsche 5. Armee in ein niedergeschmettertes Paris ein. Die Maginot-Linie hatte sich als das größte Fiasko in der Kriegsgeschichte herausgestellt, und Frankreich lag verteidigungslos vor einer der mächtigsten Kriegsmaschinen, die die Welt je gekannt hatte.

Der Tag begann mit einer eigentümlichen Wolkendecke, die über der Stadt lag, einer erschreckenden Wolke unbekannten Ursprungs. Während der letzten achtundvierzig Stunden hatten Geräusche eines stoßweise einsetzenden Artilleriefeuers die unnatürliche, eingeschüchterte Stille von Paris unterbrochen. Der Kanonendonner war außerhalb der Stadt, aber der Widerhall drang bis ins Herz von Paris. Es hatte eine Flut von Gerüchten gegeben, die sich wie eine Welle über den Rundfunk, in Zeitungen und von Mund zu Mund ergossen hatte. Die Boches griffen die französische Küste an ... London war zerstört ... Hitler hatte ein Übereinkommen mit der britischen Regierung getroffen ... Die Deutschen würden Paris mit einer tödlichen neuen Bombe ausradieren. Zuerst war jedes Gerücht wie ein Evangelium aufgenommen worden, das seinen eigenen Schrecken erzeugte, aber dauernde Krisen üben schließlich eine einschläfernde Wirkung aus, als ob Geist und Körper, außerstande, noch mehr Schrecken zu absorbieren, sich hinter einen Schutzschild der Apathie zurückzögen. Jetzt waren die Gerüchtemühlen vollständig zum Stillstand gekommen, die Zeitungspressen druckten nicht mehr, und die Rundfunkstationen sendeten nicht mehr. Der menschliche Instinkt war an die Stelle der Maschinen getreten, und die Pariser spürten, dass dies ein Tag der Entscheidung war. Die graue Wolke war ein

Omen.

Und dann schwärmten die deutschen Heuschrecken herein.

Plötzlich war Paris eine Stadt voll ausländischer Uniformen und fremder Menschen, die eine seltsame gutturale Sprache sprachen, die breiten, mit Bäumen gesäumten Avenuen in großen Mercedes-Limousinen mit der Nazi-Flagge entlangfuhren oder sich auf den Bürgersteigen drängten, die jetzt ihnen gehörten.

Innerhalb von vierzehn Tagen hatte sich eine verblüffende Verwandlung vollzogen. Überall tauchten Schilder in Deutsch auf. Denkmäler französischer Helden waren entfernt worden, und das Hakenkreuz flatterte von allen öffentlichen Gebäuden. Deutsche Bemühungen, alles Gallische auszurotten, nahmen lächerliche Ausmaße an. Die Bezeichnungen an Heiß- und Kaltwasserhähnen wurden von chaud und froid in warm und kalt geändert. Die Place de Broglie in Straßburg wurde in Adolf-Hitler-Platz umbenannt.

Die deutschen Besatzungstruppen amüsierten sich. Wenn die französische Küche auch zu schwer und zu saucenreich war, war sie doch eine angenehme Abwechslung von der Kriegsverpflegung. Die Soldaten wussten nicht und es interessierte sie auch nicht, dass Paris die Stadt Baudelaires, Dumas' und Molieres war. Für sie war Paris eine grelle, gierige, übertrieben geschminkte Hure mit empor geschobenen Röcken, und sie nahmen sie, jeder auf seine Weise. Göring und Himmler raubten den Louvre aus und beschlagnahmten die reichen Wohnsitze.

Wenn Korruption und Opportunismus in Frankreichs Krisenzeit an die Oberfläche drangen, dann aber auch der Heroismus. Eine der Geheimwaffen des Untergrunds waren die Pompiers, die Feuerwehr, die in Frankreich der Armee unterstellt ist. Die Deutschen hatten Dutzende von Gebäuden fürs Heer, für die Gestapo und verschiedene Ministerien beschlagnahmt; Standort und Lage dieser Gebäude waren natürlich kein

Geheimnis. In einem Hauptquartier der Resistance in St. Remy brüteten Widerstands-Führer über großen Stadtplänen, auf denen die genaue Lage jedes einzelnen Gebäudes verzeichnet war. Dann wurden Experten bestimmte Ziele zugewiesen, und am folgenden Tag fuhr ein Wagen in schnellem Tempo oder ein unschuldig aussehender Radfahrer an einem der Gebäude vorbei und warf eine selbst gebastelte Bombe durchs Fenster. Bis dahin war der Schaden gering. Das Raffinierte des Planes lag in dem, was dann folgte.

Die Deutschen mobilisierten die Pompiers, das Feuer zu löschen.

Nun gibt es eine feststehende Regel in allen Ländern, dass bei einem Brand die Feuerwehr die alleinige Verantwortung und Aufsicht hat. In Paris war das genauso. Die Pompiers stürzten in das Gebäude, während die Deutschen lammfromm daneben standen und zusahen, wie die mit ihren Hochdruckschläuchen, Äxten und – wenn sie die Möglichkeit hatten – mit ihren eigenen Brandbomben alles Erreichbare zerstörten. Auf diese Weise gelang es der Untergrundbewegung, kostbare in den Festungen der Wehrmacht und der Gestapo verschlossene deutsche Archive zu vernichten. Es dauerte fast sechs Monate, bis das deutsche Oberkommando merkte, was sich hier abspielte, und inzwischen war nicht wieder gutzumachender Schaden angerichtet worden. Die Gestapo konnte nichts beweisen, aber die Mitglieder der Pompiers wurden verhaftet und eingesperrt.

Alles, von den Lebensmitteln bis zur Seife, wurde knapp. Es gab kein Benzin, kein Fleisch, keine Molkereiprodukte. Die Deutschen hatten alles beschlagnahmt. Geschäfte mit Luxuswaren blieben offen, aber ihre einzigen Kunden waren Soldaten, die in Besatzungsgeld bezahlten.

»Wer wird die Noten einlösen?« fragten die französischen Ladenbesitzer jammernd.

Und die Deutschen grinsten: »Die Bank von England.«

Jedoch litten nicht alle Franzosen. Für die mit Geld und Beziehungen gab es immer noch den Schwarzmarkt.

Noelle Pages Leben änderte sich sehr wenig durch die Besetzung. Sie arbeitete als Vorführdame bei Chanel in der Rue Canbon in einem hundertfünfzig Jahre alten Sandsteinhaus, das äußerlich den üblichen Anblick bot, innen jedoch elegant eingerichtet war. Wie alle Kriege hatte auch dieser über Nacht Millionäre hervorgebracht, und es fehlte nicht an Kunden. Noelle erhielt mehr Anträge denn je; der einzige Unterschied bestand darin, dass die meisten von Deutschen kamen. Wenn sie keinen Dienst hatte, saß sie stundenlang in kleinen Trottoir-Cafes auf den Champs-Elysees oder auf dem linken Ufer in der Nähe des Pont Neuf. Hunderte von Männern in deutschen Uniformen flanierten vorbei, viele von ihnen mit jungen Französinnen. Die französischen Zivilisten waren entweder zu alt oder unbefriedigend, und Noelle nahm an, dass die jüngeren ins Lager gebracht oder aber zum Militärdienst eingezogen worden waren. Sie erkannte die Deutschen mit einem Blick, auch wenn sie in Zivil waren. Auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Arroganz, das Aussehen von Eroberern seit den Tagen Alexanders und Hadrians. Noelle hasste sie nicht und mochte sie auch nicht. Sie berührten sie einfach nicht.

Sie war von ihrem regen Innenleben in Anspruch genommen, plante sorgfältig jeden Schritt. Sie kannte ihr Ziel genau und wusste, dass nichts sie davon abbringen konnte. Sobald sie es sich leisten konnte, engagierte sie einen Privatdetektiv, der in dem Scheidungsprozess einer ihrer Kolleginnen erfolgreich tätig gewesen war. Der Mann hieß Christian Barbet. Er saß in einem kleinen schäbigen Büro in der Rue St. Lazare. Auf dem Schild an der Tür stand:

NACHFORSCHUNGEN PRIVAT UND GESCHÄFTLICH

ERMITTLUNGEN

VERTRAULICHE AUSKÜNFTE

FAHNDUNGEN BEWEISE

Das Schild war fast größer als das Büro. Barbet war klein und glatzköpfig, hatte gelbe schadhafte Zähne, enge Schielaugen und nikotinfleckige Finger.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte er Noelle.

»Ich möchte Auskunft über jemanden in England.«

Er blinzelte misstrauisch. »Was für eine Auskunft?«

»Alles. Ob er verheiratet ist, mit wem er verkehrt. Alles. Ich möchte ein Sammelalbum über ihn anlegen.«

Barbet kratzte sich in der Leistengegend und starrte sie an.

»Ist er Engländer?«

»Amerikaner. Er ist Pilot in der Adler-Staffel in der RAF.«

Barbet rieb sich unbehaglich den kahlen Schädel. »Ich weiß nicht«, brummte er. »Wir haben Krieg. Wenn ich bei dem Versuch erwischt würde, Auskünfte über einen Flieger aus England zu bekommen«

Seine Stimme verlor sich, und er zuckte ausdrucksvoll die Schultern. »Die Deutschen schießen zuerst und fragen danach.«

»Ich will keine militärischen Auskünfte«, versicherte Noelle ihm. Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein Bündel Francnoten heraus. Barbet musterte sie gierig.

»Ich habe Verbindungen in England«, sagte er vorsichtig, »aber es wird teuer sein.«

Und so fing es an. Es vergingen drei Monate, ehe der kleine Detektiv Noelle anrief. Sie ging in sein Büro, und ihre ersten Worte waren: »Lebt er?«, und als Barbet nickte, sank sie erleichtert zusammen, und Barbet dachte: Es muss wunderbar sein, so von jemandem geliebt zu werden.

»Ihr Freund ist verlegt worden«, sagte Barbet.

»Wohin?«

Er blickte auf den Notizblock auf seinem Schreibtisch. »Er war der 609. Staffel der RAF zugeteilt. Dann ist er in die 121. Staffel in Martlesham East in East Anglia verlegt worden. Er fliegt Hurri —«

»Das interessiert mich nicht.«

»Sie bezahlen dafür«, sagte er. »Warum sollten Sie für Ihr Geld nicht etwas kriegen?« Er blickte wieder auf seine Notizen. »Er fliegt Hurricanes. Vorher flog er amerikanische Buffaloes.«

Er schlug eine Seite um und fügte hinzu: »Jetzt wird es ein bisschen persönlich.«

»Weiter«, sagte Noelle.

Barbet zuckte die Schultern. »Hier ist eine Liste von Mädchen, mit denen er schläft. Ich wusste nicht, ob Sie«

»Ich sagte Ihnen ja – alles.«

Es war ein merkwürdiger Ton in ihrer Stimme, der ihn verblüffte. Hier war etwas nicht ganz Normales, etwas, das nicht echt klang. Christian Barbet war ein drittklassiger Ermittler, der es mit drittklassigen Kunden zu tun hatte, aber eben aus diesem Grunde hatte er einen Instinkt für die Wahrheit entwickelt, hatte eine Nase für Tatsachen. Das schöne, in seinem Büro stehende Mädchen beunruhigte ihn. Zuerst hatte Barbet geglaubt, sie wolle ihn vielleicht in eine Spionagesache hineinziehen. Dann folgerte er, dass sie eine sitzen gelassene Frau war, die Beweise gegen ihren Mann sammelte. Da hatte er sich geirrt, wie er zugab, und jetzt war er außerstande herauszufinden, was seine Klientin wollte oder warum. Er reichte Noelle die Liste von Larry Douglas' Freundinnen und beobachtete ihr Gesicht, als sie las. Sie hätte genauso gut eine Wäscheliste überfliegen können.

Sie las zu Ende und blickte auf. Christian Barbet war auf ihre nächsten Worte absolut unvorbereitet. »Ich bin sehr erfreut«, sagte Noelle.

Er sah sie an und blinzelte rasch.

»Bitte, rufen Sie mich an, wenn Sie Weiteres zu berichten haben.«

Noch lange nachdem Noelle Page gegangen war, saß Barbet in seinem Büro und blickte zum Fenster hinaus, versuchte zu enträtseln, was seine Klientin eigentlich vorhatte.

Die Theater in Paris kamen wieder in Schwung. Die Deutschen gingen hin, um ihre Siege zu feiern und mit den schönen Französinnen zu protzen, die sie wie Trophäen am Arm führten. Die Franzosen gingen hin, um ein paar Stunden zu vergessen, dass sie ein unglückliches, besiegtes Volk waren.

In Marseille war Noelle ein paar Mal ins Theater gegangen, hatte aber nur unbedeutende Amateurstücke, von viertklassigen Schauspielern für ein gleichgültiges Publikum gespielt, gesehen. Das Theater in Paris war etwas ganz anderes. Es war lebendig und sprühend und voll des Esprits und der Grazie Molieres, Racines und Colettes. Der unvergleichliche Sacha Guitry hatte sein Theater wieder eröffnet, und Noelle ging hin, um ihn spielen zu sehen. Sie besuchte eine Wiederaufnahme von Büchners Dantons Tod und ein Stück mit dem Titel Asmodee von einem viel versprechenden jungen Verfasser namens Francois Mauriac. Sie ging in die Comedie Franchise, um Pirandellos Chacun La Verite und Rostands Cyrano de Bergerac zu sehen. Noelle ging immer allein, blind gegenüber den bewundernden Blicken ihrer Umgebung, vollkommen versunken in das auf der Bühne sich abspielende Drama. Etwas von dem Zauber hinter dem Rampenlicht schlug eine ansprechbare Saite in ihr an. Sie spielte eine Rolle wie die Akteure auf der Bühne, gab vor, etwas zu sein, was sie nicht war, verbarg sich hinter einer Maske.

Besonders ein Stück, Geschlossene Gesellschaft von Jean Paul Sartre, bewegte sie tief. Der Star war Philippe Sorel, eines der Idole Europas. Sorel war klein, hässlich und bullig, mit einer gebrochenen Nase und dem Gesicht eines Boxers. Aber sowie er sprach, geschah ein Wunder. Er verwandelte sich in einen empfindsamen, gut aussehenden Mann. Es ist wie die

Geschichte vom Froschkönig, dachte Noelle, als sie ihn spielen sah. Aber er ist beides, Prinz und Frosch. Immer wieder ging sie hin, saß in der ersten Reihe, studierte sein Spiel, versuchte, das Geheimnis seines Magnetismus zu ergründen.

Eines Abends reichte ein Platzanweiser in der Pause Noelle einen Zettel. Darauf stand: »Ich habe Sie Abend für Abend im Publikum gesehen. Bitte kommen Sie heute Abend hinter die Bühne, damit ich Sie kennen lernen kann. P. S.« Noelle las es, genoss es. Nicht, weil Philippe Sorel sie im geringsten interessierte, sondern weil sie wusste, dass dies der Anfang war, den sie schon immer gesucht hatte.

Nach der Vorstellung ging sie hinter die Bühne. Ein alter Mann am Bühneneingang wies sie in Sorels Garderobe. Er saß vor einem Schminkspiegel, nur in Shorts, und schminkte sich ab. Er musterte Noelle im Spiegel. »Es ist unglaublich«, sagte er schließlich. »In der Nähe sind Sie noch schöner.«

»Danke, Monsieur Sorel.«

»Wo kommen Sie her?«

»Aus Marseille.«

Sorel drehte sich um, um sie genauer anzusehen. Seine Augen wanderten von ihren Füßen langsam bis zu ihrem Kopf, übergingen nichts. Noelle stand bewegungslos unter seinem prüfenden Blick. »Suchen Sie eine Anstellung?« fragte er.

»Nein.«

»Ich zahle nie dafür«, sagte Sorel. »Von mir kriegen Sie nur eine Freikarte für mein Stück. Wenn Sie Geld haben wollen, ficken Sie einen Bankier.«

Noelle stand ruhig da. Schließlich sagte Sorel: »Was suchen Sie denn?«

»Ich glaube, ich suche Sie.«

Sie soupierten zusammen und gingen nachher in Sorels Appartement in der schönen Rue Maurice-Barres, von wo aus man die Ecke überblickte, die in den Bois de Boulogne überging. Philippe Sorel war ein gewandter Liebhaber, erstaunlich aufmerksam und selbstlos. Sorel hatte von Noelle nichts als ihre Schönheit erwartet und war von ihrer Vielseitigkeit im Bett überrascht.

»Du bist phantastisch«, sagte er. »Wo hast du das gelernt?«

Noelle überlegte einen Augenblick. Es war eigentlich keine Frage des Lernens, es war eine Gefühlsfrage. Für sie war der Körper eines Mannes ein Instrument, auf dem man spielte, das man bis in seine tiefsten Tiefen erforschen musste, um die richtigen Saiten anzuschlagen und darauf aufzubauen, wobei ihr eigener Körper dazu diente, äußerste Harmonie zu schaffen.

»Es ist mir angeboren«, sagte sie einfach.

Ihre Fingerspitzen spielten leise um seine Lippen, schnelle kleine Schmetterlingsberührungen, dann glitten sie über Brust und Bauch. Sie sah, wie er wieder steif und hart wurde. Sie stand auf, ging ins Badezimmer, kam einen Augenblick später zurück und nahm seinen Penis in den Mund. Ihr Mund war heiß, mit warmem Wasser gefüllt. »O Jesus«, sagte er.

Sie verbrachten die ganze Nacht mit ihren Liebesspielen, und am Morgen bat Sorel Noelle, zu ihm zu ziehen.

Noelle lebte mit Philippe Sorel ein halbes Jahr zusammen. Sie war weder glücklich noch unglücklich. Sie wusste, dass ihre Anwesenheit Sorel ekstatisch glücklich machte, aber dies spielte bei Noelle nicht die geringste Rolle. Sie betrachtete sich lediglich als Studentin, die entschlossen war, jeden Tag etwas Neues zu lernen. Er war eine Schule, auf die sie ging, ein Teilchen nur in ihrem großen Plan. Für Noelle lag nichts Persönliches in ihrer Verbindung, denn sie gab nichts von sich selbst. Diesen Fehler hatte sie zweimal gemacht, und sie würde ihn nie wieder begehen. In Noelles Gedanken war Raum nur für einen Mann, und das war Larry Douglas. Wenn Noelle an der Place des Victoires oder an einem Park oder einem Restaurant vorbeikam, wohin Larry sie geführt hatte, spürte sie, wie der Hass in ihr wieder aufstieg, und sie würgte, dass sie kaum atmen konnte. Und da war noch etwas, das sich in diesen Hass schlich, etwas, das Noelle nicht definieren konnte.

Zwei Monate nachdem Noelle zu Sorel gezogen war, bekam sie einen Anruf von Christian Barbet.

»Ich habe wieder einen Bericht für Sie«, sagte der kleine Detektiv.

»Geht es ihm gut?« fragte Noelle schnell.

Wieder hatte Barbet jenes unbehagliche Gefühl. »Ja«, sagte er.

Noelles Stimme klang erleichtert. »Ich komme gleich.«

Der Bericht bestand aus zwei Teilen. Der erste betraf Larry Douglas' militärische Laufbahn. Er hatte fünf deutsche Maschinen abgeschossen und war das erste amerikanische Flieger-As im Krieg. Er war zum Hauptmann befördert worden. Der zweite Teil des Berichtes interessierte sie mehr. Larry war in der Londoner Kriegsgesellschaft sehr beliebt geworden und hatte sich mit der Tochter eines britischen Admirals verlobt. Diesen Angaben folgte eine Liste von Mädchen, mit denen Larry schlief, von Show-Girls bis zur Frau eines Unterstaatssekretärs im Ministerium.

»Soll ich weitermachen?« fragte Barbet.

»Natürlich«, antwortete Noelle. Sie nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche und reichte ihn Barbet. »Rufen Sie mich an, wenn Sie weitere Nachrichten haben.«

Und draußen war sie.

Barbet blickte seufzend zur Decke: »Folie«, sagte er nachdenklich. »Folie.«

Wenn Philippe Sorel eine Ahnung gehabt hätte, was sich im Kopf Noelles abspielte, wäre er sehr erstaunt gewesen. Noelle schien ihm völlig ergeben. Sie tat alles für ihn: kochte wunderbar, kaufte ein, überwachte die Putzfrau in seiner Wohnung und war zur Umarmung bereit, wann immer ihm der Sinn danach stand. Und erbat nichts. Sorel beglückwünschte sich, eine so vollkommene Geliebte gefunden zu haben. Er nahm sie überallhin mit, und sie lernte alle seine Freunde kennen. Sie waren von ihr entzückt und meinten, Sorel sei ein Glückspilz.

Eines Abends, als sie nach der Vorstellung auswärts soupierten, sagte Noelle zu ihm: »Ich möchte Schauspielerin werden, Philippe.«

Er schüttelte den Kopf. »Weiß Gott, schön genug bist du dazu, aber ich bin mein ganzes Leben bis zum Hintern mit Schauspielerinnen liiert gewesen. Du bist anders, und ich möchte, dass du so bleibst. Ich möchte dich nicht mit anderen teilen.« Er tätschelte ihre Hand. »Geb' ich dir nicht alles, was du brauchst?«

»Doch, Philippe«, erwiderte Noelle.

Als sie an jenem Abend in die Wohnung zurückkehrten, verlangte es Sorel nach einer Umarmung. Danach war er ausgepumpt. Noch nie war Noelle so erregend gewesen, und er beglückwünschte sich, dass alles, was sie brauchte, nur die feste Führung eines Mannes war.

Am darauf folgenden Sonntag war Noelles Geburtstag, und Philippe Sorel gab ein Bankett im Maxim für sie. Er hatte sich den mit rotem Plüsch und tiefdunkler Täfelung ausgestatteten großen privaten Speisesaal im ersten Stock reservieren lassen. Noelle hatte bei der Aufstellung der Gästeliste geholfen und einen Namen ohne Wissen Philippes hinzugefügt. Es waren vierzig Personen auf der Gesellschaft. Nach dem Essen erhob sich Sorel. Er hatte eine ganze Menge Cognac und Champagner getrunken und stand ein bisschen unsicher auf den Beinen, auch seine Worte kamen etwas undeutlich heraus.

»Meine Freunde«, sagte er, »wir haben alle auf das schönste Mädchen der Welt getrunken und haben ihr schöne Geburtstagsgeschenke gegeben, aber ich habe ein Geschenk für sie, das eine große Überraschung sein wird.« Sorel sah auf Noelle hinunter und strahlte. Dann wandte er sich wieder an seine Gäste: »Noelle und ich werden heiraten.«

Beifälliger Jubel erhob sich, und die Gäste umdrängten Sorel, um ihm auf den Rücken zu klopfen und der Braut Glück zu wünschen. Noelle lächelte zu den Gästen auf und murmelte ihren Dank. Ein Gast war nicht aufgestanden. Er saß an einem Tisch am anderen Ende des Raumes, rauchte eine Zigarette in einem langen Halter und betrachtete spöttisch die Szene. Noelle war sich bewusst, dass er sie während des Essens beobachtet hatte. Er war ein großer, sehr magerer Mann mit einem gespannten, grüblerischen Gesicht. Ihn schien alles, was um ihn vorging, zu belustigen, mehr als Beobachter denn als Gast.

Ihre Blicke kreuzten sich, und Noelle lächelte.

Armand Gautier war einer der ersten Regisseure Frankreichs. Er leitete das französische Repertoire-Theater, und seine Inszenierungen waren in der ganzen Welt mit Beifall aufgenommen worden.

Wenn Gautier ein Stück oder einen Film inszenierte, war dies eine beinahe sichere Erfolgsgarantie. Er stand in dem Ruf, besonders gut mit Schauspielerinnen umgehen zu können, und hatte ein halbes Dutzend bedeutende Stars kreiert.

Sorel stand neben Noelle, redete mit ihr. »Warst du überrascht, mein Liebling?« fragte er.

»Ja, Philippe«, sagte sie.

»Ich möchte, dass wir sofort heiraten. Die Hochzeit wird in meiner Villa stattfinden.«

Über seine Schulter hinweg konnte Noelle Armand Gautier sehen, der sie beobachtete, sein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen. Dann kamen einige Freunde und zogen Philippe mit sich fort, und als Noelle sich umwandte, stand Gautier da.

»Gratuliere«, sagte er, und in seiner Stimme lag ein spöttischer Unterton. »Sie haben sich einen großen Fisch geangelt.«

»Meinen Sie?«

»Philippe Sorel ist ein großartiger Fang.«

»Für irgendeine vielleicht«, sagte Noelle gleichgültig.

Gautier sah sie erstaunt an. »Wollen Sie behaupten, Sie hätten kein Interesse daran?«

»Ich will gar nichts behaupten.«

»Viel Glück.« Er wandte sich zum Gehen.

»Monsieur Gautier ...«

Er blieb stehen.

»Könnte ich Sie heute Abend noch sehen?« fragte Noelle ruhig. »Ich möchte gerne allein mit Ihnen sprechen.«

Armand Gautier sah sie einen Augenblick an und zuckte dann die Schultern. »Wenn Sie wünschen.«

»Ich werde zu Ihnen kommen. Ist Ihnen das recht?«

»Ja, natürlich. Die Adresse ist«

»Ich kenne die Adresse. Zwölf Uhr?«

»Zwölf Uhr.«

Armand Gautier wohnte in einem eleganten alten Appartement-Haus in der Rue Marbeuf. Ein Pförtner begleitete Noelle in die Halle, und ein Liftboy brachte sie in den vierten Stock und zeigte ihr Gautiers Appartement. Noelle läutete. Einige Augenblicke später wurde die Tür von Gautier geöffnet. Er trug einen geblümten Dressinggown.

»Kommen Sie herein«, sagte er.

Noelle trat in die Wohnung. Ihr Auge war ungeübt, aber sie fühlte, dass sie mit bestem Geschmack eingerichtet war und dass die Kunstgegenstände wertvoll waren.

»Entschuldigen Sie, dass ich nicht angezogen bin«, sagte Gautier. »Aber ich habe telefoniert.«

Noelle hielt seinen Blick fest. »Sie brauchen nicht angezogen zu sein.« Sie ging zur Couch hinüber und setzte sich.

Gautier lächelte. »Das Gefühl hatte ich auch, Mademoiselle Page. Aber etwas möchte ich doch gerne wissen. Warum ausgerechnet ich? Sie sind mit einem berühmten und reichen Mann verlobt. Ich bin sicher, wenn Sie außerplanmäßige Aktivitäten suchen, könnten Sie attraktivere und bestimmt reichere und jüngere Männer finden. Was wollen Sie von mir?«

»Ich möchte, dass Sie mir Schauspielunterricht geben.«

Armand Gautier sah sie einen Augenblick an und seufzte dann. »Sie enttäuschen mich. Ich habe etwas Originelleres erwartet.«

»Es ist Ihr Beruf, mit Schauspielern zu arbeiten.«

»Mit Schauspielern, nicht Amateuren. Haben Sie je gespielt?«

»Nein. Aber Sie werden es mich lehren.« Sie nahm ihren Hut ab und zog die Handschuhe aus. »Wo ist Ihr Schlafzimmer?« fragte sie.

Gautier zögerte. In seinem Leben wimmelte es von schönen Frauen, die zur Bühne wollten oder eine größere Rolle oder die Hauptrolle in einem neuen Stück oder eine größere Garderobe haben wollten. Sie gingen ihm alle auf die Nerven. Er wusste, dass er ein Narr wäre, wenn er sich mit noch einer einließe. Andererseits brauchte er sich nicht an sie zu binden. Hier war ein schönes Mädchen, das sich ihm an den Hals warf. Es wäre einfach, mit ihr ins Bett zu steigen und sie dann fortzuschicken. »Dort hinein«, sagte er, auf eine Tür deutend.

Er beobachtete Noelle, während sie aufs Schlafzimmer zuging. Er fragte sich, wie Philippe Sorel wohl zumute wäre, wenn er wüsste, dass seine Braut die Nacht hier verbrachte. Weiber, Huren, alle. Gautier schenkte sich einen Cognac ein und tätigte mehrere Anrufe. Als er schließlich ins Schlafzimmer ging, lag Noelle nackt in seinem Bett, auf ihn wartend. Gautier musste zugeben, dass sie ein erlesenes Werk der Natur war. Ihr Gesicht war atemraubend und ihr Körper makellos. Ihre Haut war honigfarben, ausgenommen das zartgoldene Dreieck zwischen ihren Beinen. Gautier hatte die Erfahrung gemacht, dass schöne Mädchen fast ausnahmslos nazistisch, viel zu ichbezogen, daher im Bett miserabel waren. Sie meinten, ihr Beitrag zur Liebe bestünde allein darin, dass sie sich einem Mann ins Bett legten, der dann am Ende einen bewegungslosen Lehmklumpen im Arm hatte und auch noch dankbar dafür sein sollte. Na ja, vielleicht konnte er dieser da einiges beibringen.

Noelle sah zu, wie Gautier sich auszog, seine Sachen unbekümmert auf dem Boden verstreute und dann ans Bett trat. »Ich werde dir nicht erzählen, du seiest schön«, sagte er. »Das hast du schon viel zu oft gehört.«

»Die Schönheit ist vergeudet«, meinte Noelle schulterzuckend, »wenn sie nicht angewandt wird, um Vergnügen zu bereiten.«

Gautier sah sie überrascht an und lächelte dann. »Einverstanden. Wenden wir uns der deinen zu.« Er setzte sich neben sie.

Wie die meisten Franzosen bildete Armand Gautier sich ein, ein gewandter Liebhaber zu sein. Er war über die Geschichten belustigt, die er von den Deutschen und Amerikanern gehört hatte, deren Vorstellung von einem Liebesakt darin bestand, dass sie ein Mädchen bestiegen, sofort einen Orgasmus hatten, den Hut aufsetzten und sich verabschiedeten. Die Amerikaner hatten sogar eine Redensart dafür: »Wham, bam, thank you Ma'am.« Wenn Armand Gautier einer Frau gefühlsmäßig verbunden war, wandte er viele Kunstgriffe an, um den Genuss des Liebesaktes zu erhöhen. Zuerst gab es immer ein vollendetes Diner und die passenden Weine. Er arrangierte den szenischen Hintergrund kunstverständig, damit er angenehm auf die Sinne wirkte. Das Zimmer war zart parfümiert, und leise Musik erfüllte den Raum. Er erregte seine Frauen zuerst mit zartem Liebesgeflüster und später mit der gemeinen Sprache der Gosse. Und Gautier war erfahren in den dem Akt vorausgehenden manuellen Spielen.

Was Noelle betraf, verzichtete er auf alle diese Dinge. Für eine Nacht war das nicht nötig, kein Parfüm, keine Musik, keine leeren Koseworte. Sie war ganz einfach hier, um aufs Kreuz gelegt zu werden. Tatsächlich war sie eine Närrin, wenn sie glaubte, sie könne das, was jede Frau in der Welt zwischen ihren Beinen hatte, gegen die große und einzigartige Begabung, die Armand Gautier im Kopf hatte, aushandeln.

Er schwang sich über sie. Noelle hielt ihn zurück.

»Warte«, flüsterte sie.

Er sah verblüfft, wie sie nach zwei Tuben griff, die sie auf den Nachttisch gelegt hatte. Sie drückte den Inhalt der einen in ihre Hand und begann, seinen Penis damit einzureihen.

»Was soll denn das alles?« fragte er.

Sie lächelte. »Du wirst sehen.« Sie küsste ihn auf die Lippen, ihre Zunge schoss mit schnellen, vogelartigen Bewegungen in seinen Mund. Sie löste sich, und ihre Zunge bewegte sich über seinen Leib; ihr Haar strich wie leichte, zarte Finger über seinen Körper. Er spürte, dass sein Organ sich zu heben begann. Sie fuhr mit ihrer Zunge an seinen Beinen bis zu seinen Füßen hinunter und begann, sanft an seinen Zehen zu saugen. Sein Organ war jetzt steif und hart, und sie bestieg ihn. Als er spürte, wie er in sie eindrang, wirkte die Wärme ihrer Vagina auf die Salbe, mit der sie seinen Penis eingerieben hatte, und die Empfindung wurde unerträglich erregend. Als sie auf ihm ritt und sich auf und ab bewegte, liebkoste ihre linke Hand seine Hoden, die heiß zu werden begannen. In der Salbe auf seinem Penis war Menthol, und die Sensation des Kalten im Innern ihrer Wärme, dazu die Hitze seiner Hoden brachte ihn zur Raserei.

Sie umarmten sich die ganze Nacht, und jedes Mal liebte Noelle ihn anders. Es war das unglaublichste sinnliche Erlebnis, das er je gehabt hatte.

Morgens sagte Armand Gautier: »Wenn ich genug Energie aufbringen kann, um mich zu bewegen, zieh' ich mich an, und wir gehen frühstücken.«

»Bleib liegen«, sagte Noelle. Sie ging zum Wandschrank hinüber, wählte einen seiner Dressinggowns und zog ihn an. »Ruh dich aus. Ich bin gleich wieder da.«

Eine halbe Stunde später kam Noelle mit einem Frühstückstablett zurück. Darauf waren frisch ausgepresster Orangensaft, ein köstliches Omelett mit Würstchen und Schnittlauch, heiße, mit Butter bestrichene Croissants und Marmelade und eine Kanne schwarzen Kaffees. Es schmeckte außergewöhnlich gut.

»Isst du nichts?« fragte Gautier.

Noelle schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie saß in einem Sessel und sah ihm beim Essen zu. Sie sah sogar noch schöner aus in seinem Morgenrock, den sie oben offen trug, die Kurven ihrer herrlichen Brüste enthüllend. Ihr Haar war zerzaust.

Armand Gautier hatte seine anfängliche Meinung über Noelle radikal geändert. Sie stieg nicht mit jedem Mann auf Anhieb ins Bett; sie war ein absoluter Schatz. Jedoch hatte er viele Schätze in seiner Laufbahn am Theater kennen gelernt und hatte nicht die Absicht, seine Zeit und sein Talent als Regisseur an eine Dilettantin mit strahlenden Augen zu verschwenden, die auf die Bühne wollte, ganz gleich, wie schön oder wie tüchtig im Bett sie auch sein mochte. Gautier war ein engagierter Mann, der seine Kunst ernst nahm. Er hatte sich in der Vergangenheit geweigert, sie aufs Spiel zu setzen, und dachte nicht daransetzt damit anzufangen.

Am Abend zuvor hatte er vorgehabt, mit Noelle die Nacht zu verbringen und sie am Morgen hinauszuwerfen. Jetzt aß er sein Frühstück, betrachtete sie dabei und versuchte, sich einen Weg auszudenken, wie er Noelle als Geliebte halten könnte, bis er ihrer überdrüssig wurde, ohne sie zur Schauspielerei zu ermutigen. Er wusste, dass er ihr einen Köder hinhalten musste. Vorsichtig tastete er sich vor. »Hast du die Absicht, Philippe Sorel zu heiraten?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Noelle. »Das will ich nicht.«

Jetzt kam's. »Was willst du denn?« fragte Gautier.

»Ich sagte dir schon«, entgegnete Noelle ruhig. »Ich möchte Schauspielerin werden.«

Gautier biss in noch ein Croissant, um Zeit zu gewinnen. »Natürlich«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Es gibt viele Schauspiellehrer, zu denen ich dich schicken könnte, die ...«

»Nein«, sagte sie. Noelle sah ihn freundlich, herzlich an, als wäre sie begierig, in alles einzuwilligen, was er vorschlug. Und doch hatte Gautier das Gefühl, dass in ihrem Innersten ein stählerner Kern lag. Sie hätte auf vielerlei Arten »nein« sagen können. Zornig, vorwurfsvoll, enttäuscht, schmollend, aber sie hatte es sanft gesagt und mit absoluter Entschiedenheit. Die Sache würde schwieriger werden, als er erwartet hatte. Einen Augenblick war Armand Gautier versucht, ihr zu erklären, was er Dutzenden von Mädchen allwöchentlich sagte, sie solle gehen, er könne seine Zeit für sie nicht vergeuden. Aber dann dachte er wieder an die unglaublichen Sensationen, die er in der Nacht erlebt hatte, und wusste, dass er ein Narr wäre, sie so bald gehen zu lassen. Sicherlich war sie einen kleinen, ganz kleinen Kompromiss wert.

»Na gut«, sagte Gautier. »Ich werde dir ein Stück zum Studium geben. Wenn du es gelernt hast, wirst du es mir vortragen, und wir werden sehen, wie viel Talent du hast. Dann können wir entscheiden, was wir mit dir tun.«

»Danke, Armand«, sagte sie. Es lag kein Triumph in ihren Worten, nicht einmal Freude, die er entdecken konnte. Nur eine einfache Anerkennung des Unvermeidlichen. Zum ersten Mal fühlte Gautier einen leisen Stich des Zweifels. Aber das war natürlich lächerlich. Er war ein Meister im Umgang mit Frauen.

Während Noelle sich anzog, ging Armand Gautier in seine Bibliothek und überflog die vertrauten, abgegriffenen Bände auf den Borden. Schließlich wählte er mit einem schiefen Lächeln Andromache von Euripides. Es war eines der schwierigsten klassischen Werke. Er ging ins Schlafzimmer zurück und gab Noelle das Stück.

»Da, meine Liebe«, sagte er. »Wenn du die Rolle gelernt hast, werden wir sie zusammen durchnehmen.«

»Danke, Armand. Du wirst es nicht bedauern.«

Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr freute ihn seine List. Noelle würde eine oder zwei Wochen brauchen, die Rolle

zu lernen, oder, was noch wahrscheinlicher war, sie würde zu ihm kommen und zugeben, sie könne sie nicht auswendig lernen. Er würde vollstes Verständnis zeigen und erklären, wie schwer die Kunst des Schauspielens sei, und sie könnten dann ein von ihren Ambitionen unbeeinträchtigtes Verhältnis unterhalten. Gautier verabredete sich mit Noelle zum Diner am Abend, und sie ging.

Als Noelle in die Wohnung zurückkehrte, die sie mit Philippe Sorel teilte, wartete er schon auf sie. Er war sehr betrunken.

»Du Luder«, schrie er. »Wo bist du die ganze Nacht gewesen?«

Es wäre gleichgültig, was sie sagte. Sorel wusste, dass er sich ihre Entschuldigung anhören, sie verdreschen und dann ins Bett nehmen und ihr verzeihen würde.

Doch Noelle entschuldigte sich nicht, sagte nur: »Bei einem anderen Mann, Philippe. Ich bin gekommen, meine Sachen zu holen.«

Und als Sorel sie verblüfft und ungläubig ansah, ging Noelle ins Schlafzimmer und begann zu packen.

»Um Himmels willen, Noelle«, flehte er, »tu das nicht! Wir lieben uns doch, wir werden heiraten.« Die nächste halbe Stunde redete er auf sie ein, argumentierte, drohte, schmeichelte, und inzwischen hatte Noelle zu Ende gepackt und die Wohnung verlassen, und Sorel hatte keine Ahnung, warum er sie verloren hatte, denn er wusste nicht, dass er sie nie besessen hatte.

Armand steckte tief in der Regie-Arbeit an seinem neuen Stück, dessen Premiere in vierzehn Tagen sein sollte, und verbrachte den ganzen Tag mit Proben im Theater. In der Regel dachte Gautier, wenn er ein Stück inszenierte, an nichts anderes. Ein Teil seines Genies war die intensive Konzentration, die er seiner Arbeit widmen konnte. Nichts existierte für ihn außer den vier Wänden des Theaters und den Schauspielern, mit denen er arbeitete. An diesem Tag jedoch war es anders. Gautier entdeckte, dass seine Gedanken unablässig zu Noelle und der unglaublichen Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, abschweiften. Die Schauspieler gingen eine Szene durch, hielten inne und warteten auf seine Kritik, und Gautier merkte plötzlich, dass er gar nicht hingehört hatte. Wütend auf sich versuchte er, sich auf seine Regie-Arbeit zu konzentrieren, aber die Erinnerungen an Noelles nackten Körper und die wunderbaren Dinge, die er ihm geboten hatte, kehrten immer wieder zurück. Mitten in einer dramatischen Szene entdeckte er, dass er mit einer Erektion auf der Bühne herumlief, und er musste sich einen Augenblick entschuldigen und hinausgehen.

Da Gautier einen analytischen Verstand hatte, versuchte er zu ergründen, was an diesem Mädchen derart auf ihn eingewirkt hatte. Gut, Noelle war schön, aber er hatte mit einigen der schönsten Frauen der Welt geschlafen. Sie war vollendet und gewandt im Liebesakt, aber das waren andere Frauen auch, mit denen er geschlafen hatte. Sie schien intelligent, aber nicht geistreich; ihre Persönlichkeit war angenehm, aber nicht kompliziert. Da war noch etwas anderes, etwas, worauf der Regisseur nicht wirklich den Finger legen konnte. Und dann erinnerte er sich an ihr sanftes »Nein«, und das war ein Anhaltspunkt. Es war eine gewisse Kraft in ihr, die unwiderstehlich war, die alles erreichen würde, was sie wollte. Etwas war in ihr, das unberührt war. Und wie andere Männer vor ihm spürte Armand Gautier, dass er, obgleich Noelle ihn tiefer bewegt hatte, als er es sich eingestehen wollte, sie überhaupt nicht berührt hatte, und das war eine Herausforderung, die seine Männlichkeit nicht ertrug.

Gautier verbrachte den Tag in einem Stadium der Verwirrung. Er freute sich auf den Abend mit großen Hoffnungen, nicht sosehr, weil er Noelle umarmen wollte, sondern weil er sich selbst beweisen wollte, dass er aus nichts etwas gemacht hatte. Er wollte, dass Noelle eine Enttäuschung für ihn sei, damit er sie aus seinem Leben verbannen konnte.

Als sie sich in jener Nacht umarmten, zwang sich Armand Gautier, sich der Tricks und Kunstgriffe und Listen bewusst zu werden, die Noelle anwandte, damit ihm klar würde, dass alles mechanisch, ohne jedes Gefühl, geschah. Aber er irrte sich. Sie gab sich ihm voll und ganz hin, wollte ihm nur Vergnügen und Genuss bereiten, wie er es nie vorher gekannt hatte, und sich an seinem Genuss weiden. Als der Morgen dämmerte, war Gautier von ihr noch mehr behext als zuvor.

Wieder bereitete Noelle ihm das Frühstück, diesmal feine Eierkuchen mit Marmelade und heißen Kaffee, und es war herrlich.

»Gut«, sagte Gautier sich, »du hast ein junges Mädchen gefunden, das schön anzusehen ist, das perfekt lieben und kochen kann. Bravo! Aber genügt das einem intelligenten Mann? Wenn du die Umarmung hinter dir hast und wenn du gegessen hast, musst du dich unterhalten. Worüber kann sie sich mit dir unterhalten?« Die Antwort lautete, dass es eigentlich keine Rolle spielte.

Von dem Stück war nicht mehr gesprochen worden, und Gautier hoffte, dass Noelle es entweder vergessen hatte oder aber mit dem Auswendiglernen des Textes nicht zu Rande gekommen war. Als sie am Morgen ging, versprach sie, mit ihm zu Abend zu essen.

»Kannst du dich von Philippe losmachen?« fragte Gautier.

»Ich habe ihn verlassen«, sagte Noelle einfach und nannte Gautier ihre neue Adresse.

Er starrte sie einen Augenblick an. »Ich verstehe.«

Er verstand nichts. Nicht im geringsten.

Sie verbrachten wieder die Nacht zusammen. Wenn sie sich nicht umarmten, redeten sie. Oder eigentlich – Gautier redete. Noelle schien so an ihm interessiert, dass er plötzlich über Dinge sprach, die er jahrelang nicht erörtert hatte, persönliche

Sachen, die er noch nie jemandem enthüllt hatte. Das Stück, das er ihr zu lesen gegeben hatte, wurde nicht erwähnt, und Gautier beglückwünschte sich, dass er sein Problem so elegant gelöst hatte.

Als sie am nächsten Abend gegessen hatten und bereit waren, sich zur Ruhe zu begeben, ging Gautier aufs Schlafzimmer zu.

»Noch nicht«, sagte Noelle.

Er drehte sich überrascht um.

»Du sagtest, du würdest mich anhören, wenn ich die Rolle spreche.«

»J-a natürlich«, stammelte Gautier. »Sobald du fertig bist.«

»Ich bin fertig.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du die Rolle liest, Cherie«, sagte er. »Ich möchte sie hören, wenn du sie auswendig gelernt hast, damit ich dich als Schauspielerin wirklich beurteilen kann.«

»Ich habe sie auswendig gelernt«, entgegnete Noelle.

Er starrte sie ungläubig an. Es war unmöglich dass sie die gesamte Rolle in nur drei Tagen gelernt haben konnte.

»Bist du bereit, mich anzuhören?« fragte sie.

Armand Gautier blieb keine andere Wahl. »Natürlich«, sagte er. Er deutete auf die Mitte des Zimmers. »Das ist deine Bühne. Das Publikum ist hier.« Er setzte sich auf eine große bequeme Polsterbank.

Noelle begann. Gautier fühlte, dass er eine Gänsehaut bekam, sein ihm eigenes Symptom, wenn er auf wirkliche Begabung stieß. Natürlich war Noelle nicht erfahren. Weit davon entfernt. Ihre Unerfahrenheit schimmerte durch jede Bewegung und Geste. Aber sie hatte etwas, was viel mehr war als bloße Sachkenntnis: Sie hatte eine seltene Ehrlichkeit, ein natürliches Talent, die jeder Zeile neue Bedeutung und neue Farbe gaben.

Als Noelle den Monolog beendete, sagte Gautier herzlich: »Ich glaube, eines Tages wirst du eine bedeutende Schauspielerin werden, Noelle. Im Ernst. Ich werde dich zu Georges Faber, dem besten Schauspiellehrer in ganz Frankreich, schicken. Wenn du mit ihm arbeitest«

»Nein.«

Er sah sie erstaunt an. Es war wieder dasselbe sanfte »Nein«. Bestimmt und endgültig.

»Was soll das heißen?« fragte Gautier einigermaßen verwirrt. »Faber nimmt nur die größten Schauspieler an. Er wird dich nur nehmen, weil ich es ihm sage.«

»Ich werde mit dir arbeiten«, sagte Noelle.

Gautier spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. »Ich gebe niemandem Unterricht«, fuhr er sie an. »Ich bin kein Lehrer. Ich bin Regisseur von Berufsschauspielern. Wenn du mal eine Berufsschauspielerin bist, wirst du unter meiner Regie spielen.« Er bemühte sich, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken. »Verstehst du mich?«

Noelle nickte. »Ja, ich verstehe, Armand.«

»Also gut.«

Beschwichtigt schloss er Noelle in die Arme und erhielt einen herzlichen Kuss von ihr. Jetzt wusste er, dass er sich unnötig Sorgen gemacht hatte. Sie war wie alle anderen Frauen, sie brauchte eine starke Hand. Er würde kein Problem mehr mit ihr haben.

Ihre Umarmungen in jener Nacht übertrafen alles bisher dagewesenen, möglicherweise, dachte Gautier, wegen der zusätzlichen Aufregung durch den leichten Streit, den sie gehabt hatten.

In der Nacht hatte er zu ihr gesagt: »Du kannst wirklich eine wunderbare Schauspielerin werden. Ich werde sehr stolz auf dich sein.«

»Danke, Armand«, flüsterte sie.

Am nächsten Morgen machte Noelle das Frühstück, und Gautier ging dann ins Theater. Als er Noelle im Laufe des Tages anrief, meldete sie sich nicht, und als er abends nach Hause kam, war sie nicht da. Gautier wartete auf sie, und als sie nicht erschien, lag er die ganze Nacht wach und machte sich Sorgen, ob sie vielleicht einen Unfall gehabt hatte. Er rief Noelle in ihrer Wohnung an, aber auch hier meldete sich niemand. Er schickte ein Telegramm, das als unzustellbar zurückkam, und als er nach den Proben bei ihr vorbeifuhr, läutete er vergebens.

In der folgenden Woche war Gautier rasend. Die Proben wurden zu Schlachtfeldern. Er schrie alle Schauspieler an und brachte sie derart außer Fassung, dass der Intendant vorschlug, die Probe abzubrechen, und Gautier willigte ein. Nachdem die Schauspieler gegangen waren, saß er allein auf der Bühne und versuchte zu ergründen, was ihm geschehen war. Er sagte sich, Noelle sei bloß eine von vielen Frauen, eine minderwertige, ehrgeizige Blondine mit dem Herzen eines Ladenmädchens, das ein Star werden wollte. Er verunglimpfte sie in jeder erdenklichen Weise, aber am Ende wusste er, dass es keinen Zweck hatte. Er musste sie haben. In jener Nacht wanderte er durch die Straßen von Paris, betrank sich in kleinen Bars, wo man ihn nicht kannte. Er versuchte, sich Möglichkeiten auszudenken, Noelle zu erreichen, aber es war nutzlos. Es gab niemanden, mit dem er auch nur über sie reden konnte, außer Philippe Sorel, und das kam natürlich nicht in Frage.

Eine Woche nach Noelles Verschwinden kam Armand Gautier um vier Uhr morgens betrunken nach Hause, öffnete die Tür und ging ins Wohnzimmer. Alle Lichter waren an. Noelle saß in einen Sessel gekuschelt da, in einen seiner Hausmäntel gekleidet, und las ein Buch. Als er eintrat, blickte sie auf und lächelte.

»Hallo, Armand.«

Gautier starrte sie an, sein Herz hüpfte, ein Gefühl unendlicher Erleichterung und des Glücks durchflutete ihn. Er sagte: »Morgen beginnen wir mit der Arbeit.«

Catherine

Washington 1940

Washington, D. C., war die erregendste Stadt, die Catherine Alexander je gesehen hatte. Immer hatte sie Chicago für den Kern gehalten, aber Washington war eine Offenbarung. Hier war das Herz Amerikas, das pulsierende Zentrum der Macht. Zuerst war Catherine von der Vielzahl der Uniformen auf den Straßen verwirrt: Armee, Marine-Luftwaffe, Marineinfanteriekorps. Zum ersten Mal fühlte Catherine die grimmige Möglichkeit eines Krieges als Realität.

In Washington war die unmittelbare Nähe des Krieges überall zu spüren. Es war die Stadt, in der der Krieg, wenn er ausbräche, beginnen würde. Hier würde er erklärt, mobilisiert und geführt werden. Es war die Stadt, die das Schicksal der Welt in der Hand hielt. Und sie, Catherine Alexander, würde ein Teil davon sein.

Sie war zu Susie Roberts gezogen, die in einem hellen und lustigen Apartment im vierten Stock mit einem ziemlich geräumigen Wohnzimmer, zwei anschließenden kleinen Schlafzimmern, einem winzigen Bad und einer Kochnische wohnte. Susie hatte sich offenbar gefreut, sie zu sehen. Ihre ersten Worte waren:

»Beeil dich, pack deine Sachen aus und dämpfe dein bestes Kleid auf. Du hast eine Dinner-Verabredung heute Abend.«

Catherine blinzelte. »Was ist in dich gefahren?«

»Cathy, in Washington sind es die Mädchen, die die schwarzen Verabredungsbüchelchen führen. Diese Stadt wimmelt von einsamen Männern, es ist ein Jammer.«

An jenem ersten Abend aßen sie im Willard Hotel. Susies Partner war ein Kongressmann aus Indiana, und Catherines Partner war ein Lobbyist aus Oregon, und beide Männer waren ohne ihre Frauen in der Stadt. Nach dem Dinner gingen sie in den Washington Country Club tanzen. Catherine hatte gehofft, der Lobbyist könnte ihr vielleicht zu einem Job verhelfen. Statt dessen wurden ihr ein Wagen und ein eigenes Apartment angeboten, was sie dankend ablehnte.

Susie nahm ihren Kongressmann in die Wohnung mit, und Catherine ging zu Bett. Kurze Zeit später hörte sie sie in Susies Schlafzimmer gehen, und die Sprungfedermatratze begann zu quietschen. Catherine stülpte sich das Kopfkissen über den Kopf, um das Geräusch zu ersticken, aber es war unmöglich. Sie stellte sich Susie mit ihrem Partner in wilden, leidenschaftlichen Umarmungen vor. Als Catherine am anderen Morgen zum Frühstück aufstand, war Susie schon auf, sah blendend und fröhlich aus und machte sich fertig, zur Arbeit zu fahren. Catherine forschte nach verräterischen Fältchen und anderen Anzeichen von Ausschweifung bei Susie, aber da war nichts. Sie sah im Gegenteil strahlend aus, ihr Teint war absolut einwandfrei. Mein Gott, dachte Catherine, sie ist ein weiblicher Dorian Gray. Eines Tages kommt sie herein, sieht großartig ans, und ich sehe wie hundertundzehn aus.

Ein paar Tage später sagte Susie beim Frühstück: »He, ich hörte von einer frei werdenden Stelle, das könnte dich vielleicht interessieren. Eines der Mädchen auf der Party gestern Abend sagte, sie gebe ihre Stellung auf und kehre nach Texas zurück. Gott allein weiß, weshalb jemand, der Texas entwischt ist, wieder dahin zurückgehen möchte. Ich entsinne mich, vor ein paar Jahren war ich in Amarillo und ...«

»Wo arbeitet sie?« unterbrach Catherine.

»Wer?«

»Das Mädchen«, sagte Catherine geduldig.

»Ach so. Sie arbeitet bei Bill Fräser. Er hat die Public Relati-ons im State Department unter sich. Newsweek hat letzten Monat einen Artikel über ihn gebracht. Es soll eine ruhige runde Sache sein. Ich hörte erst gestern Abend davon, wenn du also gleich hingehst, müsstest du eigentlich allen anderen Mädchen zuvorkommen.«

»Danke«, sagte Catherine. »William Fräser, ich komme!«

Zwanzig Minuten später war Catherine auf dem Weg zum State Department. Als sie ankam, sagte der Posten ihr, wo Fräsers Büro war, und sie nahm den Aufzug nach oben. Public Relations – das klang genau nach der Sorte, die sie suchte.

Catherine blieb im Gang vor dem Büro stehen und nahm ihren Taschenspiegel heraus, um ihr Make-up zu überprüfen. In Ordnung. Es war noch nicht neun Uhr dreißig, sie müsste also das Feld eigentlich für sich haben. Sie öffnete die Tür und ging hinein.

Das Bürovorzimmer war zum Bersten voll von Mädchen, die standen, saßen, an der Wand lehnten, und alle redeten offenbar gleichzeitig. Die hinter ihrem belagerten Schreibtisch völlig außer Fassung geratene Vorzimmerdame versuchte vergebens, Ordnung in das Chaos zu bringen. »Mr. Fräser hat jetzt zu tun«, wiederholte sie immerzu, »ich weiß nicht, wann er Sie empfangen kann.«

»Interviewt er Sekretärinnen oder nicht?« wollte eines der Mädchen wissen.

»Ja, aber ...« Sie blickte sich verzweifelt in dem lärmenden Haufen um. »Mein Gott, das ist ja absurd!«

Die Tür vom Gang öffnete sich, und drei weitere Mädchen drängten sich herein, Catherine beiseite schiebend.

»Ist die Stelle schon vergeben?« fragte eines von ihnen.

»Vielleicht möchte er gern einen Harem«, meinte ein anderes Mädchen. »Dann können wir alle hier bleiben.«

Die Tür zum Innenbüro öffnete sich, und ein Mann kam heraus. Er war etwa 1,85 m groß und hatte den beinahe schlanken Körper eines Nichtsportlers, der sich im Sportklub an drei Morgen in der Woche fit hält. Er hatte lockiges blondes, an den Schläfen angegrautes Haar, hellblaue Augen und ein energisches, ziemlich abstoßendes Kinn. »Was zum

Teufel geht denn hier vor, Sally?« Seine Stimme klang tief und gebieterisch.

»Diese Mädchen haben von der freien Stelle gehört, Mr. Fräser.«

»Um Himmels willen! Ich selbst habe erst vor einer Stunde davon gehört.« Seine Augen schweiften durch den Raum. »Es ist wie Urwaldtrommeln.« Als sein Blick auf Catherine zuwanderte, richtete sie sich gerade auf und schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln: Ich werde eine großartige Sekretärin sein. Aber seine Augen gingen über sie hinweg und kehrten zu der Vorzimmerdame zurück. »Ich brauche ein Exemplar von Life«, sagte er zu ihr. »Eine alte Ausgabe von vor drei oder vier Wochen. Auf dem Titelblatt ist ein Bild von Stalin.«

»Ich werde es bestellen, Mr. Fräser«, sagte die Vorzimmerdame.

»Ich brauche es jetzt.« Er schickte sich an, in sein Büro zurückzugehen.

»Ich werde das Time-Life-Büro anrufen«, sagte die Vorzimmerdame, »und zusehen, ob ich eine Nummer auftreiben kann.«

Fräser blieb an der Tür stehen. »Sally, ich habe Senator Borah am Apparat. Ich möchte ihm einen Absatz aus dieser Nummer vorlesen. Sie haben zwei Minuten Zeit, mir ein Exemplar zu beschaffen.« Er ging in sein Büro und schloss die Tür.

Die Mädchen im Zimmer sahen sich gegenseitig an und zuckten die Schultern. Catherine überlegte angestrengt. Dann drehte sie sich um und drängte sich aus dem Büro.

»Gut. Eine weniger«, sagte eines der Mädchen.

Die Vorzimmerdame hob den Hörer und wählte die Auskunft. »Die Nummer des Time-Life-Büros«, sagte sie. Es wurde still im Raum, die Mädchen beobachteten sie. »Danke.« Sie legte auf, nahm den Hörer wieder ab und wählte. »Hallo. Hier ist Mr. William Fräsers Büro im State Department. Mr.

Fräser braucht sofort eine alte Nummer von Life. Die mit Stalin auf dem Titelblatt... Sie haben keine alten Nummern da? An wen könnte ich mich wenden? ... Ach so, danke.« Sie legte auf.

»Pech, Süße«, sagte eines der Mädchen.

Eine andere: »Was die so alles wollen! Wenn er heute Abend zu mir kommen will, les' ich ihm vor.« Gelächter.

Die Sprechanlage summte. Sie drückte die Taste.

»Die zwei Minuten sind um«, sagte Fräsers Stimme. »Wo bleibt das Magazin?«

Die Vorzimmerdame holte tief Atem. »Ich habe gerade mit dem Time-Life-Büro gesprochen, Mr. Fräser, und dort sagte man mir, es sei unmöglich, es ...«

Die Tür ging auf, und Catherine eilte herein. In ihrer Hand hielt sie eine Nummer von Life mit Stalins Bild auf der Titelseite. Sie schob sich zum Schreibtisch durch und reichte der Vorzimmerdame das Magazin. Die sah es ungläubig an. »Ich habe eine Nummer hier, Mr. Fräser. Ich bringe sie Ihnen sofort hinein.« Sie stand auf, lächelte Catherine dankbar an und eilte ins Innenbüro. Die anderen Mädchen starrten Catherine plötzlich giftig an.

Fünf Minuten später öffnete sich die Tür zu Fräsers Büro, und Fräser und die Vorzimmerdame erschienen. Die Vorzimmerdame zeigte auf Catherine. »Das ist sie.«

William Fräser sah Catherine forschend an. »Wollen Sie bitte hereinkommen?«

»Ja, Sir.« Catherine folgte Fräser in sein Büro und spürte die durchbohrenden Blicke der anderen Mädchen im Rücken. Fräser schloss die Tür.

Sein Büro war die typische bürokratische Washingtoner Angelegenheit, aber er hatte es stilvoll eingerichtet und ihm seinen persönlichen Stempel an Möbeln und Kunstgegenständen aufgedrückt.

»Setzen Sie sich, Miss ...«

»Alexander, Catherine Alexander.«

»Sally sagte mir, Sie hätten das Magazin Life gebracht.«

»Ja, Sir.«

»Ich nehme an, Sie hatten nicht zufällig eine drei Wochen alte Nummer in Ihrer Handtasche?«

»Nein, Sir.«

»Wie haben Sie es dann so schnell aufgetrieben?«

»Ich ging ins Friseurgeschäft hinunter. Bei Friseuren und Zahnärzten liegen immer alte Nummern herum.«

»Aha.« Fräser lächelte, und sein schroffes Gesicht schien weniger furchterregend. »Das wäre mir, glaube ich, nicht eingefallen«, sagte er. »Sind Sie in allen Dingen so gescheit?«

Catherine dachte an Ron Peterson. »Nein, Sir«, erwiderte sie.

»Suchen Sie eine Anstellung als Sekretärin?«

»Nicht eigentlich.« Catherine sah seinen erstaunten Blick. »Ich nehme sie natürlich«, fügte sie eilig hinzu. »An sich möchte ich Ihre Assistentin werden.«

»Wie war's, wenn Sie heute als Sekretärin anfingen?« meinte Fräser trocken. »Und morgen können Sie dann meine Assistentin werden.«

Sie sah ihn hoffnungsvoll an. »Sie meinen, ich bekomme die Anstellung?«

»Auf Probe.« Er drückte die Taste der Sprechanlage herunter und beugte sich vor. »Sally, würden Sie sich bitte bei den jungen Damen bedanken? Sagen Sie ihnen, der Posten ist besetzt.«

»Jawohl, Mr. Fräser.«

Er drückte die Taste zurück. »Sind Sie mit dreißig Dollar die Woche einverstanden?«

»O ja, Sir. Danke, Mr. Fräser.«

»Morgen früh, neun Uhr, können Sie anfangen. Lassen Sie sich von Sally ein Personalformular zum Ausfüllen geben.«

Als Catherine das Büro verließ, ging sie zur Washington Post hinüber. Der Polizist am Empfangspult in der Halle hielt sie an.

»Ich bin William Fräsers Privatsekretärin«, sagte sie von oben herab, »drüben im State Department. Ich brauche einige Informationen aus Ihrem Archiv.«

»Was für Informationen?«

»Über William Fräser.«

Er sah sie einen Augenblick prüfend an und sagte: »Das ist die sonderbarste Bitte, die ich in dieser Woche gehört habe. Hat Ihr Chef Sie belästigt oder so was?«

»Nein«, sagte sie entwaffnend. »Ich beabsichtige, ein Expose über ihn zu schreiben.«

Fünf Minuten später führte ein Angestellter sie ins Archiv. Er zog die Akte über Fräser heraus, und Catherine begann zu lesen.

Eine Stunde später war Catherine eine der über William Fräser bestinformierten Personen. Er war fünfundvierzig, hatte an der Princeton Universität summa cum laude promoviert, hatte eine Werbeagentur aufgemacht, Fräser Associates, die eine der erfolgreichsten Agenturen in der Branche geworden war, und hatte auf Ersuchen des Präsidenten ein Jahr Urlaub genommen, um für die Regierung zu arbeiten. Er war mit Lydia Campion, einer Angehörigen der oberen Zehntausend, verheiratet gewesen. Sie waren seit vier Jahren geschieden. Keine Kinder. Fräser war Millionär und hatte ein Haus in Georgetown und einen Sommersitz in Bar Harbor, Maine. Seine Hobbies waren Tennis, Rudern und Polo. In mehreren Zeitungsartikeln wurde er als »einer der begehrenswertesten Junggesellen Amerikas« bezeichnet.

Als Catherine nach Hause kam und Susie ihre guten Neuigkeiten mitteilte, bestand Susie darauf, dass sie ausgingen und feierten. Zwei reiche Kadetten aus Annapolis waren in der Stadt.

Catherines Partner war ein ganz netter Junge, doch den ganzen Abend verglich sie ihn in Gedanken mit William Fräser, und mit Fräser verglichen, schien der Junge unreif und langweilig. Catherine fragte sich, ob sie sich in ihren neuen

Chef verlieben würde. Als sie bei ihm gewesen war, hatte sie kein prickelndes, mädchenhaftes Gefühl gehabt, aber etwas anderes war da, Sympathie für ihn als Mensch und Achtung. Sie kam zu dem Schluss, dass das prickelnde Gefühl wahrscheinlich nur in französischen Romanen existierte.

Die Kadetten führten die Mädchen in ein kleines italienisches Restaurant am Stadtrand von Washington, wo sie ausgezeichnet aßen, dann sahen sie sich den Film Arsen und Spitzenhäubchen an, der Catherine sehr gefiel. Am Schluss des Abends brachten die Jungen sie nach Hause, und Susie lud sie noch zu einem Schlummertrunk ein. Als es Catherine schien, dass sie die Nacht über dableiben wollten, entschuldigte sie sich und sagte, sie müsse zu Bett gehen.

Ihr Partner protestierte. »Wir haben noch nicht mal angefangen«, sagte er. »Schauen Sie sich die da an.«

Susie und ihr Begleiter saßen leidenschaftlich umschlungen auf der Couch:

Catherines Begleiter packte sie am Arm. »Es kann bald Krieg geben«, sagte er dringend. Ehe Catherine ihn hindern konnte, nahm er ihre Hand und legte sie auf die Härte zwischen seinen Beinen. »Sie können einen Mann doch nicht in diesem Zustand an die Front schicken, nicht wahr?«

Catherine zog ihre Hand zurück, kämpfte dagegen an, nicht wütend zu werden. »Ich habe oft darüber nachgedacht«, sagte sie ruhig, »und habe beschlossen, nur mit Leichtverwundeten zu schlafen.« Sie drehte sich um und ging in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich ab. Doch sie konnte schwer einschlafen. Sie lag im Bett und grübelte über William Fräser, ihre neue Stelle und die männliche Härte des Jungen aus Annapolis nach. Eine Stunde nachdem sie sich hingelegt hatte, hörte sie Susies Matratzenfedern wild quietschen. Von da an war an Schlaf nicht mehr zu denken.

Catherine war am nächsten Morgen um acht Uhr dreißig in ihrem neuen Büro. Die Tür war unverschlossen, und das Licht

im Vorzimmer war an. Aus dem Innenbüro hörte sie eine Männerstimme, und sie ging hinein. William Fräser saß an seinem Schreibtisch und sprach in ein Diktaphon. Als Catherine eintrat, blickte er auf und knipste das Gerät aus. »Sie sind früh dran«, sagte er.

»Ich wollte mich umsehen und mich orientieren, ehe ich mit der Arbeit beginne.«

»Setzen Sie sich.« Es lag etwas in seinem Ton, was Catherine verdutzte. Er schien böse zu sein. Catherine nahm Platz. »Ich mag keine Schnüffeleien, Miss Alexander.«

Catherine merkte, dass sie rot wurde. »Ich – ich verstehe nicht.«

»Washington ist eine kleine Stadt. Es ist noch nicht mal eine Stadt. Es ist ein gottverdammtes Dorf. Alles, was hier vorgeht, weiß jedermann schon etwa fünf Minuten später.«

»Trotzdem verstehe«

»Der Herausgeber der Post rief mich, zwei Minuten nachdem Sie dort erschienen, an und fragte, weshalb meine Sekretärin Erkundigungen über mich einhole.«

Catherine saß baff da, wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Haben Sie alles an Klatsch erfahren, was Sie wissen wollten?«

Sie merkte, wie ihre Verlegenheit sich schnell in Zorn verwandelte. »Ich habe nicht geschnüffelt«, sagte Catherine und stand auf. »Ich wollte nur Informationen über Sie einholen, um zu wissen, bei was für einem Mann ich arbeite.« Ihre Stimme zitterte vor Empörung. »Ich bin der Meinung, dass eine gute Sekretärin sich ihrem Chef anpassen soll, und wollte wissen, woran ich mich zu halten habe.«

Fräser saß mit feindseligem Gesichtsausdruck da.

Catherine starrte ihn an, hasste ihn, war den Tränen nahe. »Sie brauchen sich keine Sorgen mehr darüber zu machen, Mr. Fräser. Ich gehe.« Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu.

»Setzen Sie sich«, sagte Fräser, und seine Stimme klang wie ein Peitschenknall. Catherine drehte sich erschrocken um. »Ich kann gottverfluchte Primadonnen nicht ausstehen.«

Sie funkelte ihn an. »Ich bin keine ...«

»O. K. Tut mir leid. So, wollen Sie sich jetzt bitte setzen?« Er nahm eine Pfeife von seinem Schreibtisch und zündete sie an.

Catherine stand da und wusste nicht, was sie tun sollte, fühlte sich gedemütigt. »Ich glaube nicht, dass es gut gehen wird«, fing sie an. »Ich ...«

Fräser zog an seiner Pfeife und schnappte das Streichholz aus. »Sie können jetzt nicht weglaufen. Was ich für Mühen hätte, ein neues Mädchen einzuführen!«

Catherine sah ihn an und bemerkte ein belustigtes Glitzern in seinen hellblauen Augen. Er lächelte, und zögernd bogen sich auch ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln. Sie ließ sich in einen Stuhl fallen.

»Das ist besser. Hat man Ihnen schon mal gesagt, dass Sie zu empfindlich sind?«

»Ich nehme an, ich bin's. Entschuldigung.«

Fräser lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Oder vielleicht bin ich der Überempfindliche. Es gibt einem einen Stich in den Arsch, wenn man der begehrenswerteste Junggeselle Amerikas genannt wird.«

Catherine wünschte, er würde nicht solche Worte gebrauchen. Aber was störte sie am meisten? fragte sie sich. Arsch oder Junggeselle?

Vielleicht hatte Fräser recht. Vielleicht war ihr Interesse an ihm nicht so unpersönlich, wie sie glaubte. Im Unterbewusstsein vielleicht ...

»… Zielscheibe für jedes gottverdammte idiotische unverheiratete Weib in der Welt«, sagte Fräser. »Sie würden's nicht glauben, wenn ich Ihnen erzählte, wie aufdringlich Frauen sein können.«

Nein? Versuchen Sie unsere Kassiererin. Catherine wurde rot, als sie daran dachte.

»Es könnte einen Mann glatt zum Schwulen machen«, seufzte Fräser. »Da dies die allgemeine Auskunftswoche zu sein scheint, erzählen Sie mir etwas von sich. Boyfriends?«

»Nein«, sagte sie. »Das heißt, keinen besonderen«, fügte sie schnell hinzu.

Er sah sie spöttisch an. »Wo wohnen Sie?«

»Ich habe eine kleine Wohnung zusammen mit einer früheren College-Kameradin.«

»Northwestern.«

Sie sah ihn überrascht an, begriff aber dann, dass er sich das von ihr ausgefüllte Personalformular angesehen haben musste.

»Ja, Sir.«

»Ich werde Ihnen jetzt etwas von mir erzählen, was Sie nicht im Zeitungsarchiv gefunden haben. Ich bin ein schwieriger Arbeitgeber. Sie werden feststellen, dass ich fair bin, aber ich bin ein Perfektionist. Mit unsereinem lässt es sich schwer auskommen. Glauben Sie, dass Sie es schaffen?«

»Ich werde es versuchen«, sagte Catherine.

»Gut. Sally wird Sie in die Routine-Arbeit hier einführen. Das Wichtigste, was Sie nie vergessen dürfen: Ich bin ein Ketten-Kaffeetrinker. Schwarz und heiß.«

»Ich werd's nicht vergessen.« Sie stand auf und ging auf die Tür zu.

»Und, Catherine!«

»Ja, Mr. Fräser?«

»Wenn Sie heut' Abend nach Hause kommen, stellen Sie sich vor den Spiegel und üben Sie ein paar lästerliche Ausdrücke ein. Wenn Sie jedes Mal zusammenzucken, wenn ich ein VierBuchstaben-Wort ausspreche, geh' ich die Wände hoch.«

Wieder diese Bevormundung, als ob sie ein Kind wäre. »Ja, Mr. Fräser«, sagte sie kalt. Wütend stürmte sie aus dem Zimmer, hätte beinahe die Tür hinter sich zugeschlagen.

Das Treffen war keineswegs so verlaufen, wie Catherine es erwartet hatte. Sie mochte William Fräser nicht mehr. Sie hielt ihn für einen selbstgefälligen, herrischen, arroganten Flegel. Kein Wunder, dass seine Frau sich von ihm hatte scheiden lassen. Nun, sie war hier und würde anfangen, aber sie beschloss, sich nach einer anderen Stelle umzusehen, einer Stelle bei einem Menschen statt bei einem Despoten.

Als Catherine hinausgegangen war, lehnte Fräser sich in seinen Stuhl zurück und lächelte. Waren die Mädchen immer noch so schmerzhaft jung, so ernst und engagiert? In ihrem Zorn, mit den blitzenden Augen und zitternden Lippen, hatte Catherine so hilflos geschienen, dass Fräser sie am liebsten schützend in die Arme genommen hätte. Gegen sich selbst, gab er traurig zu. Sie hatte etwas Altmodisch-Sauberes an sich, dessen Vorhandensein er bei Mädchen beinahe vergessen hatte. Sie war reizend und intelligent, und sie hatte ihren eigenen Kopf. Sie würde die gottverdammt beste Sekretärin werden, die er je gehabt hatte. Und eine Ahnung sagte Fräser, dass sie mehr als das sein würde. Wie viel mehr, darüber war er sich noch nicht im klaren. Er hatte sich schon so oft die Finger verbrannt, dass sich ein Warnsystem automatisch in dem Augenblick einschaltete, in dem er sich von einer Frau angerührt fühlte. Solche Augenblicke waren sehr selten gewesen. Seine Pfeife war ausgegangen. Er zündete sie wieder an, und das Lächeln lag immer noch auf seinem Gesicht. Als Fräser Catherine etwas später zum Diktat kommen ließ, war sie höflich, aber kühl. Sie wartete darauf, dass Fräser etwas Persönliches sagen würde, damit sie ihm zeigen könnte, wie zurückhaltend sie war, aber er verhielt sich distanziert und geschäftsmäßig. Er hatte offensichtlich den Vorfall von heute morgen aus seinen Gedanken verbannt, dachte Catherine. Wie gefühllos konnte ein Mann sein!

Trotz allem fand Catherine den neuen Job faszinierend. Das Telefon läutete ununterbrochen, und die Namen der Anrufer erregten sie ungeheuer. In der ersten Woche rief der Vizepräsident der Vereinigten Staaten zweimal an, dann waren ein halbes Dutzend Senatoren, der Secretary of State und eine berühmte Schauspielerin am Apparat, die in der Stadt war, um für ihren neuesten Film Reklame zu machen. Der Höhepunkt der Woche war ein Anruf von Präsident Roosevelt, und Catherine war so nervös, dass sie den Hörer fallen ließ und die Verbindung mit seiner Sekretärin unterbrach.

Zusätzlich zu den Telefonanrufen hatte Fräser eine ununterbrochene Folge von Verabredungen im Büro, in seinem Country Club oder in einem der bekannteren Restaurants. Schon nach wenigen Wochen ließ Fräser Catherine seine Verabredungen arrangieren und die Vorbestellungen machen. Sie wusste allmählich, wen Fräser sehen wollte und wen nicht. Ihre Arbeit nahm sie derart in Anspruch, dass sie am Ende des Monats ganz vergessen hatte, sich nach einer anderen Stellung umzusehen.

Catherines Beziehung zu Fräser lag immer noch auf einer sehr unpersönlichen Ebene, aber inzwischen kannte sie ihn gut genug, um zu begreifen, dass seine Zurückhaltung nicht Unfreundlichkeit bedeutete. Es war Würde, ein Wall der Reserve, der ihm als Schild gegen die Welt diente. Catherine hatte das Gefühl, dass Fräser in Wirklichkeit sehr einsam war. Seine Stellung verlangte Geselligkeit von ihm, aber sie spürte, dass er von Natur ein einsiedlerischer Mann war. Außerdem spürte sie, dass William Fräser nicht zu ihr passte. Im übrigen die meisten amerikanischen Männer auch nicht, dachte sie.

Hin und wieder traf sie gemeinsam mit Susie Verabredungen mit Männern, aber die meisten ihrer Begleiter waren verheiratete Sexprotze, und sie zog es vor, allein ins Kino oder ins Theater zu gehen. Sie sah Gertrude Lawrence und einen neuen Komiker namens Danny Kaye in Lady in the Dark und Life with Father und Alice in Arms mit einem jungen Schauspieler namens Kirk Douglas. Sie liebte Kitty Foyle mit Ginger Rogers, weil das Stück sie an sich erinnerte. Eines Abends, in einer Aufführung des Hamlet, sah sie Fräser in einer Loge mit einem sehr feinen Mädchen in einem teuren weißen Abendkleid, das Catherine in Vogue gesehen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wer das Mädchen war. Fräser traf seine eigenen privaten Verabredungen, und sie wusste nie, wo er hinging und mit wem. Er blickte ins Parkett und bemerkte sie. Am nächsten Morgen sagte er nichts darüber, bis er seine Morgendiktate beendet hatte.

»Wie gefiel Ihnen Hamlet?« fragte er.

»Das Stück ist gut inszeniert, aber von den Darstellern war ich nicht sehr angetan.«

»Mir gefielen die Schauspieler«, sagte er. »Besonders das Mädchen, das die Ophelia spielte, war sehr gut.«

Catherine nickte und wandte sich zum Gehen.

»Mochten Sie die Ophelia nicht?« fragte Fräser hartnäckig.

»Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen«, sagte Catherine bedächtig, »sie konnte sich gerade noch über Wasser halten.« Drehte sich um und ging hinaus.

Als Catherine an jenem Abend in die Wohnung kam, wartete Susie schon auf sie.

»Es hat jemand nach dir gefragt«, sagte Susie.

»Wer?«

»Ein FBI-Mann. Sie ermitteln über dich.«

Mein Gott, dachte Catherine. Die haben herausgekriegt, dass ich Jungfrau bin, und wahrscheinlich gibt es in Washington ein Gesetz dagegen. Laut sagte sie: »Warum sollte das FBI über mich ermitteln?«

»Weil du jetzt bei der Regierung arbeitest.«

»Ach so.«

»Wie geht's deinem Mr. Fräser?«

»Meinem Mr. Fräser geht's ausgezeichnet«, sagte Catherine.

»Wie würde ich ihm wohl gefallen?«

Catherine betrachtete prüfend ihre große gertenschlanke, brünette Wohnungskameradin. »Zum Frühstück.«

Im Laufe der folgenden Wochen wurde Catherine mit den

anderen Sekretärinnen in den nahe gelegenen Büros bekannt. Mehrere der Mädchen hatten ein Verhältnis mit ihrem Chef, und es schien ihnen gleichgültig zu sein, ob die Männer verheiratet oder ledig waren. Sie beneideten Catherine um ihren Posten bei William Fräser.

»Wie ist denn Golden Boy eigentlich?« fragte eine von ihnen Catherine eines Tages beim Lunch. »Hat er schon einen Annäherungsversuch gemacht?«

»Oh, damit gibt er sich gar nicht erst ab«, sagte Catherine mit ernstem Gesicht. »Ich komme jeden Morgen um neun Uhr herein, wir wälzen uns auf der Couch herum bis ein Uhr, dann gibt's Lunchpause.«

»Nein, im Ernst, wie finden Sie ihn?«

»Soso«, log Catherine. Ihre Gefühle William Fräser gegenüber waren seit ihrem ersten Streit beträchtlich freundlicher geworden. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt, als er erklärte, er sei ein Perfektionist. Wann immer sie einen Fehler machte, wurde sie gerügt, aber er hatte sich als fair und verständnisvoll erwiesen. Sie hatte erlebt, wie er seine kostbare Zeit darauf verwandte, anderen Menschen zu helfen, die nichts für ihn tun konnten, und er richtete es so ein, dass er nie den Ruhm dafür einheimste. O ja, sie mochte William Fräser wirklich sehr, aber das ging nur sie etwas an.

Einmal, als eine Menge liegen gebliebene Arbeit nachzuholen war, hatte Fräser Catherine gebeten, bei ihm zu Hause zu Abend zu essen, damit sie danach noch länger arbeiten könnten. Talmadge, Fräsers Fahrer, wartete mit der Limousine vor dem Gebäude. Mehrere aus dem Haus tretende Sekretärinnen sahen mit wissenden Augen zu, wie Fräser Catherine in den Rücksitz half und sich neben sie setzte. Die Limousine glitt ruhig in den Nachmittagsverkehr hinaus.

»Ich werde Sie um Ihren guten Ruf bringen«, sagte Catherine.

Fräser lachte. »Ich will Ihnen was sagen. Sollten Sie je eine

Affäre mit einer allgemein bekannten Persönlichkeit haben, dann offen, sozusagen im Freien.«

»Kann man sich da nicht erkälten?«

Er grinste. »Ich meinte, zeigen Sie sich mit Ihrem Geliebten, wenn das Wort noch gebräuchlich ist – in der Öffentlichkeit, in bekannten Restaurants, im Theater.«

»In Shakespeare-Stücken?« fragte Catherine unschuldig.

Fräser ging nicht darauf ein. »Die Leute suchen immer abwegige Gründe. Sie sagen sich: >Aha – er führt Soundso aus. Möchte bloß wissen, mit wem er sich im geheimen trifft.< Das Offensichtliche glauben die Menschen nie.«

»Eine interessante Theorie.«

»Edgar Allan Poe schrieb eine Erzählung, die auf der Täuschung der Menschen mit dem Offensichtlichen beruht«, sagte Fräser. »Der Titel fällt mir augenblicklich nicht ein.«

»Sie heißt >Der gestohlene Brief<.« Doch sofort bereute Catherine, was sie gesagt hatte. Die Männer mochten gescheite Mädchen nicht. Andererseits, was spielte es für eine Rolle? Sie war nicht sein Mädchen, sie war seine Sekretärin.

Den Rest der Fahrt schwiegen sie.

Fräsers Haus in Georgetown war wie aus einem Bilderbuch. Es war ein vierstöckiges Haus im georgianischen Stil, mehr als zweihundert Jahre alt. Die Tür wurde von einem Butler in weißer Jacke geöffnet. Fräser sagte: »Frank, das ist Miss Alexander.«

»Hallo, Frank. Wir haben schon miteinander telefoniert«, sagte Catherine.

»Ja, Ma'am. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Miss Alexander.«

Catherine besah sich die Empfangshalle. Sie hatte eine schöne alte, zum zweiten Stock hinaufführende, wunderbar schimmernde Eichentreppe. Der Boden war Marmor, und an der Decke hing ein herrlicher Lüster.

Fräser blickte sie prüfend an. »Gefällt es Ihnen?« fragte er.

»Ob es mir gefällt? O ja!«

Er lächelte, und Catherine überlegte sich, ob sie zu begeistert geantwortet hatte, wie ein Mädchen, dem Reichtum imponierte, wie eine dieser aufdringlichen Weiber, die ihm dauernd nachstellten. »Es wirkt ... es wirkt freundlich«, fügte sie lahm hinzu.

Fräser sah sie spöttisch an, und Catherine hatte das grässliche Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen konnte. »Kommen Sie ins Herrenzimmer.«

Catherine folgte ihm in einen großen, mit Büchern gesäumten, dunkel getäfelten Raum. Er hatte die Atmosphäre eines anderen Zeitalters, die Anmut einer behaglicheren, freundlicheren Lebensweise.

Fräser sah sie an. »Nun?« fragte er ernst.

Diesmal würde Catherine nicht mehr hereinfallen. »Es ist kleiner als die Kongressbibliothek«, sagte sie zurückhaltend.

Er lachte lauthals. »Da haben Sie recht.«

Frank kam mit einem silbernen Eiskübel herein. Er stellte ihn auf die Bar in der Ecke. »Wann möchten Sie essen, Mr. Fräser?«

»Halb acht.«

»Ich werde es dem Koch sagen.« Frank ging hinaus.

»Was darf ich Ihnen mixen?«

»Nichts, danke.«

Er sah sie an. »Trinken Sie gar nicht, Catherine?«

»Nicht bei der Arbeit«, sagte sie. »Sonst bringe ich meine P und O durcheinander.«

»Sie meinen P und Q, nicht wahr?«

»Nein, P und O. Die liegen auf der Tastatur nebeneinander.«

»Wusste ich gar nicht.«

»Brauchen Sie auch nicht. Dafür zahlen Sie mir eine Riesensumme jede Woche.«

»Was zahle ich Ihnen denn?« fragte Fräser.

»Dreißig Dollar und Dinner im schönsten Haus von Washington.«

»Wollen Sie sich's mit dem Drink nicht anders überlegen?«

»Nein, danke«, sagte Catherine.

Fräser mixte sich einen Martina, und Catherine ging im Zimmer umher und sah sich die Bücher an. Es waren alles die traditionellen klassischen Titel und dazu eine ganze Auswahl italienischer Bücher und eine Abteilung in Arabisch.

Fräser ging zu ihr hinüber. »Sie sprechen doch nicht Italienisch und Arabisch, oder?« fragte Catherine.

»Doch. Ich lebte ein paar Jahre im Mittleren Osten und lernte Arabisch.«

»Und Italienisch?«

»Ich war mal eine Zeitlang mit einer italienischen Schauspielerin befreundet.«

Sie wurde rot. »Verzeihung, ich wollte nicht neugierig sein.«

Fräser sah sie belustigt an, und Catherine kam sich wie ein Schulmädchen vor. Sie war nicht sicher, ob sie William Fräser hasste oder liebte. Eines war allerdings gewiss. Er war der netteste Mann, den sie je kennen gelernt hatte.

Das Abendessen war vorzüglich. Alle Gerichte waren französisch mit wunderbaren Saucen. Der Nachtisch war Cherries Jubilee. Kein Wunder, dass Fräser an drei Morgen in der Woche im Sportklub Gymnastik trieb.

»Wie schmeckt's?« fragte Fräser sie.

»Nicht wie in der Kantine«, sagte sie lächelnd.

Fräser lachte. »Ich muss mal in der Kantine essen.«

»Tat' ich nicht, wenn ich Sie wäre.«

Er sah sie an. »So schlecht?«

»Es ist nicht so sehr das Essen, sondern es sind die Mädchen. Die würden über Sie herfallen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie reden die ganze Zeit von Ihnen.«

»Sie meinen, sie fragen Sie nach mir aus?«

»Worauf Sie sich verlassen können«, sagte sie grinsend.

»Ich nehme an, wenn sie genug gefragt haben, sind sie von dem wenigen, das sie erfahren haben, enttäuscht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Falsch. Ich erfinde alle möglichen Geschichten über Sie.«

Fräser lehnte sich zurück, entspannte sich bei einem Cognac. »Was für Geschichten?«

»Wollen Sie's wirklich hören?«

»Unbedingt.«

»Nun, ich erzähle ihnen, Sie seien ein Ungeheuer und schrieen mich den ganzen Tag an.«

Er grinste. »Nicht den ganzen Tag.«

»Ich erzähle ihnen, Sie seien ganz verrückt aufs Jagen und trügen ein geladenes Gewehr im Büro mit sich herum, während Sie diktieren, und ich hätte dauernd Angst, das Ding gehe los.«

»Das muss sie aber in Spannung halten.«

»Die amüsieren sich großartig herauszufinden, wer Sie wirklich sind.«

»Haben Sie's schon herausgefunden?« Fräsers Ton war jetzt ernst geworden.

Sie sah ihm einen Augenblick in die hellblauen Augen und wandte sich dann ab. »Ich glaube, ja«, sagte sie.

»Wer bin ich?«

Catherine fühlte eine gewisse Spannung in sich. Die Neckerei war vorbei, und eine neue Note hatte sich in die Unterhaltung geschlichen. Eine erregende Note, eine beunruhigende Note. Sie antwortete nicht.

Fräser sah sie einen Augenblick an und lächelte dann. »Ich bin ein langweiliges Thema. Noch mehr Nachtisch?«

»Nein, danke. Ich werde eine Woche lang nichts mehr essen.«

»Gehen wir an die Arbeit.«

Sie arbeiteten bis Mitternacht, Fräser begleitete Catherine zur Tür, und Talmadge wartete draußen, um sie zu ihrer Wohnung zurückzufahren.

Den ganzen Weg nach Hause dachte sie über Fräser nach. Über seine Stärke, seinen Humor, sein Mitgefühl. Jemand hatte einmal gesagt, ein Mann müsse sehr stark sein, ehe er sich erlauben könne, sanft und gütig zu sein. William Fräser war sehr stark. Dieser Abend war einer der nettesten Abende in Catherines Leben gewesen, und das beunruhigte sie. Sie fürchtete, eine dieser eifersüchtigen Sekretärinnen zu werden, die den ganzen Tag im Büro herumsitzen und jedes Mädchen, das ihren Chef anruft, hassen. Nun, das würde ihr nicht passieren. Jedes annehmbare Mädchen in Washington warf sich Fräser an den Hals. Dieser Bande würde sie sich nicht anschließen.

Als Catherine nach Hause kam, wartete Susie auf sie. Sie stürzte sich sofort auf Catherine, als sie hereinkam.

»Erzähl, erzähl!« sagte Susie. »Was ist passiert?«

»Nichts ist passiert«, erwiderte Catherine. »Wir haben zusammen Abendbrot gegessen.«

Susie starrte sie ungläubig an. »Hat er dir nicht Avancen gemacht?«

»Nein, natürlich nicht.«

Susie seufzte. »Hätt' ich mir denken können. Er hatte Angst.«

»Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine, meine Süße, ist, dass du dich wie die Jungfrau Maria benimmst. Wahrscheinlich hat er Angst gehabt, wenn er dich auch nur anrühre, würdest du >Vergewaltigung< schreien und sofort in Ohnmacht fallen.«

Catherine spürte, dass sie rot wurde. »So bin ich nicht an ihm interessiert«, sagte sie scharf. »Und ich benehme mich auch nicht wie die Jungfrau Maria.« Ich benehme mich wie die Jungfrau Catherine. Die liebe alte heilige Katharina. Sie hatte bloß ihr heiliges Hauptquartier nach Washington verlegt. Sonst hatte sich nichts geändert. Sie war immer noch in derselben alten Kirche.

In den nächsten sechs Monaten war Fräser ziemlich viel verreist. Er fuhr nach Chicago und San Francisco und nach Europa. Für Catherine gab es immer genug Arbeit, und doch schien das Büro einsam und leer, wenn Fräser nicht da war.

Unaufhörlich fanden sich interessante Besucher ein, die meisten von ihnen Männer, und Catherine wurde mit Einladungen überhäuft. Sie konnte wählen zwischen Lunches, Dinners, Reisen nach Europa und dem Bett. Sie nahm keine dieser Einladungen an, teilweise, weil sie an keinem der Männer interessiert war, aber hauptsächlich, weil sie der Meinung war, Fräser würde es nicht billigen, wenn sie das Geschäftliche mit dem Privatvergnügen vermischte. Falls Fräser sich der dauernden Chancen, die sie ausschlug, bewusst war – er sagte nichts. Am Tag nach dem Abendessen in seinem Haus hatte er ihr Gehalt um zehn Dollar pro Woche aufgebessert.

Catherine schien es, dass in dem Tempo der Stadt ein Wandel eingetreten war. Die Menschen bewegten sich schneller, wurden angespannter, nervöser. Die Schlagzeilen berichteten von einer unaufhörlichen Folge von Invasionen und Krisen in Europa. Der Fall Frankreichs hatte die Amerikaner tiefer berührt als die anderen sich schnell entwickelnden Ereignisse in Europa, denn sie fühlten sich persönlich verletzt und vergewaltigt; sie empfanden ihn als einen Verlust der Freiheit in einem Land, das eine der Wiegen der Freiheit war.

Norwegen war gefallen, England kämpfte um sein Leben in der Schlacht von Britannien, und ein Pakt zwischen Deutschland, Italien und Japan war geschlossen worden. Das Gefühl der Unvermeidbarkeit eines Kriegseintritts Amerikas wuchs ständig. Eines Tages fragte Catherine Fräser nach seiner Ansicht.

»Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir hineingezogen werden«, sagte er nachdenklich. »Wenn England Hitler nicht aufhalten kann, werden wir es tun müssen.«

»Aber Senator Borah sagt...«

»Das Symbol von Amerikas Oberen müsste ein Vogel Strauß sein«, bemerkte Fräser böse.

»Was werden Sie tun, wenn's Krieg gibt?«

»Ein Held werden«, entgegnete er.

Catherine stellte ihn sich in der Uniform eines in den Krieg ziehenden Offiziers sehr schmuck vor, und sie hasste den Gedanken. Es schien ihr einfach stupide, dass die Menschen in diesem aufgeklärten Zeitalter immer noch glaubten, sie könnten ihre Meinungsverschiedenheiten lösen, indem sie sich gegenseitig umbrachten.

»Keine Sorge, Catherine«, sagte Fräser. »Es wird noch eine Weile nichts passieren. Und wenn, werden wir darauf vorbereitet sein.«

»Und was ist mit England?« fragte sie. »Wenn Hitler beschließt es anzugreifen, kann es sich gegen ihn zur Wehr setzen? Er hat so viele Panzer und Flugzeuge, und England hat nichts.«

»Die wird es haben«, versicherte Fräser ihr. »Sehr bald.«

Dann hatte er das Thema gewechselt, und sie waren wieder an die Arbeit gegangen.

Eine Woche später kündigten die Balkenüberschriften der Zeitungen Roosevelts neuen Gedanken von dem Leih-Pacht-Verfahren an. Fräser hatte also davon gewusst und hatte versucht, sie zu beruhigen, ohne irgendwelche Informationen zu enthüllen.

Die Wochen verstrichen schnell. Gelegentlich nahm Catherine eine Einladung an, aber jedes Mal stellte sie fest, dass sie ihren Begleiter mit William Fräser verglich, und sie fragte sich, warum sie überhaupt noch mit jemandem ausging. Sie war sich im klaren, dass sie sich in eine schlechte Gefühlslage manövriert hatte, wusste aber nicht, wie sie wieder herauskommen sollte. Sie sagte sich, sie sei von Fräser nur betört und würde es überwinden. Inzwischen jedoch hinderten ihre Gefühle sie, an der Gesellschaft anderer Männer Gefallen zu finden, weil sie alle so weit hinter ihm zurückblieben.

Eines Abends arbeitete Catherine noch im Büro. Unerwartet kam Fräser nach einem Theaterbesuch ins Büro zurück. Sie blickte verblüfft auf, als er eintrat.

»Was zum Donnerwetter haben wir denn hier?« brummte er. »Ein Sklavenschiff?«

»Ich wollte diesen Bericht fertig schreiben«, sagte sie, »damit Sie ihn morgen nach San Francisco mitnehmen können.«

»Sie hätten ihn mir mit der Post schicken können«, entgegnete er. Er setzte sich in einen Stuhl Catherine gegenüber und musterte sie. »Haben Sie nichts Besseres mit Ihren Abenden anzufangen, als langweilige Berichte zu schreiben?«

»Zufällig bin ich heute Abend frei.«

Fräser lehnte sich zurück, faltete die Hände, legte sie unters Kinn und starrte sie an. »Erinnern Sie sich, was Sie sagten, als Sie zum ersten Mal in dieses Büro traten?«

»Ach, ich sagte eine Menge Unsinn.«

»Sie sagten, Sie wollten nicht meine Sekretärin, sondern meine Assistentin werden.«

Sie lächelte. »Ich wusste es noch nicht besser.«

»Jetzt wissen Sie's.«

Sie blickte erstaunt auf. »Ich verstehe nicht.«

»Ganz einfach, Catherine«, sagte er ruhig. »In den letzten drei Monaten sind Sie in Wirklichkeit meine Assistentin gewesen. Jetzt werde ich es offiziell bestätigen.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Sind Sie sicher, dass Sie ... ?«

»Ich habe Ihnen den Titel oder eine Gehaltserhöhung nicht früher gegeben, weil ich Sie nicht erschrecken wollte. Aber jetzt wissen Sie, dass Sie's können.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Catherine. »Ich – Sie werden es nicht bereuen, Mr. Fräser.«

»Ich bereue es bereits. Meine Assistentinnen nennen mich immer Bill.«

»Bill.«

Als Catherine später in jener Nacht im Bett lag, erinnerte sie sich, wie er sie angesehen hatte und welche Gefühle er bei ihr erweckt hatte, und es dauerte lange, bis sie endlich einschlafen konnte.

Catherine hatte ihrem Vater mehrere Male geschrieben und angefragt, wann er sie in Washington besuchen werde. Sie wollte ihm die Stadt zeigen und ihn ihren Freunden und Bill Fräser vorstellen. Auf ihre letzten beiden Briefe hatte sie keine Antwort erhalten. Besorgt rief sie ihren Onkel an. Ihr Onkel war am Apparat.

»Cathy! Ich – ich wollte dich gerade anrufen.«

Catherines Herz sank.

»Wie geht es Vater?«

Es entstand eine kurze Pause.

»Er hat einen Schlaganfall gehabt. Ich wollte dich schon früher anrufen, aber dein Vater bat mich zu warten, bis es ihm besser ginge.«

Catherine hielt den Hörer fest.

»Geht es ihm besser?«

»Ich fürchte nein, Cathy«, sagte die Stimme ihres Onkels. »Er ist gelähmt.«

»Ich komme sofort!« sagte Catherine.

Sie ging zu Bill Fräser hinein und teilte ihm die Nachricht mit.

»Es tut mir leid«, sagte Fräser. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich weiß nicht. Ich möchte sofort hinfliegen, Bill.«

»Natürlich.« Er hob den Hörer und tätigte einige Anrufe. Sein Chauffeur fuhr Catherine zu ihrer Wohnung, und sie packte schnell ein paar Kleider in ein Köfferchen. Dann brachte er sie zum Flughafen, wo Fräser ihr einen Platz in einem Flugzeug gebucht hatte.

Als die Maschine auf dem Flughafen Omaha landete, waren Catherines Tante und Onkel da, um sie abzuholen. Ein Blick in ihre Gesichter sagte ihr, dass sie zu spät kam. Sie fuhren schweigend ins Beerdigungsinstitut, und als Catherine in das Haus trat, war sie von einem unbeschreiblichen Gefühl des Verlorenseins, der Einsamkeit erfüllt. Ein Teil von ihr war gestorben und konnte nie mehr zum Leben erweckt werden. Sie wurde in eine kleine Kapelle geführt. Ihr Vater lag in einem einfachen Sarg, in seinen besten Anzug gekleidet. Die Zeit hatte ihn zusammenschrumpfen lassen, als ob die dauernde Abnutzung des Lebens ihn zermürbt und kleiner gemacht hätte. Ihr Onkel hatte Catherine die persönliche Habe ihres Vaters ausgehändigt, was er in seinem Leben gesammelt und sich bewahrt hatte. Sie bestand aus fünfzig Dollar in bar, einigen alten Fotos, einigen quittierten Rechnungen, einer Armbanduhr, einem angelaufenen silbernen Taschenmesser und einer Sammlung ihrer Briefe an ihn, sauber mit einer Schnur zusammengebunden und vom vielen Lesen mit Eselsohren versehen. Es war ein klägliches Erbe, und Catherine brach das Herz. Seine Träume waren so hochfliegend gewesen und seine Erfolge so gering. Sie erinnerte sich, wie lebenslustig und vital er gewesen war, als sie ein kleines Mädchen war, erinnerte sich an die Aufregung, wenn er von seinen Reisen nach Hause kam, die Taschen voll Geld und die Arme voller Geschenke. Sie dachte an seine wundervollen Erfindungen, die sich nie ganz realisieren ließen. Viele Erinnerungen gab es nicht, aber es war alles, was von ihm übrig blieb. Plötzlich wollte Catherine ihm so vieles sagen, so vieles für ihn tun; aber es war zu spät.

Sie begruben ihren Vater auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche. An sich hatte Catherine vorgehabt, die Nacht bei ihrer Tante und ihrem Onkel zu verbringen und am anderen Tag den nächsten Zug zurück zu nehmen, aber plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, auch nur einen Augenblick länger zu bleiben, rief den Flughafen an und buchte einen Platz im nächsten Flugzeug nach Washington. Bill Fräser holte sie vom Flughafen ab, und es schien für ihn die natürlichste Sache der Welt, da zu sein, auf sie zu warten und sie zu umsorgen, wenn sie ihn brauchte.

Er fuhr mit Catherine in einen alten Landgasthof in Virginia zum Abendessen und hörte aufmerksam zu, als sie ihm von ihrem Vater erzählte. Mitten in der Erzählung einer komischen Geschichte über ihn brach Catherine in Tränen aus, aber seltsamerweise schämte sie sich nicht vor Bill Fräser.

Er schlug vor, dass Catherine einen kurzen Urlaub nähme, aber sie wollte beschäftigt sein, wollte arbeiten, um ihre Gedanken an den Tod ihres Vaters zu verscheuchen. Sie glitt in die Gewohnheit, ein- oder zweimal in der Woche mit Fräser zu Abend zu essen, und Catherine fühlte sich ihm näher als je.

Es geschah ohne Planen oder Vorbedacht. Sie hatten im Büro noch bis spät gearbeitet. Catherine prüfte einige Papiere nach und fühlte, dass Bill Fräser hinter ihr stand. Seine Finger berührten ihren Nacken, langsam und liebkosend.

»Catherine ...«

Sie drehte sich um und blickte zu ihm auf, und einen Augenblick später lag sie in seinen Armen. Es war, als hätten sie sich schon tausendmal vorher geküsst, als wäre dies ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, wohin sie immer gehört hatte.

Es ist so einfach, dachte Catherine. Es ist immer so einfach gewesen, ich habe es bloß nicht gewusst.

»Hol deinen Mantel, Liebling«, sagte Fräser. »Wir fahren heim.«

Im Wagen auf der Fahrt nach Georgetown saßen sie eng aneinandergedrückt, Fräser hatte den Arm um Catherine gelegt, sanft und beschützend. Ein solches Glück hatte sie noch nie empfunden. Sie war sicher, dass sie ihn liebte, und es spielte keine Rolle, wenn er sie nicht liebte. Er hatte sie gern, und sie würde sich damit begnügen. Wenn sie daran dachte, womit sie sich früher begnügt hätte – Ron Peterson -, dann schauderte ihr.

»Ist etwas?« fragte Fräser.

Catherine dachte an das Motelzimmer mit dem schmutzigen, gesprungenen Spiegel. Sie sah das energische, intelligente

Gesicht des Mannes an, dessen Arm sie umfasste. »Jetzt nicht«, sagte sie dankbar. Sie schluckte: »Ich muss dir etwas sagen, ich bin noch Jungfrau.«

Fräser lächelte und schüttelte verwundert den Kopf. »Es ist unglaublich«, sagte er. »Wie kam ich zu der einzigen Jungfrau in der Stadt Washington?«

»Ich versuchte, es zu ändern«, sagte Catherine, »aber es hat einfach nicht geklappt.«

»Das freut mich«, sagte Fräser.

»Meinst du damit, du hast nichts dagegen?«

Er lächelte sie wieder an, ein neckendes Grinsen, das sein Gesicht aufhellte. »Kennst du dein Problem?« fragte er.

»Das kann man wohl sagen!«

»Du hast dir zuviel Sorgen darüber gemacht.«

»Das kann man wohl sagen!«

»Der Kunstgriff ist, sich zu entspannen.«

Sie schüttelte sanft den Kopf.

»Nein, Liebling. Der Kunstgriff ist, man muss lieben.«

Eine halbe Stunde später fuhr der Wagen vor seinem Haus vor. Fräser führte Catherine in die Bibliothek.

»Möchtest du etwas trinken?«

Sie sah zu ihm auf. »Gehen wir nach oben.«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie fest. Sie hielt ihn wild an sich gepresst, wollte ihn in sich hineinziehen. Wenn heut' Nacht etwas schief geht, dachte Catherine, bring' ich mich um. Wirklich, ich bring' mich um.

»Komm«, sagte er. Er nahm Catherine an der Hand.

Bill Fräsers Schlafzimmer war ein großer, männlich aussehender Raum mit einer hohen spanischen Kommode an einer Wand. Am anderen Ende des Zimmers war ein Alkoven mit einem Kamin, und davor stand ein Frühstückstisch. An einer anderen Wand stand ein großes Doppelbett. Links ging es in ein Ankleidezimmer, von dem aus man ein Badezimmer betrat.

»Bist du sicher, dass du nichts trinken willst?« fragte Fräser.

»Ich brauche es nicht.«

Er schloss sie wieder in die Arme und küsste sie. Sie spürte seine männliche Härte, und eine köstliche Erregtheit lief durch ihren Körper.

»Bin gleich wieder da«, sagte er.

Catherine sah ihn ins Ankleidezimmer verschwinden. Das war der netteste, wundervollste Mann, den sie je kennen gelernt hatte. Sie stand nachdenklich da, begriff aber dann plötzlich, warum er das Zimmer verlassen hatte. Er wollte ihr die Möglichkeit geben, sich allein auszuziehen, damit sie nicht verlegen wäre. Schnell zog Catherine ihre Kleider aus. Eine Minute später stand sie nackt da, blickte an ihrem Körper hinunter und dachte: Leb wohl, heilige Katharina. Sie ging zum Bett hinüber, zog die Decke zurück und kroch zwischen die Laken.

Fräser kam herein. Er trug einen rötlichen MoireDressinggown. Er trat ans Bett und blickte auf sie. Ihr schwarzes Haar war fächerförmig über das weiße Kopfkissen gebreitet, umrahmte ihr schönes Gesicht. Es war um so erregender, weil er wusste, dass es völlig ungeplant war.

Er schlüpfte aus dem Dressinggown und legte sich neben sie ins Bett. Plötzlich erinnerte sie sich.

»Ich trage nichts«, sagte Catherine. »Glaubst du, ich werde schwanger?«

»Hoffentlich.«

Sie sah ihn verdutzt an und öffnete den Mund, um ihn zu fragen, was er damit meine, aber er drückte die Lippen auf ihren Mund, und seine Hände begannen, über ihren Leib zu streichen, sanft auskundschaftend, und sie vergaß alles, außer, was ihr geschah, ihr ganzes Bewusstsein konzentrierte sich auf nur einen Teil ihres Körpers. Sie spürte, wie er versuchte, in sie einzudringen, hart und zwingend, spürte einen Augenblick einen scharfen, unerwarteten Schmerz, dann glitt er hinein, bewegte sich schneller und immer schneller, ein fremder

Körper in ihrem Körper, der sich tief in sie stürzte und sich in einem immer rasender werdenden Rhythmus bewegte, und er sagte: »Bist du soweit?« Sie war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber sie sagte: »Ja«, und plötzlich schrie er: »Oh, Cathy!«, stieß noch einmal zu und blieb still auf ihr liegen.

Und es war alles vorbei, und er sagte: »War es schön für dich?«, und sie sagte: »Ja, es war schön«, und er sagte: »Es wird im Laufe der Zeit besser«, und sie war von Wonne erfüllt, dass sie ihm dieses Glück schenken konnte, und versuchte, sich über die Enttäuschung keine Gedanken zu machen. Vielleicht war es wie bei Oliven. Man musste Geschmack daran gewinnen. Sie lag in seinen Armen, ließ das Geräusch seiner Stimme über sich spülen, die sie tröstete, und sie dachte: Das ist das Wichtige, dass zwei Menschen zusammen sind, sich lieben und sich gegenseitig angehören. Sie hatte zu viele glühende Romane gelesen, hatte zu viele verheißungsvolle Liebeslieder gehört. Mit anderen Worten, sie hatte zuviel erwartet. Oder vielleicht – und wenn es wahr wäre, müsste sie der Tatsache ins Auge sehen – war sie frigide. Als ob er in ihr läse, zog Fräser sie enger an sich und sagte: »Mach dir keine Gedanken, wenn du enttäuscht bist, Liebling. Das erste Mal ist immer traumatisch.«

Als Catherine nicht antwortete, hob Fräser sich auf einen Ellbogen, sah sie besorgt an und fragte: »Wie fühlst du dich?«

»Großartig«, sagte sie schnell. »Du bist der beste Liebhaber, den ich je hatte.«

Sie küsste ihn und hielt ihn an sich, fühlte sich warm und sicher, bis sich endlich der harte Knoten in ihr aufzulösen begann und ein Gefühl der Entspannung sie erfüllte, und sie war zufrieden.

»Möchtest du einen Brandy haben?« fragte er.

»Nein, danke.«

»Ich glaube, ich schenke mir einen ein. Nicht jede Nacht geht ein Mann mit einer Jungfrau ins Bett.«

»Hat es dir etwas ausgemacht?« fragte sie.

Er sah sie mit jenem seltsamen, wissenden Blick an, wollte etwas sagen, ließ es aber dann. »Nein«, sagte er. In seiner Stimme lag ein Unterton, den sie nicht verstand.

»War ich -?« Sie schluckte. »Du weißt schon – in Ordnung?«

»Du warst reizend«, sagte er.

»Ehrlich?«

»Ehrlich.«

»Weißt du, warum ich beinahe nicht mit dir ins Bett ging?« fragte sie.

»Nun?«

»Ich fürchtete, du würdest mich danach nicht mehr sehen wollen.«

Er lachte laut. »Das ist eine alte, von nervösen Müttern, die ihre Töchter rein erhalten wollen, genährte Ehefrauengeschichte. Sex treibt die Menschen nicht auseinander, Catherine. Es bringt sie im Gegenteil enger zusammen.« Und es stimmte. Sie hatte sich noch nie jemandem so nahe gefühlt. Äußerlich mochte sie noch gleich aussehen, aber Catherine wusste, dass sie sich verändert hatte.

Das junge Mädchen, das am Abend in sein Haus gekommen war, war für immer verschwunden, und an seiner Stelle war eine Frau. William Fräsers Frau. Sie hatte endlich den geheimnisvollen heiligen Gral gefunden, den sie gesucht hatte. Die Suche war vorbei.

Jetzt wäre sogar das FBI zufrieden.

Noelle

Paris 1941

Für manche war das Paris von 1941 ein Füllhorn von Reichtümern und günstigen Gelegenheiten; für andere war es eine wahre Hölle. Der Name Gestapo war zu einem gefürchteten Wort geworden, und die Berichte über ihre Tätigkeit wurden zu einem – wenn auch geflüsterten – Hauptthema der Unterhaltung. Die Angriffe auf die französischen Juden, die mit dem fast übermütigen Einschlagen von ein paar Schaufenstern begonnen hatten, waren von der tüchtigen Gestapo zu einem System von Plünderungen, Rassentrennung und Ausrottung ausgebaut worden.

Am 29. Mai war eine neue Verordnung erlassen worden: »... ein sechszackiger Stern von den Ausmaßen einer Handfläche, mit einem schwarzen Rand versehen. Er muss aus gelbem Tuch sein und in schwarzen Buchstaben die Aufschrift JUDE haben. Er ist vom Alter von sechs Jahren an sichtbar auf der linken Brustseite zu tragen und muss fest am Kleidungsstück angebracht sein.«

Nicht alle Franzosen waren gewillt, den deutschen Stiefel auf sich herumtrampeln zu lassen. Der Maquis, die französische Widerstandsbewegung, kämpfte mit Klugheit und Härte, und wenn man ihre Mitglieder gefangen nahm, wurden sie auf erfinderische Weise zu Tode gebracht.

Eine junge Gräfin, deren Familie ein schloss außerhalb von Chartres besaß, wurde gezwungen, sechs Monate lang die Offiziere des deutschen Ortskommandos in den Räumen ihres Erdgeschosses unterzubringen, während sie gleichzeitig fünf von der Gestapo gesuchte Mitglieder des Marquis in den oberen Stockwerken des Schlosses versteckt hielt.

Die zwei Gruppen trafen einander nie, aber nach drei Monaten waren die Haare der Gräfin völlig weiß geworden.

Die Deutschen lebten, wie es sich für Eroberer ziemt, aber dem Durchschnittsfranzosen mangelte es an allem, außer an Kälte und Elend. Das Gas zum Kochen war rationiert, und es gab nichts zum Heizen. Die Pariser überlebten die Winter, indem sie tonnenweise Sägemehl kauften, das sie in der einen Hälfte ihrer Wohnungen aufspeicherten, während sie die andere Hälfte mittels besonderer Sägemehlöfen warm hielten.

Alles war Ersatz, von den Zigaretten und dem Kaffee bis zum Leder. Die Franzosen machten Witze darüber, dass es vollkommen egal sei, was man esse; alles schmecke gleich. Die französischen Frauen – traditionsgemäß die elegantesten der Welt – trugen schäbige Lammfellmäntel statt Wolle und Holzschuhe mit Keilabsätzen, so dass es sich wie das Klappern von Pferdehufen anhörte, wenn sie durch die Straßen von Paris gingen.

Sogar Taufen waren davon betroffen, denn es gab keine kandierten Mandeln, die traditionelle Süßigkeit bei der Taufzeremonie, und Süßwarengeschäfte forderten in ihren Schaufenstern die Kunden auf, sich in die Vormerkliste für Mandeln einzutragen. Es gab ein paar Renault-Taxis auf der Straße, aber die gebräuchlichste Art von Beförderung war das zweisitzige Tandem-Fahrrad.

Das Theater, wie immer in Zeiten anhaltender Krisen, blühte. Die Leute fanden in den Kinos und auf den Bühnen eine Möglichkeit, der niederdrückenden Realität ihres Alltagslebens zu entfliehen. Über Nacht war Noelle Page zum Star geworden. Eifersüchtige Kollegen im Theater sagten, dies sei einzig und allein der Macht und der Begabung Armand Gautiers zuzuschreiben, und wenn es auch stimmte, dass Gautier ihre Karriere gefördert hatte, ist es doch im Theatermilieu eine anerkannte Tatsache, dass niemand einen Star machen kann außer dem Publikum, diesem gesichtslosen, launischen, anbetenden, wankelmütigen Richter über das Schicksal eines

Schauspielers. Das Publikum vergötterte Noelle.

Was Armand Gautier betraf, so bereute er aufs bitterste, zu Noelles Karriere beigetragen zu haben. Sie brauchte ihn jetzt nicht mehr; nur eine Laune band sie an ihn, und er lebte in dauernder Furcht vor dem Tag, an dem sie ihn verlassen würde. Gautier hatte den größten Teil seines Lebens im Theater verbracht, aber er war nie jemandem wie Noelle begegnet. Sie war aufnahmefähig wie ein Schwamm, lernte alles, was er sie zu lehren hatte, und verlangte immer noch mehr. Es war phantastisch gewesen, die Metamorphose zu beobachten, die in ihr vorging, wenn sie vom anfänglichen unsicheren Abtasten einer Rolle zu deren selbstsicherer Beherrschung fortschritt. Gautier hatte von Anfang an gewusst, dass aus Noelle ein Star würde – dessen war er immer völlig sicher gewesen -, aber als er sie besser kennen lernte, fand er mit Erstaunen, dass es nicht ihr Ziel war, ein Star zu sein. In Wahrheit war Noelle nicht einmal an der Schauspielerei interessiert.

Zuerst konnte Gautier das einfach nicht glauben. Star – das war die oberste Stufe der Leiter, das sine qua non. Aber für Noelle war das Schauspielern einfach ein Sprungbrett, und Gautier hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt für ihr wahres Ziel. Sie war ein Geheimnis, ein Rätsel, und je tiefer Gautier sondierte, desto mysteriöser wurde alles, wie die chinesischen Schachteln, die beim Öffnen stets weitere Schachteln in ihrem Inneren enthüllen. Gautier hielt sich etwas auf seine Menschenkenntnis zugute, speziell auf seine Frauenkenntnis, und die Tatsache, dass er absolut nichts von der Frau wusste, mit der er lebte, machte ihn verrückt. Er bat Noelle, ihn zu heiraten, und sie sagte: »Ja, Armand«, und er wusste genau, dass damit nichts gesagt war, dass es für sie nicht mehr bedeutete als ihre Verlobung mit Philippe Sorel oder Gott weiß wie viel anderen Männern in ihrer Vergangenheit. Er begriff, dass die Heirat niemals stattfinden würde. Sobald es Noelle passte, würde sie weiterziehen.

Gautier war sicher, dass jeder Mann, der sie kennen lernte, sie dazu bringen wollte, mit ihm zu schlafen. Er wusste auch von seinen neidischen Freunden, dass es keinem von ihnen gelungen war.

»Du glücklicher Hurensohn«, hatte einer seiner Freunde gesagt. »Du musst ja ein richtiger Bulle sein. Ich bot ihr eine Jacht, ein eigenes schloss und einen Stab von Dienstboten in Cap d'Antibes an, und sie lachte mich nur aus.«

Ein anderer Freund, ein Bankier, sagte zu ihm: »Endlich habe ich etwas gefunden, was man nicht für Geld kaufen kann.«

»Noelle?«

Der Bankier nickte. »Erraten. Ich bat sie, ihren Preis zu nennen. Sie war nicht interessiert. Was fesselt sie an dich, mein Freund?«

Armand Gautier hätte es auch gerne gewusst.

Gautier erinnerte sich an das erste Stück, das er für sie gefunden hatte. Schon nach der Lektüre von einem Dutzend Seiten wusste er, dass es genau das war, was er gesucht hatte. Es war ein Drama über eine Frau, deren Mann im Krieg war. Eines Tages erscheint ein Soldat in ihrem Heim und erzählt ihr, er sei ein Kamerad ihres Mannes, mit dem er an der russischen Front gekämpft hätte. Im weiteren Verlauf des Stückes verliebt sich die Frau in den Soldaten, nicht ahnend, dass er ein psychopathischer Mörder ist und sie in Lebensgefahr schwebt. Es war eine großartige Rolle, und Gautier willigte sofort ein, die Regie zu übernehmen, unter der Bedingung, dass Noelle Page die Hauptrolle spiele. Den Geldgebern widerstrebte es, einer Unbekannten eine solche Rolle anzuvertrauen, sie erklärten sich aber trotzdem bereit, sie vorsprechen zu lassen. Gautier eilte nach Hause, um Noelle die Nachricht zu überbringen. Sie war zu ihm gekommen, weil sie ein Star werden wollte, und jetzt würde er ihren Wunsch erfüllen. Er sagte sich, das würde sie enger verbinden und sie dazu bringen, ihn wirklich zu lieben. Sie würden heiraten, und sie gehörte ihm dann für immer.

Aber als Gautier ihr die Neuigkeit überbrachte, blickte sie nur auf und sagte: »Das ist wunderbar, Armand, ich danke dir.« In demselben Tonfall, in dem sie ihm gedankt hätte, wenn er ihr die genaue Zeit gesagt oder Feuer für ihre Zigarette gegeben hätte.

Gautier beobachtete sie lange und erkannte, dass Noelle auf eine seltsame Weise krank war; irgendein Gefühl war in ihr erstorben oder war niemals vorhanden gewesen, niemand würde sie je besitzen. Er wusste es, und trotzdem konnte er nicht wirklich daran glauben, denn was er sah, war ein schönes, zärtliches Geschöpf, das bereitwillig allen seinen Launen nachgab und nichts dafür forderte. Und weil Gautier sie liebte, schob er seine Zweifel beiseite, und sie begannen mit der Arbeit an dem Stück.

Noelle war phantastisch beim Vorsprechen und bekam ohne weiteres die Rolle, wie Gautier schon vorher gewusst hatte. Als das Stück zwei Monate später in Paris Premiere hatte, wurde Noelle über Nacht zum beliebtesten Star Frankreichs. Die Kritiker hatten sich vorgenommen, das Stück und Noelle zu verreißen, weil sie wussten, dass Gautier seiner Geliebten, einer unerfahrenen Schauspielerin, die Hauptrolle zugeschoben hatte, und das war für sie eine überaus verlockende Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen wollten. Aber Noelle hatte sie völlig in Bann geschlagen. Sie suchten nach neuen Superlativen, um ihre Darstellung und ihre Schönheit zu beschreiben. Das Stück war ein Kassenschlager.

Jeden Abend nach der Vorstellung war Noelles Garderobe voller Besucher. Sie empfing alle: Schuhverkäufer, Soldaten, Millionäre, Ladenmädchen und behandelte jedermann mit der gleichen geduldigen Höflichkeit. Gautier war immer von neuem erstaunt. Sie benimmt sich fast wie eine Prinzessin, die ihre Untertanen empfängt, dachte er.

Innerhalb eines Jahres erhielt Noelle drei Briefe aus Marseille. Sie zerriss sie ungeöffnet, und schließlich kamen keine mehr.

Im Frühling spielte Noelle die Hauptrolle in einem Film unter der Regie von Armand Gautier, und als der Film herauskam, verbreitete sich ihr Ruhm noch mehr. Gautier wunderte sich über Noelles Geduld bei Interviews und Fotoaufnahmen. Die meisten Stars hassten das und taten es nur, um ihren Kassenwert zu erhöhen oder um ihre Eitelkeit zu befriedigen. In Noelles Fall trafen beide Motive nicht zu. Sie wechselte einfach das Thema, wenn sie von Gautier gefragt wurde, warum sie bereitwillig auf eine Gelegenheit, sich im Süden Frankreichs auszuruhen, verzichtete und statt dessen im kalten, regnerischen Paris blieb, um ermüdende Aufnahmen für Le Matin, La Petite Parisienne oder L'Illustration zu machen. Und es war besser so, denn Gautier wäre sehr verblüfft gewesen, wenn er die wahre Ursache gewusst hätte.

Alles, was Noelle tat, geschah für Larry Douglas.

Wenn sie für Aufnahmen posierte, dann dachte sie dabei an ihren früheren Geliebten, wie er die Zeitschrift in die Hand nehmen und sie auf der Fotografie erkennen würde. Wenn sie eine Szene in einem Film spielte, sah sie Larry Douglas eines Abends im Kino irgendwo in einem fernen Land sitzen und sie betrachten. Ihre Arbeit war eine Mahnung an ihn, eine Botschaft aus der Vergangenheit, ein Signal, das ihn eines Tages zu ihr zurückbringen würde; und das war das einzige, was Noelle wollte, dass er zu ihr zurückkäme, damit sie ihn vernichten könnte.

Dank Christian Barbet besaß Noelle ein stets wachsendes Informationsmaterial über Larry Douglas. Der kleine Detektiv war von seinem schäbigen Büro in eine geräumige luxuriöse Suite in der Rue Richer, in der Nähe der Folies-Bergere, umgezogen. Als Noelle ihn zum ersten Mal in seinem neuen Büro besuchte, hatte Barbet über ihren überraschten Gesichtsausdruck gegrinst und gesagt: »Ich habe es billig bekommen. Der frühere Inhaber dieser Räume war ein Jude.«

»Sie sagten, Sie hätten Neuigkeiten für mich«, meinte Noelle.

Barbet hörte auf zu grinsen. »Ach, ja.« Er hatte wirklich Neuigkeiten. Es war schwierig, sich unter den Augen ^er Nazis Informationen aus England zu verschaffen, aber Barbet hatte Wege gefunden. Er bestach Matrosen auf neutralen Schiffen, für ihn Briefe von einer Agentur in London herein zu schmuggeln. Aber das war nur eine seiner Quellen. Er nutzte den Patriotismus der französischen Untergrundbewegung, die Humanität des Internationalen Roten Kreuzes und die Habgier der Schwarzmarkthändler mit ausländischen Verbindungen für seine Zwecke. Jedem von ihnen erzählte er eine andere Geschichte, und der Informationsfluss versiegte nie.

Er nahm einen Bericht von seinem Schreibtisch. »Ihr Freund wurde über dem Kanal abgeschossen«, sagte er ohne Einleitung. Er beobachtete Noelles Gesicht aus dem Augenwinkel, in der Erwartung, dass ihre unbeteiligte Fassade zu bröckeln begänne, und genoss den Schmerz, den er ihr zufügte. Aber Noelles Ausdruck veränderte sich nicht im geringsten. Sie blickte ihn an und sagte zuversichtlich: »Er wurde gerettet.« Barbet starrte sie an, schluckte und antwortete widerwillig: »Nun ja. Er wurde von einem britischen Rettungsboot aufgefischt.« Und wunderte sich, wie zum Teufel sie das erraten konnte.

Alles an dieser Frau verblüffte ihn, er hasste sie als Klientin und spielte mit dem Gedanken, sie fallen zu lassen, aber Barbet wusste, dass es dumm von ihm wäre.

Er hatte einmal versucht, ihr Avancen zu machen, hatte ihr zu verstehen gegeben, dass seine Dienste dann billiger wären, aber Noelle hatte ihn so kühl abgewiesen, dass er sich wie ein Tölpel vorkam; das würde er ihr nie verzeihen. Eines Tages – nahm Barbet sich im stillen vor – eines Tages würde dieses eingebildete Luder dafür zahlen.

Als Noelle jetzt in seinem Büro stand, einen Ausdruck von Widerwillen auf ihrem schönen Gesicht, fuhr Barbet eilig mit seinem Bericht fort, um sie so schnell wie möglich loszuwerden.

»Seine Staffel ist nach Kirton in Lincolnshire verlegt worden. Sie fliegen Hurricanes und ...« Noelle war an etwas anderem interessiert.

»Seine Verlobung mit der Tochter des Admirals«, sagte sie, »ist gelöst, nicht wahr?«

Barbet blickte sie erstaunt an und murmelte: »Ja. Sie fand etwas über seine anderen Affären heraus.« Es war fast, als ob Noelle den Bericht bereits gesehen hätte. Natürlich kannte sie ihn noch nicht, aber das spielte keine Rolle. Das Band des Hasses, das sie mit Larry Douglas vereinte, war so stark, dass ihm anscheinend nichts Wichtiges passieren konnte, ohne dass sie es spürte. Noelle nahm den Bericht und ging. Zu Hause angekommen, las sie ihn langsam durch, dann legte sie ihn sorgfältig in die Mappe zu den anderen Berichten und schloss sie weg, so dass niemand sie finden konnte.

An einem Freitagabend nach der Vorstellung saß Noelle in ihrer Garderobe im Theater und war gerade beim Abschminken, als an die Tür geklopft wurde und Marius, der ältliche, verkrüppelte Bühnenportier, hereinkam.

»Pardon, Mademoiselle Page, ein Herr bat mich, Ihnen das zu bringen.«

Noelle blickte in den Spiegel und sah, dass er einen riesigen Strauß roter Rosen in einer kostbaren Vase trug.

»Stell ihn dorthin, Marius«, sagte Noelle und sah zu, wie er die Vase mit den Rosen behutsam auf einen Tisch stellte.

Es war Ende November, und niemand in Paris hatte seit über drei Monaten Rosen gesehen. Es waren bestimmt vier Dutzend, rubinrot, langstielig, taufrisch. Neugierig ging Noelle hinüber und nahm die Karte in die Hand. Darauf stand: »Dem reizenden Fräulein Page. Würden Sie mit mir soupieren? General Hans Scheider.«

Die Vase war aus Delfter Porzellan, hatte ein kostbares Dekor und war sehr wertvoll. General Scheider hatte sich gewaltig angestrengt.

»Er wartet auf Antwort«, sagte der Bühnenportier.

»Sag ihm, dass ich niemals soupiere, und nimm diese Blumen deiner Frau mit.«

Er starrte sie erstaunt an. »Aber der General ...«

»Das ist alles.«

Marius nickte, nahm die Vase und eilte hinaus. Noelle wusste, dass er sofort herumerzählen würde, sie habe einen deutschen General abgewiesen. Dasselbe war vorher mit anderen deutschen Beamten geschehen, und die Franzosen sahen deshalb in ihr eine Art Heldin. Es war lächerlich. Die Wahrheit war ganz einfach, dass Noelle nichts gegen die Nazis hatte, sie waren ihr bloß gleichgültig, hatten nichts mit ihrem Leben und mit ihren Plänen zu tun; sie duldete sie einfach und wartete auf den Tag, an dem sie in ihr Land zurückkehren würden. Sie wusste, es wäre für sie schädlich, sich mit den Deutschen einzulassen. Nicht jetzt vielleicht, aber es war nicht die Gegenwart, die Noelle am Herzen lag; es war die Zukunft. Sie hielt die Idee der tausendjährigen Herrschaft des Dritten Reiches für merde. Jeder Geschichtsstudent wusste, dass letzten Endes alle Eroberer ihrerseits wieder besiegt werden. In der Zwischenzeit würde sie ihren französischen Landsleuten keinen Vorwand liefern, gegen sie vorzugehen, wenn die Deutschen einmal aus dem Lande getrieben wären. Die NaziOkkupation berührte sie überhaupt nicht, und wenn das Gespräch darauf kam – was ununterbrochen der Fall war -, so vermied Noelle jede Diskussion darüber.

Fasziniert von ihrer Haltung, versuchte Armand Gautier oft, sie über dieses Thema auszuhorchen.

»Macht es dir denn nichts aus, dass die Nazis Frankreich erobert haben?« fragte er sie.

»Würde es eine Rolle spielen, wenn es mir etwas ausmachte?«

»Darum handelt es sich nicht. Wenn jedermann so dächte wie du, wären wir verloren.«

»Wir sind trotz allem verloren, oder nicht?«

»Nicht, wenn wir an den freien Willen glauben. Meinst du, unser Leben sei von Geburt an festgelegt?«

»Bis zu einem gewissen Grad. Unser Körper, unser Geburtsort und unser Platz im Leben werden uns gegeben, was aber nicht bedeutet, dass wir uns nicht ändern können. Wir können alles werden, was wir wollen.«

»Genau das meine ich. Daher müssen wir gegen die Nazis kämpfen.«

Sie blickte ihn an. »Weil Gott auf unserer Seite ist?«

»Ja«, erwiderte er.

»Wenn es einen Gott gibt«, antwortete Noelle vernünftig, »und Er sie geschaffen hat, dann muss Er auch auf ihrer Seite sein.«

Im Oktober, zum Jahresjubiläum von Noelles Stück, veranstalteten die Geldgeber eine Party für die Schauspieler im Tour d'Argent. Die Gesellschaft bestand aus Schauspielern, Bankiers und einflussreichen Geschäftsleuten. Die Gäste waren hauptsächlich Franzosen, aber es war auch ein Dutzend Deutsche dabei, einige in Uniform und alle außer einem von französischen Mädchen begleitet. Dieser eine war ein deutscher Offizier in den Vierzigern, mit langem, hagerem, intelligentem Gesicht, tiefgrünen Augen und straffer, sportlicher Figur. Von seiner Wange bis zum Kinn zog sich eine schmale Narbe. Noelle war sich bewusst, dass er sie den ganzen Abend über beobachtet hatte, obwohl er nicht in ihre Nähe gekommen war.

»Wer ist der Mann?« fragte sie beiläufig einen ihrer Gastgeber.

Er blickte zu dem Offizier hinüber, der allein an einem Tisch saß und an einem Glas Champagner nippte, und wandte sich dann überrascht Noelle zu. »Merkwürdig, dass Sie mich danach fragen. Ich dachte, er sei ein Freund von Ihnen. Das ist General Scheider. Er gehört dem Generalstab an.« Noelle entsann sich der Rosen und der Karte. »Warum hatten Sie geglaubt, er sei ein Freund von mir?« fragte sie.

Der Mann schien verlegen. »Ich nahm natürlich an ... ich meine, jedes Stück und jeder Film, der in Frankreich produziert wird, muss von den Deutschen zugelassen werden. Als der Zensor die Produktion Ihres letzten Films verhindern wollte, griff der General persönlich ein und gab seine Genehmigung.«

In diesem Moment brachte Armand Gautier jemanden an, den er Noelle vorstellen wollte, und das Gespräch nahm eine andere Wendung.

Noelle beachtete General Scheider nicht mehr.

Als sie am nächsten Abend in ihre Garderobe trat, fand sie eine einzige Rose in einer kleinen Vase mit einem Kärtchen vor, auf dem stand: »Vielleicht sollten wir bescheidener anfangen. Kann ich Sie sehen? Hans Scheider.«

Noelle zerriss das Kärtchen und warf die Blume in den Papierkorb.

Nach diesem Abend bemerkte Noelle, dass General Scheider auf fast jeder Gesellschaft war, die sie und Armand besuchten. Er blieb stets im Hintergrund und beobachtete sie. Das war offensichtlich kein Zufall mehr. Noelle begriff, dass er keine Mühe scheute, ihr überall nachzuspüren und sich Einladungen für alle Gesellschaften zu verschaffen, zu denen sie auch gehen würde.

Sie fragte sich, warum er so an ihr interessiert war, aber es war eine müßige Überlegung, und es berührte sie eigentlich nicht. Hin und wieder machte sich Noelle einen Spaß daraus, eine Einladung anzunehmen und nicht zu erscheinen, und wenn sie dann am nächsten Tag die Gastgeberin fragte, ob General Scheider da gewesen sei, lautete die Antwort stets: »Ja.«

Trotz der schnellen und tödlichen Strafe, die die Nazis gegen jeden verhängten, der sich ihnen widersetzte, blühte die

Sabotage in Paris weiter. Neben dem Marquis gab es kleine Gruppen freiheitsliebender Franzosen, die ihr Leben riskierten, um den Feind mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Waffen zu bekämpfen. Sie ermordeten deutsche Soldaten, wo immer sie sie überrumpeln konnten, ließen Versorgungslastwagen in die Luft fliegen und legten Minen unter Brücken und Züge. Ihre Tätigkeit wurde in der zensierten Tagespresse als infam angeprangert, aber für die Patrioten waren diese infamen Taten heldenhaft. Immer wieder tauchte der Name eines Mannes in den Zeitungen auf – er trug den Spitznamen Le Cafard, die Schabe, denn er schien überall sein Wesen zu treiben, und es gelang der Gestapo nie, seiner habhaft zu werden. Manche glaubten, er sei ein in Paris lebender Engländer; eine andere Theorie besagte, dass er ein Agent von General de Gaulle, dem Führer der Freien Französischen Truppen, sei; und manche behaupteten sogar, er sei ein übergelaufener Deutscher. Wer immer er auch war, Zeichnungen von Schaben begannen in ganz Paris aufzutauchen, an Gebäuden, auf dem Trottoir und sogar im deutschen Hauptquartier. Die Gestapo konzentrierte alle ihre Bemühungen darauf, ihn zu fangen. Eines war gewiss: Le Cafard war über Nacht zum Volkshelden geworden.

An einem regnerischen Nachmittag im Dezember besuchte Noelle die Eröffnung der Ausstellung eines jungen Künstlers, den sie und Armand kannten. Die Ausstellung fand in einer Galerie im Faubourg St. Honore statt. Der Raum war überfüllt. Viele Berühmtheiten waren anwesend, und die Fotografen waren überall. Noelle wanderte von einem Bild zum ändern und fühlte plötzlich, wie jemand sie am Arm berührte. Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht von Madame Rose. Noelle erkannte sie nicht sofort. Das vertraute hässliche Gesicht war das gleiche, und doch schien es um zwanzig Jahre gealtert, als ob sie mit der Zeit durch irgendeine Alchimie in ihre eigene Mutter verwandelt worden wäre. Sie war in ein großes schwarzes Cape gehüllt, und Noelles Unterbewusstsein

sagte ihr, dass sie nicht den vorgeschriebenen gelben Judenstern trug.

Noelle wollte etwas sagen, wurde jedoch von der ältlichen Frau unterbrochen, die ihren Arm drückte.

»Könnten wir uns treffen?« fragte sie mit kaum vernehmlicher Stimme. »Les Deux Magots.«

Bevor Noelle antworten konnte, verschwand Madame Rose in der Menge, und Noelle fand sich von Fotografen umgeben. Während sie für sie posierte und ihr übliches Lächeln aufsetzte, dachte sie an Madame Rose und ihren Neffen, Israel Katz. Beide hatten ihr in Zeiten der Not geholfen. Israel hatte ihr zweimal das Leben gerettet. Noelle fragte sich, was Madame Rose wollte. Wahrscheinlich Geld.

Zwanzig Minuten später schlich sich Noelle davon und nahm ein Taxi zur Place St. Germain des Pres. Es hatte mit gelegentlichen Unterbrechungen den ganzen Tag geregnet, und jetzt hatte sich der Regen in einen kalten Graupelschauer verwandelt. Als ihr Taxi bei den Deux Magots vorfuhr und Noelle in die beißende Kälte hinausstieg, tauchte plötzlich aus dem Nichts ein Mann in einem Regenmantel und einem breitkrempigen Hut neben ihr auf. Noelle brauchte einen Augenblick, um ihn zu erkennen. Wie seine Tante sah auch er älter aus, aber die Verwandlung bestand nicht nur darin. Er strahlte eine Persönlichkeit, eine Stärke aus, die er vorher nicht gehabt hatte. Israel Katz war dünner als das letzte Mal, da sie ihn gesehen hatte, und seine Augen lagen in tiefen Höhlen, als ob er tagelang nicht geschlafen hätte. Noelle bemerkte, dass er nicht den gelben sechszackigen Judenstern trug.

»Gehen wir hinein«, sagte Israel Katz.

Er nahm Noelles Arm. Im Cafe war ein halbes Dutzend Gäste, alles Franzosen. Israel führte Noelle an einen Tisch in einer hinteren Ecke.

»Wollen Sie etwas trinken?« fragte er.

»Nein, danke.«

Er nahm seinen durchnässten Hut ab, und Noelle betrachtete prüfend sein Gesicht. Sie wusste sofort, dass er sie nicht herbestellt hatte, um Geld von ihr zu erbitten. Er beobachtete sie.

»Sie sind immer noch schön, Noelle«, sagte er ruhig. »Ich habe alle Ihre Filme und Stücke gesehen. Sie sind eine große Schauspielerin.«

»Warum sind Sie niemals zu mir hinter die Bühne gekommen?« Israel zögerte und lächelte gezwungen. »Ich wollte Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten.«

Noelle starrte ihn einen Augenblick an, bevor sie begriff, was er meinte. Für sie war »Jude« nur ein Wort, das ab und zu in den Zeitungen auftauchte, und es bedeutete nichts in ihrem Leben, aber was musste es heißen, mit diesem Wort zu leben, Jude in einem Land zu sein, das darauf aus war, einen vom Erdboden zu tilgen, einen auszurotten, besonders, wenn es das eigene Vaterland war.

»Ich suche mir meine Freunde aus«, erwiderte Noelle. »Niemand befiehlt mir, mit wem ich zu verkehren habe.«

Israel lächelte gezwungen. »Verschwenden Sie Ihren Mut nicht«, riet er. »Gebrauchen Sie ihn, wo er von Nutzen sein kann.«

»Erzählen Sie mir von sich«, sagte sie.

Er zuckte die Schultern. »Ich führe kein sehr glanzvolles Leben. Ich wurde Chirurg, studierte bei Dr. Angibouste. Haben Sie mal von ihm gehört?«

»Nein.«

»Er ist ein großer Herzchirurg. Er protegierte mich. Dann haben mir die Nazis die ärztliche Lizenz entzogen.« Er hielt seine schön geformten Hände hoch und betrachtete sie, als ob sie jemand anderem gehörten. »So wurde ich Zimmermann.«

Sie sah ihn lange an. »Ist das alles?« fragte sie.

Israel musterte sie erstaunt. »Natürlich«, sagte er. »Warum?«

Noelle schob einen Hintergedanken beiseite.

»Nichts. Warum wollten Sie mich sehen?«

Er beugte sich näher zu ihr und senkte seine Stimme. »Sie müssen mir einen Gefallen tun. Ein Freund«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und vier deutsche Soldaten in feldgrauen Uniformen, angeführt von einem Unteroffizier, marschierten ins Cafe. Der Unteroffizier rief mit lauter Stimme: »Achtung! Ausweiskontrolle!«

Israel Katz erstarrte, und sein Gesicht schien sich in eine Maske zu verwandeln. Noelle sah, wie seine rechte Hand in die Manteltasche glitt. Seine Augen schweiften zu dem engen Korridor, der zum hinteren Ausgang führte, aber einer der Soldaten ging bereits darauf zu und versperrte ihn. Israel sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: »Lassen Sie mich allein. Gehen Sie durch die Vordertür hinaus. Jetzt gleich.«

»Warum?« fragte Noelle.

Die Deutschen prüften die Ausweise einiger Gäste an einem Tisch in der Nähe des Eingangs.

»Keine Fragen«, befahl er. »Gehen Sie.«

Noelle zögerte einen Augenblick, erhob sich dann und ging auf die Tür zu. Die Soldaten wechselten bereits zum nächsten Tisch über. Israel hatte seinen Stuhl zurückgeschoben, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Dadurch lenkte er die Aufmerksamkeit von zwei Soldaten auf sich. Sie gingen auf ihn zu.

»Ausweis!«

Irgendwie wusste Noelle, dass es Israel war, den die Soldaten suchten, und dass er versuchen würde zu flüchten und sie ihn dabei töten würden. Er hatte keine Chance.

Sie drehte sich um und rief ihm laut zu: »Francois! Wir werden zu spät ins Theater kommen. Zahle und lass uns gehen.«

Die Soldaten blickten sie erstaunt an. Noelle wandte sich zum Tisch.

Unteroffizier Schultz ging ihr entgegen. Er war ein blonder,

pausbäckiger Junge, Anfang Zwanzig. »Sind Sie in Begleitung dieses Mannes, Fräulein?« fragte er.

»Natürlich. Haben Sie nichts Besseres zu tun, als ehrliche französische Bürger zu belästigen?« fragte Noelle erbost.

»Mein liebes Fräulein, es tut mir leid, aber ...«

»Ich bin nicht Ihr liebes Fräulein!« erwiderte Noelle scharf. »Ich bin Noelle Page, Schauspielerin im Varietetheater, und dieser Herr ist mein Partner. Heute Abend werde ich mit meinem Freund, General Scheider, soupieren und ihm von Ihrem Benehmen heute Nachmittag berichten; er wird empört sein.«

Noelle sah einen Blick des Erkennens in den Augen des Unteroffiziers auftauchen, aber ob ihm ihr Name oder der des Generals Scheider bekannt war, das wusste sie nicht.

»Es – es tut mir leid, Fräulein«, stammelte er. »Natürlich kenne ich Sie.« Er wandte sich Israel Katz zu, der schweigend, die Hände in den Manteltaschen, dasaß. »Diesen Herrn aber kenne ich nicht.«

»Sie würden ihn kennen, wenn ihr Barbaren je ins Theater gingt«, sagte Noelle mit schneidender Verachtung. »Sind wir verhaftet, oder können wir gehen?«

Der junge Unteroffizier spürte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er hatte eine sofortige Entscheidung zu treffen. »Selbstverständlich sind das Fräulein und ihr Freund nicht verhaftet«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen Ungelegenheiten bereitet habe.«

Israel Katz blickte zu dem Soldaten auf und sagte kühl: »Es regnet, Herr Unteroffizier. Könnte einer Ihrer Leute uns ein Taxi besorgen?«

»Natürlich. Sofort.«

Israel stieg mit Noelle in das Taxi, und der deutsche Unteroffizier stand im Regen und sah zu, wie sie abfuhren. Als das Taxi drei Häuserblocks weiter vor einer Verkehrsampel hielt, öffnete Israel die Tür, drückte kurz Noelles Hand und ver-

schwand wortlos in der Nacht.

Am selben Abend um sieben Uhr, als Noelle in ihre Garderobe trat, warteten zwei Männer auf sie. Einer von ihnen war der junge deutsche Unteroffizier vom Nachmittag aus dem Cafe. Der andere war in Zivil. Er war ein Albino, vollkommen ohne Haare, mit rosa Augen, und erinnerte Noelle irgendwie an einen Fötus. Er war in den Dreißigern und hatte ein Mondgesicht. Seine Stimme war hoch und auf fast lächerliche Weise einer Frauenstimme ähnlich, aber es war etwas Undefinierbares, fast Todbringendes an ihm, das einen erstarren ließ. »Mademoiselle Noelle Page?«

»Ja.«

»Ich bin Oberst Kurt Müller von der Gestapo. Ich glaube, Sie kennen Unteroffizier Schultz bereits.«

Noelle wandte sich gleichgültig dem Unteroffizier zu. »Nein, ich glaube nicht.«

»Im Kaffeehaus, heute Nachmittag«, sagte der Unteroffizier hilfreich.

Noelle wandte sich wieder Müller zu. »Ich lerne so viele Leute kennen.«

Der Oberst nickte. »Es muss schwierig sein, sich an alle zu erinnern, wenn man so viele Freunde hat wie Sie, Mademoisel-le.« Sie nickte. »Allerdings.«

»Nehmen wir zum Beispiel den Freund, mit dem Sie heute Nachmittag zusammen waren.« Er machte eine Pause und beobachtete Noelles Augen. »Sie erzählten Unteroffizier Schultz, dass er in dem Stück als Ihr Partner auftrete?«

Noelle blickte den Gestapomann erstaunt an. »Der Unteroffizier muss mich falsch verstanden haben.«

»Nein, Fräulein«, erwiderte der Unteroffizier unwillig. »Sie sagten ...«

Der Oberst wandte sich zu ihm um, warf ihm einen eiskalten Blick zu, und der Mund des Unteroffiziers schnappte mitten im Satz zu.

»Vielleicht«, sagte Kurt Müller liebenswürdig. »So etwas kann sehr leicht vorkommen, wenn man versucht, sich in einer fremden Sprache zu verständigen.«

»Das stimmt«, erwiderte Noelle prompt.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Gesicht des Unteroffiziers vor Zorn rot anlief, aber er hielt den Mund.

»Es tut mir leid, Sie einer solchen Kleinigkeit wegen belästigt zu haben«, sagte Kurt Müller.

Noelle spürte, wie ihre Schultern herunter sanken, und plötzlich wurde ihr bewusst, in welcher Spannung sie sich befunden hatte.

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Vielleicht kann ich Ihnen Karten für das Stück verschaffen.«

»Ich habe es schon gesehen«, sagte der Gestapomann, »und Unteroffizier Schultz hat sich eine Karte gekauft. Aber ich danke Ihnen.«

Er ging auf die Tür zu und blieb dann stehen. »Nachdem Sie Unteroffizier Schultz einen Barbaren nannten, beschloss er, für heute Abend eine Karte zu kaufen, um Ihre Vorstellung zu sehen. Als er die Fotos der Schauspieler im Foyer betrachtete, sah er das Bild Ihres Freundes aus dem Kaffeehaus nicht. Deshalb rief er mich.«

Noelles Herz begann schneller zu schlagen.

»Nur für unsere Akten, Mademoiselle. Wenn er nicht Ihr Partner war, wer war er wirklich?«

»Ein – ein Freund.«

»Sein Name?« Die hohe Stimme war immer noch sanft, aber es schwang etwas Gefährliches darin mit.

»Spielt das eine Rolle?« fragte Noelle.

»Auf Ihren Freund passt die Beschreibung eines Verbrechers, den wir suchen. Man hat uns berichtet, er sei heute Nachmittag in der Nähe der Place St. Germain des Pres gesehen worden.«

Noelle stand da und beobachtete ihn, ihr Kopf arbeitete fieberhaft.

»Wie heißt Ihr Freund?« fragte Oberst Müller hartnäckig.

»Ich – ich weiß es nicht.«

»Ah, er war also ein Unbekannter?«

»Ja.«

Er starrte sie an, und seine kalten rosa Augen bohrten sich in die ihren. »Sie saßen mit ihm zusammen. Sie hielten die Soldaten davon ab, seinen Ausweis einzusehen. Weshalb?«

»Er tat mir leid«, sagte Noelle. »Er kam auf mich zu ...«

»Wo?«

Noelle dachte schnell nach. Möglicherweise hatte sie jemand zusammen das Kaffeehaus betreten sehen. »Vor dem Cafe. Er erzählte mir, dass die Soldaten hinter ihm her wären, weil er ein paar Lebensmittel für seine Frau und Kinder gestohlen hätte. Es schien mir ein solch geringfügiges Vergehen, dass ich ...« Sie blickte Müller flehentlich an. »Ich half ihm.«

Müller musterte sie einen Moment und nickte dann bewundernd. »Ich kann verstehen, warum Sie so ein großer Star sind.« Das Lächeln erstarb auf seinem Gesicht, und als er wieder sprach, klang seine Stimme noch sanfter. »Gestatten Sie mir, Ihnen einen Rat zu erteilen, Mademoiselle Page. Wir wünschen mit euch Franzosen auf gutem Fuß zu stehen. Wir wollen euch als Freunde und als Verbündete haben. Aber jeder, der unsere Feinde unterstützt, wird auch unser Feind. Wir werden Ihren Freund fangen, Mademoiselle, und wenn wir ihn haben, werden wir ihn verhören, und ich garantiere Ihnen, er wird reden.«

»Ich habe nichts zu fürchten«, sagte Noelle.

»Sie irren sich.« Seine Stimme war jetzt kaum vernehmbar. »Sie haben mich zu fürchten.« Oberst Müller gab dem Unteroffizier einen Wink und ging wieder auf die Tür zu. Er drehte sich noch einmal um. »Wenn Sie etwas von Ihrem Freund hören, werden Sie mir das sofort melden. Falls Sie das nicht tun ...« Er lächelte ihr zu. Und die beiden Männer waren verschwunden.

Noelle sank völlig erschöpft in einen Stuhl. Sie erkannte, dass sie nicht überzeugend gewirkt hatte, aber sie war total überrumpelt worden. Sie war so sicher gewesen, dass der Zwischenfall vergessen war. Sie erinnerte sich jetzt an einige der Geschichten, die sie über die Gestapo gehört hatte, und ein leichtes Frösteln überkam sie. Angenommen, sie erwischten Israel Katz und er würde reden ... Er könnte ihnen erzählen, dass sie alte Freunde waren, dass Noelle gelogen hatte, als sie vorgab, ihn nicht zu kennen. Aber das würde sicher nicht von Bedeutung sein. Außer ... der Name, an den sie im Cafe gedacht hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Le Cafard.

Eine halbe Stunde später, als Noelle sich auf die Bühne begab, gelang es ihr, alles aus ihrem Bewusstsein zu streichen, was nicht zu ihrer Rolle gehörte. Es war ein dankbares Publikum, und als sie vor den Vorhang trat, wurde sie aufs stürmischste gefeiert. Sie konnte noch den Beifall hören, als sie in ihre Garderobe zurückging und die Tür öffnete. In einem Stuhl saß General Scheider. Er erhob sich, als Noelle eintrat, und sagte höflich: »Man hat mich unterrichtet, dass wir heute Abend eine Verabredung zum Souper haben.«

Sie soupierten im Le Fruit Perdu an der Seine, etwa zwanzig Meilen außerhalb von Paris. Der Chauffeur des Generals hatte sie in einer glänzenden schwarzen Limousine hingefahren. Der Regen hatte aufgehört, und die Nacht war kühl und angenehm. Bis zum Ende des Soupers erwähnte der General die Vorfälle des Tages nicht. Noelles erster Impuls war gewesen, nicht mit ihm auszugehen, aber dann kam sie zu dem Schluss, sie müsse erfahren, wie viel die Deutschen wirklich wussten und in wie großer Gefahr sie schwebte.

»Ich erhielt heute Nachmittag einen Anruf vom GestapoHauptquartier«, sagte der General. »Man berichtete mir, Sie hätten einem Unteroffizier Schultz gesagt, dass Sie heute Abend mit mir soupieren würden.« Noelle beobachtete ihn schweigend. Er fuhr fort. »Ich sagte mir, es wäre für Sie äußerst unangenehm, wenn ich nein sagte, und äußerst angenehm für mich, wenn ich ja sagte.« Er lächelte. »Und so sind wir also hier.«

»Das ist alles einfach lächerlich«, protestierte Noelle. »Einem armen Mann zu helfen, der ein paar Lebensmittel gestohlen hat.«

»Nein, nein!« Die Stimme des Generals war schneidend. Noelle blickte ihn überrascht an. »Verfallen Sie nicht in den Fehler zu glauben, dass alle Deutschen Dummköpfe seien. Und unterschätzen Sie die Gestapo nicht.«

Noelle sagte: »Die haben nichts mit mir zu tun, General.«

Er spielte mit dem Stiel seines Weinglases. »Oberst Müller verdächtigt Sie, einem Mann geholfen zu haben, hinter dem er schon seit langem her ist. Und wenn das stimmt, dann sieht die Sache für Sie sehr schlecht aus. Oberst Müller verzeiht nicht und vergisst nicht.« Er sah Noelle an. »Andererseits«, sagte er bedachtsam, »wenn Sie Ihren Freund nicht wieder sehen, könnte diese ganze Geschichte einfach vergessen werden. Möchten Sie einen Cognac?«

»Ja, bitte«, sagte Noelle.

Er bestellte zwei Cognacs Napoleon. »Wie lange leben Sie schon mit Armand Gautier zusammen?«

»Bestimmt kennen Sie bereits die Antwort«, erwiderte Noelle.

General Scheider lächelte. »Ja, in der Tat, ich weiß es. Was ich Sie wirklich fragen wollte, ist, warum Sie sich immer geweigert haben, mit mir zu soupieren. War es Gautiers wegen?«

Noelle schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ach so«, sagte er steif. Es war ein Klang in seiner Stimme, der sie erstaunte.

»Paris ist voll von Frauen«, sagte Noelle. »Ich bin sicher, Sie könnten leicht jemanden finden.«

»Sie kennen mich nicht«, sagte der General ruhig, »sonst

hätten Sie das nicht gesagt.« Er schien verlegen. »Ich habe eine Frau und Kinder in Berlin. Ich liebe sie sehr, aber ich habe sie jetzt über ein Jahr nicht gesehen und habe keine Ahnung, wann ich sie wieder sehen werde.«

»Wer hat Sie dazu gezwungen, nach Paris zu kommen?« fragte Noelle unbarmherzig.

»Ich habe nicht um Ihre Sympathie gebeten. Ich wollte Ihnen nur einiges von mir erklären. Ich bin kein polygamer Typ. Als ich Sie zum ersten Mal auf der Bühne sah«, sagte er, »ging etwas in mir vor. Ich fühlte, dass ich Sie unbedingt kennen lernen musste. Ich möchte, dass wir gute Freunde sind.«

Es lag eine ruhige Würde in der Art, wie er sprach.

»Ich kann nichts versprechen«, sagte Noelle.

Er nickte. »Ich verstehe.«

Aber natürlich verstand er nichts. Denn Noelle beabsichtigte nicht, ihn je wieder zu sehen. General Scheider wechselte taktvoll das Thema, und sie sprachen über Schauspielerei und Theater. Noelle fand, dass er eine erstaunliche Bildung besaß. Er war sehr vielseitig und hochintelligent. Mit Leichtigkeit sprang er von einem Thema zum anderen, wobei er ihre gemeinsamen Interessen unterstrich. Er zog eine Schau ab, die Noelle amüsierte. Er hatte sich große Mühe gegeben, alles über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Er war durch und durch der deutsche General in seiner feldgrauen Uniform, kräftig und autoritär, aber er besaß auch eine Feinheit, die von einer ganz anderen Seite seiner Persönlichkeit zeugte, etwas Intellektuelles, das mehr zu einem Gelehrten als zu einem Soldaten passte. Und trotzdem war da diese Narbe auf seinem Gesicht.

»Wie sind Sie zu dieser Narbe gekommen?« fragte Noelle.

Er tastete mit dem Finger über die tiefe Kerbe und zuckte die Schultern. »Ich habe mich vor vielen Jahren duelliert; in Deutschland nennen wir das >Schmiss<.«

Sie diskutierten über die Nazi-Philosophie.

»Wir sind keine Ungeheuer«, erklärte General Scheider. »Und wir haben nicht den Wunsch, die Welt zu beherrschen. Aber wir beabsichtigen auch nicht, stillzusitzen und weiterhin für einen Krieg bestraft zu werden, den wir vor mehr als zwanzig Jahren verloren haben. Der Vertrag von Versailles war eine Fessel, die das deutsche Volk endlich abgeworfen hat.«

Sie sprachen über die Besetzung von Paris. »Es war nicht die Schuld Ihrer französischen Soldaten, dass es so leicht für uns war«, sagte General Scheider. »Ein großer Teil der Verantwortung liegt bei Napoleon dem Dritten.«

»Sie scherzen«, antwortete Noelle.

»Ich spreche vollkommen im Ernst«, versicherte er ihr. »Zu Napoleons Zeit benützte der Mob ununterbrochen die krummen, winkligen Straßen von Paris für Barrikaden und Hinterhalte gegen die Soldaten. Um sie daran zu hindern, gab er Baron Haussmann den Auftrag, die Straßen zu begradigen und schöne, breite Boulevards anzulegen.« Er lächelte. »Die Boulevards, über die unsere Truppen marschierten. Ich fürchte, die Nachwelt wird mit dem Stadtplaner Haussmann nicht glimpflich verfahren.«

Nach dem Abendessen, auf der Heimfahrt nach Paris, fragte er: »Sind Sie in Armand Gautier verliebt?«

Es klang beiläufig, aber Noelle spürte, dass ihre Antwort für ihn wichtig war.

»Nein«, sagte sie langsam.

Er nickte befriedigt. »Ich wusste es. Ich glaube, dass ich Sie sehr glücklich machen könnte.«

»So glücklich, wie Sie Ihre Frau machen?«

General Scheider erstarrte für einen Moment, als ob er einen Schlag erhalten hätte, und wandte sich dann zu Noelle um.

»Ich kann ein guter Freund sein«, sagte er ruhig. »Wir wollen hoffen, dass wir beide niemals Feinde werden.«

Als Noelle in ihr Appartement zurückkehrte, war es fast drei Uhr morgens, und Armand Gautier erwartete sie besorgt.

»Wo zum Teufel bist du gewesen?« fragte er, als sie zur Tür hereinkam.

»Ich hatte eine Verabredung.« Noelles Augen streiften an ihm vorbei über das Zimmer. Es sah aus, als ob es von einem Wirbelsturm heimgesucht worden sei. Die Schreibtischschubladen waren geöffnet und ihr Inhalt im Zimmer verstreut. Die Schränke waren durchsucht worden, eine Lampe war umgeworfen, und ein kleiner Tisch lag umgekippt da, ein Bein war abgebrochen.

»Was ist passiert?« fragte Noelle.

»Die Gestapo war hier! Mein Gott, Noelle, was hast du angestellt?«

»Nichts.«

»Warum sind sie dann hier gewesen?«

Noelle ging im Zimmer umher und stellte die Möbel wieder an ihren Platz, wobei sie scharf nachdachte. Gautier fasste sie an den Schultern. »Ich möchte wissen, was vorgeht.«

Sie holte tief Atem. »Gut.«

Sie erzählte ihm von ihrem Treffen mit Israel Katz, verschwieg aber dabei seinen Namen und die darauf folgende Unterhaltung mit Oberst Müller. »Ich weiß nicht, ob mein Freund Le Cafard ist, aber es ist möglich.«

Gautier sank wie betäubt in einen Stuhl. »Mein Gott!« rief er aus. »Es ist mir egal, wer er ist. Aber ich will nicht, dass du künftig irgend etwas mit ihm zu tun hast. Diese Angelegenheit könnte uns beide vernichten. Ich hasse die Deutschen genauso wie du ...«

Er hielt inne, da er nicht sicher war, ob Noelle die Deutschen überhaupt hasste. Dann begann er von neuem: »Cherie, solange die Deutschen hier die Herren sind, müssen wir uns nach ihnen richten. Niemand von uns kann es sich leisten, die Gestapo herauszufordern. Dieser Jude – wie, sagtest du, war sein Name?«

»Ich habe ihn nicht genannt.«

Er blickte sie einen Augenblick an. »War er dein Liebhaber?«

»Nein, Armand.«

»Bedeutet er dir etwas?«

»Nein.«

»Dann ist es gut.« Gautier klang erleichtert. »Ich glaube nicht, dass wir irgend etwas zu befürchten haben. Sie können dir nichts vorwerfen, wenn du nur eine zufällige Begegnung mit ihm gehabt hast. Wenn du ihn nie wieder siehst, werden sie die ganze Geschichte vergessen.«

»Natürlich werden sie sie vergessen«, sagte Noelle.

Am nächsten Abend, als Noelle sich zum Theater begab, folgten ihr zwei Gestapomänner.

Von diesem Tag an folgte man Noelle überallhin. Zuerst verspürte sie nur ein leises Unbehagen, ein vages Gefühl, dass jemand die Augen auf sie gerichtet hielt. Noelle drehte sich daraufhin meistens um und erblickte in der Menge einen germanisch aussehenden jungen Mann in Zivil, der sie nicht zu beachten schien. Später im Verlauf des Tages kehrte dieses Unbehagen wieder, und diesmal war es ein anderer Germane. Es war nie der gleiche und obwohl sie in Zivil waren, trugen sie doch eine Uniform, die nur die Thre sein konnte: eine Haltung, gemischt aus Verachtung, Arroganz und Grausamkeit, deren Ausstrahlung unverkennbar war. Noelle erzählte Gautier nichts davon, denn sie hielt es für unnötig, ihn noch mehr in Unruhe zu versetzen. Der Zwischenfall mit der Gestapo in ihrer Wohnung hatte ihn sehr aus der Fassung gebracht. Er sprach die ganze Zeit davon, was die Deutschen seiner und Noelles Karriere antun könnten, wenn sie wollten, und Noelle wusste, dass er recht hatte. Man brauchte nur die Tageszeitungen zu lesen, um zu sehen, dass die Nazis ihren Feinden gegenüber erbarmungslos waren. General Scheider hatte mehrmals telefonische Nachricht hinterlassen, aber Noelle hatte sich nicht darum gekümmert. Auch wenn sie die Nazis nicht zu Feinden wollte, zu Freunden wollte sie sie auch nicht. Sie beschloss, neutral zu bleiben wie die Schweiz. Die Israels Katz der Welt würden sich allein helfen müssen. Noelle war ein wenig neugierig, was er von ihr gewollt haben konnte, hatte aber keinerlei Absicht, in die Sache verwickelt zu werden.

Zwei Wochen nach ihrer Begegnung mit Israel Katz erschien auf der Titelseite der Zeitungen groß die Nachricht, dass die Gestapo eine von Le Cafard geleitete Gruppe von Saboteuren geschnappt hatte. Noelle las alle diese Nachrichten sorgfältig, aber es wurde nicht erwähnt, ob Le Cafard selbst erwischt worden war. Sie dachte an Israel Katz' Gesichtsausdruck, als die Deutschen auf ihn zutraten, und sie wusste, dass er sich niemals lebend ergeben würde. Natürlich, sagte sich Noelle, bilde ich mir das alles vielleicht nur ein. Er ist wahrscheinlich ein harmloser Zimmermann, wie er gesagt hat. Aber wenn er harmlos war, warum war dann die Gestapo so hinter ihm her? War er Le Cafard? Und hatten sie ihn erwischt, oder war er entkommen? Noelle trat ans Fenster ihrer Wohnung, das auf die Avenue Martigny hinausging. Zwei Figuren in schwarzen Regenmänteln standen unter einer Straßenlaterne, warteten. Worauf? Noelle fing an, die gleiche Beunruhigung wie Gautier zu verspüren, aber gleichzeitig wurde sie zornig. Sie entsann sich der Worte des Obersten Müller: Sie haben mich zu fürchten. Es war eine Herausforderung. Noelle hatte das Gefühl, dass sie wieder von Israel Katz hören würde.

Die Nachricht kam am nächsten Morgen von völlig unerwarteter Seite – von ihrem Concierge. Er war ein kleiner Mann in den Siebzigern, mit wässrigen Augen und einem verhutzelten, ledernen Gesicht; außerdem fehlten ihm die unteren Zähne, so dass er schwer zu verstehen war. Als Noelle den Liftknopf drückte, wartete er im Fahrstuhl auf sie. Sie fuhren zusammen abwärts, und als sie sich dem Erdgeschoß näherten, murmelte er: »Die Geburtstagstorte, die Sie beim Bäcker in der Rue de Passy bestellt haben, ist fertig.«

Noelle starrte ihn einen Moment lang an, unsicher, ob sie richtig verstanden hatte, und sagte dann: »Ich habe keine Torte bestellt.«

»Rue de Passy«, wiederholte er hartnäckig.

Und plötzlich begriff Noelle. Selbst dann hätte sie nichts weiter unternommen, wenn ihr Blick nicht auf die beiden Gestapo-Agenten gefallen wäre, die auf der Straße auf sie warteten. Wie ein Verbrecher wurde man verfolgt! Die beiden Männer unterhielten sich miteinander. Sie hatten sie noch nicht bemerkt. Wütend wandte sich Noelle an den Concierge: »Wo ist der Lieferanteneingang?«

»Kommen Sie mit, Mademoiselle.«

Noelle folgte ihm durch einen rückwärtigen Korridor, eine Treppe hinunter zum Souterrain und dann auf eine Gasse hinaus. Drei Minuten später saß sie in einem Taxi, auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Israel Katz.

Die Bäckerei war ein ganz gewöhnliches Geschäft in einer verwahrlosten Kleinbürgergegend. Die Aufschrift auf dem Fenster lautete BOULANGERIE, und die Buchstaben waren abgeblättert und zerbrochen. Noelle öffnete die Tür und ging hinein. Sie wurde von einer kleinen dicklichen Frau in einer makellos weißen Schürze begrüßt.

»Ja, Mademoiselle?«

Noelle zögerte. Sie konnte immer noch weglaufen, sich einfach umdrehen und nicht in etwas Gefährliches verwickelt werden, das sie nichts anging.

Die Frau wartete.

»Sie – Sie haben eine Geburtstagstorte für mich«, sagte Noelle und kam sich bei diesem Spiel albern vor, als ob die kindischen Tricks, die man anzuwenden gezwungen war, nicht dem Ernst der Lage entsprächen.

Die Frau nickte. »Sie ist fertig, Mademoiselle Page.« Sie hängte ein GESCHLOSSEN-Schild an die Tür, schloss sie ab und sagte: »Hier entlang.«

Er lag auf einer Pritsche in einem kleinen Hinterraum der

Bäckerei, sein Gesicht war maskenhaft starr vor Schmerz, und er war in Schweiß gebadet. Das um ihn gewundene Leinentuch war blutgetränkt, und um sein linkes Knie war eine große Aderpresse geschnallt.

»Israel.«

Er drehte sein Gesicht zur Tür, das Leinentuch fiel herunter und gab plötzlich einen blutigen Brei von zerschmetterten Knochen und Fleisch frei, wo sein Knie gewesen war.

»Was ist passiert?« fragte Noelle.

Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Seine Stimme klang vor Schmerz heiser und gezwungen. »Sie sind auf >die Schabe< getreten, aber so leicht bringt man uns nicht um.«

Sie hatte sich also nicht getäuscht. »Ich habe davon gelesen«, sagte Noelle. »Werden Sie wieder in Ordnung kommen?«

Israel holte tief Atem, was für ihn überaus schmerzlich war, und nickte. Mühsam keuchend sagte er:

»Die Gestapo stellt auf der Suche nach mir ganz Paris auf den Kopf. Meine einzige Chance ist, irgendwie aus der Stadt herauszukommen ... Wenn ich Le Havre erreichen könnte, dort habe ich Freunde, die helfen würden, mich auf einem Schiff außer Landes zu bringen.«

»Haben Sie keinen Freund, der Sie aus Paris hinausschmuggeln kann?« fragte Noelle. »Sie könnten sich hinten in einem Lastwagen verstecken.«

Israel schüttelte schwach den Kopf. »Straßensperren. Keine Maus kommt aus Paris heraus.«

Nicht einmal eine »Schabe«, dachte Noelle. »Können Sie denn mit diesem Bein reisen?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen und zu einem Entschluss zu kommen.

Seine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln.

»Ich werde nicht mit diesem Bein reisen«, sagte Israel.

Noelle blickte ihn verständnislos an; in diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein großer breitschultriger, bärtiger Mann

kam herein. Er trug eine Axt in der Hand. Er ging auf das Bett zu, schlug das Leintuch zurück, und Noelle spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. Sie dachte an General Scheider und an den haarlosen Albino von der Gestapo und was die mit ihr tun würden, wenn sie sie erwischten. »Ich werde Ihnen helfen«, sagte Noelle.

Catherine

Washington-Hollywood 1941

Es schien Catherine Alexander, dass eine neue Phase in ihrem Leben begonnen hatte, als ob sie irgendwie eine höhere Gefühlsebene erklommen hätte, einen berauschenden und euphorischen Gipfel. Wenn Bill Fräser in der Stadt war, aßen sie jeden Abend zusammen und gingen anschließend in Konzerte, ins Theater oder in die Oper. Er fand eine kleine bezaubernde Wohnung für sie in der Nähe von Arlington. Er wollte für ihre Miete aufkommen, aber Catherine bestand darauf, sie selbst zu bezahlen. Er kaufte ihr Kleider und Schmuck. Zuerst wehrte sie sich, denn die tief in ihr verwurzelten Prinzipien der protestantischen Ethik sträubten sich dagegen, aber es machte Fräser solche Freude, dass sie ihren Widerstand aufgab.

Ob du willst oder nicht, dachte sie, du bist eine Mätresse. Es war für sie stets ein anrüchiges Wort gewesen, verbunden mit der Idee von billigen Flittchen in Hinterhofwohnungen, die dort ein frustriertes Gefühlsleben führten. Aber jetzt, da es ihr selbst geschah, war es eigentlich gar nicht so, fand Catherine. Es bedeutete einfach, dass sie mit dem Mann schlief, den sie liebte. Es war nicht schmutzig oder niedrig, es war völlig natürlich. Es ist interessant, dachte sie, wie die Dinge, die andere Leute tun, einem schrecklich vorkommen, und doch, wenn man sie selbst tut, erscheinen sie einem richtig. Wenn man über die sexuellen Erlebnisse anderer liest, so wirkt das wie aus einem Sensationsblättchen, aber wenn es sich um einen selbst handelt, scheint es einem erstklassigen Damenjournal entnommen.

Fräser war ein aufmerksamer und verständnisvoller Partner, und es war, als ob sie stets zusammen gewesen wären.

Catherine wusste im voraus, wie er in jeder Situation reagieren würde, sie kannte alle seine Stimmungen. Im Gegensatz zu dem, was Fräser gesagt hatte, wurde ihre erotische Beziehung nicht aufregender, aber Catherine sagte sich, dass die Erotik nur einen kleinen Teil einer Verbindung ausmachte. Sie war kein Schulmädchen, das dauernd einen neuen Kitzel brauchte, sie war eine reife Frau. Man kann nicht alles haben, dachte sie ironisch.

Fräsers Werbeagentur wurde in seiner Abwesenheit von Wallace Turner, einem Prokuristen, geführt. William Fräser wollte so wenig wie möglich mit dem Unternehmen zu tun haben, um sich völlig seiner Arbeit in Washington widmen zu können, aber jedes Mal, wenn in der Agentur ein größeres Problem auftauchte und man seinen Rat benötigte, besprach Fräser es mit Catherine und benutzte sie als eine Art Resonanzboden. Er fand, dass sie eine feine Nase fürs Geschäft hatte. Catherine hatte oft Ideen für Werbekampagnen, die sich als erfolgreich erwiesen.

»Wenn ich nicht so egoistisch wäre, Catherine«, sagte Fräser eines Abends beim Essen, »würde ich dich in die Agentur stecken und dich einige unserer Werbekonten betreuen lassen.« Er legte seine Hand auf die ihre. »Aber du würdest mir fehlen«, fügte er hinzu. »Ich will dich hier bei mir haben.«

»Ich will hier sein, Bill. Ich bin sehr glücklich mit allem, wie es ist.« Und das stimmte. Sie hatte gedacht, sie würde verzweifelt nach der Heirat streben, wenn sie sich einmal in einer solchen Situation befände, aber irgendwie schien das alles keine Eile zu haben. In allem, was zählte, waren sie so gut wie verheiratet.

Eines Nachmittags, als Catherine gerade eine Arbeit fertig machte, trat Fräser in ihr Büro.

»Was meinst du dazu, wenn wir heute Abend eine Fahrt aufs Land machten?« fragte er.

»Das wäre herrlich. Wo fahren wir hin?«

»Nach Virginia. Wir essen mit meinen Eltern zu Abend.«

Catherine blickte ihn erstaunt an. »Wissen sie von uns?« fragte sie.

»Nicht alles«, grinste er. »Nur, dass ich eine phantastische junge Assistentin habe und sie zum Dinner mitbringe.«

Wenn sie dabei eine leise Enttäuschung verspürte, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Ausgezeichnet«, sagte sie. »Ich werde vorher kurz nach Hause fahren und mich umziehen.«

»Ich hole dich um sieben Uhr ab.«

»In Ordnung.«

Das Haus der Fräsers, das in den schönen welligen Hügeln von Virginia lag, war ein großer Gutshof im Kolonialstil, umgeben von sechzig Morgen Wiesen und Ackerland. Das Haus stammte aus dem 17. Jahrhundert.

»Ich habe noch nie so etwas gesehen«, staunte Catherine.

»Es ist eine der besten Zuchtfarmen in Amerika«, erklärte ihr Fräser.

Der Wagen fuhr an einer Koppel, auf der sich schöne Pferde tummelten, an sauber gehaltenen Sattelplätzen und an dem Cottage des Verwalters vorbei.

»Es ist wie eine andere Welt«, rief Catherine aus. »Ich beneide dich darum, dass du hier aufwachsen durftest.«

»Glaubst du, es würde dir Spaß machen, auf einer Farm zu leben?«

»Das hier kann man nicht Farm nennen«, sagte sie trocken. »Es ist eher, als besäße man ein eigenes Land.«

Sie waren vor dem Haus angelangt.

Fräser wandte sich ihr zu. »Meine Mutter und mein Vater sind etwas förmlich«, warnte er sie, »aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Sei einfach ganz natürlich. Nervös?«

»Nein, gar nicht«, sagte Catherine. »Ich bin nur von panischer Angst erfüllt.« Während sie das sagte, merkte sie erstaunt, dass sie log. In der klassischen Situation aller Mädchen, die den Eltern des geliebten Mannes vorgestellt werden, hätte sie vor Schreck fast gelähmt sein müssen. Aber sie empfand nichts als Neugierde. Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Sie stiegen bereits aus, ein Butler in voller Livree hielt den Wagenschlag auf und hieß sie mit einem Lächeln willkommen.

Oberst Fräser und seine Gattin hätten beide aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammen können. Was Catherine zuerst auffiel, war, wie alt und zerbrechlich sie aussahen. Oberst Fräser war eine blasse Kopie von dem, was einst ein gut aussehender, vitaler Mann gewesen war. Er erinnerte Catherine sehr stark an jemanden, und sie erkannte erschrocken, an wen: Er war eine alte, verbrauchte Version seines Sohnes. Der Oberst hatte spärliches weißes Haar und ging mühsam nach vorne gebeugt. Seine Augen waren blassblau, und seine ehemals kräftigen Hände hatten Gichtknoten. Seine Frau wirkte aristokratisch, und es waren noch Spuren mädchenhafter Schönheit an ihr. Sie empfing Catherine voll Wärme.

Trotz Fräsers Erklärungen hatte Catherine das Gefühl, dass sie zur Besichtigung hier war. Der Oberst und seine Frau verbrachten den Abend damit, sie auszufragen. Sie waren sehr diskret, aber gründlich. Catherine erzählte ihnen von ihren Eltern und ihrer Kindheit, und als sie von ihrem häufigen Schulwechsel sprach, ließ sie es wie abenteuerlichen Spaß klingen und nicht wie die Qual, die es gewesen war. Während sie sprach, konnte sie sehen, wie Bill Fräser sie stolz anstrahlte. Das Abendessen war hervorragend. Sie aßen bei Kerzenlicht in einem geräumigen, altmodischen Speisezimmer mit einem echten Kamin aus Marmor und livrierten Dienern. Sie blickte Bill Fräser an, und eine Welle warmer Dankbarkeit durchflutete sie. Sie hatte das Gefühl, dieses Leben könnte ihr gehören, wenn sie es wollte. Sie wusste, dass Fräser sie liebte, und sie erwiderte seine Liebe. Und doch fehlte ihr etwas: das gewisse Aufregende. Vielleicht, dachte sie, erwarte ich zuviel Ich bin wahrscheinlich durch Gary Cooper, Humphrey Bogart und

Spencer Tracy verdorben. Die Liebe ist kein Ritter in einer glänzenden Rüstung, sie ist ein Gutsbesitzer in einem grauen Tweedanzug. Der Teufel soll alle diese Filme und Bücher holen! Als sie den Oberst anblickte, konnte sie Fräser in zwanzig Jahren sehen, aufs Haar seinem Vater gleich.

Sie war den Rest des Abends sehr still.

Auf dem Heimweg fragte Fräser: »Hat dir der Abend gefallen?«

»Sehr. Ich mag deine Eltern.«

»Sie mochten dich auch.«

»Ich bin froh darüber.« Sie war es tatsächlich. Und doch war sie beunruhigt, dass sie bei der Begegnung mit seinen Eltern keinerlei Aufregung verspürt hatte.

Am nächsten Abend, während Catherine und Fräser im Jockey Club aßen, erzählte Fräser ihr, dass er auf eine Woche nach London fliegen müsse. »Während ich weg bin«, sagte er, »habe ich eine interessante Arbeit für dich. Unser Büro wurde gebeten, die Dreharbeiten eines Werbefilms für die Luftwaffe, der in den Metro-Goldwyn-Mayer-Studios in Hollywood produziert wird, zu überwachen. Ich möchte, dass du diese Sache in meiner Abwesenheit übernimmst.«

Catherine starrte ihn ungläubig an. »Ich? Ich kann nicht einmal einen Browning laden. Was verstehe ich von einem Lehrfilm?«

»Genauso viel wie jedermann«, grinste Fräser, »es ist alles ziemlich neu für dich, aber mach dir keine Sorgen. Sie werden einen Produzenten und alles da haben. Die Armee will Schauspieler in dem Film einsetzen.«

»Warum?«

»Ich nehme an, weil sie glauben, die Soldaten würden sich selbst nicht überzeugend genug darstellen.«

»Das klingt ganz nach Militär.«

»Ich hatte heute Nachmittag eine lange Unterhaltung mit General Mathews. Er hat das Wort >Glamour< bestimmt hundertmal gebraucht. Das ist es, was sie verkaufen wollen. Sie beginnen gerade eine große Werbekampagne, die sich an die junge männliche Elite Amerikas wendet. Dies ist der Auftakt dazu.«

»Worin besteht meine Aufgabe?« fragte Catherine.

»Dafür zu sorgen, dass alles glatt läuft. Du hast die endgültige Entscheidung. Dein Flug nach Los Angeles ist für morgen um 9 Uhr gebucht.«

Catherine nickte. »Ist gut.«

»Wirst du mich vermissen?«

»Du weißt, dass du mir fehlen wirst«, antwortete sie.

»Ich werde dir ein Geschenk mitbringen.«

»Ich will keine Geschenke. Komm nur gesund zurück.« Sie zögerte. »Die Lage sieht immer schlechter aus, nicht wahr, Bill?«

Er nickte. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, wir werden bald Krieg haben.«

»Wie schrecklich.«

»Es wird noch schrecklicher sein, wenn wir nicht eingreifen«, sagte er ruhig. »England ist wie durch ein Wunder bei Dünkirchen noch einmal davongekommen. Wenn Hitler jetzt beschließt, den Kanal zu überqueren, glaube ich nicht, dass die Briten ihn aufhalten können.« Sie tranken ihren Kaffee schweigend zu Ende, und er bezahlte.

»Möchtest du nach Hause kommen und die Nacht mit mir verbringen?« fragte Fräser.

»Nicht heute Abend«, sagte Catherine. »Du musst früh aufstehen und ich auch.«

»Gut.«

Nachdem er sie an ihrer Wohnung abgesetzt und sie sich zum Schlafengehen fertig gemacht hatte, fragte sich Catherine, warum sie nicht am Vorabend seiner Abreise zu Bill gegangen war.

Sie wusste keine Antwort darauf.

Catherine war in Hollywood aufgewachsen, obgleich sie niemals dort gewesen war. Sie hatte unzählige Stunden in dunklen Kinos verbracht, verloren in den zauberhaften, von der Filmhauptstadt der Welt fabrizierten Träumen, und sie würde stets für die Freude dankbar sein, die ihr diese glücklichen Stunden bereitet hatten.

Als Catherines Flugzeug auf dem Flughafen Burbank landete, war sie ganz aufgeregt. Eine Limousine erwartete sie, um sie zu ihrem Hotel zu bringen. Als sie durch die sonnigen, breiten Straßen fuhren, waren die Palmen das erste, was Catherine auffiel. Sie hatte über sie gelesen und Bilder davon gesehen, aber die Wirklichkeit war einfach überwältigend. Überall ragten sie hoch in den Himmel, der untere Teil ihrer schlanken Stämme nackt und der obere Teil üppig und grün. In der Mitte jedes Baumes hing ein zerfranster Ring von Blattwerk, wie ein schmutziger Unterrock unter einem grünen Ballettröckchen, dachte Catherine.

Sie kamen an einem riesigen Gebäude vorbei, das wie eine Fabrik aussah. Ein großes Schild über der Tür trug die Aufschrift: »Warner Bros.« und darunter: »Gute Filme für gute Bürger.« Als der Wagen an dem Tor vorbeifuhr, dachte Catherine an James Cagney in Yankee Doodle Dandy und an Bette Davis in Dark Victory, und sie lächelte glücklich.

Sie kamen an der Hollywood Bowl vorbei, die von außen enorm wirkte, bogen auf die Highland Avenue ab und fuhren auf dem Hollywood Boulevard nach Westen. Sie passierten das Egyptian Theatre und zwei Häuserblocks weiter westlich das Grauman's Chinese Theatre, und Catherines Stimmung stieg zusehends. Es war, als ob sie zwei alte Freunde wieder sähe. Der Chauffeur schwenkte in den Sunset Boulevard ein und fuhr Richtung Beverly Hills Hotel. »Das Hotel wird Ihnen gefallen, Miss. Es ist eines der besten in der Welt.«

Bestimmt war es eines der schönsten Hotels, die Catherine je gesehen hatte. Es lag nördlich vom Sunset in einem Halbkreis

von schützenden Palmen und war von großen Gärten umgeben. Eine anmutige Auffahrt wand sich hinauf zum Vordereingang des Hotels, das in zartem Rosa gehalten war. Ein eifriger junger Manager geleitete Catherine auf ihr Zimmer, das sich als ein luxuriöser Bungalow auf dem Gelände hinter dem Hauptgebäude des Hotels entpuppte. Auf dem Tisch befand sich ein Blumenbouquet mit den Empfehlungen des Hotels und ein noch größerer, noch schönerer Strauß mit einer Karte, auf der stand: »Ich wünschte, Du wärst hier oder ich wäre dort, Dein Bill.« Der Manager hatte Catherine drei telefonische Nachrichten übergeben. Sie waren von Allan Benjamin, der, wie man ihr gesagt hatte, der Produzent des Lehrfilms war. Während Catherine Bills Kärtchen las, klingelte das Telefon. Sie rannte darauf zu, nahm den Hörer ab und sagte eifrig: »Bill?« Aber es stellte sich heraus, dass es Allan Benjamin war.

»Willkommen in Kalifornien, Miss Alexander«, kam seine Stimme schrill durch den Hörer. »Hier Korporal Allan Benjamin, Produzent dieses kleinen Reinfalls.«

Ein Korporal. Sie hätte eher gedacht, man würde einen Hauptmann oder Oberst damit betrauen.

»Wir beginnen morgen mit der Dreharbeit. Hat man Ihnen gesagt, dass wir Schauspieler statt Soldaten verwenden werden?«

»Ich habe es schon gehört«, erwiderte Catherine.

»Wir beginnen um neun Uhr morgens zu drehen. Wenn Sie um acht Uhr hier sein könnten, hätte ich gerne, dass Sie sich die Burschen einmal ansehen. Sie wissen, was die Luftwaffe haben will.«

»Ist recht«, sagte Catherine schnell. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was die Luftwaffe wollte, aber sie nahm an, es würde genügen, seinen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen und Typen auszuwählen, die wie Piloten aussahen.

»Ich schicke Ihnen einen Wagen um halb acht Uhr«, sagte die

Stimme. »Man braucht nur eine halbe Stunde zu den MetroStudios. Sie sind in Culver City. Wir treffen uns im Tonstudio 13.«

Es war fast schon vier Uhr morgens, ehe Catherine einschlief, und es schien ihr, dass im selben Moment, in dem sie die Augen schloss, das Telefon läutete und die Zentrale ihr mitteilte, dass eine Limousine auf sie wartete.

Eine halbe Stunde später befand sich Catherine auf dem Weg zu Metro-Goldwyn-Mayer.

Es war das größte Filmstudio der Welt. Da war das Hauptfilmgelände, das aus zweiunddreißig Tonstudios und dem riesigen Thalberg-Verwaltungsgebäude bestand, in dem Louis B. Mayer, fünfundzwanzig leitende Angestellte und einige der berühmtesten Regisseure, Produzenten und Schriftsteller des Showgeschäfts untergebracht waren. Gelände zwei enthielt die enormen Kulissen für Außenaufnahmen, die fortwährend für die jeweiligen Dreharbeiten umgearbeitet wurden. Innerhalb von drei Minuten konnte man an den Schweizer Alpen, einer Stadt im Wilden Westen, einem Wohnblock in Manhattan und einem Strand von Hawaii vorbeifahren. Gelände drei, auf der anderen Seite vom Washington Boulevard gelegen, beherbergte Requisiten und Hintergrundkulissen im Wert von Millionen Dollar, die zum Drehen von Freilichtszenen verwendet wurden.

All dies wurde Catherine von ihrer Begleiterin erklärt, einem jungen Mädchen, deren Aufgabe es war, sie zum Studio 13 zu bringen. »Es ist eine Stadt für sich«, sagte sie stolz, »wir erzeugen unsere eigene Elektrizität, verpflegen in unseren Kantinen sechstausend Leute pro Tag und bauen alle unsere Kulissen selbst hinten auf dem Gelände. Wir sind völlig autark. Wir sind auf niemanden angewiesen.«

»Außer aufs Publikum.«

Als sie die Straße entlanggingen, kamen sie an einem schloss vorbei, das aus einer von Pfosten gestützten Fassade bestand. Gegenüber war ein See, und ein Stück weiter unten konnte man das Foyer eines Theaters von San Francisco sehen. Nicht das Theater, nur das Foyer.

Catherine lachte laut auf, und das Mädchen starrte sie an.

»Stimmt etwas nicht?« fragte sie.

»O doch«, sagte Catherine. »Ich finde alles wunderbar.«

Dutzende von Komparsen gingen die Straße entlang, Cowboys und Indianer plauderten auf ihrem Weg zu den Tonstudios freundlich miteinander. Ein Mann tauchte unerwartet hinter einer Ecke auf, und als Catherine einen Schritt zurücktrat, um ihm auszuweichen, sah sie, dass es ein Ritter in Rüstung war. Nach ihm kam eine Gruppe von Mädchen in Badeanzügen. Catherine stellte fest, dass der kurze Ausflug ins Showgeschäft ihr zu gefallen begann. Sie wünschte, ihr Vater hätte das sehen können.

»Hier sind wir«, sagte ihre Begleiterin. Sie standen vor einem riesigen grauen Gebäude. Ein Schild daneben trug die Aufschrift: Studio 13.

»Ich werde Sie hier verlassen. Finden Sie sich zurecht?«

»Sehr gut«, sagte Catherine. »Danke.«

Ihre Begleiterin nickte und ging. Catherine musterte das Tonstudio. Ein Schild über der Tür gebot: BEI ROTEM LICHT NICHT EINTRETEN. Das Licht war aus, Catherine drückte daher die Klinke herunter und öffnete die Tür. Oder versuchte es zumindest. Die Tür war über Erwarten schwer, und sie brauchte ihre ganze Kraft, um sie aufzukriegen.

Als es ihr endlich gelang, befand sich Catherine einer zweiten Tür gegenüber, genauso schwer und massiv wie die erste. Es war, als ob man eine Unterdruckkammer beträte.

Im Inneren des höhlenartigen Tonstudios rannten Dutzende von Menschen herum, jeder von ihnen schien mit einem geheimnisvollen Botengang beschäftigt. Eine Gruppe von Männern war in Luftwaffenuniform, und Catherine begriff, dass es die Schauspieler waren, die in dem Film auftreten sollten. In einer entfernten Ecke des Tonstudios war ein komplettes Büro eingerichtet, mit einem Schreibtisch, Stühlen und einer großen militärischen Karte an der Wand. Die Techniker leuchteten die Szene aus.

»Entschuldigung«, sagte sie zu einem Vorübergehenden. »Ist Mr. Allan Benjamin hier?«

»Der kleine Korporal?« Er zeigte hinüber. »Dort.« Catherine drehte sich um und sah einen schmächtigen, gebrechlich wirkenden Mann in einer schlecht sitzenden Uniform mit Korporalsstreifen. Er brüllte gerade einen Mann an, der die Sterne eines Generals trug.

»Zum Teufel mit dem Besetzungschef«, schrie er. »Ich stecke bis zum Arsch in Generalen. Ich brauche Korporale.« Er hob verzweifelt die Hände. »Alle wollen Häuptling spielen, niemand will Indianer sein.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Catherine. »Ich bin Catherine Alexander.«

»Gott sei Dank!« sagte der kleine Mann. Er wandte sich den anderen zu, und seine Stimme klang erbittert. »Das Herumalbern ist jetzt vorbei, ihr Taugenichtse. Washington ist da.«

Catherine zwinkerte mit den Augen. Bevor sie den Mund auftun konnte, sagte der kleine Korporal: »Ich weiß wirklich nicht, warum ich hier bin. Ich hatte einen Job für 3500 Dollar im Jahr in Dearborn als Redakteur einer Zeitschrift für Möbelhandel und wurde zur Nachrichtentruppe eingezogen, um Lehrfilme zu schreiben. Was verstehe ich vom Filmemachen oder Regieführen? Das ist der größte Sauhaufen, den ich je gesehen habe.« Er rülpste und griff sich an den Magen. »Ich kriege noch ein Magengeschwür«, stöhnte er, »und dabei bin ich nicht mal im Showgeschäft. Entschuldigen Sie.«

Er drehte sich um und eilte dem Ausgang zu, Catherine einfach stehen lassend. Sie blickte hilflos um sich. Alle schienen sie anzustarren, in der Erwartung, dass sie etwas täte.

Ein hagerer grauhaariger Mann in einem Pullover kam auf sie zu und lächelte amüsiert. »Brauchen Sie Hilfe?« fragte er ruhig.

»Ich brauche ein Wunder«, sagte Catherine ganz offen. »Ich habe die Aufsicht über das hier und weiß nicht, was ich überhaupt tun soll.«

Er grinste sie an. »Willkommen in Hollywood. Ich bin Tom O'Brien, der R. A.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Der Regie-Assistent. Ihr Freund, der Korporal, sollte die Regie führen, aber ich habe das Gefühl, dass er nicht wiederkommt.« Der Mann strahlte eine ruhige Sicherheit aus, die Catherine gefiel.

»Wie lange arbeiten Sie schon bei der Metro-Goldwyn-Mayer?« fragte sie.

»Fünfundzwanzig Jahre.«

»Glauben Sie, dass Sie die Regie dieses Films übernehmen könnten?«

Sie sah, wie seine Mundwinkel zuckten. »Ich könnte es versuchen«, sagte er nachdenklich. »Ich habe sechs Filme mit Willie Wyler zusammen gemacht.« Seine Augen wurden ernst. »Die Lage ist nicht so schlimm, wie sie aussieht«, sagte er. »Alles, was wir benötigen, ist ein bisschen Organisation. Das Drehbuch ist geschrieben, und die Kulissen sind fertig.«

»Das ist schon ein Anfang«, sagte Catherine. Sie warf einen Blick auf die Uniformen. Die meisten von ihnen saßen schlecht, und die Männer, die sie trugen, schienen sich darin nicht wohl zu fühlen.

»Sie sehen wie eine Reklame für die Marine aus«, bemerkte Catherine.

O'Brien lachte anerkennend.

»Woher stammen diese Uniformen?«

»Wildwestkostüme. Unserer Garderobenabteilung sind die Uniformen ausgegangen. Wir drehen gleichzeitig drei Kriegsfilme.« Catherine musterte die Männer mit kritischem Blick. »Nur sechs der Uniformen sehen wirklich schlecht aus«, entschied sie. »Geben wir sie zurück und versuchen wir, bessere zu bekommen.«

O'Brien nickte zustimmend. »In Ordnung.«

Catherine und O'Brien gingen zu der Gruppe der Komparsen hinüber. Der Lärm des Stimmengewirrs in dem riesigen Studio war ohrenbetäubend.

»Ein bisschen leiser, Boys«, schrie O'Brien. »Das ist Miss Alexander. Sie wird die Aufnahmen leiten.«

Man hörte ein paar anerkennende Pfiffe und Buh-Rufe.

»Danke«, sagte Catherine lächelnd. »Die meisten von Ihnen sehen gut aus, aber einige werden zur Wildwestabteilung zurückgehen und sich andere Uniformen verpassen lassen müssen. Stellen Sie sich in einer Reihe auf, damit wir uns Sie besser ansehen können.«

»Ich würde mir gerne Sie besser ansehen. Wo essen Sie heute zu Abend?« rief einer der Männer.

»Ich esse mit meinem Mann«, sagte Catherine, »gleich nach seinem Match.«

O'Brien stellte die Männer in eine unordentliche Reihe. Catherine hörte Gelächter und Stimmen in ihrer Nähe und drehte sich unwillig um. Einer der Komparsen stand neben einer Kulisse und sprach mit drei Mädchen, die förmlich an seinem Mund hingen und hysterisch über alles, was er sagte, kicherten. Catherine sah einen Augenblick zu, dann ging sie zu dem Mann hinüber und sagte: »Entschuldigen Sie. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich einzureihen?«

Der Mann drehte sich langsam um. »Sprechen Sie mit mir?« fragte er lässig.

»Ja«, sagte Catherine. »Wir würden gerne mit unserer Arbeit beginnen.« Sie entfernte sich.

Er flüsterte den Mädchen etwas zu, die in lautes Gelächter ausbrachen, und folgte dann langsam Catherine. Er war ein hoch gewachsener Mann mit einem schlanken und kraftvollen Körper, und mit seinem blauschwarzen Haar und seinen leidenschaftlichen Augen sah er sehr gut aus. Als er sprach, klang seine Stimme tief und unverschämt belustigt. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er Catherine.

»Wollen Sie arbeiten?« erwiderte Catherine.

»O ja«, versicherte er ihr.

Catherine hatte einmal einen Artikel über Komparsen gelesen: Sie waren eine seltsame Sorte von Menschen, die ihr anonymes Leben in den Tonstudios verbrachten und den Massenszenen, in denen die Stars auftraten, Hintergrundatmosphäre verliehen. Sie waren gesichtslos, stimmlos; ihr angeborener Mangel an Ehrgeiz hinderte sie, sinnvolle Arbeit zu suchen. Der Mann vor ihr war ein perfektes Beispiel dafür. Weil er so unerhört gut aussah, hatte ihm wahrscheinlich jemand in seiner Heimatstadt in den Kopf gesetzt, dass er ein Star werden könnte; er war nach Hollywood gekommen, hatte herausgefunden, dass Talent genauso wichtig war wie gutes Aussehen, und hatte sich damit abgefunden, Komparse zu sein. Der einfachste Ausweg.

»Wir werden einige Uniformen auswechseln müssen«, sagte Catherine geduldig.

»Stimmt irgend etwas mit meiner Uniform nicht?« fragte er.

Catherine musterte seine Uniform. Sie musste zugeben, sie saß perfekt, betonte seine breiten Schultern, übertrieb sie jedoch nicht und verjüngte sich dann zu seiner schmalen Taille hin. Sie sah sich seinen Waffenrock an. Auf den Schultern waren die Rangabzeichen eines Hauptmanns. Quer über seine Brust hatte er mehrere auffallend bunte Bänder gesteckt.

»Macht das genügend Eindruck, Boss?« fragte er.

»Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie Hauptmann spielen sollen?«

Er blickte sie ernst an. »Es war meine Idee. Glauben Sie nicht, dass ich einen guten Hauptmann abgeben würde?«

Catherine schüttelte den Kopf. »Nein, glaube ich nicht.«

Er verzog nachdenklich den Mund. »Oberleutnant?«

»Nein.«

»Wie war's mit Leutnant?«

»Ich glaube eigentlich nicht, dass Sie das Zeug zum Offizier haben.«

Seine dunklen Augen betrachteten sie spöttisch. »Ach? Stimmt noch etwas nicht?« fragte er.

»Ja«, sagte sie. »Die Orden. Sie müssen unglaublich tapfer sein.«

Er lachte. »Ich dachte, ich könnte diesem verdammten Film etwas Farbe verleihen.«

»Sie haben nur eins vergessen«, sagte Catherine scharf. »Wir haben noch keinen Krieg. Sie hätten diese Auszeichnungen auf dem Karneval gewonnen haben müssen.«

Der Mann grinste sie an. »Sie haben recht«, gab er schüchtern zu. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich werde einige davon abnehmen.«

»Nehmen Sie alle ab«, sagte Catherine.

Er grinste sie wieder auf seine träge, unverschämte Art an. »Gut, Boss.«

Beinahe hätte sie ihn angefahren: »Hören Sie auf, mich Boss zu nennen«, dachte aber dann, zum Teufel mit ihm, und kehrte ihm den Rücken, um sich mit O'Brien zu unterhalten.

Catherine schickte acht der Männer zum Austausch der Uniformen in die Garderobenabteilung zurück und verbrachte die nächste Stunde damit, die Szene mit O'Brien zu besprechen. Der kleine Korporal war kurz zurückgekommen und dann wieder verschwunden. Um so besser, dachte Catherine. Er konnte nur herummeckern und alle nervös machen. O'Brien hatte die erste Szene vor dem Mittagessen fertig gedreht, und Catherine dachte, dass alles ganz gut verlaufen wäre. Nur ein Zwischenfall hatte den Morgen getrübt. Catherine hatte dem unverschämten Komparsen einen Text gegeben, um ihn klein zu kriegen. Sie wollte ihn bei der Aufnahme blamieren und ihm damit seine Unverschämtheit heimzahlen. Er hatte seinen Text perfekt gesprochen und die Szene schwungvoll gemeistert. Als er geendet hatte, wandte er sich an sie und fragte: »Gut so, Boss?«

In der Mittagspause ging Catherine in die riesige Studiokantine hinüber und setzte sich an einen kleinen Ecktisch. An einem großen Tisch neben ihr war eine Gruppe von Soldaten in Uniform. Catherine saß der Tür gegenüber und sah den Komparsen hereinkommen; die drei Mädchen hingen wie Kletten an ihm, und jedes versuchte, sich noch näher an ihn heranzudrängen. Catherine fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich um eine rein chemische Reaktion handeln müsse. Es gab Menschen, die man auf den ersten Blick nicht ausstehen konnte, genau wie man andere sofort mochte. Irgend etwas an seiner Arroganz ging ihr gegen den Strich. Er hätte einen perfekten Gigolo abgegeben, und das war er wahrscheinlich auch.

Er führte die Mädchen an einen Tisch, blickte dann auf und sah Catherine, beugte sich zu den Mädchen hinunter und sagte etwas. Sie sahen alle zu ihr hin und brachen in lautes Gelächter aus. Zum Teufel mit ihm! Sie beobachtete ihn, wie er langsam auf ihren Tisch zuging. Er starrte mit seinem beharrlichen, wissenden Lächeln auf sie hinab. »Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?« fragte er.

»Ich«, aber er saß bereits und musterte sie mit prüfendem und belustigtem Blick.

»Was wünschen Sie?« fragte Catherine steif.

Sein Grinsen wurde immer breiter. »Wollen Sie es wirklich wissen?«

Ihre Lippen wurden vor Zorn ganz schmal. »Hören Sie«

»Ich wollte Sie fragen«, sagte er schnell, »ob ich es heute morgen gut gemacht habe.« Er beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »War es überzeugend?«

»Vielleicht für die dort drüben«, sagte Catherine, zu den Mädchen hinübernickend, »aber wenn Sie meine Meinung hören wollen: Sie sind ganz einfach ein Schwindler.«

»Habe ich etwas getan, was Sie beleidigt hat?«

»Alles, was Sie tun, beleidigt mich«, sagte sie gleichmütig. »Ich mag Ihren Typ nicht.«

»Was für ein Typ bin ich?«

»An Ihnen ist alles unecht. Es macht Ihnen Spaß, diese Uniform zu tragen und um die Mädchen herumzustolzieren, aber haben Sie mal daran gedacht, sich freiwillig zu melden?«

Er starrte sie ungläubig an. »Und einen Schuss in den Bauch zu kriegen?« fragte er. »Das ist für die Dummen.« Er beugte sich vor und grinste. »Das hier macht viel mehr Spaß.«

Catherines Lippen zitterten vor Zorn. »Sind Sie denn nicht wehrpflichtig?«

»Genau genommen wahrscheinlich ja, aber ein Freund von mir kennt jemanden in Washington, und« – er senkte die Stimme – »ich glaube nicht, dass sie mich je schnappen werden.«

»Ich finde Sie verachtenswert«, platzte Catherine heraus.

»Warum?«

»Wenn Sie nicht wissen, warum, kann ich es Ihnen niemals erklären.«

»Warum versuchen Sie es nicht? Heute beim Abendessen. Bei Ihnen. Können Sie kochen?«

Catherine erhob sich mit zornroten Wangen.

»Sie brauchen nicht mehr ins Studio zurückzukommen«, sagte sie. »Ich werde Mr. O'Brien bitten, Ihnen einen Scheck für Ihre Arbeit von heute morgen zu schicken.«

Sie wandte sich zum Gehen, da fiel ihr etwas ein, und sie fragte: »Wie heißen Sie?«

»Douglas«, sagte er. »Larry Douglas.«

Am nächsten Abend rief Fräser Catherine aus London an, um sich zu erkundigen, ob alles geklappt habe. Sie berichtete über den Verlauf des Tages, erwähnte aber den Vorfall mit Larry Douglas nicht. Sobald Fräser nach Washington zurückkehrte, würde sie ihm alles erzählen, und sie würden zusammen darüber lachen.

Am nächsten Morgen, als Catherine sich gerade für das Studio fertig machte, klingelte es. Sie öffnete die Bungalowtür, vor der ein Boy mit einem großen Strauß Rosen stand.

»Catherine Alexander?« fragte er.

»Ja.«

»Bitte unterschreiben Sie hier.«

Sie unterschrieb das Formular, das er ihr reichte.

»Wie herrlich«, sagte sie und nahm die Blumen.

»Ich bekomme fünfzehn Dollar von Ihnen.«

»Wie bitte?«

»Fünfzehn Dollar. Zahlung bei Empfang.«

»Ich verstehe nicht« Ihre Lippen zogen sich zusammen. Catherine griff nach dem Kärtchen, das an den Blumen befestigt war, und zog es aus dem Umschlag. Darauf stand: »Ich hätte diese Blumen selbst bezahlt, aber leider bin ich arbeitslos. Ihr Larry.«

Sie starrte das Kärtchen ungläubig an.

»Wollen Sie nun die Blumen oder nicht?« fragte der Boy.

»Nein«, fuhr sie ihn an und drückte ihm die Blumen in die Arme.

Er blickte sie verdutzt an. »Er sagte, Sie würden lachen. Es wäre eine Art Privatulk zwischen Ihnen.«

»Ich lache nicht«, sagte Catherine und schlug wütend die Tür zu.

Den ganzen Tag über kam ihr dieser Vorfall immer wieder in den Sinn. Es waren ihr schon arrogante Männer über den Weg gelaufen, aber Larry Douglas übertraf sie alle an maßloser Einbildung. Sie war sicher, dass er eine endlose Reihe von Siegen über hirnlose Blondinen und vollbusige Brünette davongetragen hatte, die es kaum erwarten konnten, mit ihm ins Bett zu steigen. Aber dass er auch sie in diese Kategorie einreihte, empfand sie als Herabsetzung und Demütigung.

Der bloße Gedanke an ihn machte sie kribbelig. Sie beschloss, ihn aus ihrem Sinn zu verbannen.

Um sieben Uhr abends des gleichen Tages wollte Catherine gerade das Studio verlassen, als ein Assistent mit einem Briefumschlag in der Hand auf sie zutrat.

»Haben Sie das angefordert, Miss Alexander?« fragte er. Es war ein Unkostenbeleg vom Zentralbesetzungsbüro, und darauf stand:

Eine Uniform (Hauptmann)

Sechs Militärordensbänder (sortiert)

Sechs Medaillen (sortiert)

Name des Schauspielers: Lawrence Douglas ... (persönlich zu Lasten von Catherine Alexander – MGM).

Catherine blickte mit hochrotem Gesicht auf. »Nein!« sagte sie. Er starrte sie an. »Was soll ich denen im Büro sagen?«

»Sagen Sie ihnen, dass ich nur für seine Orden zahle, wenn sie ihm posthum verliehen werden.«

Nach drei Tagen waren die Dreharbeiten beendet. Catherine sah sich den Film am nächsten Tag im Rohschnitt an und war damit einverstanden. Er würde keine Preise gewinnen, aber er war einfach und wirkungsvoll. Tom O'Brien hatte gute Arbeit geleistet.

Am Samstagmorgen nahm Catherine ein Flugzeug nach Washington. Noch nie war sie so froh gewesen, eine Stadt zu verlassen. Am Montagmorgen war sie zurück in ihrem Büro und versuchte die Arbeit nachzuholen, die sich in ihrer Abwesenheit angehäuft hatte.

Kurz vor dem Mittagessen summte das Telefon. Annie, ihre Sekretärin, fragte: »Ein Mr. Larry Douglas ruft aus Hollywood, Kalifornien, R-Gespräch, an. Soll ich Sie verbinden?«

»Nein«, stieß sie hervor. »Sagen Sie ihm, dass ich – warten Sie, ich werde es ihm selbst sagen.« Sie holte tief Atem und drückte auf den Knopf. »Mr. Douglas?«

»Guten Morgen.« Seine Stimme klang honigsüß. »Es war sehr schwierig, Sie ausfindig zu machen. Mögen Sie keine Rosen?«

»Mr. Douglas«, begann Catherine. Ihre Stimme zitterte vor Zorn. Sie holte tief Luft und sagte: »Mr. Douglas, ich liebe Rosen. Ich kann Sie nicht ausstehen. Ich kann nichts an Ihnen ausstehen. Ist das klar?«

»Sie wissen überhaupt nichts von mir.«

»Ich weiß mehr, als ich wissen will. Ich halte Sie für feige und verachtenswert und wünsche nicht, dass Sie mich jemals wieder anrufen.« Zitternd knallte sie den Hörer auf, ihre Augen waren vor Zorn mit Tränen gefüllt. Wie konnte er es wagen! Sie würde froh sein, wenn Bill endlich zurückkam.

Drei Tage später erhielt Catherine mit der Post eine 10 x 12 große Fotografie von Lawrence Douglas. Sie trug die Aufschrift: »Dem Boss, in Liebe, Larry.«

Annie starrte das Foto überwältigt an und rief: »Mein Gott! Ist der echt?«

»Er ist unecht«, gab Catherine zurück. »Das einzig Echte daran ist das Papier, auf dem es abgezogen ist.« Sie zerriss wütend das Foto.

Annie sah das bestürzt mit an. »Wie schade. Ich habe noch nie so einen in Fleisch und Blut gesehen.«

»In Hollywood«, sagte Catherine grimmig, »haben sie Kulissen, die nur aus der Fassade bestehen – ohne Fundament. Sie hatten gerade so eine vor sich.«

In den nächsten zwei Wochen rief Larry Douglas mindestens ein Dutzend Mal an. Catherine gab Annie die Anweisung, ihm zu sagen, er solle nicht wieder anrufen, und bat sie, ihr seine Anrufe gar nicht mehr zu melden. Eines Morgens beim Diktat blickte Annie auf und sagte entschuldigend: »Ich weiß, Sie sagten mir, ich solle Sie nicht mehr mit Mr. Douglas' Anrufen belästigen, aber er rief wieder an, und es klang so verzweifelt und, ich weiß nicht, ... wie verloren.«

»Er ist verloren«, sagte Catherine kalt, »und Sie täten besser, nicht nach ihm zu suchen.«

»Er scheint aber wirklich charmant zu sein.«

»Er versteht sich aufs Schmeicheln.«

»Er stellte eine Menge Fragen über Sie.« Sie sah Catherines Blick. »Aber natürlich«, fügte sie hastig hinzu, »habe ich nichts erzählt.«

»Das war sehr klug von Ihnen, Annie.«

Catherine begann wieder mit dem Diktat, aber sie war nicht ganz dabei. Wahrscheinlich war die Welt voll von Typen wie Larry Douglas, ein Grund mehr, William Fräser zu schätzen.

Bill Fräser kehrte am nächsten Sonntagmorgen zurück, und Catherine holte ihn vom Flugplatz ab. Sie beobachtete, wie er den Zoll passierte und auf den Ausgang, wo sie ihn erwartete, zukam. Sein Gesicht strahlte, als er sie sah.

»Cathy«, rief er. »Was für eine reizende Überraschung! Ich hatte nicht erwartet, dass du mich abholen würdest.«

»Ich konnte es nicht mehr aushaken«, sagte sie lächelnd und schloss ihn so fest in die Arme, dass er sie spöttisch ansah.

»Du hast mich vermisst«, sagte er.

»Mehr, als du dir vorstellen kannst.«

»Wie war es in Hollywood?« fragte er. »Hat es gut geklappt?«

Sie zögerte. »Ausgezeichnet. Sie sind sehr zufrieden mit dem Film.«

»Das habe ich gehört.«

»Bill, wenn du das nächste Mal wegfährst«, sagte sie, »nimm mich mit.«

Er blickte sie erfreut und gerührt an.

»Abgemacht«, sagte Fräser. »Du hast mir gefehlt. Ich habe sehr viel über dich nachgedacht.«

»Wirklich?«

»Liebst du mich?«

»Sehr, Mr. Fräser.«

»Ich liebe dich auch«, sagte er. »Warum gehen wir heute Abend nicht aus und feiern?«

Sie lächelte. »Wunderbar.«

»Wir werden im Jefferson Club essen.«

Sie setzte Fräser zu Hause ab.

»Ich muss ein paar tausend Anrufe machen«, sagte er. »Könnten wir uns im Klub treffen? Acht Uhr.«

»Gut«, sagte sie.

Catherine kehrte in ihre Wohnung zurück und wusch und bügelte einige Sachen. Jedes Mal, wenn sie am Telefon vorbeikam, erwartete sie halb, dass es klingeln würde, aber es blieb still. Sie dachte daran, wie Larry versucht hatte, Annie über sie auszuhorchen, und merkte, dass sie mit den Zähnen knirschte. Vielleicht würde sie mit Fräser darüber sprechen, ob man die zuständige Rekrutierungsbehörde auf Douglas aufmerksam machen könnte. Nein, ich lasse das lieber, dachte sie. Sie würden ihn wahrscheinlich sowieso nicht nehmen. Er würde gewogen und zu leicht befunden werden. Sie wusch sich das Haar, nahm ein langes, schwelgerisches Bad und trocknete sich gerade ab, als das Telefon klingelte. Gespannt ging sie hinüber und hob den Hörer ab. »Ja?« sagte sie kalt.

Es war Fräser. »Hallo«, sagte er. »Stimmt was nicht?«

»Doch, doch, Bill«, sagte sie schnell. »Ich – ich war gerade in der Badewanne.«

»Es tut mir leid.« Seine Stimme nahm einen neckenden Ton an. »Ich meine, es tut mir leid, dass ich nicht bei dir bin.«

»Mir auch«, erwiderte sie.

»Ich will dir nur sagen, wie sehr ich dich vermisse. Komm nicht zu spät.«

Catherine lächelte. »Ich werde pünktlich sein.«

Sie legte den Hörer auf und dachte über Bill nach. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er bereit sei, um sie anzuhalten. Er würde sie bitten, Mrs. Fräser zu werden. Sie sprach den Namen laut aus. »Mrs. William Fräser.« Es klang hübsch und würdevoll. Mein Gott, dachte sie, ich werde blasiert. Vor sechs Monaten wäre ich bei diesem Gedanken noch in die Luft gesprungen, und jetzt ist alles, was ich sagen kann, es klingt hübsch und würdevoll. Hatte sie sich wirklich derart verändert? Es war kein tröstlicher Gedanke. Sie sah auf die Uhr und begann sich hastig anzuziehen.

Der Jefferson Club befand sich in der »Feestraße in einem unauffälligen Backsteingebäude, das etwas von der Straße zurückgesetzt lag und von einem schmiedeeisernen Gitter umgeben war. Er war einer der exklusivsten Klubs in einer Stadt, in der es von exklusiven Klubs wimmelte. Der leichteste Weg, Mitglied zu werden, war, einen Vater zu haben, der ihm angehörte. Wenn es jemandem an dieser weisen Voraussicht mangelte, musste man von drei Mitgliedern empfohlen werden. Die Vorschläge für die Mitgliedschaft wurden einmal im Jahr vorgebracht, und eine schwarze Kugel genügte, um jemanden bis ans Lebensende dem Jefferson Klub fernzuhalten, denn es war eine feste Regel, dass kein Anwärter zweimal vorgeschlagen werden konnte.

William Fräsers Vater war Gründungsmitglied des Klubs, und Fräser und Catherine dinierten dort mindestens einmal in der Woche. Der Chef hatte zwanzig Jahre beim französischen Zweig der Rothschilds gearbeitet, die Küche war vorzüglich und der Weinkeller als der drittbeste Amerikas bekannt. Der Klub war von einem der besten Innenarchitekten ausgestattet, und man hatte große Sorgfalt auf Farben und Beleuchtung verwandt, so dass die Frauen in den Glanz des Kerzenlichts getaucht waren, der ihre Schönheit noch erhöhte. An jedem beliebigen Abend konnten die Gäste mit dem Vizepräsidenten, Kabinettsmitgliedern oder Vertretern des Obersten Gerichtshofs, Senatoren und mächtigen Industriellen, die weltweite Wirtschaftsimperien beherrschten, Tisch an Tisch sitzen.

Fräser wartete bereits im Foyer auf Catherine, als sie ankam.

»Komme ich zu spät?« fragte sie.

»Und wenn es so wäre«, sagte Fräser und blickte sie mit unverhohlener Bewunderung an. »Weißt du, dass du phantastisch schön bist?«

»Natürlich«, antwortete sie. »Jedermann weiß, dass ich die phantastisch schöne Catherine Alexander bin.«

»Ich scherze nicht, Cathy.« Sein Ton war so ernst, dass er sie verwirrte.

»Danke, Bill«, sagte sie verlegen. »Und bitte hör auf, mich so anzustarren.«

»Ich kann nicht anders«, sagte er. Er nahm ihren Arm.

Louis, der Maitre, führte sie zu einer Ecknische. »Nehmen Sie hier Platz, Miss Alexander, Mr. Fräser, ich wünsche wohl zu speisen.«

Catherine liebte es, vom Maitre des Jefferson Clubs mit Namen angesprochen zu werden. Sie wusste, es war kindisch und naiv von ihr, aber es gab ihr das Gefühl, jemand zu sein, irgendwohin zu gehören. Jetzt lehnte sie sich entspannt und zufrieden zurück und sah sich im Raum um.

»Möchtest du einen Drink?« fragte Fräser.

»Nein, danke«, sagte Catherine.

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss dir noch ein paar schlechte Gewohnheiten beibringen.«

»Das hast du bereits getan«, murmelte Catherine.

Er grinste sie an und bestellte einen Scotch mit Soda.

Sie musterte ihn und dachte dabei, was für ein reizender, liebenswerter Mann er war. Sie war sicher, dass sie ihn sehr glücklich machen könnte. Und sie wäre glücklich, mit ihm verheiratet zu sein. Sehr glücklich, sagte sie sich ungestüm. Frage, wen du willst. Frage die Zeitschrift TIME. Sie hasste sich, dass sie überhaupt Zweifel haben konnte. Was um Himmels willen stimmte nicht mit ihr? »Bill«, begann sie – und erstarrte.

Larry Douglas kam auf sie zu, mit einem Lächeln des Erken-nens auf den Lippen, als er Catherine erblickte. Er trug seine Luftwaffenuniform vom Zentralbesetzungsbüro. Sie sah ihn glücklich grinsend auf ihren Tisch zutreten. »Hallo ...« sagte er.

Aber das galt nicht Catherine. Er sprach Bill an, der sich erhob und seine Hand schüttelte.

»Wie schön, dich zu sehen, Larry.«

»Ich freue mich, dich zu sehen, Bill.«

Catherine starrte die beiden wie gelähmt an. Ihr Hirn versagte ihr den Dienst.

Bill Fräser sagte gerade: »Cathy, das ist Hauptmann Lawrence Douglas. Larry, das ist Miss Alexander – Catherine.«

Larry Douglas blickte auf sie nieder, seine dunklen Augen machten sich über sie lustig. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was für ein Vergnügen es für mich ist, Miss Alexander«, sagte er feierlich.

Catherine setzte zum Sprechen an, fühlte jedoch plötzlich, dass es für sie nichts zu sagen gab. Fräser beobachtete sie, wartete darauf, dass sie etwas sagte. Alles, was sie fertig brachte, war ein Nicken. Sie traute ihrer Stimme nicht.

»Willst du dich zu uns setzen, Larry?« fragte Fräser.

Larry blickte Catherine an und meinte bescheiden: »Wenn ich nicht störe —«

»Natürlich nicht. Setz dich.«

Larry nahm neben Catherine Platz.

»Was möchtest du trinken?« fragte Fräser.

»Scotch und Soda«, erwiderte Larry.

»Für mich das gleiche«, sagte Catherine verwegen. »Einen Doppelten.«

Fräser blickte sie erstaunt an. »Nicht zu glauben.«

»Du wolltest mir doch ein paar schlechte Gewohnheiten beibringen«, sagte Catherine. »Und ich glaube, ich fange jetzt damit an.«

Als Fräser die Drinks bestellt hatte, wandte er sich an Larry und sagte: »General Terry hat mir von deinen Heldentaten erzählt – in der Luft und auf dem Boden.«

Catherine starrte Larry an, ihre Gedanken drehten sich im Kreise, sie versuchte mitzukommen. »Diese Orden ...«, sagte sie.

Er blickte sie unschuldig an.

»Ja?«

Sie schluckte. »Äh – wo haben Sie die her?«

»Ich habe sie auf dem Karneval gewonnen«, erwiderte er ernsthaft.

»Und was für ein Karneval«, sagte Fräser lachend. »Larry ist in der RAF geflogen. Er war der Führer der amerikanischen Staffel. Nun hat man ihn überredet, einen Jagdfliegerhorst in Washington zu leiten, um einige unserer Jungen für den Kampf auszubilden.«

Catherine drehte sich zu Larry um und starrte ihn an. Er lächelte ihr wohlwollend zu, seine Augen glitzerten. Wie bei der Wiederaufführung eines alten Films erinnerte sich Catherine an jedes Wort ihrer ersten Begegnung. Sie hatte ihm befohlen, seine Hauptmannsschulterstücke und seine Orden abzunehmen, und er hatte ihr gut gelaunt den Gefallen getan. Sie war eingebildet und anmaßend gewesen – sie hatte ihn einen Feigling genannt! Am liebsten hätte sie sich unter den Tisch verkrochen.

»Ich wünschte, du hättest mich wissen lassen, dass du nach Washington kommst«, sagte Fräser. »Wir hätten ein Kalb geschlachtet und eine große Party gegeben, um deine Rückkehr zu feiern.«

»So hab' ich's lieber«, sagte Larry. Er blickte zu Catherine hinüber, und sie wandte sich ab, unfähig, ihm in die Augen zu sehen. »In der Tat«, fuhr Larry unschuldig fort, »habe ich nach dir Ausschau gehalten, als ich in Hollywood war, Bill. Ich hörte, du produziertest einen Lehrfilm für die Luftwaffe.«

Er hielt inne, um sich eine Zigarette anzuzünden, und blies sorgfältig das Zündholz aus. »Ich ging ins Studio hinüber, aber du warst nicht da.«

»Ich musste nach London fliegen«, erwiderte Fräser. »Catherine war dort. Ich wundere mich, dass ihr euch nicht begegnet seid.«

Catherine blickte zu Larry auf, und er beobachtete sie belustigt. Jetzt war die Zeit gekommen, das Geschehene zu erwähnen. Sie würde Fräser alles erzählen, und sie würden lachend das Ganze als amüsante Anekdote abtun. Aber ihr blieb das Wort in der Kehle stecken.

Larry ließ ihr einen Augenblick Zeit, dann sagte er: »Das Studio war reichlich überfüllt. Ich nehme an, wir haben einander verfehlt.«

Sie hasste ihn dafür, dass er ihr aus der Klemme half, dass er sie zu gemeinsamen Verschwörern gegen Fräser machte.

Als die Drinks kamen, goss Catherine den ihren schnell hinunter und bestellte noch einen. Das würde der schrecklichste Abend ihres Lebens sein. Sie konnte es kaum erwarten, aus dem Klub herauszukommen, weg von Larry Douglas.

Fräser fragte ihn über seine Kriegserlebnisse aus, und Larry ließ sie als leicht und amüsant erscheinen. Er nahm offensichtlich nichts ernst. Er war ein »Leichtgewicht«. Und trotzdem, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, musste Catherine widerwillig zugeben, dass ein »Leichtgewicht« sich nicht als Freiwilliger zur RAF meldet und ein Held im Kampf gegen die deutsche Luftwaffe wird. Absurderweise hasste sie ihn noch mehr, weil er ein Held war. Ihre Haltung erschien ihr sinnlos, und sie brütete darüber bei ihrem dritten Scotch. Was machte es schon aus, ob er ein Held oder ein Windhund war? Und dann begriff sie: Solange sie ihn für einen Windhund hielt, konnte sie ihn schön sauber in ein Fach einordnen, und er machte ihr auf diese Weise nicht mehr zu schaffen. Vom Alkohol leicht benebelt, saß sie zurückgelehnt da und hörte der Unterhaltung der beiden Männer zu. Larry strahlte eine Begeisterung aus, wenn er sprach, eine greifbare Vitalität, die sie erreichte und berührte. Er schien ihr jetzt der lebendigste Mann zu sein, dem sie je begegnet war. Catherine hatte das

Gefühl, dass er dem Leben nichts vorenthielt, dass er sich von ganzem Herzen allem hingab und sich über diejenigen lustig machte, die Angst hatten, sich auszugeben. Die Angst hatten – basta. Wie sie selbst.

Sie rührte kaum ihr Essen an und hatte keine Ahnung, was sie zu sich nahm. Sie begegnete Larrys Blick, und es war, als ob er bereits ihr Liebhaber wäre, als ob sie bereits zusammen gewesen wären, einander angehörten; sie wusste, es war Wahnsinn. Er war wie ein Zyklon, eine Naturgewalt, und jede Frau, die in den Wirbel geriet, würde zugrunde gehen.

Larry lächelte sie an. »Ich fürchte, wir haben Miss Alexander von unserer Unterhaltung ausgeschlossen«, sagte er höflich. »Sie ist sicherlich ein interessanteres Thema als wir beide zusammen.«

»Sie irren sich«, sagte Catherine mit belegter Stimme. »Ich führe ein reichlich langweiliges Leben. Ich arbeite bei Bill.« Kaum waren ihr die Worte entfahren, hörte sie, wie sie klangen, und wurde rot. »Ich meinte es nicht so«, sagte sie. »Ich meinte«

»Ich weiß, was Sie meinten«, sagte Larry hilfreich. Und sie hasste ihn. Er wandte sich an Bill. »Wo hast du sie entdeckt?«

»Ich habe Glück gehabt«, sagte Fräser lebhaft. »Großes Glück. Bist du noch unverheiratet?«

Larry zuckte die Achseln. »Wer will mich schon haben?«

Du Aas, dachte Catherine. Sie blickte sich im Raum um. Ein halbes Dutzend Frauen starrten Larry an, manche versteckt, manche ganz offen. Er war wie ein sexueller Magnet. »Wie waren die englischen Mädchen?« fragte Catherine beiläufig.

»In Ordnung«, sagte er höflich. »Natürlich hatte ich nicht viel Zeit für diese Dinge. Ich war zu sehr mit dem Fliegen beschäftigt.« So siehst du aus, dachte Catherine. Ich möchte wetten, dass im Umkreis von hundert Meilen von dir nicht eine Jungfrau übrig geblieben ist. Laut sagte sie: »Diese armen Mädchen tun mir leid. Was die alles versäumt haben.« Ihr Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte.

Fräser blickte sie an, verblüfft über ihre Unhöflichkeit. »Cathy«, sagte er.

»Trinken wir noch etwas«, fiel ihm Larry schnell in die Rede.

»Ich glaube, Catherine hat vielleicht genug getrunken«, antwortete Fräser.

»N-ein«, lallte Catherine und gewahrte mit Schrecken, dass sie ihre Worte undeutlich aussprach. »Ich – ich möchte nach Hause gehen«, sagte sie.

»Gut.« Fräser wandte sich Larry zu: »Catherine trinkt normalerweise nichts«, sagte er entschuldigend.

»Ich nehme an, es ist die Aufregung des Wiedersehens mit dir«, sagte Larry Catherine wollte ein Glas Wasser ergreifen und es ihm ins Gesicht schütten. Sie hatte ihn weniger gehasst, als sie ihn noch für einen Windhund hielt. Jetzt hasste sie ihn viel mehr. Und sie wusste nicht, warum.

Am nächsten Morgen erwachte Catherine mit einem solchen Kater, dass sie überzeugt war, er würde in der Medizin Geschichte machen. Sie hatte mindestens drei Köpfe auf ihren Schultern, von denen jeder in einem anderen Rhythmus hämmerte. Still im Bett zu liegen, war eine Qual, aber der Versuch, sich zu bewegen, war schlimmer. Als sie dalag und gegen die Übelkeit kämpfte, strömte der ganze Abend in ihre Erinnerung zurück, und der Schmerz wurde noch unerträglicher. Unvernünftigerweise gab sie Larry Douglas die Schuld an ihrem Katzenjammer, denn nur seinetwegen hatte sie getrunken. Mühsam drehte Catherine den Kopf und blickte auf die Uhr neben ihrem Bett. Sie hatte verschlafen. Sie kämpfte mit sich, ob sie im Bett bleiben oder die Ambulanz bestellen sollte. Mühsam erhob sie sich von ihrem Totenbett und schleppte sich ins Badezimmer. Sie taumelte unter die Dusche, drehte das kalte Wasser an und ließ den eisigen Strahl auf ihren Körper rauschen. Sie schrie laut auf, als das Wasser auf sie prallte, aber als sie aus der Dusche kam, fühlte sie sich besser. Nicht gut, stellte sie fest, nur besser.

Fünfundvierzig Minuten später saß sie an ihrem Schreibtisch. Ihre Sekretärin Annie kam ganz aufgeregt herein. »Raten Sie mal«, sagte sie.

»Nicht heute morgen«, wimmerte Catherine. »Seien Sie nett und sprechen Sie leise.«

»Schauen Sie sich das an!« Annie schob ihr die Morgenzeitung hin. »Das ist er.«

Auf der Titelseite befand sich eine Fotografie von Larry Douglas in Uniform, der sie frech angrinste. Die Unterschrift lautete:

AMERIKANISCHER RAF-HELD KEHRT NACH WASHINGTON ZURÜCK, UM NEUE KAMPFEINHEIT AUSZUBILDEN.

Dem folgte ein Bericht über zwei Spalten.

»Ist das nicht aufregend?« schrie Annie.

»Schrecklich«, sagte Catherine. Sie knallte die Zeitung in den Papierkorb. »Können wir mit unserer Arbeit weitermachen?«

Annie blickte sie erstaunt an. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich dachte, da er ein Freund von Ihnen ist, würde es Sie interessieren.«

»Er ist kein Freund von mir«, verbesserte Catherine. »Er ist eher ein Feind.« Sie sah den Ausdruck auf Annies Gesicht. »Könnten wir einfach an was anderes als an Mr. Douglas denken?«

»Gewiss«, sagte Annie bestürzt. »Ich sagte ihm, Sie würden sich sicherlich freuen.«

Catherine starrte sie an. »Wann?«

»Als er heute morgen anrief. Er hat dreimal angerufen.«

Catherine wappnete sich und versuchte, ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. »Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«

»Sie hatten mir die Anweisung gegeben, es Ihnen nicht zu sagen, wenn er anriefe.« Sie beobachtete Catherine verwirrt.

»Hat er eine Nummer hinterlassen?«

»Nein.«

»Gut.« Catherine dachte an sein Gesicht, an diese großen dunklen, spöttischen Augen. »Gut«, sagte sie noch einmal, diesmal mit fester Stimme. Sie diktierte einige Briefe zu Ende, und als Annie das Zimmer verlassen hatte, ging Catherine zum Papierkorb und fischte die Zeitung wieder heraus. Sie las den Artikel über Larry Wort für Wort. Er war ein Flieger-As und hatte acht deutsche Maschinen auf seiner Abschussliste. Er war selbst zweimal über dem Kanal abgeschossen worden. Sie drückte auf den Telefonknopf. »Falls Mr. Douglas noch einmal anruft, will ich ihn .sprechen.«

Es gab nur eine winzige Pause. »Ja, Miss Alexander.«

Schließlich war es unsinnig, unhöflich zu dem Mann zu sein. Catherine würde sich einfach für ihr Benehmen im Studio entschuldigen und ihn bitten, sie nicht mehr anzurufen. Sie würde William Fräser heiraten.

Sie wartete den ganzen Nachmittag auf einen weiteren Anruf von ihm. Um sechs Uhr hatte er noch nicht angerufen. Warum sollte er auch? fragte sich Catherine. Er ist aus und legt sechs andere Mädchen aufs Kreuz. Du hast noch Glück. Sich mit ihm einzulassen wäre, als ginge man in einen Fleischerladen. Da bekommt man eine Nummer und wartet, bis man dran ist.

Beim Hinausgehen sagte sie zu Annie: »Wenn Mr. Douglas morgen anruft, sagen Sie ihm, ich bin nicht da.«

Annie zuckte nicht mit der Wimper. »Ja, Miss Alexander. Guten Abend.«

»Guten Abend.«

Catherine fuhr in Gedanken verloren mit dem Lift hinunter. Sie war sicher, dass Bill Fräser sie heiraten wollte. Am besten wäre es, wenn sie ihm sagte, dass sie sofort heiraten wollte. Sie würde es ihm heute Abend sagen. Sie würden ihre Hochzeitsreise machen, und bei ihrer Rückkehr wäre Larry Douglas nicht mehr da.

Die Aufzugstür öffnete sich zur Eingangshalle, und da stand Larry Douglas an die Wand gelehnt. Er hatte seine Orden und Schulterstücke abgenommen und trug die Streifen eines Leutnants. Er ging lächelnd auf sie zu.

»Besser so?« fragte er strahlend.

Catherine starrte ihn mit klopfendem Herzen an. »Ist es nicht – ist es nicht gegen die Vorschriften, falsche Rangabzeichen zu tragen?«

»Das weiß ich nicht«, sagte er ernsthaft. »Ich dachte, Sie hätten das zu bestimmen.«

Er stand da und blickte auf sie nieder, und sie sagte mit schwacher Stimme: »Tun Sie mir das nicht an. Ich will, dass Sie mich in Ruhe lassen. Ich gehöre Bill.«

»Wo ist Ihr Ehering?«

Catherine eilte an ihm vorbei auf den Ausgang zu. Als sie ihn erreichte, war er schon da und hielt ihr die Tür auf.

Draußen nahm er ihren Arm. Es zuckte wie ein Schlag durch ihren ganzen Körper. Es ging von ihm eine Elektrizität aus, die sie versengte. »Cathy«, begann er.

»Um Gottes willen«, sagte sie verzweifelt. »Was wollen Sie von mir?«

»Alles«, sagte er ruhig. »Ich will Sie.«

»Nun, Sie können mich nicht haben«, rief sie klagend. »Quälen Sie eine andere.« Sie wollte gehen, aber er zog sie zurück.

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Catherine, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich weiß nicht, was ich sage. Ich – ich habe einen Katzenjammer. Ich will sterben.«

Er lächelte sie teilnehmend an. »Ich habe eine wunderbare Kur für Katzenjammer.« Er steuerte sie auf die Garage des Gebäudes zu.

»Wo gehen wir hin?« fragte sie in panischer Angst.

»Wir holen meinen Wagen.«

Catherine blickte zu ihm auf und suchte in seinen Zügen nach einem Zeichen von Triumph, aber alles, was sie sah, war sein kraftvolles, unglaublich schönes Gesicht, das von Wärme und Mitgefühl erfüllt war.

Der Parkwächter fuhr ein braunes Sportkabriolett mit offenem Verdeck heran. Larry half Catherine in den Wagen und schlüpfte hinter das Lenkrad. Sie saß da, blickte gerade vor sich hin, wusste, dass sie im Begriff war, ihr ganzes Leben wegzuwerfen, und war völlig unfähig, etwas dagegen zu tun. Es war, als ob all dies jemand anderem zustieß. Sie hätte am liebsten dem albernen, haltlosen Mädchen im Wagen geraten zu fliehen.

»Zu Ihnen oder zu mir?« fragte Larry sanft.

Sie schüttelte den Kopf. »Ist ganz egal«, sagte sie resigniert.

»Dann zu mir.«

Er war also doch nicht ganz unempfindlich. Oder er hatte Angst davor, sich mit dem Schatten William Fräsers zu messen.

Sie beobachtete ihn, wie er gewandt den Wagen durch den Verkehr des frühen Abends lenkte. Nein, er hatte vor nichts Angst. Das war ein Teil seiner verdammten Anziehungskraft.

Sie versuchte sich einzureden, dass sie die Freiheit hatte, nein zu sagen, die Freiheit wegzugehen. Wie konnte sie William Fräser lieben und solche Gefühle für Larry empfinden?

»Wenn es ein bisschen hilft«, sagte Larry ruhig, »ich bin genauso nervös wie Sie.«

Catherine blickte zu ihm hinüber. »Danke«, sagte sie. Natürlich log er. Er sagte das wahrscheinlich zu allen seinen Opfern, wenn er sie ins Bett nahm. Aber wenigstens war er nicht hämisch. Was sie am meisten quälte, war, dass sie Bill Fräser betrog. Er war ein zu lieber Mensch, um ihm weh zu tun, und dies würde ihn sehr verletzen. Catherine wusste es und wusste, dass sie falsch und sinnlos handelte, aber es war, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr.

Sie waren in einer freundlichen Villengegend mit großen schattigen Bäumen längs der Straße angelangt. Larry hielt vor einem Apartmenthaus. »Wir sind da«, sagte er ruhig.

Catherine wusste, dass dies ihre letzte Chance war, nein zu sagen, ihn aufzufordern, sie in Ruhe zu lassen. Sie sah schweigend zu, wie Larry um den Wagen herumging und die Tür öffnete. Sie stieg aus und ging in sein Apartmenthaus.

Larrys Apartment war für einen Mann eingerichtet. Es hatte kräftige, gediegene Farben und Möbel nach männlichem Geschmack.

Als sie eintraten, nahm Larry Catherine den Mantel ab, und sie fröstelte.

»Ist dir kalt?« fragte er.

»Nein.«

»Möchtest du einen Drink?«

»Nein.«

Er nahm sie zärtlich in die Arme, und sie küssten sich. Es war, als ob ihr Körper in Flammen stünde. Wortlos führte Larry sie in sein Schlafzimmer. Die Spannung wuchs ins Unerträgliche, als sie sich schweigend auszogen. Sie lag nackt auf dem Bett, und er legte sich neben sie.

»Larry«, aber seine Lippen drückten sich auf die ihren, seine Hände begannen, über ihren Körper zu streichen und sie sanft abzutasten, sie vergaß alles über der Wonne, die sie empfand, und ihre Hände begannen nach ihm zu greifen. Und sie fühlte ihn heiß, hart und zuckend neben sich, und seine Finger waren in ihr, öffneten sie sanft und liebevoll, und er war über ihr und in ihr, und sie empfand ein so großes Entzücken, wie sie es nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätte; und dann waren sie zusammen, bewegten sich schneller und schneller in einem wunderbaren Rhythmus, der den ganzen Raum und die Welt und das Universum ergriff, und dann die Explosion, die zu einer Ekstase wie im Delirium führte, eine unglaublich erschütternde Reise, ein Ankommen und Abreisen, ein Ende und ein Anfang, und Catherine lag ermattet und betäubt da, klammerte sich fest an ihn, wollte ihn nie wieder loslassen und wünschte, dass dieses Gefühl ewig dauerte. Nichts, was sie je gelesen oder gehört hatte, hätte sie auf dies vorbereiten können. Es war unglaublich, dass der Körper eines anderen Menschen einem solches Entzücken bringen konnte. Sie lag in Frieden da: eine Frau. Und sie wusste, auch wenn sie ihn niemals wieder sehen sollte, wäre sie ihm für den Rest ihres Lebens dankbar.

»Cathy?«

Sie wandte sich langsam und träge um und blickte ihn an. »Ja?« Sogar ihre Stimme schien ihr tiefer, reifer.

»Könntest du deine Nägel aus meinem Rücken nehmen?«

Sie merkte plötzlich, dass sie ihre Nägel in sein Fleisch gekrallt hatte. »Oh, es tut mir leid!« rief sie aus. Sie tastete seinen Rücken ab, aber er griff nach ihren Händen und zog sie an sich.

»Es macht nichts. Bist du glücklich?«

»Glücklich?« Ihre Lippen zitterten, und zu ihrem Entsetzen begann sie zu heulen. Heftige Schluchzer, die ihren Körper erschütterten. Er hielt sie in seinen Armen, streichelte sie beruhigend und ließ den Sturm von selbst abflauen.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß nicht, weshalb ich das tat.«

»Enttäuschung?«

Catherine blickte ihn schnell an, um zu protestieren, aber dann sah sie, dass er sie neckte. Er nahm sie in seine Arme, und sie liebten sich von neuem. Es war noch unglaublicher als vorher. Nachher lagen sie im Bett, und er sprach, aber sie hörte ihm nicht zu. Alles, was sie hören wollte, war der Klang seiner Stimme, und es war unwichtig, was er sagte. Sie wusste, es würde für sie nie wieder einen anderen Mann geben als diesen. Und sie wusste, dass dieser Mann niemals einer Frau allein gehören konnte, dass sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würde, dass sie nur eine Eroberung mehr für ihn bedeutete. Sie merkte, dass er verstummt war und sie prüfend ansah.

»Du hast nicht ein Wort gehört, was ich sagte.«

»Verzeih«, sagte sie. »Ich habe mit offenen Augen geträumt.«

»Ich sollte eigentlich beleidigt sein«, sagte er vorwurfsvoll. »Du hast nur Interesse für meinen Körper.«

Sie ließ ihre Hände über seine straffe, gebräunte Brust und seinen Leib gleiten. »Ich bin nicht erfahren«, sagte sie, »aber ich denke, der hier genügt vollkommen.« Sie lächelte. »Er hat vollkommen genügt.« Sie wollte ihn fragen, ob es ihm mit ihr gefallen hätte, aber sie hatte Angst davor.

»Du bist schön, Cathy.«

Es erregte sie, ihn das sagen zu hören, aber gleichzeitig ärgerte sie sich darüber. Alles, was er zu ihr sagte, hatte er tausendmal zu anderen Frauen gesagt. Sie fragte sich, wie er sich von ihr verabschieden würde. Ruf mich mal an? Oder: Ich werde dich mal anrufen? Vielleicht würde er sie sogar einoder zweimal wieder sehen wollen, bevor er zu einer anderen ging. Gut, es war ausschließlich ihre eigene Schuld. Sie hatte gewusst, in was sie sich einließ. Ich bin in diese Geschichte mit weit offenen Augen und Beinen hineingelaufen. Was auch immer geschieht, ich darf ihm keine Schuld geben.

Er schlang seine Arme um sie und hielt sie fest an sich gedrückt.

»Weißt du, dass du ein ganz besonderes Mädchen bist, Cathy?«

Weißt du, dass du ein ganz besonderes Mädchen bist – Alice, Susan, Margaret, Peggy, Lana?

»Ich fühlte es beim ersten Mal, als ich dich sah. Ich habe bei niemandem vorher dieses Gefühl gehabt.«

Janet, Evelyn, Ruth, Georgia, ad infinitum. Sie grub ihren Kopf an seine Brust, wagte nicht zu sprechen und hielt ihn eng umschlungen, während sie ihm still adieu sagte.

»Ich bin hungrig«, sagte Larry. »Weißt du, worauf ich Lust habe?«

Catherine lächelte. »Ja, sicher weiß ich das.«

Larry grinste auf sie hinunter. »Weißt du was?« sagte er. »Du bist liebestoll.«

Sie blickte auf. »Danke.«

Er führte sie unter die Dusche und drehte sie auf. Er nahm eine Duschkappe von einem Haken an der Wand, streifte sie Catherine über und schob ihr Haar darunter. »Komm«, sagte er und zog sie unter den scharfen Wasserstrahl. Er nahm ein Stück Seife und begann sie zu waschen; er fing beim Hals an, seifte ihre Arme ein, kreiste langsam um ihre Brüste, glitt dann zu ihrem Bauch und ihren Schenkeln hinab. Sie begann, Erregung in ihren Lenden zu verspüren, nahm ihm die Seife aus der Hand und fing an, ihn zu waschen, seifte ihm Brust und Bauch ein, bis sie zwischen seine Beine gelangte. Sein Glied in ihrer Hand wurde hart.

Er öffnete ihre Beine und drängte seine männliche Härte in sie, und Catherine war wieder außer sich, sie ertrank in einem Sturzbach von Wasser, der gegen ihren Körper schlug, während sie aufs neue von unerträglichem Glück erfüllt war, bis sie vor reiner Lust laut aufschrie.

Nachher zogen sie sich an, stiegen in sein Auto und fuhren nach Maryland, wo sie ein kleines Restaurant fanden, das noch offen war, und sie aßen Hummer und tranken Champagner.

Um fünf Uhr morgens wählte Catherine William Fräsers Privatnummer, stand da und horchte auf das aus achtzig Meilen Entfernung kommende Klingelzeichen, bis endlich Fräsers schläfrige Stimme am Telefon zu vernehmen war: »Hallo ...«

»Hallo, Bill. Hier ist Catherine.«

»Catherine! Ich habe den ganzen Abend versucht, dich zu erreichen. Wo steckst du? Ist alles in Ordnung?«

»Mir geht es gut. Ich bin in Maryland mit Larry Douglas. Wir haben gerade geheiratet.«

Noelle

Paris 1941

Christian Barbet war ein unglücklicher Mann. Der kahlköpfige kleine Detektiv saß an seinem Schreibtisch, eine Zigarette zwischen seinen fleckigen, schadhaften Zähnen, und betrachtete trübselig die vor ihm liegende Mappe. Die Information, die sie enthielt, würde ihn eine Klientin kosten. Er hatte Noelle Page unverschämte Honorare für seine Dienste berechnet, aber es war nicht nur der Verlust dieser Einkünfte, was ihn traurig machte: Er würde die Klientin selbst vermissen. Er hasste Noelle Page, und trotzdem war sie die faszinierendste Frau, die ihm je vorgekommen war. Barbet dachte sich aufregende Geschichten mit Noelle Page aus, die immer damit endeten, dass sie in seiner Macht war. Jetzt würde der Auftrag enden, nie würde er sie wieder sehen. Er hatte sie im Empfangsraum warten lassen und währenddessen versucht sich auszudenken, wie er wohl den Fall hinausziehen könnte, um zusätzliches Geld aus ihr herauszupressen. Aber er kam widerwillig zu der Erkenntnis, dass es keinen Weg gab. Barbet seufzte, drückte seine Zigarette aus, ging auf die Tür zu und öffnete sie. Noelle saß auf dem schwarzen Sofa aus Kunstleder, und als er sie prüfend ansah, stockte sein Herz einen Augenblick. Es war unfair von einer Frau, so schön zu sein. »Guten Tag, Mademoiselle«, sagte er. »Kommen Sie herein.«

Sie betrat sein Büro mit der Grazie eines Mannequins. Es war gut für Barbet, eine so berühmte Klientin wie Noelle Page zu haben, und er ließ es sich nicht entgehen, ihren Namen häufig zu erwähnen. Das zog andere Klienten an, und Christian Barbet war nicht der Mann, der moralischer Grundsätze wegen schlaflose Nächte verbrachte. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er und wies auf einen Stuhl. »Wollen Sie einen Brandy, einen

Aperitif?«

Eine seiner phantastischen Vorstellungen war, Noelle so betrunken zu machen, dass sie ihn anflehte, sie zu verführen.

»Nein«, erwiderte sie. »Ich kam wegen des Berichtes.«

Das Luder hätte wenigstens einen letzten Drink mit ihm nehmen können! »Ja«, sagte Barbet. »Ich habe tatsächlich einige Neuigkeiten.« Er griff zum Schreibtisch hinüber und tat, als ob er die Akte studierte, obwohl er sie bereits auswendig kannte.

»Erstens«, informierte er sie, »wurde Ihr Freund zum Hauptmann befördert und in die Staffel 133 versetzt, deren Kommando ihm übertragen wurde. Das Flugfeld befindet sich in Coltisall, Duxtford, in Cambridgeshire. Sie flogen« – er sprach absichtlich langsam, da er wusste, dass sie an den technischen Details nicht interessiert war -»Hurricanes und Spitfires II und wechselten dann zu Marks V über. Dann flogen sie«

»Schon gut«, unterbrach ihn Noelle ungeduldig. »Wo ist er jetzt?«

Barbet hatte auf diese Frage gewartet. »In den Vereinigten Staaten.« Er sah ihre Reaktion, bevor sie sich wieder in der Gewalt hatte, und verspürte eine wilde Genugtuung darüber. »In Washington, D. C«, fuhr er fort.

»Auf Urlaub?«

Barbet schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist nicht mehr in der RAF. Er ist jetzt Hauptmann in der Luftwaffe der Vereinigten Staaten.«

Er beobachtete, wie Noelle die Information aufnahm, wobei ihrem Ausdruck nicht zu entnehmen war, was sie dachte. Aber Barbet war noch nicht fertig. Er nahm einen Zeitungsausschnitt zwischen seine fleckigen Wurstfinger und überreichte ihn ihr.

»Ich glaube, das wird Sie interessieren«, sagte er.

Er sah Noelle erstarren, es war fast, als wüsste sie, was sie zu lesen bekommen würde. Der Zeitungsausschnitt stammte aus der New York Daily News. Die Schlagzeile lautete: »Flieger-As heiratet«, und darüber war eine Fotografie von Larry Douglas und seiner Frau. Noelle blickte sie lange an, dann streckte sie die Hand nach der Mappe aus. Christian Barbet zuckte die Schultern, schob alle Papiere in einen Geschäftsumschlag und übergab ihn ihr. Als er den Mund öffnete, um seine Abschiedsrede zu halten, sagte Noelle Page: »Falls Sie keinen Korrespondenten in Washington haben, besorgen Sie sich einen. Ich erwarte von Ihnen wöchentliche Berichte.« Und weg war sie, während ihr Christian Barbet in einem Zustand totaler Verwirrung nachstarrte.

Als sie in ihrer Wohnung angekommen war, ging Noelle ins Schlafzimmer, verschloss die Tür und nahm die Zeitungsausschnitte aus dem Umschlag. Sie breitete sie auf dem Bett vor sich aus und studierte sie. Die Fotografie von Larry war genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Womöglich war das Bild in ihrem Gedächtnis noch klarer als die Abbildung in der Zeitung, denn Larry war lebendiger in ihrer Erinnerung als in der Wirklichkeit.

Es gab keinen Tag, an dem Noelle nicht die Vergangenheit mit ihm wieder durchlebte. Es war, als ob sie vor langer Zeit zusammen in dem gleichen Stück aufgetreten wären, und sie konnte sich nach Belieben bestimmte Szenen ins Gedächtnis rufen, die sie an dem und dem Tag spielte, und andere Szenen für andere Tage aufsparen, so dass jede Erinnerung immer lebendig und frisch war.

Noelle wandte ihre Aufmerksamkeit Larrys Frau zu. Was sie sah, war ein hübsches junges, intelligentes Gesicht mit einem Lächeln auf den Lippen.

Das Gesicht des Feindes. Ein Gesicht, das zu vernichten war, genauso wie Larry vernichtet werden müsste.

Noelle sperrte sich den ganzen Nachmittag mit der Fotografie ein.

Stunden später, als Armand Gautier an ihre Schlafzimmertür trommelte, sagte sie ihm, er solle verschwinden. Er wartete draußen im Salon, besorgt über ihre Stimmung, aber als Noelle endlich auftauchte, schien sie ungewöhnlich strahlend und heiter, als ob sie eine gute Nachricht erhalten hätte. Sie gab Gautier keine Erklärung, und er kannte sie gut genug, um keine von ihr zu erbitten.

Am selben Abend nach dem Theater liebte sie ihn mit einer Leidenschaft, die ihn an die ersten Tage ihrer Beziehungen erinnerte. Später lag Gautier im Bett und versuchte, das schöne Mädchen zu begreifen, das neben ihm lag, aber ihm fehlte der Schlüssel.

In der Nacht träumte Noelle Page von Oberst Müller. Der haarlose Gestapo-Offizier folterte sie mit einem Brandeisen, mit dem er Hakenkreuze in ihr Fleisch brannte. Er stellte ihr dabei unaufhörlich Fragen, aber seine Stimme war so leise, dass Noelle ihn nicht hören konnte; er drückte ihr immerfort das heiße Metall auf, und plötzlich war es Larry, der da auf dem Tisch lag und vor Schmerz schrie. Noelle erwachte schweißgebadet mit Herzklopfen und knipste die Nachttischlampe an. Sie zündete mit zitternden Fingern eine Zigarette an und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Sie dachte über Israel Katz nach. Sein Bein war mit einer Axt amputiert worden, und obwohl sie ihn seit jenem Nachmittag in der Bäckerei nicht mehr gesehen hatte, wusste sie durch den Concierge, dass er am Leben, aber in sehr schwachem Zustand sei. Es wurde immer schwieriger, ihn zu verstecken, und sich selbst überlassen, war er völlig hilflos. Die Suche nach ihm war noch intensiver geworden. Wenn man ihn aus Paris hinaustransportieren wollte, musste das schnell geschehen. Noelle hatte wirklich nichts getan, wofür die Gestapo sie verhaften könnte – noch nicht. War der Traum eine Vorahnung, eine Warnung, Israel Katz nicht zu helfen? Sie lag im Bett und erinnerte sich, wie er ihr bei ihrer Abtreibung beigestanden hatte. Er hatte ihr geholfen, Larrys Baby umzubringen. Er hatte ihr Geld gegeben und ihr eine Stellung verschafft. Dutzende von Männern hatten viel wichtigere Dinge für sie getan als er, und doch fühlte sie sich ihnen gegenüber nicht verpflichtet. Jeder von ihnen, auch Noelles Vater, hatte etwas von ihr gewollt, und sie hatte für alles bezahlt, was sie je erhalten hatte. Israel Katz hatte nie etwas von ihr gewollt. Sie musste ihm helfen.

Noelle unterschätzte das Problem nicht. Oberst Müller verdächtigte sie bereits. Sie dachte an ihren Traum und schauderte. Sie musste dafür sorgen, dass Müller niemals einen Beweis gegen sie erbringen könnte. Israel Katz musste aus Paris hinausgeschmuggelt werden, aber wie? Noelle wusste mit Bestimmtheit, dass alle Ausfahrten scharf bewacht waren. Sie würden die Straßen und den Fluss überwachen. Die Nazis mochten cochons sein, aber sie waren tüchtige cochons. Es war ein Risiko, und es konnte ein tödliches sein, aber sie war entschlossen, es zu versuchen. Das Problem war, dass sie sich an niemanden um Hilfe wenden konnte. Die Nazis hatten Armand Gautier zu einem Wackelpudding gemacht. Nein, sie musste es allein tun. Sie dachte an Oberst Müller und General Scheider: Wer von den beiden würde den Sieg davontragen, wenn es je zu einem Zusammenstoß zwischen ihnen käme?

Am Abend nach Noelles Traum war sie mit Armand Gautier zu einer Dinnerparty eingeladen. Der Gastgeber war Leslie Rocas, ein reicher Mäzen der Kunstwelt. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft – Bankiers, Künstler, führende Politiker und eine Menge schöner Frauen, die Noelles Meinung nach vorwiegend wegen der anwesenden Deutschen eingeladen waren. Gautier hatte Noelles Unruhe bemerkt, aber als er sie fragte, ob etwas nicht stimme, sagte sie, es sei alles in Ordnung.

Fünfzehn Minuten bevor das Abendessen serviert wurde, polterte ein verspäteter Gast durch die Tür. Als Noelle ihn sah, wusste sie sogleich, dass ihr Problem der Lösung nahe war. Sie ging auf die Dame des Hauses zu und sagte: »Meine Liebe, seien Sie ein Engel und setzen Sie mich neben Albert Heller.«

Albert Heller war Frankreichs führender Bühnenautor. Er war ein riesiger watschelnder Bär von einem Mann, um die Sechzig, mit einem weißen Haarschopf und breiten, abfallenden Schultern. Für einen Franzosen war er ungewöhnlich groß, aber auf jeden Fall wäre er in der Menge aufgefallen, denn er hatte ein bemerkenswert hässliches Gesicht und durchdringende grüne Augen, denen nichts entging. Heller besaß eine lebhafte Erfindungsgabe und hatte über zwanzig Erfolgsstücke und Drehbücher geschrieben. Er hatte Noelle dazu bewegen wollen, die Hauptrolle in einem seiner neuen Stücke zu übernehmen, und hatte ihr eine Abschrift des Manuskripts gesandt. Als sie jetzt beim Essen neben ihm saß, sagte Noelle: »Ich habe gerade Ihr neues Stück zu Ende gelesen, Albert. Ich finde es wunderbar.«

Sein Gesicht strahlte auf. »Werden Sie die Rolle spielen?«

Noelle legte ihre Hand auf die seine. »Wenn ich nur könnte, mein Lieber. Armand hat mich für ein anderes Stück verpflichtet.«

Er runzelte die Stirn und seufzte dann resigniert. »Merde! Gut, eines Tages werden wir doch zusammen arbeiten.«

»Das würde mich sehr freuen«, sagte Noelle. »Ich liebe Ihre Art zu schreiben. Es fasziniert mich, wie die Schriftsteller Handlungen erfinden. Ich weiß nicht, wie Sie das anstellen.«

Er zuckte die Schultern. »Auf dieselbe Weise, wie Sie spielen. Es ist unser Handwerk, mit dem wir unser Brot verdienen.«

»Nein«, erwiderte sie. »Die Fähigkeit, Ihre Phantasie auf diese Weise anzuwenden, erscheint mir wie ein Wunder.« Sie lachte verlegen. »Ich weiß es. Ich habe zu schreiben versucht.«

»Oh?« sagte er höflich.

»Ja, aber ich bin festgefahren.« Noelle holte tief Atem und blickte dann um sich. Die anderen Gäste waren ganz in ihre Unterhaltung vertieft. Sie neigte sich zu Albert Heller und senkte die Stimme. »Ich habe da eine Situation, in der meine

Heldin versucht, ihren Liebhaber aus Paris hinauszu-schmuggeln. Die Nazis sind hinter ihm her.«

»Ah.« Der schwerfällige Mann saß da, spielte mit seiner Salatgabel und trommelte mit ihr auf den Teller. Dann sagte er: »Ich hab's. Lassen Sie ihn eine deutsche Uniform anziehen und einfach an ihnen vorbeimarschieren.«

Noelle seufzte und sagte: »Es gibt da eine Komplikation. Er ist verwundet und kann nicht gehen. Er hat ein Bein verloren.«

Das Trommeln hörte plötzlich auf. Es kam eine lange Pause, dann sagte Heller: »Ein Boot auf der Seine?«

»Überwacht.«

»Und wird jedes Transportmittel, das Paris verlässt, durchsucht?«

»Ja.«

»Dann müssen Sie schon die Nazis diese Arbeit für Sie tun lassen.«

»Wie?«

»Ist Ihre Heldin«, fragte er, ohne Noelle anzublicken, »attraktiv?«

»Ja.«

»Nehmen wir an«, sagte er, »Ihre Heldin steht mit einem deutschen Offizier auf freundschaftlichem Fuß. Jemand von hohem Rang. Ist das möglich?« Noelle wandte sich um und sah ihn an, aber er wich ihrem Blick aus.

»Ja.«

»Gut. Dann soll sie sich mit dem deutschen Offizier verabreden. Sie fahren weg, um ein Wochenende irgendwo außerhalb von Paris zu verbringen. Freunde könnten es einrichten, dass Ihr Held im Kofferraum des Autos versteckt wird. Der Offizier muss von so hohem Rang sein, dass sein Auto nicht durchsucht würde.«

»Wenn der Kofferraum abgeschlossen ist«, fragte Noelle, »wird er nicht ersticken?«

Albert Heller trank einen Schluck Wein, still und in Gedanken versunken. Endlich sagte er: »Nicht unbedingt.« Er sprach fünf Minuten mit gesenkter Stimme auf Noelle ein, und als er fertig war, sagte er: »Viel Glück!« Und blickte sie immer noch nicht an.

Früh am nächsten Morgen rief Noelle General Scheider an. Eine Telefonistin bediente die Zentrale, und ein paar Minuten später war Noelle mit einem Adjutanten und schließlich mit dem Sekretär des Generals verbunden.

»Bitte, wer wünscht General Scheider zu sprechen?«

»Noelle Page«, sagte sie zum dritten Mal.

»Ich bedauere, aber der General ist in einer Besprechung. Er darf nicht gestört werden.«

Sie zögerte. »Kann ich ihn später noch einmal anrufen?«

»Er wird den ganzen Tag Sitzungen haben. Ich rate Ihnen, dem General einen Brief zu schreiben, in dem Sie ihm Ihre Angelegenheit darlegen.«

Noelle saß einen Moment da und überlegte, und ein ironisches Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Schon gut«, sagte sie. »Richten Sie ihm nur aus, dass ich angerufen habe.«

Eine Stunde später klingelte ihr Telefon, es war General Hans Scheider. »Verzeihen Sie«, entschuldigte er sich. »Der Idiot hat mir erst jetzt Ihren Anruf ausgerichtet. Ich hätte Anweisung gegeben, Sie sofort mit mir zu verbinden, aber es kam mir nicht in den Sinn, dass Sie anrufen würden.«

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Noelle. »Ich weiß doch, wie beschäftigt Sie sind.«

»Bitte. Was kann ich für Sie tun?«

Noelle zögerte und wählte sorgfältig ihre Worte. »Erinnern Sie sich, was Sie über uns beide beim Abendessen sagten?«

Es folgte eine kurze Pause, dann: »Ja.«

»Ich habe sehr viel über Sie nachgedacht, Hans. Ich würde Sie sehr gerne wieder sehen.«

»Wollen Sie heute mit mir soupieren?« Seine Stimme war plötzlich voll Ungeduld.

»Nicht in Paris«, antwortete Noelle. »Wenn wir zusammen sein wollen, dann lieber außerhalb von Paris.«

»Wo?« fragte General Scheider.

»Ich denke da an einen ganz besonderen Ort. Kennen Sie Etretat?«

»Nein.«

»Es ist ein wunderhübsches kleines Dorf, ungefähr hundert-fünfundachtzig Kilometer von Paris entfernt, in der Nähe von Le Havre. Es gibt einen ruhigen alten Gasthof da.«

»Es klingt wundervoll, Noelle. Es ist nicht leicht für mich, gerade jetzt die Stadt zu verlassen«, fügte er bedauernd hinzu. »Ich bin mitten in«

»Ich verstehe«, unterbrach ihn Noelle eisig, »vielleicht ein andermal.«

»Warten Sie!« Es folgte eine lange Pause. »Wann könnten Sie sich freimachen?«

»Samstag Abend nach der Vorstellung.«

»Ich werde es arrangieren«, sagte er. »Wir können hinfliegen«

»Warum fahren wir nicht mit dem Auto?« fragte Noelle. »Es ist so viel hübsche r.«

»Wie Sie wollen. Ich werde Sie vom Theater abholen.«

Noelle dachte schnell nach. »Ich muss zuerst nach Hause und mich umziehen. Könnten Sie mich in meinem Appartement abholen?«

»Wie Sie wünschen, mein Liebchen. Bis Samstag Abend.«

Fünfzehn Minuten später sprach Noelle mit ihrem Concierge. Er hörte ihr zu, schüttelte jedoch heftig protestierend den Kopf.

»Nein, nein, nein! Ich werde es unserem Freund sagen, Mademoiselle, aber er wird es nicht tun. Er müsste ein Narr sein! Sie könnten ihn ebenso gut bitten, sich im Gestapohauptquartier um eine Stelle zu bewerben.«

»Es kann nicht misslingen«, versicherte Noelle. »Das beste

Gehirn in Frankreich hat es sich ausgedacht.«

Am gleichen Nachmittag sah sie beim Verlassen ihres Hauses einen Mann, der, an die Wand gelehnt, sich den Anschein gab, als wäre er in eine Zeitung vertieft. Als Noelle in die klare Winterluft hinaustrat, richtete sich der Mann auf und folgte ihr in diskretem Abstand. Noelle schlenderte langsam und gemächlich die Straße entlang und blieb vor allen Schaufenstern stehen.

Fünf Minuten nachdem Noelle das Haus verlassen hatte, kam der Concierge heraus, schaute nach allen Seiten, um sicher zu sein, dass er nicht beobachtet wurde, rief ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse eines Sportgeschäfts in Montmartre.

Zwei Stunden später berichtete der Concierge Noelle: »Er wird Samstag Abend zu Ihnen gebracht.«

Samstag Abend, als Noelle ihre Vorstellung beendet hatte, erwartete sie hinter der Bühne Oberst Müller von der Gestapo. Ein Schauer der Angst lief Noelle über den Rücken. Der Fluchtplan war bis auf den Bruchteil einer Sekunde ausgetüftelt, und Verzögerungen hatten darin keinen Platz.

»Ich habe Ihre Vorstellung gesehen, Mademoiselle Page«, sagte Oberst Müller. »Sie werden jedes Mal besser.«

Der Klang seiner leisen, hohen Stimme rief Noelle ihren Traum ins Gedächtnis zurück.

»Ich danke Ihnen, Herr Oberst. Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich muss mich jetzt umziehen.«

Noelle ging auf ihre Garderobe zu, er ging neben ihr her.

»Ich komme mit«, sagte Oberst Müller.

Sie betrat ihre Garderobe, den haarlosen Albino dicht auf den Fersen. Er machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. Noelle zögerte einen Augenblick und begann sich dann auszuziehen, während er ihr gleichgültig zusah. Sie wusste, dass er homosexuell war, und das beraubte sie einer wertvollen Waffe – ihrer sexuellen Anziehungskraft.

»Ein kleiner Spatz flüsterte mir etwas ins Ohr«, sagte Oberst

Müller. »Er wird heute Abend einen Fluchtversuch machen.«

Noelles Herz setzte einen Augenblick aus, aber ihr Gesicht verriet nichts. Sie begann sich abzuschminken und versuchte Zeit zu gewinnen, indem sie fragte: »Wer wird heute Abend einen Fluchtversuch machen?«

»Ihr Freund Israel Katz.«

Noelle drehte sich jäh um, und diese Bewegung brachte ihr plötzlich zum Bewusstsein, dass sie ohne Büstenhalter war. »Ich kenne keinen —« Sie sah das schnelle, triumphierende Aufleuchten in seinen rosa Augen und bemerkte die Falle gerade noch rechtzeitig. »Warten Sie«, sagte sie, »sprechen Sie von einem jungen Assistenzarzt?«

»Ah, Sie erinnern sich also an ihn!«

»Kaum. Er behandelte mich vor einiger Zeit wegen einer Lungenentzündung.«

»Und wegen einer selbst herbeigeführten Abtreibung«, sagte Oberst Müller mit seiner leisen, hohen Stimme. Furcht erfüllte sie wieder. Die Gestapo hätte sich nicht solche Mühe gegeben, wenn sie nicht mit Sicherheit wüsste, dass sie in die Sache verwickelt war. Sie war eine Närrin, sich in so etwas eingelassen zu haben; aber bei diesem Gedanken war ihr klar, dass es zu spät zum Rückzug war. Die Räder hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, und in ein paar Stunden würde Israel Katz entweder frei... oder tot sein. Und sie ?

Oberst Müller sagte gerade: »Sie behaupteten, Sie hätten Katz zum letzten Mal vor ein paar Wochen in dem Cafe gesehen.«

Noelle schüttelte den Kopf. »Ich habe nie so etwas gesagt, Oberst.«

Oberst Müller blickte ihr fest in die Augen und ließ den Blick dann unverschämt über ihre nackten Brüste und an ihrem Körper hinunter bis zu ihrem durchsichtigen Höschen gleiten. »Ich liebe schöne Dinge«, sagte er sanft. »Es wäre eine Schande, eine Schönheit wie die Ihre zerstört zu sehen. Und all das für einen Mann, der Ihnen nichts bedeutet. Auf welche Weise beabsichtigt Ihr Freund zu entkommen, Mademoiselle?«

Seine Stimme war von einer Ruhe, die ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. Sie wurde zu Annette, der unschuldigen, hilflosen Person in ihrem Stück.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen, Oberst. Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«

Oberst Müller blickte Noelle lange an, dann erhob er sich förmlich. »Ich werde es Ihnen beibringen, Mademoiselle«, versprach er ihr sanft, »und es wird mir Spaß machen.«

An der Tür drehte er sich um und spielte seinen letzten Trumpf aus. »A propos, ich habe General Scheider geraten, nicht mit Ihnen übers Wochenende wegzufahren.«

Noelle fühlte, wie ihr Herz bleischwer wurde. Es war zu spät, Israel Katz zu erreichen. »Stecken Obersten immer ihre Nase in das Privatleben von Generalen?«

»In diesem Falle nicht«, sagte Oberst Müller bedauernd. »General Scheider beabsichtigt, sein Rendezvous einzuhalten.« Er drehte sich um und ging hinaus.

Noelle starrte ihm nach, ihr Herz klopfte wie wild. Sie blickte auf die goldene Uhr auf ihrem Frisiertisch und begann, sich schnell anzukleiden.

Um elf Uhr fünfundvierzig rief der Concierge an und sagte Noelle, General Scheider sei gerade im Aufzug auf dem Weg zu ihrem Appartement. Seine Stimme zitterte.

»Ist sein Chauffeur im Wagen geblieben?« fragte Noelle.

»Nein, Mademoiselle«, erwiderte der Concierge mit Nachdruck. »Er fährt zusammen mit dem General hinauf.«

»Danke.«

Noelle legte den Hörer des Haustelefons auf und eilte ins Schlafzimmer, um ihr Gepäck noch einmal zu überprüfen. Sie durfte keinen Fehler machen. Die Türglocke läutete, Noelle ging ins Wohnzimmer und öffnete die Tür.

General Scheider stand im Flur, sein Chauffeur, ein junger

Hauptmann, hinter ihm. General Scheider war in Zivil und wirkte sehr distinguiert in seinem tadellos geschnittenen dunkelgrauen Anzug, einem weichen blauen Hemd und einer schwarzen Krawatte. »Guten Abend«, sagte er förmlich. Er trat ein und gab seinem Chauffeur einen Wink.

»Mein Gepäck ist im Schlafzimmer«, sagte Noelle. Sie zeigte auf die Tür.

»Danke, Mademoiselle.« Der Hauptmann ging ins Schlafzimmer. General Scheider ging auf Noelle zu und nahm ihre Hände. »Wissen Sie, dass ich den ganzen Tag an Sie gedacht habe?« fragte er. »Ich dachte, Sie würden vielleicht nicht da sein, hätten es sich anders überlegt. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, bekam ich Angst.«

»Ich pflege meine Versprechen zu halten«, sagte Noelle. Sie sah zu, wie der Hauptmann aus dem Schlafzimmer kam, ihr Schminkköfferchen und ihren Stadtkoffer trug. »Ist das alles?« fragte er.

»Ja«, sagte Noelle. »Das ist alles.«

Der Hauptmann trug die Koffer hinaus.

»Fertig?« fragte General Scheider.

»Wollen wir noch etwas trinken, bevor wir gehen«, erwiderte Noelle schnell. Sie ging auf die Bar zu, auf der eine Flasche Champagner in einem Eiskübel stand.

»Überlassen Sie es mir.« Er trat an den Eiskübel und öffnete die Flasche.

»Worauf sollen wir trinken?« fragte er.

»Auf Etretat.«

Er sah sie einen Moment prüfend an und sagte dann: »Auf Etretat.« Sie stießen an und tranken. Als Noelle ihr Glas abstellte, blickte sie verstohlen auf ihre Armbanduhr. General Scheider redete, aber Noelle hörte nur halb hin. Sie versuchte sich auszumalen, was gerade unten vorging. Sie musste sehr vorsichtig sein. Wenn sie zu schnell oder zu langsam handelte, wäre es verhängnisvoll. Für jedermann.

»Woran denken Sie?« fragte General Scheider.

Noelle wandte sich schnell um. »An nichts.«

»Sie hatten nicht zugehört.«

»Es tut mir leid. Ich glaube, ich dachte an uns.«

»Sie sind mir ein Rätsel«, sagte er.

»Sind nicht alle Frauen ein Rätsel?«

»Nicht wie Sie. Ich hätte nie geglaubt, dass Sie kapriziös sind, und doch« – er machte eine Geste -, »zuerst wollen Sie mich überhaupt nicht sehen, und jetzt verbringen wir plötzlich ein Wochenende auf dem Lande.«

»Tut es Ihnen leid, Hans?«

»Nein, natürlich nicht. Aber trotzdem frage ich mich – warum auf dem Lande?«

»Ich habe Ihnen gesagt, warum.«

»Ach ja«, sagte General Scheider. »Die Romantik. Noch etwas, was mich verblüfft. Ich halte Sie für eine Realistin und keine Romantikerin.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Noelle.

»Nichts«, erwiderte der General ruhig. »Ich dachte nur laut. Ich liebe es, Rätsel zu lösen, Noelle. Mit der Zeit werde ich auch Sie lösen.«

Sie zuckte die Schultern. »Wenn Sie die Lösung einmal haben, dann ist das Problem vielleicht nicht mehr interessant.«

»Das werden wir sehen.« Er stellte sein Glas hin. »Wollen wir gehen?«

Noelle nahm die leeren Champagnergläser.

»Ich stelle sie nur ins Spülbecken«, sagte sie.

General Scheider beobachtete sie, wie sie in die Küche ging. Noelle war eine der schönsten und begehrenswertesten Frauen, die er je gesehen hatte, und er wollte sie besitzen. Das hieß jedoch nicht, dass er dumm oder blind war. Sie wollte etwas von ihm. Oberst Müller hatte ihn gewarnt, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach einen gefährlichen Feind des Reiches unterstützte, und Oberst Müller irrte sich sehr selten. Falls er recht hatte, verließ sich Noelle wohl darauf, dass General Scheider sie auf irgendeine Weise schützen werde. Wenn dem so war, so verstand sie nichts von der deutschen militärischen Denkweise und noch weniger von ihm. Er würde sie ohne mit der Wimper zu zucken der Gestapo übergeben, aber zuerst würde er sein Vergnügen mit ihr haben. Er freute sich auf das Wochenende.

Noelle kam aus der Küche. Ihr Gesicht hatte einen beunruhigten Ausdruck. »Wie viele Gepäckstücke nahm Ihr Chauffeur mit nach unten?« fragte sie.

»Zwei«, erwiderte er. »Einen Stadtkoffer und ein Make-up-Köfferchen.«

Sie zog eine Grimasse. »O du lieber Himmel, es tut mir leid, Hans. Er hat einen Koffer vergessen. Verzeihen Sie mir?«

Er beobachtete, wie Noelle zum Haustelefon ging, den Hörer abnahm und hineinsprach. »Würden Sie bitte den Chauffeur des Generals ersuchen, nochmals heraufzukommen?« sagte sie. »Es ist noch ein Koffer hinunter zu tragen.« Sie legte den Hörer auf. »Ich weiß, wir werden nur übers Wochenende weg sein«, sagte sie lächelnd, »aber ich will Ihnen gefallen.«

»Wenn Sie mir gefallen wollen«, antwortete General Scheider, »werden Sie nicht viele Kleider brauchen.« Er blickte auf ein Bild von Arrriand Gautier auf dem Klavier. »Weiß Herr Gautier, dass Sie mit mir verreisen?« fragte er.

»Ja«, log Noelle. Armand war in Nizza, wo er einen Produzenten wegen eines Films zu treffen hatte, und sie hatte es für unnütz gehalten, ihn zu beunruhigen und ihn über ihre Pläne zu informieren. Es klingelte, und Noelle ging zur Tür und öffnete sie. Der Hauptmann stand davor. »Ich höre, es ist noch ein Koffer da?« sagte er.

»Ja«, entschuldigte sich Noelle. »Er ist im Schlafzimmer.«

Der Hauptmann nickte und ging ins Schlafzimmer.

»Wann müssen Sie wieder in Paris sein?« fragte der General.

Noelle wandte sich um und blickte ihn an. »Ich möchte so lange wie möglich bleiben. Wir werden Montag am späten Nachmittag zurückfahren. Dann haben wir zwei volle Tage.«

Der Hauptmann kam aus dem Schlafzimmer. »Verzeihen Sie, Mademoiselle. Wie sieht der Koffer aus?«

»Es ist ein großer runder blauer Koffer«, sagte Noelle. Sie wandte sich an den General. »Es ist ein neues Kleid drin, das ich noch nie getragen habe. Ich habe es für Sie aufgehoben.«

Sie plapperte drauflos, versuchte, ihre Nervosität zu verbergen. Der Hauptmann war ins Schlafzimmer zurückgegangen. Einige Augenblicke später kam er wieder heraus. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann ihn nicht finden.«

»Ich werde nachsehen«, sagte Noelle. Sie ging ins Schlafzimmer und begann, die Schränke zu durchsuchen. »Diese Idiotin von einem Dienstmädchen muss ihn irgendwo versteckt haben«, sagte sie. Alle drei blickten jetzt in jeden Schrank in der Wohnung. Es war der General, der endlich den Koffer in einem Schrank in der Diele fand. Er nahm ihn heraus und sagte: »Er scheint leer zu sein.«

Noelle öffnete rasch den Koffer und sah hinein. Es war nichts drinnen. »Oh, dieses dumme Mädchen«, sagte sie. »Sie muss das schöne neue Kleid in den Koffer mit meinen anderen Kleidern gestopft haben. Ich hoffe, sie hat es nicht ruiniert.« Sie seufzte ärgerlich. »Haben Sie in Deutschland auch soviel Verdruss mit Dienstmädchen?«

»Ich glaube, es ist überall das gleiche«, erwiderte General Scheider. Er beobachtete Noelle scharf. Sie benahm sich seltsam, sie redete zuviel. Sie bemerkte seinen Blick.

»Ich komme mir bei Ihnen wie ein Schulmädchen vor«, sagte Noelle. »Ich kann mich nicht erinnern, je so nervös gewesen zu sein.«

General Scheider lächelte. Also das war es. Oder spielte sie irgendein Spiel mit ihm? Wenn dem so war, würde er es bald herausfinden. Er blickte auf seine Uhr. »Wenn wir uns jetzt nicht auf den Weg machen, werden wir sehr spät ankommen.«

»Ich bin fertig«, sagte Noelle.

Sie betete, dass die anderen auch fertig wären.

Als sie im Vestibül ankamen, stand da der Concierge mit kalkweißem Gesicht. Noelle fragte sich, ob etwas schief gegangen war. Sie schaute ihn fragend nach einem Signal, einem Zeichen an, aber bevor er reagieren konnte, hatte der General Noelles Arm genommen und führte sie aus dem Hause.

General Scheiders Limousine stand direkt vor dem Eingang. Der Kofferraum des Wagens war geschlossen. Die Straße war leer. Der Chauffeur eilte zum hinteren Wagenschlag, um ihn zu öffnen. Noelle drehte sich um, um den Concierge im Vestibül zu sehen, aber der General stellte sich vor sie und verhinderte es. Absichtlich? Noelle blickte auf den geschlossenen Kofferraum, aber der sagte ihr nichts. Es würde Stunden dauern, bevor sie wusste, ob der Plan gelungen war, und die Spannung würde unerträglich sein.

»Alles in Ordnung?« General Scheider starrte sie an. Sie spürte, dass etwas schrecklich missglückt war. Unter irgendeinem Vorwand musste sie ins Vestibül zurücklaufen und mit dem Concierge ein paar Sekunden allein sein. Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.

»Gerade fällt mir ein«, sagte Noelle, »ein Freund wird anrufen. Ich muss ihm eine Nachricht hinterlassen«

General Scheider packte ihren Arm.

»Zu spät«, lächelte er. »Von diesem Augenblick an dürfen Sie nur an mich denken.« Und er half ihr in den Wagen. Einen Augenblick später waren sie unterwegs.

Fünf Minuten nachdem General Scheiders Limousine abgefahren war, hielt quietschend ein schwarzer Mercedes vor dem Haus, und Oberst Müller und zwei andere Gestapoleute sprangen aus dem Wagen. Oberst Müllers Augen suchten eilig die Straße ab. »Sie sind weg«, sagte er. Die Männer hasteten in den Hauseingang und klingelten an der Tür des Concierge. Die

Tür öffnete sich, und der Concierge stand mit erschrockenem Gesicht auf der Schwelle. »Was -?« Oberst Müller schob ihn in seine kleine Wohnung zurück.

»Mademoiselle Page!« fuhr er ihn an. »Wo ist sie?«

Der Concierge starrte ihn an, von panischer Angst erfüllt.

»Sie – sie ist verreist«, sagte er.

»Das weiß ich, Sie Idiot! Ich habe Sie gefragt, wohin sie gefahren ist!«

Der Concierge schüttelte hilflos den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Monsieur. Ich weiß nur, dass sie mit einem Offizier weggefahren ist.«

»Hat sie Ihnen nicht gesagt, wo man sie erreichen kann?«

»N-nein, Monsieur. Mademoiselle Page zieht mich nicht ins Vertrauen.«

Oberst Müller blickte den alten Mann einen Augenblick lang wütend an, dann drehte er sich auf dem Absatz um.

»Sie können noch nicht weit gekommen sein«, sagte er zu seinen Leuten. »Nehmen Sie so schnell wie möglich mit allen Straßensperren Verbindung auf. Sagen Sie ihnen, wenn General Scheiders Wagen bei ihnen vorbeikommt, haben sie ihn anzuhalten und mich sofort zu verständigen.«

Der späten Stunde wegen war der militärische Verkehr gering, was bedeutete, dass es praktisch gar keinen Verkehr gab. General Scheiders Wagen bog in die Westroute ein, die aus Paris über Versailles hinausführte. Sie fuhren durch Mantes, Vernon und Gaillon, und in fünfundzwanzig Minuten näherten sie sich bereits der großen Kreuzung, von der aus man nach Vichy, Le Havre und der Cóte d'Azur abzweigte.

Es kam Noelle wie ein Wunder vor. Sie würden aus Paris herauskommen, ohne angehalten zu werden. Sie hätte wissen müssen, dass die Deutschen trotz ihrer Tüchtigkeit nicht jede einzelne aus der Stadt führende Straße überwachen konnten. Und kaum hatte sie das gedacht, da ragte vor ihnen eine Straßensperre aus der Dunkelheit. Rote Lichter blinkten von der Straßenmitte, und hinter den Lichtern versperrte ein deutscher Militärlastwagen die Landstraße. Am Straßenrand befanden sich ein halbes Dutzend deutsche Soldaten und zwei französische Polizeiwagen. Ein deutscher Leutnant brachte die Limousine durch Winken zum Halten, und als der Wagen stand, trat er an den Fahrer heran.

»Steigen Sie aus und zeigen Sie Ihre Papiere!«

General Scheider öffnete das rückwärtige Fenster, streckte den Kopf hinaus und sagte gereizt: »General Scheider. Was zum Teufel geht hier vor?«

Der Leutnant nahm Haltung an.

»Entschuldigen Sie, Herr General. Ich wusste nicht, dass es Ihr Wagen war.«

Die Augen des Generals streiften die Straßensperre. »Wozu das alles?«

»Wir haben Befehl, jedes Paris verlassende Fahrzeug zu inspizieren, Herr General. Alle Ausgänge aus der Stadt sind gesperrt.«

Der General wandte sich Noelle zu. »Die verdammte Gestapo. Es tut mir leid, Liebchen.«

Noelle spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich, und sie war froh, dass es im Wageninnern dunkel war. Als sie sprach, klang ihre Stimme beherrscht.

»Es macht nichts«, sagte sie.

Sie dachte an die Fracht im Kofferraum. Wenn ihr Plan geklappt hatte, lag Israel Katz darin, und gleich würde man ihn und auch sie fassen.

Der deutsche Leutnant wandte sich an den Chauffeur.

»Öffnen Sie bitte den Kofferraum.«

»Er enthält nur Gepäck«, wandte der Hauptmann ein. »Ich habe es selbst hineingetan.«

»Ich bedauere, Herr Hauptmann. Ich habe klaren Befehl. Jedes Fahrzeug, das Paris verlässt muss untersucht werden. Öffnen Sie.«

Etwas in sich hineinmurmelnd, öffnete der Chauffeur die Tür und schickte sich an auszusteigen. Noelles Gehirn raste fieberhaft. Sie musste etwas erfinden, um das zu verhindern, ohne Verdacht zu erwecken. Der Chauffeur hatte den Wagen verlassen. Die Zeit war um. Noelle blickte verstohlen auf General Scheiders Gesicht. Seine Augen hatten sich verengt, und seine Lippen waren vor Zorn zusammengepresst. Sie drehte sich zu ihm und sagte arglos: »Sollen wir aussteigen, Hans? Werden sie uns durchsuchen?« Sie konnte spüren, wie sich sein Körper vor Wut straffte.

»Warten Sie!« Die Stimme des Generals war wie ein Peitschenhieb. »Steigen Sie wieder ein«, befahl er seinem Chauffeur. Er wandte sich an den Leutnant, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, dass Ihre Befehle nicht für Generale des Deutschen Heeres gelten. Ich nehme keine Befehle von Leutnanten entgegen. Räumen Sie die Straßensperre aus dem Weg.« Der unglückselige Leutnant starrte in das wütende Gesicht des Generals, schlug die Hacken zusammen und sagte: »Jawohl, Herr General.« Er gab dem Fahrer des Lastwagens, der die Straße versperrte, ein Zeichen, und der Wagen rumpelte zur Seite.

»Weiterfahren«, befahl General Scheider.

Langsam sank Noelle in ihren Sitz zurück. Die Spannung ließ nach, die Krise war überstanden. Wenn sie nur wüsste, ob Israel Katz im Kofferraum des Wagens war. Und ob er am Leben war.

General Scheider drehte sich zu Noelle um; sie spürte, dass er vor Zorn noch ganz außer sich war.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er müde. »Das ist ein seltsamer Krieg. Manchmal ist es nötig, die Gestapo daran zu erinnern, dass Kriege von Armeen geführt werden.«

Noelle lächelte ihn an und hakte sich bei ihm ein. »Und Armeen werden von Generalen angeführt.«

»So ist es«, stimmte er zu. »Armeen werden von Generalen

angeführt. Ich werde Oberst Müller eine Lektion erteilen müssen.«

Zehn Minuten nachdem General Scheiders Wagen die Straßensperre passiert hatte, kam ein Anruf vom GestapoHauptquartier mit dem Befehl, nach dem Wagen Ausschau zu halten.

»Er ist bereits hier durchgekommen«, berichtete der Leutnant, und eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Einen Augenblick später war Oberst Müller am Apparat.

»Wie lange ist das her?« fragte der Gestapo-Offizier sanft.

»Zehn Minuten.«

»Haben Sie den Wagen durchsucht?«

Der Leutnant fühlte, wie ihm das Herz in die Hosen fiel. »Nein, Herr Oberst. Der General wollte es nicht zulassen«

»Scheiße! Welche Richtung hat er eingeschlagen?« Der Leutnant schluckte. Als er wieder sprach, war es mit der hoffnungslosen Stimme eines Mannes, der weiß, dass seine Karriere beendet ist.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete er. »Hier ist eine große Kreuzung. Er könnte entweder landeinwärts nach Rouen oder zum Meer, nach Le Havre, gefahren sein.«

»Sie melden sich morgen Vormittag um 9 Uhr im GestapoHauptquartier bei mir.«

»Jawohl, Herr Oberst«, antwortete der Leutnant.

Wütend legte Oberst Müller den Hörer auf. Er wandte sich an die beiden Männer an seiner Seite und sagte: »Le Havre. Lassen Sie vorfahren. Wir gehen auf die Schabenjagd!«

Die Straße nach Le Havre führt die Seine entlang, durch das schöne Seine-Tal mit seinen fruchtbaren Hügeln und reichen Bauernhöfen. Es war eine klare, sternhelle Nacht, und die Bauernhäuser in der Ferne waren kleine Lichtpunkte, Oasen in der Dunkelheit.

Noelle und General Scheider unterhielten sich auf dem bequemen Rücksitz der Limousine. Er sprach von seiner Frau und seinen Kindern und wie schwierig es für einen Offizier sei, verheiratet zu sein. Noelle hörte mitfühlend zu und erklärte ihm, wie schwierig es für eine Schauspielerin sei, ein Privatleben zu haben. Jeder von ihnen wusste genau, dass die Unterhaltung ein Spiel war, beide hielten die Konversation auf einem oberflächlichen Niveau, das keinerlei wirkliche Einblicke zuließ. Noelle unterschätzte nicht einen Augenblick lang die Intelligenz des Mannes an ihrer Seite, und sie täuschte sich nicht darüber, wie gefährlich das Abenteuer war, auf das sie sich eingelassen hatte. Sie hielt General Scheider für zu klug, zu glauben, dass sie ihn plötzlich unwiderstehlich fände; er musste den Verdacht haben, dass sie etwas im Schilde führte. Aber Noelle rechnete fest damit, ihn in dem Spiel, das sie spielten, überlisten zu können. Der General berührte nur flüchtig den Krieg, aber er sagte etwas, woran sie sich lange danach erinnerte.

»Die Engländer sind eine seltsame Rasse«, sagte er. »In Friedenszeiten sind sie einfach unlenkbar, aber in einer Krise sind sie phantastisch. Nur einmal ist ein britischer Seemann wirklich in seinem Element, nämlich dann, wenn sein Schiff dem Sinken nahe ist.«

Sie erreichten Le Havre in den frühen Morgenstunden auf ihrem Weg nach dem Dorf Etretat.

»Könnten wir anhalten, um eine Kleinigkeit zu essen?« fragte Noelle. »Ich sterbe vor Hunger.«

General Scheider nickte. »Natürlich, wenn Sie wünschen.« Er hob die Stimme. »Halten Sie Ausschau nach einem Restaurant, das die ganze Nacht geöffnet ist.«

»Ich bin sicher, es gibt eins auf der Mole«, meinte Noelle. Der Hauptmann fuhr gehorsam in Richtung Hafen. Er hielt am Rand des Wassers, wo mehrere Frachtschiffe festgemacht hatten. Einen Block weiter verhieß ein Schild: »Bistro«.

Der Hauptmann öffnete die Tür, und Noelle stieg aus, hinter ihr General Scheider.

»Es ist wahrscheinlich die ganze Nacht über für die Dockarbeiter geöffnet«, sagte Noelle. Sie hörte das Geräusch eines Motors und drehte sich um. Ein Greifbagger zum Frachtverladen war vorgefahren und hielt neben der Limousine. Zwei Männer in Arbeitskitteln und Mützen, deren Schirme tief herabgezogen waren und ihr Gesicht verdeckten, stiegen aus. Einer der Männer blickte Noelle scharf an, dann nahm er einen Werkzeugkasten heraus und begann, am Greifbagger zu arbeiten. Noelle spürte einen leichten Krampf im Magen. Sie nahm General Scheiders Arm, und sie gingen auf das Restaurant zu. Noelle blickte zu dem hinter dem Lenkrad sitzenden Fahrer zurück.

»Glauben Sie nicht, dass er einen Kaffee möchte?« fragte Noelle.

»Er bleibt beim Wagen«, sagte der General.

Noelle starrte ihn an. Der Chauffeur durfte nicht beim Wagen bleiben, oder alles wäre zunichte gemacht. Dennoch wagte Noelle nicht, darauf zu beharren.

Sie gingen über holprige Pflastersteine dem Cafe zu. Plötzlich, als sie gerade einen Schritt machte, knickte sie mit dem Fuß um und fiel mit einem spitzen Schmerzensschrei hin. General Scheider streckte den Arm auf und versuchte vergeblich sie aufzufangen, bevor ihr Körper auf den Pflastersteinen aufschlug.

»Ist Ihnen etwas passiert?« fragte er.

Als der Chauffeur sah, was geschehen war, sprang er aus dem Wagen und eilte auf sie zu.

»Es tut mir so leid«, sagte Noelle. »Ich – ich habe mir den Knöchel verrenkt. Er fühlt sich wie gebrochen an.«

General Scheider ließ seine Hand fachkundig über ihren Knöchel gleiten. »Er ist nicht geschwollen. Er ist wahrscheinlich nur verstaucht. Können Sie darauf stehen?«

»Ich – ich weiß nicht«, sagte Noelle.

Der Chauffeur war bereits an ihrer Seite, und die beiden

Männer stellten sie auf die Beine. Noelle tat einen Schritt, aber der Knöchel gab unter ihr nach.

»Es tut mir leid«, stöhnte sie. »Wenn ich mich nur setzen könnte.«

»Helfen Sie mir, sie hineinzubringen«, sagte General Scheider und zeigte auf das Cafe.

Von den zwei Männern auf beiden Seiten gestützt, betrat Noelle das Restaurant. Als sie durch die Tür gingen, riskierte Noelle einen schnellen Blick auf den Wagen. Die zwei Dockarbeiter machten sich an dem Kofferraum der Limousine zu schaffen.

»Wollen Sie nicht doch lieber gleich nach Etretat weiterfahren?« fragte der General.

»Nein, glauben Sie mir, es wird bald vorbei sein«, erwiderte Noelle.

Der Besitzer führte sie an einen Ecktisch, und die beiden Männer halfen Noelle behutsam in einen Stuhl.

»Haben Sie große Schmerzen?« fragte General Scheider.

»Nicht sehr«, erwiderte Noelle. Sie legte ihre Hand auf die seine. »Seien Sie unbesorgt. Ich werde Ihnen den Spaß nicht verderben.«

Während Noelle und General Scheider im Cafe saßen, näherten sich Oberst Müller und zwei seiner Männer mit großer Geschwindigkeit der Stadtgrenze von Le Havre. Der Hauptmann der örtlichen Polizei war aus dem Schlaf geholt worden und wartete bereits auf die Gestapoleute vor der Polizeistation. »Ein Gendarm hat den Wagen des Generals ausfindig gemacht«, sagte er. »Er ist unten im Hafen geparkt.«

Ein Schimmer von Befriedigung erschien auf dem Gesicht des Obersten. »Bringen Sie mich hin«, befahl er.

Fünf Minuten später hielt der Gestapowagen, in dem Oberst Müller, seine Leute und der Polizeihauptmann saßen, neben General Scheiders Auto auf der Mole. Die Männer stiegen aus und umstellten den Wagen. In diesem Augenblick waren

General Scheider, Noelle und der Chauffeur im Begriff, das Bistro zu verlassen. Der Chauffeur entdeckte als erster die Männer beim Auto. Er eilte gleich auf sie zu.

»Was ist los?« fragte Noelle, erkannte im selben Augenblick von weitem die Gestalt des Obersten Müller und spürte, wie sie ein kalter Schauer überlief.

»Ich weiß nicht«, sagte General Scheider. Er ging mit langen Schritten auf die Limousine zu, Noelle hinkte ihm nach.

»Was machen Sie hier?« fragte General Scheider den Oberst Müller, als er beim Wagen anlangte.

»Es tut mir leid, Sie in Ihrem Wochenendurlaub zu stören«, erwiderte Oberst Müller kurz angebunden. »Ich möchte den Kofferraum Ihres Wagens untersuchen, Herr General.«

»Er enthält nichts als Gepäck.«

Noelle erreichte die Gruppe. Sie sah, dass der Greifbagger verschwunden war. Der General und die Gestapoleute funkelten einander wütend an.

»Ich muss darauf bestehen, Herr General. Es besteht Grund zur Annahme, dass ein gesuchter Feind des Reiches sich darin versteckt hält und dass Ihr Gast seine Komplizin ist.«

General Scheider starrte ihn lange an, drehte sich dann zu Noelle um und betrachtete sie prüfend.

»Ich weiß nicht, wovon er spricht«, sagte sie bestimmt.

Die Augen des Generals wanderten zu ihrem Knöchel hinunter, dann traf er eine Entscheidung und wandte sich an seinen Chauffeur. »Öffnen Sie.«

»Jawohl, Herr General.«

Alle Augen waren auf den Kofferraum gerichtet, als der Chauffeur nach dem Griff langte und ihn drehte. Noelle fühlte sich plötzlich einer Ohnmacht nahe. Langsam öffnete sich der Deckel. »Jemand hat unser Gepäck gestohlen!« rief der Chauffeur.

Oberst Müllers Gesicht war vor Wut rot gefleckt. »Er ist entkommen.«

»Wer ist entkommen?« fragte der General.

»Le Cafard«, tobte Oberst Müller. »Ein Jude namens Israel Katz. Er ..wurde im Kofferraum dieses Wagens aus Paris hinausgeschmuggelt.«

»Das ist unmöglich«, gab General Scheider zurück. »Der Kofferraum war dicht verschlossen. Er wäre erstickt.«

Oberst Müller untersuchte kurz den Kofferraum, dann befahl er einem seiner Männer: »Steigen Sie hinein.«

»Jawohl, Herr Oberst.«

Gehorsam kroch der Mann in den Kofferraum. Oberst Müller schlug den Deckel fest zu und blickte auf seine Uhr. Während der nächsten vier Minuten standen sie alle schweigend da, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Endlich, nach einer Zeit, die Noelle wie eine Ewigkeit vorgekommen war, öffnete Oberst Müller den Deckel des Kofferraums. Der Mann im Innern war bewusstlos. General Scheider wandte sich mit einem verächtlichen Ausdruck auf dem Gesicht an Oberst Müller. »Wenn sich jemand in diesem Kofferraum befunden hat«, erklärte der General, »dann hat man seinen Leichnam fortgeschafft. Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Oberst?«

Der Gestapo-Offizier schüttelte den Kopf, außer sich vor Wut und Enttäuschung. General Scheider sagte zu seinem Chauffeur: »Fahren wir los.« Er half Noelle ins Auto, sie fuhren in Richtung Etretat davon und ließen das Grüppchen von Männern hinter sich, das allmählich in der Ferne verschwand.

Oberst Müller ordnete eine sofortige Durchsuchung des Hafengebietes an, aber erst am Nachmittag des nächsten Tages fand man einen leeren Sauerstofftank in einem Fass in der Ecke eines unbenutzten Lagerhauses. Ein afrikanisches Frachtschiff war am Vorabend von Le Havre nach Kapstadt ausgelaufen, aber es befand sich jetzt irgendwo auf hoher See. Das fehlende Gepäck tauchte ein paar Tage später im Fundbüro der Gare du Nord in Paris auf.

Was Noelle und General Scheider betraf, so verbrachten sie das Wochenende in Etretat und kehrten am späten Montagnachmittag nach Paris zurück, gerade rechtzeitig für Noelles Abendvorstellung.

Catherine

Washington 1941-1944

Catherine hatte ihre Stellung bei William Fräser am Morgen nach ihrer Hochzeit aufgegeben. Fräser lud sie, als sie nach Washington zurückkehrte, zum Mittagessen ein. Er wirkte abgespannt, übernächtigt und plötzlich gealtert. Catherine hatte einen Anflug von Mitleid für ihn verspürt, aber das war alles. Sie saß einem hoch gewachsenen, gut aussehenden Fremden gegenüber, für den sie wohl Zuneigung verspürte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie je daran gedacht hatte, ihn zu heiraten. Fräser lächelte ihr matt zu. »Also, jetzt bist du eine verheiratete Frau«, sagte er.

»Die verheiratetste Frau der Welt.«

»Es muss alles ziemlich plötzlich gekommen sein. Ich – ich hätte gerne eine Chance gehabt, mich am Wettbewerb zu beteiligen.«

»Ich selber hatte keine Chance«, sagte Catherine aufrichtig. »Es ist eben passiert.«

»Larry ist schon ein toller Bursche.«

»Ja.«

»Catherine« – Fräser zögerte -, »du weißt eigentlich nicht viel über Larry, nicht wahr?«

Catherine fühlte, wie sich ihr Rücken straffte.

»Ich weiß, dass ich ihn liebe, Bill«, sagte sie ruhig, »und ich weiß, dass er mich liebt. Das ist ein ganz guter Anfang, meinst du nicht?«

Er saß stirnrunzelnd da und kämpfte mit sich. »Catherine«

»Ja?«

»Sei auf der Hut.«

»Wovor?« fragte sie.

Fräser sprach langsam, als ob er sich sorgfältig einen Weg

über ein Minenfeld von Wörtern ertastete. »Larry ist anders.«

»In welcher Hinsicht?« fragte sie, nicht bereit, ihm zu helfen.

»Ich meine, er ist nicht wie die meisten Männer.« Er sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Ach, zum Teufel«, sagte er. »Lassen wir's.« Es gelang ihm, ein schwaches Lächeln hervorzubringen. »Du hast wahrscheinlich die Biographie gelesen, die Äsop von mir geschrieben hat. Der Fuchs und die sauren Trauben.«

Catherine nahm liebevoll seine Hand. »Ich werde dich niemals vergessen, Bill. Ich hoffe, wir können Freunde bleiben.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Fräser. »Willst du wirklich nicht weiter im Büro bleiben?«

»Larry möchte, dass ich die Stellung aufgebe. Er ist altmodisch. Er meint, der Mann müsse die Frau erhalten«

»Wenn du es dir mal anders überlegst«, sagte Fräser, »lass es mich wissen.« Während der restlichen Zeit des Essens ging es um Büroangelegenheiten und die Frage, wer Catherines Posten übernehmen solle. Sie wusste, dass Bill Fräser ihr sehr fehlen würde. Wahrscheinlich nahm der erste Mann immer einen besonderen Platz im Leben eines Mädchens ein, aber Bill hatte ihr mehr als das bedeutet. Er war ein lieber Mensch und ein guter Freund. Catherine war wegen seiner Haltung Larry gegenüber beunruhigt. Es war, als ob Bill sie vor etwas warnen wollte und dann innegehalten hätte, weil er befürchtete, ihr Glück zu zerstören. Oder war es nur ein Fall der sauren Trauben gewesen? Bill Fräser war weder kleinlich noch eifersüchtig. Er wollte sicher ihr Glück. Und trotzdem wusste Catherine, dass er ihr etwas zu sagen versucht hatte. Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein war da eine vage Vorahnung. Aber eine Stunde später, als sie wieder bei Larry war und er ihr zulächelte, vergaß sie alles außer dem überwältigenden Glücksgefühl, mit einem so unglaublichen, strahlenden Wesen verheiratet zu sein. Es war amüsanter, mit Larry zusammen zu sein, als mit irgend jemandem, den sie je gekannt hatte. Jeder Tag war ein Abenteuer, ein Fest. Sie fuhren übers Wochenende aufs Land hinaus, übernachteten in kleinen Gasthöfen und grasten die Jahrmärkte der Umgebung ab. Sie fuhren zum Lake Placid, wo sie die riesige Rodelbahn hinuntersausten, und nach Montauk, wo sie Kahn fuhren und fischten. Catherine hatte schreckliche Angst vor dem Wasser, weil sie nie schwimmen gelernt hatte, aber Larry sagte, sie solle sich nichts daraus machen, und mit ihm fühlte sie sich sicher.

Larry war liebevoll und aufmerksam und schien sich erstaunlich wenig der Attraktion, die er auf andere Frauen ausübte, bewusst zu sein. Anscheinend war Catherine alles, was er wollte. In ihren Flitterwochen hatte Larry einen kleinen silbernen Vogel in einem Antiquitätengeschäft aufgetrieben, der Catherine so gefiel, dass er noch einen Kristallvogel dazu erstand, und so war es der Anfang einer Sammlung geworden. An einem Samstagabend fuhren sie nach Maryland, um die dreimonatige Wiederkehr ihres Hochzeitstages zu feiern, und aßen in demselben kleinen Restaurant.

Am Tag darauf, am Sonntag, dem 7. Dezember, wurde Pearl Harbor von den Japanern angegriffen.

Die Kriegserklärung Amerikas an Japan kam am nächsten Tag um 13.32 Uhr, keine vierundzwanzig Stunden nach dem Angriff der Japaner. Am Montag, während Larry auf der Andrews Air Base war, nahm Catherine, die es nicht allein in der Wohnung aushielt, ein Taxi zum Capitol Building, um zu sehen, was los war. Knäuel von Menschen drängten sich um ein Dutzend tragbarer Radios, welche unter der Menge, die die Trottoirs der Capitol Plaza säumte, verteilt waren. Catherine beobachtete, wie der Konvoi des Präsidenten die Straße hinaufjagte und vor dem südlichen Eingang zum Capitol hielt. Sie stand in der Nähe und konnte sehen, wie sich die Tür der Limousine öffnete und Präsident Roosevelt, von zwei Adjutanten gestützt, ausstieg. Dutzende von Polizisten standen an jeder Ecke in Alarmbereitschaft für den Fall etwaiger Unruhen. Die Menge schien Catherine ziemlich gewalttätig zu sein, wie ein gieriger Lynch-Mob vor dem Losbrechen.

Fünf Minuten nachdem Roosevelt das Capitol betreten hatte, kam seine Stimme übers Radio, das seine Ansprache an die Vollversammlung des Kongresses übertrug. Seine Stimme war kräftig und fest, voll zorniger Entschlossenheit.

»Amerika wird diesen Überfall nicht vergessen ... Die Gerechtigkeit wird triumphieren ... Wir werden unaufhaltsam dem Sieg entgegen schreiten, so wahr uns Gott helfe.«

Fünfzehn Minuten nachdem Roosevelt das Capitol betreten hatte, wurde die Kongressresolution 254 gefasst, Kriegserklärung an Japan. Sie wurde einstimmig beschlossen, mit Ausnahme der Abgeordneten Jeannette Rankin aus Montana, die gegen die Kriegserklärung stimmte, so dass das endgültige Ergebnis 388 zu l war.

Präsident Roosevelts Rede hatte genau zehn Minuten gedauert – die kürzeste Kriegsbotschaft, die je an einen Amerikanischen Kongress gerichtet wurde.

Die Menge draußen jubelte, ein aufbrandender Sturm von Beifall, Zorn und Vergeltungswut. Amerika war endlich in Bewegung gekommen.

Catherine musterte die Männer und Frauen, die neben ihr standen. Die Gesichter der Männer zeigten den gleichen Ausdruck froher Erregung, wie sie ihn auf Larrys Antlitz am Tag zuvor gesehen hatte, als ob sie alle demselben Geheimklub angehörten, dessen Mitglieder den Krieg für einen aufregenden Sport hielten. Sogar die Frauen schienen von dem spontanen Enthusiasmus, der die Menge fortriss, angesteckt zu sein. Aber Catherine fragte sich, was sie empfinden würden, wenn ihre Männer fort wären und sie allein dastünden und auf Nachrichten von ihren Männern und Söhnen warteten. Langsam drehte sich Catherine um und ging in ihre Wohnung zurück. An der Ecke sah sie Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett.

Bald, dachte sie, wird das ganze Land in Uniform sein.

Es ging noch schneller, als Catherine erwartet hatte. Fast über Nacht war Washington in ein Heerlager von Khakiuniformen verwandelt.

Die Atmosphäre war mit einer ansteckenden Erregung geladen. Es war, als sei Friede nur Lethargie, ein Pesthauch, der die Menschheit mit Langeweile betäubte, und als ob es nur der Krieg allein wäre, der die Menschen zum vollen Genuss des Lebens antreiben könnte.

Larry war sechzehn bis achtzehn Stunden auf dem Fliegerstützpunkt und blieb dort oft über Nacht. Er berichtete Catherine, dass die Situation in Pearl Harbor und Hickam Field viel schlimmer wäre, als man den Leuten weisgemacht hatte. Der heimtückische Angriff war verheerend erfolgreich gewesen. Praktisch waren Amerikas Marine und ein Großteil seiner Luftwaffe vernichtet.

»Willst du damit sagen, wir könnten den Krieg verlieren?« fragte Catherine entsetzt.

Larry blickte sie nachdenklich an. »Es hängt davon ab, wie schnell wir rüsten können«, antwortete er. »Alle stellen sich die Japaner als komische kleine Männer mit schwachen Augen vor. Das ist Blödsinn. Sie sind zäh, und sie fürchten den Tod nicht.«

In den darauf folgenden Monaten schien es, als wären die Japaner durch nichts aufzuhalten. Die täglichen Schlagzeilen schrieen ihre Erfolge hinaus. Sie griffen die Insel Wake an ... machten die Philippinen für die Invasion reif ... landeten in Guam ... in Borneo ... in Hongkong. General MacArthur erklärte Manila zur offenen Stadt, und die auf den Philippinen in der Falle sitzenden amerikanischen Truppen ergaben sich.

Eines Tages im April rief Larry Catherine vom Stützpunkt aus an und bat sie, ihn in der Stadt zu treffen, um bei einem Dinner im Willard Hotel zu feiern.

»Was zu feiern?« fragte Catherine.

»Ich werde es dir heute Abend sagen«, erwiderte Larry. Seiner Stimme war große Erregung anzumerken.

Als Catherine auflegte, war sie von schrecklichen Vorahnungen erfüllt. Sie versuchte, an alle möglichen Gründe zu denken, die Larry zum Feiern haben könnte, aber sie kam immer wieder auf dasselbe zurück, und sie fühlte nicht die Kraft in sich, es zu ertragen.

Um fünf Uhr nachmittags saß Catherine ausgehbereit auf ihrem Bett und starrte in den Spiegel auf ihrem Toilettentisch.

Ich irre mich bestimmt, dachte sie. Vielleicht hat man ihn befördert. Das ist es, was wir feiern. Oder vielleicht hat er gute Nachrichten über den Krieg bekommen. Catherine redete sich das ein, aber sie glaubte es nicht. Sie studierte ihr Gesicht im Spiegel und versuchte, dabei objektiv zu sein. Wenn sie auch Ingrid Bergman keine schlaflosen Nächte bereiten könnte, so war sie doch recht attraktiv. Sie hatte eine gute Figur mit aufreizenden Kurven. Du bist intelligent, fröhlich, angenehm, nett und sehr sexy, sagte sie zu sich selbst. Warum könnte ein normales, vollblütiges Mannsbild danach lechzen, dich zu verlassen, um in den Krieg zu ziehen und sich umbringen zu lassen?

Um sieben Uhr betrat Catherine das Restaurant des Willard Hotels. Larry war noch nicht da, und der Maitre geleitete sie zu einem Tisch. Sie sagte zuerst nein, sie wollte keinen Drink, überlegte es sich dann aber und bestellte einen Martini.

Als der Kellner ihn brachte und Catherine das Glas hob, merkte sie, dass ihre Hände zitterten. Sie blickte auf und sah Larry auf sich zukommen. Er schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und begrüßte auf dem Weg einige Leute. Er hatte diese unglaubliche Vitalität an sich, diese Aura, die alle Augen in seine Richtung blicken ließen. Catherine beobachtete ihn und erinnerte sich an den Tag, als er in der MGM-Kantine in Hollywood an ihren Tisch gekommen war. Sie merkte, wie schlecht sie ihn damals gekannt hatte, und fragte sich, wie gut sie ihn jetzt kannte. Er erreichte den Tisch und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Es tut mir leid, Cathy«, entschuldigte er sich. »Der Stützpunkt war den ganzen Tag ein Irrenhaus.« Er setzte sich, grüßte den Kellner mit Namen und bestellte einen Martini. Er sagte nichts dazu, dass Catherine bereits etwas trank.

Catherines Gedanken schrieen: Sag mir deine Überraschung. Sag mir, was wir feiern. Aber sie sagte nichts. Es gab ein altes ungarisches Sprichwort: »Nur ein Narr hat es eilig mit schlechten Nachrichten.« Sie nahm noch einen Schluck. Aber vielleicht war es gar kein altes ungarisches Sprichwort. Vielleicht war es ein neues Sprichwort von Catherine Douglas, dazu erfunden, über sensibler Haut als Schutz getragen zu werden. Vielleicht machte sie der Martini leicht betrunken. Wenn sie ihre Ahnung nicht täuschte, so würde sie sehr betrunken sein, bevor diese Nacht vorbei war. Aber als sie jetzt Larry anblickte, dessen Gesicht von Liebe erfüllt war, wusste Catherine, dass sie sich bestimmt getäuscht hatte. Larry konnte es ebenso wenig ertragen, sie zu verlassen, wie sie. Sie hatte sich einen Alptraum ausgedacht. Der glückliche Ausdruck auf seinem Gesicht verhieß, dass er wirklich gute Neuigkeiten für sie hatte.

Larry neigte sich ihr zu, lächelte sein jungenhaftes Lächeln und nahm ihre Hand in die seine.

»Du wirst nie erraten, Cathy, was passiert ist. Ich gehe nach Übersee.«

Es war, als ob ein dünner Vorhang herab fiele und allem ein unwirkliches, verschwommenes Aussehen verliehe. Larry saß neben ihr, seine Lippen bewegten sich, aber sein Gesicht war einmal unscharf, dann wieder deutlich, und Catherine konnte keines seiner Worte verstehen. Sie blickte über seine Schultern, und die Wände des Restaurants schoben sich zusammen und wichen zurück. Sie beobachtete dies fasziniert.

»Catherine!« Larry schüttelte sie am Arm, und langsam

richteten sich ihre Augen auf ihn, alles wurde wieder normal. »Ist dir nicht gut?«

Catherine nickte, schluckte und sagte schwach: »Mir geht's großartig. Gute Nachrichten haben immer diese Wirkung auf mich.«

»Du verstehst, dass ich es tun muss, nicht wahr?«

»Ja, ich verstehe.« Die Wahrheit ist, dass ich es nicht verstehen würde, und wenn ich eine Million Jahre lebte, mein Liebling. Aber wenn ich dir das sagte, würdest du mich nicht mögen, nicht wahr? Wer kann schon eine nörgelnde Frau brauchen? Heldenfrauen schicken ihre Männer lächelnd in den Krieg.

Larry beobachtete sie besorgt. »Du weinst ja.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Catherine entrüstet und entdeckte zu ihrem Schrecken, dass es stimmte. »Ich – ich muss mich nur an den Gedanken gewöhnen.«

»Sie geben mir eine eigene Staffel«, sagte Larry.

»Wirklich?« Catherine versuchte, ihre Stimme stolz klingen zu lassen. Eine eigene Staffel! Als kleiner Junge hatte er wahrscheinlich seine eigenen Eisenbahnzüge zum Spielen gehabt. Und dem großen Jungen hatten sie jetzt eine eigene Staffel zum Spielen gegeben. Und das waren echte Spielzeuge, die garantiert abgeschossen werden, bluten und sterben konnten. »Ich möchte noch einen Drink«, sagte sie.

»Natürlich.«

»Wann – wann musst du weg?«

»Nicht vor nächstem Monat.«

Es klang, als ob er es eilig hätte wegzukommen. Es war erschreckend zu spüren, wie das ganze Gefüge ihrer Ehe ins Wanken kam. Auf dem Podium sang jemand schmalzig: »Eine Reise auf den Mond auf Spinnwebflügeln ...« Spinnweben, dachte sie. Das ist es, woraus meine Ehe gemacht ist: aus Spinnweben. Dieser Cole Porter wusste auch alles.

»Wir werden eine Menge Zeit haben, bevor ich fahre«, sagte

Larry.

Eine Menge Zeit wofür? fragte sich Catherine bitter. Eine Menge Zeit, um eine Familie zu gründen und mit unseren Kindern zum Skilaufen nach Vermont zu fahren, um zusammen alt zu werden?

»Was möchtest du gerne heute Abend machen?« fragte Larry.

Ich möchte gerne ins Bezirksspital fahren, um eine von deinen Zehen entfernen zu lassen. Oder eines deiner Trommelfelle durchbohren lassen. Laut sagte Catherine: »Gehen wir nach Hause und lieben wir uns.« Es war ein wildes, verzweifeltes Drängen in ihr.

Die nächsten vier Wochen vergingen wie im Flug. Die Uhren rasten vorwärts wie in einem kafkaesken Alptraum, der Tage in Stunden und Stunden in Minuten verwandelte, und dann war – unglaublich fast – Larrys letzter Tag gekommen. Catherine fuhr ihn zum Flugplatz. Er war gesprächig und fröhlich, sie war finster, still und todunglücklich. Die letzten paar Minuten wurden zu einem Durcheinander von militärischen Formalitäten ... ein eiliger Abschiedskuss ... Larry besteigt das Flugzeug, das ihn ihr entführt ... ein letztes Abschiedswinken. Catherine stand auf dem Flugfeld, sah, wie sein Flugzeug zu einem kleinen Fleck am Himmel wurde und endlich verschwand. Sie stand eine Stunde lang da, und als es schließlich dunkel wurde, drehte sie sich um und fuhr in die Stadt in ihre leere Wohnung zurück.

Im ersten Jahr, das dem Angriff auf Pearl Harbor folgte, wurden zehn große See- und Luftschlachten gegen die Japaner gefochten. Die Alliierten gewannen nur drei, aber zwei von ihnen waren entscheidend:

Midway und die Schlacht von Guadalcanal.

Catherine verfolgte Wort für Wort die Zeitungsberichte über jede Schlacht und bat dann William Fräser, ihr noch weitere Einzelheiten zu verschaffen. Sie schrieb täglich an Larry, aber es vergingen acht Wochen, bevor sie seinen ersten Brief erhielt. Er klang optimistisch und voll froher Erregung. Der Brief war scharf zensiert worden, und so hatte Catherine nicht die geringste Idee, wo er gewesen war oder was er gerade tat. Was immer es war, sie hatte das Gefühl, dass es ihm zu gefallen schien, und in den endlosen, einsamen Nachtstunden lag Catherine im Bett, zerbrach sich den Kopf und versuchte zu begreifen, was es in Larry war, das ihn auf diese Weise auf Krieg und Tod reagieren ließ. Sicherlich hatte er keine Todessehnsucht, denn Catherine hatte nie jemanden so voll Kraft und Leben gesehen; aber vielleicht war das einfach die Kehrseite der Medaille: Was sein Lebensgefühl so intensiv machte, war die ständige Gegenwart des Todes.

Sie aß mit William Fräser zu Mittag. Catherine wusste, dass er sich freiwillig gemeldet hatte, aber man hatte ihm im Weißen Haus gesagt, er könnte viel mehr nützen, wenn er auf seinem Posten bliebe. Er war sehr enttäuscht gewesen. Er hatte es jedoch Catherine gegenüber nie erwähnt. Als Fräser ihr jetzt am Mittagstisch gegenübersaß, fragte er:

»Hast du von Larry gehört?«

»Ich bekam letzte Woche einen Brief.«

»Was stand darin?«

»Na ja, nach dem Brief zu schließen, ist der Krieg eine Art Fußballspiel. Wir haben die erste Runde verloren, aber jetzt hat man die erste Mannschaft vorgeschickt, und wir gewinnen an Boden.«

Er nickte. »Typisch Larry.«

»Aber nicht typisch Krieg«, sagte Catherine ruhig. »Es ist kein Fußballspiel, Bill. Millionen Menschen werden umkommen, bevor er vorbei ist.«

»Wenn man drinsteckt, Catherine«, sagte er sanft, »ist es wohl leichter zu denken, es sei ein Fußballspiel.«

Catherine hatte sich entschlossen zu arbeiten. Die Armee hatte eine Abteilung für Frauen geschaffen, Women's Army Corps genannt, und Catherine hatte daran gedacht, sich zu melden; andererseits glaubte sie, nützlicher sein zu können, wenn sie etwas mehr täte als Auto fahren und Telefondienst machen. Obwohl nach dem, was sie gehört hatte, der WAC-Dienst ziemlich unterhaltsam war. Es kamen so viele Schwangerschaften vor, dass das Gerücht ging, die Ärzte würden den Freiwilligen bei der Untersuchung einen winzigen Gummistempel auf den Bauch drücken. Die Mädchen versuchten, die Worte zu entziffern, es gelang aber nicht. Endlich kam eine auf die Idee, ein Vergrößerungsglas zu holen. Die Worte lauteten: »Wenn Sie das mit bloßem Auge lesen können, melden Sie sich bei mir.«

Als sie jetzt beim Mittagessen mit Bill Fräser saß, sagte sie: »Ich will arbeiten. Ich möchte etwas tun, ich will helfen.«

Er sah sie einen Moment prüfend an, dann nickte er. »Vielleicht weiß ich gerade die richtige Sache für dich, Catherine. Die Regierung versucht, Kriegsanleihen zu verkaufen. Ich glaube, du könntest beim Koordinieren helfen.«

Zwei Wochen später machte sich Catherine an die Arbeit; sie sollte den Verkauf von Kriegsanleihen durch Prominente organisieren. Theoretisch hörte es sich anfangs recht leicht an, aber in der Praxis war es etwas anderes. Sie fand, dass die Stars wie Kinder waren, aufgeregt und eifrig, bei den Kriegsanstrengungen zu helfen, aber sie waren sehr schwer auf bestimmte Daten festzunageln. Ihre Termine mussten dauernd umjongliert werden. Oft war es nicht ihre Schuld, weil die Dreharbeiten verschoben wurden oder die Termine sich überschnitten. Catherine fand sich zwischen Washington, Hollywood und New York hin- und herpendelnd. Sie gewöhnte sich daran, auf stündlichen Abruf abzureisen und gerade genug Kleider für den jeweiligen Aufenthalt einzupacken. Sie traf Dutzende von Prominenten.

»Haben Sie wirklich Cary Grant kennen gelernt?« fragte ihre Sekretärin, als sie von einer Reise nach Hollywood zurückkehrte.

»Wir haben zusammen gegessen.«

»Ist er so charmant, wie man sagt?«

»Wenn man seinen Charme in Dosen packen könnte, wäre er der reichste Mann der Welt.«

Es geschah so allmählich, dass Catherine es fast nicht bemerkte. Sechs Monate vorher hatte Bill Fräser ihr von einem Problem erzählt, das Wallace Turner mit einem der Werbekonten hatte, die Catherine früher leitete. Catherine hatte eine neue Werbe-Kampagne entworfen, die die Sache humorvoll behandelte, und der Klient war sehr zufrieden gewesen. Einige Wochen später hatte Bill Catherine gebeten, ihm bei einem anderen Klienten zu helfen, und bevor sie sich dessen bewusst war, verbrachte sie ihre halbe Zeit bei der Werbeagentur. Sie leitete ein halbes Dutzend Konten, die alle gut liefen. Fräser hatte ihr ein großes Gehalt und Prozente gegeben. Am Tag vor Weihnachten kam Fräser zur Mittagszeit in ihr Büro. Die anderen Angestellten waren bereits heimgegangen, und Catherine war dabei, eine dringende Arbeit zu beenden.

»Macht es dir Spaß?« fragte er.

»Man kann davon leben«, lächelte sie herzlich, »und nicht einmal schlecht. Danke, Bill.«

»Du sollst mir nicht danken. Du hast dir jeden Cent verdient und noch viel mehr. Es ist das >noch viel mehr<, worüber ich mit dir reden will. Ich biete dir eine Partnerschaft an.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Eine Partnerschaft?«

»Die Hälfte der neuen Klienten, die wir in den letzten sechs Monaten bekommen haben, verdanken wir dir.« Er saß da und blickte sie gedankenvoll an, sagte aber nichts mehr. Und sie begriff, wie viel es für ihn bedeutete.

»Du hast deinen Partner«, sagte sie.

Sein Gesicht leuchtete auf. »Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich darüber freue.« Linkisch streckte er seine Hand aus. Sie schüttelte den Kopf, ging an seinem ausgestreckten Arm vorbei, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die

Wange.

»Jetzt, da wir Partner sind«, zog sie ihn auf, »kann ich dich küssen.« Sie fühlte, wie er sie plötzlich fester hielt.

»Cathy«, sagte er, »ich ...«

Catherine legte ihren Finger auf seine Lippen. »Sag nichts, Bill. Lass alles, wie es ist.«

»Du weißt, dass ich in dich verliebt bin.«

»Und ich liebe dich«, sagte sie warmherzig. Semantik, dachte sie. Der Unterschied zwischen »ich liebe dich« und »ich bin in dich verliebt« war eine unüberbrückbare Kluft.

Fräser lächelte. »Ich werde dich nicht belästigen, das verspreche ich dir. Ich respektiere deine Gefühle für Larry.«

»Danke, Bill.« Sie zögerte. »Ich weiß nicht, ob das irgendwie hilft, aber wenn es je einen anderen gäbe, wärst du es.«

»Das ist eine große Hilfe«, lächelte er. »Es wird mich die ganze Nacht wach halten.«

Noelle

Paris 1944

Seit einem Jahr hatte Armand Gautier das Heiratsthema nicht mehr angeschnitten. Anfangs hatte er sich Noelle gegenüber in einer überlegenen Position gefühlt. Jetzt aber war die Lage fast umgekehrt. Wenn sie Zeitungsinterviews gaben, war es Noelle, an die man die Fragen richtete, und wohin immer sie gingen, war Noelle die Attraktion, er kam an zweiter Stelle.

Noelle war die perfekte Geliebte. Sie sorgte weiterhin für Gautiers Bequemlichkeit, fungierte als Gastgeberin und machte ihn in der Tat zu einem der am meisten beneideten Männer Frankreichs; aber in Wirklichkeit hatte er keinen Augenblick Frieden, denn er wusste, dass er Noelle nicht besaß, noch jemals besitzen würde, und eines Tages würde sie aus seinem Leben verschwinden auf genau die gleiche kapriziöse Art, wie sie hineingeschlendert war. Und wenn sich Gautier daran erinnerte, wie es jenes eine Mal war, als Noelle ihn verlassen hatte, fühlte er sich elend bis ins Mark. Gegen jede Vernunft, gegen seine Erfahrung und Frauenkenntnis war er wahnsinnig in Noelle verliebt. Sie war die einzige, die wichtigste Realität in seinem Leben. Oft lag er nachts wach und dachte sich raffinierte Überraschungen aus, um sie glücklich zu machen; wenn sie gelangen, wurde er mit einem Lächeln oder einem Kuss belohnt oder gar mit einer Liebesnacht beschenkt. Jedes Mal, wenn sie einen anderen Mann ansah, überkam Gautier Eifersucht, aber er war klug genug, es Noelle nicht merken zu lassen. Einmal, nach einer Gesellschaft, als sie sich den ganzen Abend mit einem berühmten Arzt unterhalten hatte, war Gautier wütend auf sie gewesen. Noelle hörte sich seine Tiraden an und antwortete dann ruhig: »Wenn du etwas dagegen hast, Armand, dass ich mich mit anderen Männern unterhalte, kann ich ja heute Abend meine Sachen packen.«

Er berührte nie mehr dieses Thema.

Anfang Februar begann Noelle, ihren Salon einzurichten. Es hatte als einfaches Sonntags-Dinner mit ein paar Freunden aus dem Theater angefangen, aber es sprach sich herum, und der Kreis erweiterte sich schnell und schloss bald Politiker, Wissenschaftler und Schriftsteller ein – wen immer die Gruppe für amüsant oder interessant hielt. Noelle war die ungekrönte Herrscherin des Salons und eine seiner Hauptanziehungspunkte. Jedermann war begierig, sich mit ihr zu unterhalten, denn Noelle stellte scharfsinnige Fragen und hatte ein gutes Gedächtnis für die Antworten. Sie lernte Politik von den Politikern und Finanz von den Bankiers. Ein führender Kunstexperte brachte ihr einiges über bildende Kunst bei, und bald kannte sie alle großen französischen Künstler. Sie erfuhr alles Wissenswerte über Wein vom Oberkellermeister des Barons Rothschild und über Architektur von Le Corbusier. Noelle hatte die besten Hauslehrer der Welt, und diese wiederum hatten eine schöne und faszinierende Schülerin. Sie hatte eine schnelle, gründliche Auffassungsgabe und war eine intelligente Zuhörerin.

Armand Gautier hatte das Gefühl, eine Prinzessin im Umgang mit ihren Ministern vor sich zu sehen, und hätte er sich das völlig klargemacht, wäre er damit Noelles wahrem Charakter am nächsten gekommen.

Mit der Zeit begann sich Gautier ein wenig sicherer zu fühlen. Es schien ihm, dass Noelle alle, die ihm gefährlich werden könnten, kennen gelernt hatte, und sie hatte für keinen von ihnen Interesse gezeigt. Sie hatte noch nicht Constantin Demiris kennen gelernt.

Constantin Demiris herrschte über ein Imperium, das größer und mächtiger als die meisten Staaten war. Er hatte weder einen Titel noch eine offizielle Position, aber er war gewohnt, Premiere, Kardinale, Botschafter und Könige zu kaufen und zu verkaufen. Demiris war einer der zwei oder drei reichsten Männer der Welt, und seine Macht war legendär. Er hatte die größte Frachter-Flotte im Einsatz, besaß eine Fluggesellschaft, Zeitungen, Banken, Stahlwerke, Goldminen – seine Fühler reichten überallhin, unentwirrbar verwoben wie Schuss und Kette mit dem ökonomischen Gewebe von einem Dutzend Ländern.

Ihm gehörte eine der bedeutendsten Kunstsammlungen der Welt, eine Flotte von Privatflugzeugen und ein Dutzend Appartements und Villen in allen Teilen der Welt.

Constantin Demiris war etwas über mittelgroß, hatte eine breite Brust und breite Schultern. Er war von dunkler Hautfarbe, hatte eine ausgeprägte griechische Nase und Augen wie schwarze Oliven, funkelnd von Intelligenz. Er war nicht an Kleidung interessiert, und doch stand er stets auf der Liste der bestangezogenen Männer der Welt, und es ging das Gerücht, dass er über fünfhundert Anzüge besaß. Er ließ sie machen, wo er sich gerade aufhielt. Seine Anzüge wurden von Hawes und Curtis in London angefertigt, seine Hemden von Brioni in Rom, seine Schuhe von Dali Grande in Paris, und seine Krawatten stammten aus einem Dutzend Ländern.

Demiris hatte eine magnetische Anziehungskraft. Wenn er in ein Zimmer trat, drehten sich die Leute um, auch wenn sie nicht wussten, wer er war, und starrten ihn an. Die Zeitungen und Zeitschriften der ganzen Welt brachten über Constantin Demiris und seine Tätigkeit – die geschäftliche und die gesellschaftliche – eine nicht abreißende Flut an Meldungen und Nachrichten.

Die Presse zitierte ihn gerne. Auf die Frage eines Reporters, ob ihm Freunde geholfen hätten, seinen Erfolg zu erringen, hatte er geantwortet: »Um Erfolg zu haben, braucht man Freunde, um sehr großen Erfolg zu haben, braucht man Feinde.«

Als man ihn fragte, wie viele Angestellte er habe, hatte Demiris geantwortet: »Keinen. Nur Anhänger. Wenn soviel Macht und Geld auf dem Spiel stehen, wird das Geschäft zur

Religion, und die Büros werden zu Tempeln.«

Er war im griechisch-orthodoxen Glauben erzogen, aber er sagte von den offiziellen Religionen: »Tausendmal mehr Verbrechen sind im Namen der Liebe als im Namen des Hasses begangen worden.«

Die Welt wusste, dass er mit der Tochter einer angesehenen griechischen Bankiersfamilie verheiratet war, dass seine Frau eine attraktive, liebenswürdige Frau war, die ihn jedoch, wenn Demiris auf seiner Jacht oder seiner privaten Insel Gäste hatte, selten begleitete. Statt dessen war er in Gesellschaft einer schönen Schauspielerin oder Tänzerin oder wer immer ihm gerade gefiel zu sehen. Seine Romanzen waren genauso legendär und bunt wie seine finanziellen Abenteuer. Er hatte mit Dutzenden von Filmstars, den Frauen seiner besten Freunde, einer fünfzehnjährigen Schriftstellerin und frischgebackenen Witwen geschlafen; man tuschelte sogar, dass eine Gruppe von Nonnen, die ein neues Kloster brauchten, sich ihm angeboten hätte.

Ein halbes Dutzend Bücher waren über Demiris geschrieben worden, aber keines von ihnen hatte je sein wahres Wesen erfasst oder die wahre Ursache seines Erfolgs zu enthüllen vermocht. Eine in der ganzen Welt bekannte Persönlichkeit, war Constantin Demiris gleichzeitig ein Mensch mit höchst privater Sphäre, und er gebrauchte sein Image als Fassade, die sein wahres Selbst verbarg. Er hatte Dutzende von intimen Freunden in jedem Lebensbereich, und doch kannte ihn niemand wirklich. Die Tatsachen waren der Öffentlichkeit durchaus bekannt. Er war in Piräus als Sohn eines Dockarbeiters in einer Familie von vierzehn Geschwistern zur Welt gekommen; nie stand genug Essen auf dem Tisch, und wer mehr haben wollte, musste darum kämpfen. Es war etwas an Demiris, das dauernd nach mehr verlangte, und er kämpfte darum.

Schon als kleiner Junge setzte sein Gehirn automatisch alles

in Zahlen um. Er kannte die Anzahl der Stufen auf dem Parthenon, wie viele Minuten man zur Schule brauchte, wie viele Schiffe an einem bestimmten Tag im Hafen lagen. Zeit war für ihn eine in Abschnitte eingeteilte Zahl, und Demiris lernte, sparsam damit umzugehen. Demzufolge konnte er ohne wahre Anstrengung enorm viel leisten. Sein Sinn für Organisation war angeboren, ein Talent, das sich automatisch sogar in den unwichtigsten Kleinigkeiten auswirkte. Alles wurde zu einem Wettbewerb, in dem er seine Intelligenz mit der seiner Umwelt maß.

Obwohl Demiris wusste, dass er klüger war als die meisten Menschen, war er doch nicht übermäßig eitel. Wenn eine schöne Frau mit ihm ins Bett gehen wollte, machte er sich nicht einen Augenblick lang vor, dass dies seines Aussehens oder seiner Persönlichkeit wegen geschähe, aber er ließ sich dadurch nicht stören. Die Welt war ein Marktplatz, und die Leute waren entweder Käufer oder Verkäufer. Manche Frauen, das wusste er, fühlten sich von seinem Geld angezogen, andere von seiner Macht und einige wenige – und es waren sehr wenige – von seinem Verstand und seiner Phantasie.

Fast jede Person, der er begegnete, wollte etwas von ihm: eine Stiftung für wohltätige Zwecke, die Finanzierung eines geschäftlichen Projektes oder einfach die Macht, die die Freundschaft mit ihm verlieh. Demiris liebte das Spiel, herauszufinden, was die Leute in Wirklichkeit von ihm wollten, denn es war selten das, was es schien. Sein analytischer Verstand war der Scheinwahrheit gegenüber skeptisch, und folglich glaubte er nichts, was er hörte, und vertraute niemandem.

Die Journalisten, die über sein Leben schrieben, sollten nur seine Genialität und seinen Charme sehen, den gewandten Weltmann. Sie vermuteten nie, dass Demiris unter der Oberfläche ein Killer war, ein Produkt der Gosse, dessen erster Instinkt ihn hieß, seinem Feind an die Kehle zu springen.

Für die alten Griechen war das Wort thikeosini, Gerechtigkeit, oft gleichbedeutend mit ekthikisis, Rache, und Demiris war von beiden besessen. Er entsann sich der geringfügigsten Beleidigung, die man ihm angetan hatte, und er zahlte es denjenigen, die das Unglück hatten, sich seine Feindschaft zuzuziehen, mit hundertfacher Münze zurück. Sie merkten es nie, denn Demiris' mathematischer Verstand spielte ein Spiel von systematisch aufgebauter Vergeltung, klügelte geduldig komplizierte Fallen aus und spann vielmaschige Netze, in denen sich schließlich seine Opfer verfingen und vernichtet wurden.

Als Demiris sechzehn Jahre alt war, stieg er mit einem älteren Mann namens Spyros Nicholas in sein erstes Geschäft ein. Demiris hatte die Idee gehabt, einen kleinen Stand auf den Docks aufzumachen, um den Dockarbeitern während der Nachtschicht warmes Essen zu verkaufen. Er hatte die Hälfte des nötigen Geldes für das Unternehmen zusammengekratzt, aber als es erfolgreich war, hatte ihn Nicholas aus dem Geschäft gedrängt. Demiris hatte sein Los ohne Widerstand hingenommen und sich anderen Unternehmungen zugewandt.

Im Laufe der nächsten zwanzig Jahre war Spyros Nicholas zum Fleischkonservengeschäft übergegangen, hatte Erfolg gehabt und war ein reicher Mann geworden. Er hatte geheiratet, hatte drei Kinder und war einer der angesehensten Männer Griechenlands. Während all dieser Jahre sah Demiris geduldig zu und ließ Nicholas sein kleines Reich aufbauen. Als er erkannte, dass Nicholas auf dem Zenit seines Erfolgs angekommen war, schlug er zu.

Weil sein Geschäft blühte, beabsichtigte Nicholas, Farmen zu kaufen, um eigenes Vieh zu züchten und eine Kette von Kleinhandelsgeschäften zu eröffnen. Das erforderte ein riesiges Kapital. Die Bank, mit der Nicholas in geschäftlicher Verbindung stand, gehörte Constantin Demiris, und sie bot Nicholas Geld für die Expansion zu so günstigen Zinsen, dass er nicht widerstehen konnte. Nicholas stürzte sich in große Ausgaben, und mitten in der Kreditausweitung wurden seine Schuldscheine plötzlich von der Bank gekündigt. Als der bestürzte Mann einwandte, er könne den Zahlungen nicht nachkommen, eröffnete die Bank sofort das Konkursverfahren. Die Zeitungen, die Demiris gehörten, hängten die Geschichte an die große Glocke, und andere Gläubiger begannen Nicholas zu bedrängen. Er ging zu anderen Banken und Kreditinstituten, aber aus ihm unerklärlichen Gründen lehnten sie alle ab, ihm zu Hilfe zu kommen. Am Tag nach seinem Bankrott beging er Selbstmord.

Demiris' Sinn für thikeosini war ein zweischneidiges Schwert. Genau wie er niemandem eine Beleidigung vergab, vergaß er nie eine ihm erwiesene Wohltat. Eine Zimmervermieterin, die den jungen Mann ernährt und gekleidet hatte, als er zu arm gewesen war, sie zu bezahlen, sah sich plötzlich als Besitzerin eines Appartementhauses, ohne zu ahnen, wer ihr Wohltäter war. Ein junges Mädchen, das den völlig mittellosen jungen Demiris bei sich aufgenommen hatte, erhielt von anonymer Seite eine Villa und eine lebenslange Pension. Die Leute, die mit dem ehrgeizigen jungen Griechen vor vierzig Jahren zu tun gehabt hatten, ahnten nicht, wie diese zufällige Beziehung ihr Leben beeinflussen würde. Der dynamische junge Demiris hatte Hilfe von Bankiers und Rechtsanwälten, Schiffskapitänen und Gewerkschaften, Politikern und Finan-ciers gebraucht. Die einen hatten ihn ermutigt und ihm geholfen; andere hatten ihn von oben herab behandelt oder ihn betrogen. In seinem Kopf und seinem Herzen hatte der stolze Grieche ein unauslöschliches Verzeichnis jeder seiner Unternehmungen bewahrt. Seine Frau Melina hatte ihn einmal beschuldigt, den lieben Gott spielen zu wollen.

»Jeder Mann spielt den lieben Gott«, hatte Demiris zu ihr gesagt. »Einige von uns sind für diese Rolle besser geeignet als andere.«

»Aber es ist nicht recht, das Leben von Menschen zu zerstören, Costa.«

»Es ist nicht unrecht. Es ist Gerechtigkeit.«

»Rache.«

»Manchmal ist es dasselbe. Die meisten Menschen kommen mit dem Unrecht, das sie tun, ungestraft davon. Ich bin in der Lage, sie dafür bezahlen zu lassen. Das ist Gerechtigkeit.«

Er genoss die Stunden, in denen er Fallen für seine Gegner erdachte. Er pflegte seine Opfer genau zu studieren, sorgfältig ihren Charakter zu analysieren, ihre Stärken und Schwächen abzuwägen.

Als Demiris drei kleine Frachtschiffe gehabt hatte und eine Anleihe brauchte, um seine Flotte zu vergrößern, war er zu einem Schweizer Bankier in Basel gegangen. Der Bankier hatte ihn nicht nur abgewiesen, sondern auch andere befreundete Bankiers angerufen und ihnen geraten, dem jungen Griechen kein Geld zu geben. Es war Demiris schließlich gelungen, eine Anleihe in der Türkei zu bekommen.

Demiris hatte seine Stunde abgewartet. Er wusste genau, dass die Achillesferse des Bankiers seine Habgier war. Demiris stand in Verhandlungen mit Ibn Saud von Arabien wegen pachtweiser Übernahme neu entdeckter Erdölquellen. Die Pachtverträge würden für Demiris' Gesellschaft mehrere hundert Millionen Dollar wert sein.

Er gab einem seiner Agenten Anweisung, dem Schweizer Bankier gegenüber die Nachricht über das in Aussicht genommene Geschäft durchsickern zu lassen. Dem Bankier wurde eine 25 %ige Beteiligung an der neuen Gesellschaft angeboten, wenn er fünf Millionen Dollar in bar aufbrächte, um Anteile am Aktienkapital zu erwerben. Wenn das Geschäft klappte, würden die fünf Millionen Dollar mehr als fünfzig Millionen wert sein. Der Bankier überprüfte schnell das Geschäft und fand dessen Glaubwürdigkeit bestätigt. Da er über eine solche Summe nicht persönlich verfügte, lieh er sie sich von der Bank, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen, da er diesen unverhofften Gewinn mit keinem teilen wollte. Die Transaktion sollte in der darauf folgenden Woche stattfinden, und zu diesem Zeitpunkt würde er das Geld, das er entnommen hatte, dann zurückzahlen können.

Als Demiris den Scheck des Bankiers in der Hand hatte, gab er der Presse bekannt, dass die Vereinbarung mit Arabien rückgängig gemacht worden sei. Die Aktien stürzten. Es gab keine Möglichkeit für den Bankier, seine Verluste zu decken, und seine Unterschlagung kam ans Licht. Demiris erstand den Anteil des Bankiers für ein paar Cents pro Dollar und machte dann mit dem Ölgeschäft weiter. Die Aktien schnellten in die Höhe. Der Bankier wurde der Unterschlagung schuldig befunden und zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Es gab ein paar Spieler in Demiris' Spiel, mit denen er noch nicht abgerechnet hatte, aber er hatte es nicht eilig. Er genoss die Vorfreude, das Planen und die Ausführung. Es war wie ein Schachspiel, und Demiris war ein meisterhafter Schachspieler. Jetzt machte er sich keine Feinde mehr, denn niemand konnte es sich leisten, sein Feind zu sein; so war sein Reservoir auf diejenigen beschränkt, die in der Vergangenheit seinen Weg gekreuzt hatten.

Dies war also der Mann, der eines Nachmittags in Noelle Pages Sonntagssalon auftauchte. Er verbrachte ein paar Stunden in Paris auf dem Weg nach Kairo, und eine junge Bildhauerin, mit der er sich traf, schlug vor, sie sollten den Salon aufsuchen. Von dem Augenblick an, als Demiris Noelle sah, wusste er, dass er sie haben wollte. Abgesehen von Königen selbst, die für die Tochter eines Marseiller Fischhändlers unerreichbar waren, war Constantin Demiris wahrscheinlich das, was einem König am nächsten kam. Drei Tage nachdem sie ihn kennen gelernt hatte, verließ Noelle ihr Theater ohne Kündigung, packte ihre Koffer und fuhr zu Constantin Demiris nach Griechenland.

Die Prominenz der beiden machte es unvermeidlich, dass die Beziehung zwischen Noelle Page und Constantin Demiris zur internationalen Sensation wurde. Fotografen und Journalisten versuchten ununterbrochen, Demiris' Frau zu interviewen, aber wenn ihre Gelassenheit auch etwas erschüttert war, ließ sie sich nichts anmerken. Melina Demiris' einziger Kommentar für die Presse war, dass ihr Mann viele gute Freundinnen in der ganzen Welt habe und sie nichts dabei finde. Ihren empörten Eltern erklärte sie, Costa habe auch vorher Affären gehabt, und diese würde genauso bald ein Ende finden wie all die anderen. Ihr Mann unternahm häufig ausgedehnte Geschäftsreisen, und sie sah dann Fotos in den Zeitungen, die ihn mit Noelle in Städten wie Konstantinopel, Tokio oder Rom zeigten. Melina Demiris war eine stolze Frau, aber sie war entschlossen, die Demütigung zu ertragen, weil sie ihren Mann wirklich liebte. Sie akzeptierte die Tatsache, dass manche Männer mehr als eine Frau brauchten, obwohl sie nie richtig begriff, warum, und dass sogar ein in seine Frau verliebter Mann mit einer anderen Frau schlafen konnte. Sie wäre eher gestorben, als einem anderen Mann zu erlauben, sie zu berühren. Sie machte Constantin nie Vorwürfe, denn sie wusste, sie würde damit nichts anderes erreichen als eine Entfremdung. Im großen ganzen führten sie eine gute Ehe. Sie wusste, sie war keine leidenschaftliche Frau, aber sie war ihrem Mann im Bett gefügig, wann immer er wollte, und sie versuchte, ihm soviel Vergnügen zu geben, wie sie konnte. Wenn sie gewusst hätte, was Noelle mit ihrem Mann im Bett trieb, wäre sie schockiert gewesen, und wenn sie obendrein gewusst hätte, wie sehr es ihrem Mann gefiel, wäre sie todunglücklich gewesen.

Noelles Hauptreiz für Demiris, dem Frauen nichts Neues mehr bieten konnten, bestand darin, dass sie ihn dauernd überraschte. Für ihn, der eine Schwäche für Puzzles hatte, war sie ein Rätsel, das sich jeder Lösung widersetzte. Er hatte noch nie jemanden wie sie kennen gelernt. Sie nahm die schönen

Dinge, die er ihr schenkte, aber sie war genauso glücklich, wenn er ihr nichts gab. Er kaufte ihr eine luxuriöse Villa in Portofino mit Ausblick auf die herrliche hufeisenförmige Bucht, da er wusste, es hätte gar keinen Unterschied gemacht, wenn es eine winzige Behausung in der alten Plaka von Athen gewesen wäre.

Demiris war in seinem Leben vielen Frauen begegnet, die versucht hatten, ihre erotische Anziehungskraft einzusetzen, um ihn auf die eine oder andere Weise zu gängeln. Noelle wollte nie etwas von ihm. Manche Frauen waren zu ihm gekommen, um sich im Glanz seines Ruhms zu sonnen, aber in Noelles Fall war sie es, welche die Journalisten und Fotografen anzog. Sie war ein Star aus eigenem Verdienst, von ihm unabhängig. Eine Zeitlang spielte Demiris mit dem Gedanken, sie sei vielleicht wirklich um seiner selbst willen in ihn verliebt, aber er war zu ehrlich, um an dieser Selbsttäuschung festzuhalten.

Anfangs reizte es ihn, Noelle bis ins letzte zu erforschen, sich ihr Innerstes zu unterwerfen, es sich zu eigen zu machen. Zuerst hatte Demiris versucht, dies mit sexuellen Mitteln zu erreichen, aber zum ersten Mal in seinem Leben war er auf eine Frau gestoßen, die ihm mehr als ebenbürtig war. Ihre sinnliche Gier überstieg die seine. Was immer er tat, konnte sie besser und öfter und geschickter, bis er endlich lernte, sich im Bett zu entspannen und zu genießen wie noch bei keiner anderen Frau in seinem Leben. Sie war ein Phänomen, das dauernd neue Seiten enthüllte, um ihm Freude zu bereiten. Noelle konnte so gut kochen wie irgendeiner der Köche, die er fürstlich entlohnte, und verstand genauso viel von Kunst wie die Experten, denen er Jahreshonorare aussetzte, damit sie Gemälde und Skulpturen für ihn heranschafften. Es machte ihm großen Spaß, ihren Diskussionen über bildende Kunst mit Noelle zuzuhören und das Erstaunen der Experten über ihre profunden Kenntnisse zu beobachten.

Demiris hatte kürzlich einen Rembrandt erstanden, und Noelle war zufällig auf seiner Sommerinsel, als das Gemälde ankam. Der junge Kunstexperte, der es für ihn ausfindig gemacht hatte, war mitgekommen.

»Es ist eines der besten Bilder des Meisters«, sagte der Experte, als er es enthüllte.

Es war ein herrliches Gemälde, das eine Mutter mit ihrer Tochter darstellte. Noelle saß in einem Stuhl, nippte an einem Ouzo und sah ruhig zu.

»Es ist unglaublich schön«, stimmte Demiris zu. Er wandte sich an Noelle. »Wie gefällt es dir?«

»Es ist großartig«, sagte sie. Sie wandte sich an den Experten. »Wo haben Sie es gefunden?«

»Ich habe es bei einem privaten Händler in Brüssel aufgespürt«, erwiderte er stolz, »und ihn dazu überredet, es mir zu verkaufen.«

»Wie viel haben Sie dafür bezahlt?« fragte Noelle.

»Zweihundertundfünfzigtausend Pfund.«

»Ein gutes Geschäft«, erklärte Demiris.

Noelle nahm eine Zigarette in die Hand, und der junge Mann beeilte sich, ihr Feuer zu geben. »Danke«, sagte sie. Sie blickte Demiris an. »Es wäre ein noch besseres Geschäft, Costa, wenn er es direkt von dem Mann gekauft hätte, dem es gehörte.«

»Ich begreife nicht«, sagte Demiris.

Der Experte blickte sie irritiert an.

»Wenn das hier echt ist«, erklärte Noelle, »dann müsste es aus dem Besitz des Herzogs von Toledo stammen.« Sie wandte sich an den Experten. »Stimmt das?« fragte sie.

Sein Gesicht war ganz blass geworden. »Ich – ich habe nicht die geringste Ahnung«, stammelte er. »Der Händler hat mir nichts davon gesagt.«

»Kommen Sie, kommen Sie«, schalt Noelle ihn. »Sie wollen behaupten, Sie erstanden ein so teures Gemälde, ohne seine Herkunft festzustellen? Das ist schwer zu glauben. Im Nachlass wurde der Preis mit einhundertundfünfundsiebzigtausend Pfund angesetzt. Jemand wurde um fünfundsiebzigtausend Pfund betrogen.«

Und es hatte sich als wahr erwiesen. Der Experte und der Kunsthändler wurden des Betruges für schuldig befunden und zu Gefängnis verurteilt. Demiris gab das Gemälde zurück. Als er später über den Vorfall nachdachte, stellte er fest, dass er weniger von Noelles Wissen als von ihrer Ehrlichkeit beeindruckt war. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie einfach den Experten beiseite nehmen, ihn erpressen und das Geld mit ihm teilen können. Statt dessen, hatte sie ihn offen vor Demiris bloßgestellt. Dankbar schenkte er ihr ein sehr teures Smaragdkollier, und sie nahm es mit demselben Gleichmut entgegen, mit dem sie ein Feuerzeug angenommen hätte. Demiris bestand darauf, Noelle überallhin mitzunehmen. Er vertraute niemandem geschäftlich und war daher gezwungen, alle seine Entscheidungen allein zu treffen. Er fand es nützlich, seine geschäftlichen Transaktionen mit Noelle zu besprechen. Sie wusste erstaunlich viel vom Geschäft, und die bloße Tatsache, mit jemandem manchmal darüber sprechen zu können, machte es für Demiris leichter, einen Entschluss zu fassen. Mit der Zeit wusste Noelle mehr über seine Geschäfte als irgend jemand, ausgenommen vielleicht seine Anwälte und Buchhalter. Früher hatte Demiris stets mehrere Geliebte gleichzeitig gehabt, aber jetzt gab ihm Noelle alles, was er brauchte, und so ließ er eine nach der anderen fallen. Sie akzeptierten ihre Entlassung ohne Bitterkeit, denn Demiris war ein großzügiger Mann.

Er besaß eine von vier GM-Motoren angetriebene fünfundvierzig Meter lange Jacht. Sie hatte ein Wasserflugzeug, 24 Mann Besatzung, zwei Rennboote und einen SüßwasserSwimmingpool. Es gab zwölf wunderbar eingerichtete Gastsuiten und ein großes Appartement für ihn selbst, das mit Gemälden und Antiquitäten voll gestopft war.

Wenn Demiris auf seiner Jacht Gäste hatte, war Noelle die

Gastgeberin. Wenn Demiris auf seine private Insel flog oder segelte, nahm er Noelle mit, während Melina zu Hause blieb. Er achtete darauf, dass seine Frau und Noelle nie zusammenkamen, aber es war ihm natürlich klar, dass seine Frau von ihr wusste.

Noelle wurde wie die Angehörige eines Königshauses behandelt, wohin immer sie ging. Aber das stand ihr eigentlich zu. Das kleine Mädchen, das durch das schmutzige Mansardenfenster in Marseille auf ihre Schiffe hinausgeschaut hatte, war jetzt zu der größten Flotte der Welt fortgeschritten. Noelle war nicht von Demiris' Reichtum oder von seinem Namen beeindruckt, sondern von seiner Intelligenz und seiner Kraft. Er hatte den Verstand und den Willen eines Giganten und ließ andere Männer im Vergleich mit ihm kümmerlich erscheinen. Sie spürte die unerbittliche Grausamkeit in ihm, aber irgendwie machte ihn das sogar noch aufregender, denn auch sie besaß diese Eigenschaft.

Noelle erhielt dauernd Angebote, in Stücken und Filmen Hauptrollen zu übernehmen; aber sie zeigte kein Interesse. Sie spielte die Hauptrolle in ihrer Lebensgeschichte; die war faszinierender als alles, was ein Drehbuchautor sich ausdenken konnte. Sie dinierte mit Königen und Premiers und Botschaftern, und sie alle scharwenzelten um sie herum, denn sie wussten, dass sie das Ohr von Demiris besaß. Sie ließen leise Andeutungen fallen über das, was sie haben wollten, und versprachen ihr die ganze Welt, wenn sie ihnen helfen würde.

Aber Noelle besaß bereits die ganze Welt. Sie lag mit Demi-ris im Bett und erzählte ihm, was jeder von ihr gewollt hatte, und dank dieser Informationen konnte Demiris deren Bedürfnisse, Stärken und Schwächen abschätzen. Dann pflegte er den entsprechenden Druck auszuüben, und dadurch floss immer noch mehr Geld in die schon übervollen Kassen.

Demiris' Privatinsel war eine seiner großen Wonnen. Er hatte eine Insel gekauft, die aus rauem, unwirtlichem Land bestand, und hatte sie in ein Paradies verwandelt. Er wohnte in einer Villa, die eindrucksvoll auf dem Gipfel eines Hügels lag; dann gab es ein Dutzend bezaubernder Cottages für seine Gäste, eine Jagd, einen künstlichen Süßwassersee, einen Zoo, einen Hafen, wo seine Jacht anlegen konnte, und einen Landeplatz für seine Flugzeuge. Die Insel hatte einen Stab von achtzig Bediensteten, und bewaffnete Wächter hielten unerwünschte Eindringlinge fern. Noelle liebte die Einsamkeit der Insel, und sie liebte sie am meisten, wenn keine anderen Gäste da waren. Constantin Demiris fühlte sich geschmeichelt, weil er annahm, dass Noelle am liebsten mit ihm allein war. Er wäre überrascht gewesen, wenn er gewusst hätte, wie sehr ihre Gedanken mit einem Mann beschäftigt waren, von dessen Existenz er keine Ahnung hatte.

Larry Douglas war eine halbe Welt von Noelle entfernt, geheime Schlachten auf geheimen Inseln schlagend, und doch wusste sie mehr über ihn als seine Frau, mit der er in ziemlich regelmäßigem Briefverkehr stand. Noelle flog mindestens einmal im Monat nach Paris, um Christian Barbet zu besuchen, und der kahlköpfige, kurzsichtige kleine Detektiv hatte stets einen Bericht mit den allerletzten Nachrichten für sie bereit.

Als Noelle das erste Mal nach Frankreich zurückkehrte, um Barbet zu sehen, gab es Probleme mit dem Ausreisevisum. Man ließ sie fünf Stunden lang auf dem Zollamt warten, bevor man ihr endlich erlaubte, Constantin Demiris anzurufen. Zehn Minuten nachdem sie mit Demiris gesprochen hatte, eilte ein deutscher Offizier herein und brachte überschwängliche Entschuldigungen vor. Man hatte Noelle ein spezielles Visum erteilt, und sie wurde nie mehr aufgehalten.

Der kleine Detektiv freute sich auf Noelles Besuche. Er verlangte von ihr ein Vermögen, aber seine geübte Nase roch noch mehr Geld. Er war sehr erfreut über ihre neue Liaison mit Constantin Demiris. Er hatte das Gefühl, es würde von großem finanziellen Vorteil für ihn sein. Zuerst musste er sich verge-

wissern, dass Demiris nichts von Noelles Interesse für Larry Douglas wusste, dann musste er herausfinden, wie viel diese Information Demiris wert wäre. Oder Noelle Page, damit er schweige. Ein genialer Coup stand bevor, aber er musste seine Karten sorgfältig ausspielen. Die Informationen, die Barbet über Larry sammeln konnte, waren erstaunlich reichhaltig, denn Barbet konnte es sich leisten, seine Quellen gut zu bezahlen.

Während Larrys Frau einen Brief las, der von irgendeinem anonymen Feldpostamt abgestempelt war, berichtete Christian Barbet Noelle: »Er fliegt mit der Vierzehnten Kampfgruppe. Achtundvierzigstes Kampfgeschwader.«

Im Brief an Catherine hieß es: »... ich kann dir nur sagen, dass ich irgendwo im Pazifik bin, Liebling ...«

Und Christian Barbet berichtete Noelle: »Sie sind auf Tarawa. Demnächst kommt Guam dran.«

»... Du fehlst mir wirklich, Cathy. Hier geht's aufwärts. Ich darf dir keine Einzelheiten mitteilen, aber wir haben endlich Flugzeuge, die besser sind als die japanischen Zeros ...«

»Ihr Freund fliegt P-Achtunddreißiger, P-Vierziger und PEinundfünfziger.«

»... Ich freue mich, dass du in Washington tüchtig beschäftigt bist. Bleib mir nur treu, Baby. Hier geht alles bestens. Ich werde eine kleine Neuigkeit für dich haben, wenn wir uns wieder sehen ...«

»Ihr Freund wurde mit dem D. F. C. ausgezeichnet und zum Oberstleutnant befördert.«

Während Catherine an ihren Mann dachte und betete, er möge gesund heimkommen, verfolgte Noelle alle Wege Larrys, und auch sie betete, dass er gesund heimkehre. Bald wäre der Krieg vorbei, und Larry Douglas würde nach Hause kommen. Zu ihnen beiden.

Catherine

Washington 1945-1946

Am Morgen des 7. Mai 1945 ergab sich Deutschland in Reims bedingungslos den Alliierten. Die tausendjährige Herrschaft des Dritten Reiches war zu Ende. Diejenigen, die von der Katastrophe von Pearl Harbor wussten, die gesehen hatten, wie Dünkirchen um ein Haar als Englands Waterloo in die Geschichte eingegangen wäre, diejenigen, welche die RAF kommandiert hatten und wussten, wie hilflos die Abwehr Londons gegen einen Totalangriff der deutschen Luftwaffe gewesen wäre: alle diese Leute wussten, es war eine Reihe von Wundern, die die Alliierten hatte siegen lassen – und sie wussten, wie leicht es hätte anders kommen können. Fast hatten die Kräfte des Bösen triumphiert, und dieser Gedanke war so absurd, so entgegengesetzt der christlichen Ethik, nach der das Gute obsiegt und das Böse unterliegt, dass man sich mit Entsetzen davon abwandte, Gott dankte und die dummen, aber verhängnisvollen Fehler vor den Augen der Nachwelt in Aktenbergen mit der Aufschrift TOP SECRET begrub.

Die Aufmerksamkeit der freien Welt wandte sich nun dem Fernen Osten zu. Die Japaner, diese kleinen kurzsichtigen, komischen Figuren, verteidigten blutig jeden Zoll Land, der in ihrem Besitz war, und es sah aus, als ob der Krieg lang und kostspielig werden würde.

Und dann, am 6. August, warf man die Atombombe auf Hiroshima. Die Zerstörung war unglaublich. In wenigen Minuten war fast die ganze Bevölkerung einer großen Stadt vernichtet, Opfer einer Seuche, schlimmer als alle Kriege und Pestilenzen des ganzen Mittelalters.

Am 9. August, drei Tage später, wurde eine zweite Bombe abgeworfen, diesmal auf Nagasaki. Das Resultat war noch verheerender. Die Zivilisation hatte ihre Sternstunde erreicht;

sie war imstande, einen Völkermord zu inszenieren, der in der Proportion von so und so viel Millionen Menschen pro Sekunde kalkuliert werden konnte. Es war zuviel für die Japaner, und am 3. September 1945, auf dem Schlachtschiff Missouri, nahm General MacArthur die bedingungslose Kapitulation der japanischen Regierung entgegen. Der zweite Weltkrieg war beendet.

Als die Nachricht verkündet wurde, hielt die Welt einen Augenblick den Atem an und brach dann in dankbaren, tief empfundenen Jubel aus. Städte und Dörfer in der ganzen Welt waren mit Menschenmassen gefüllt, die das Ende des Krieges, der alle Kriege beenden würde, mit hysterischen Freudenausbrüchen feierten.

Durch irgendeine Zauberei, die er Catherine nie erklären wollte, gelang es Bill Fräser am Tag darauf, eine telefonische Verbindung mit Larry Douglas auf einer Insel im Südpazifik herzustellen. Es sollte eine Überraschung für Catherine sein. Fräser bat sie, in ihrem Büro auf ihn zu warten, so dass sie zusammen zum Mittagessen gehen könnten. Um 14.30 Uhr rief Catherine Bill über Wechselsprechanlage an.

»Wann wirst du mir etwas zu essen geben?« fragte sie. »Es wird bald Zeit fürs Abendessen.«

»Halt aus«, antwortete Fräser. »Ich bin in einer Minute bei dir.«

Fünf Minuten später rief er sie an und sagte: »Da ist ein Anruf für dich auf Leitung eins.«

Catherine nahm den Hörer ab. »Hallo?« Sie hörte Knattern und anschwellendes Geräusch wie die Wellen eines fernen Ozeans. »Hallo«, wiederholte sie.

Eine männliche Stimme sagte: »Mrs. Larry Douglas?«

»Ja«, sagte Catherine verblüfft. »Wer ist da?«

»Einen Augenblick, bitte.«

Durch den Hörer kam ein hohes Heulen. Dann wieder Knattern, und dann sagte eine Stimme: »Cathy.«

Sie saß klopfenden Herzens da, unfähig zu sprechen. »Larry? Larry?«

»Ja, Baby.«

»Oh, Larry!« Sie begann zu weinen und unerwartet am ganzen Körper zu zittern.

»Wie geht's dir, Liebling?«

Sie krallte ihre Fingernägel in den Arm, um sich weh zu tun und so die Hysterie, die sich ihrer plötzlich bemächtigt hatte, zu unterdrücken. »Mir geht's g-gut«, sagte sie. »Wo – wo bist du?«

»Wenn ich es dir sage, werden wir getrennt«, sagte er. »Irgendwo im Pazifik.«

»Also ganz in der Nähe.« Sie bekam die Stimme wieder in ihre Gewalt. »Geht's dir gut, Liebling?«

»Mir geht's ausgezeichnet.«

»Wann kommst du nach Hause?«

»Kann sich nur noch um Sekunden handeln«, versprach er.

Catherine schössen wieder die Tränen in die Augen. »O. K., stimmen wir unsere Uhren aufeinander ab.«

»Weinst du?«

»Natürlich weine ich, du Idiot! Ich bin nur froh, dass du nicht sehen kannst, wie die Wimperntusche über mein Gesicht rinnt. Oh, Larry ... Larry ...«

»Du hast mir gefehlt, Baby«, sagte er.

Catherine dachte an die langen, einsamen Nächte, die zu Wochen und Monaten und Jahren ohne ihn geworden waren, ohne seine Arme um sie, ohne seinen kraftvollen, wunderbaren Körper neben ihr, ohne seinen Trost, seinen Schutz und seine Liebe. Und sie sagte: »Du hast mir auch gefehlt.«

Die Stimme eines Mannes war zu hören: »Es tut mir leid, Oberst, aber wir müssen trennen.«

Oberst!

»Warum hast du mir nichts von deiner Beförderung gesagt?«

»Ich hatte Angst, es würde dir zu Kopf steigen.«

»Oh, Liebling, ich«

Das Rauschen des Ozeans wurde lauter, plötzlich war es still, und die Verbindung war unterbrochen. Catherine saß an ihrem Schreibtisch und starrte das Telefon an. Und dann grub sie den Kopf in die Arme und weinte.

Zehn Minuten später kam Fräsers Stimme übers Haustelefon: »Ich bin zum Lunch bereit, wenn du soweit bist, Cathy«, sagte er.

»Ich bin jetzt zu allem bereit«, sagte sie freudig. »Gib mir fünf Minuten.« Sie lächelte dankbar beim Gedanken, was Fräser für sie getan hatte und wie viel Mühe es ihn wohl gekostet haben mochte. Er war der liebste Mensch, den sie je gekannt hatte. Nach Larry, natürlich.

Catherine hatte sich Larrys Ankunft so oft ausgemalt, dass die eigentliche Ankunft fast dagegen abfiel. Bill Fräser hatte ihr erklärt, Larry käme wahrscheinlich in einem Lufttransporter oder in einem MATS-Flugzeug nach Hause, und diese verkehrten nicht zu bestimmten Zeiten wie kommerzielle Fluglinien. Man organisierte sich einen Platz auf dem ersten Flug, den man kriegen konnte – und es machte nichts aus, welchen Bestimmungsort das Flugzeug hatte, solange es nur in die richtige Richtung flog.

Catherine blieb den ganzen Tag zu Hause und wartete auf Larry. Sie versuchte zu lesen, aber sie war zu nervös. Sie saß da, hörte Nachrichten und dachte an Larrys Heimkehr, diesmal für immer. Um Mitternacht war er noch nicht da. Wahrscheinlich würde er nicht vor dem nächsten Tag kommen. Um zwei Uhr morgens, als Catherine die Augen nicht länger offen halten konnte, ging sie zu Bett.

Sie wurde von einer Hand auf ihrem Arm geweckt, öffnete die Augen, und er stand über ihr, ihr Larry stand da, blickte auf sie nieder, ein Lachen auf seinem schmalen, braunen Gesicht; wie ein Blitz war Catherine in seinen Armen, und all die

Besorgnis, die Einsamkeit, der Schmerz der letzten vier Jahre waren wie weggewaschen in der reinigenden Flut einer Freude, die jede Faser ihres Seins zu füllen schien. Sie umarmte ihn, bis sie glaubte, ihm die Knochen zu brechen. So wollte sie immer bleiben und nie wieder loslassen.

»Sachte, Liebling«, sagte Larry endlich. Er entzog sich ihr mit einem Lächeln auf dem Gesicht. »Komische Meldung in den Zeitungen: >Flieger kommt unversehrt aus dem Krieg zurück und wird von seiner Frau zu Tode umarmt.<«

Catherine drehte das Licht an, alle Lampen im Raum, so dass das Zimmer von Helligkeit überflutet war und sie ihn sehen, ihn genau sehen, ihn mit ihren Augen verschlingen konnte. Sein Gesicht war reifer geworden. Um seine Augen und seinen Mund waren feine Linien, die vorher nicht da gewesen waren. Er sah besser als je zuvor aus.

»Ich wollte dich abholen«, stammelte Catherine, »aber ich wusste nicht, wo. Ich rief die Luftwaffe an, sie konnten mir überhaupt keine Auskunft geben, und so wartete ich einfach hier und ...«

Larry kam auf sie zu und brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. Sein Kuss war hart und fordernd. Catherine hatte erwartet, dasselbe physische Verlangen zu verspüren wie er, und sie war überrascht festzustellen, dass dem nicht so war. Sie liebte ihn sehr, und doch wäre sie zufrieden gewesen, einfach mit ihm zu sitzen, zu sprechen, statt mit ihm ins Bett zu gehen, wie er so dringend wollte. Sie hatte ihre sexuellen Gefühle für ihn so lange Zeit verdrängt, dass sie tief begraben waren, und es würde einige Zeit dauern, bevor sie wiedererweckt und an die Oberfläche gebracht werden könnten.

Aber Larry ließ ihr keine Zeit. Er warf die Kleider von sich und sagte: »O Gott, Cathy, du kannst dir nicht vorstellen, wie ich von diesem Augenblick geträumt habe. Ich wurde dort draußen ganz verrückt. Und schau dich an. Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung habe.«

Er riss seine Shorts herunter und stand nackt da. Und irgendwie war es ein Fremder, der sie aufs Bett niederstieß, und sie wünschte, Larry hätte ihr Zeit gegeben, sich daran zu gewöhnen, dass er wieder zu Hause war, sich an seine Nacktheit zu gewöhnen. Aber er warf sich ohne zärtliche Vorspiele auf sie, zwängte sich in sie, und sie wusste, dass sie nicht für ihn bereit war. Er riss sie auf, tat ihr weh, und sie biss sich in die Hand, um das Aufschreien zurückzuhalten, als er auf ihr lag und sie wie ein wildes Tier liebte. Ihr Mann war wieder zu Hause.

Während des nächsten Monats blieb Catherine mit Fräsers Genehmigung vom Büro weg, und sie und Larry verbrachten fast jeden Augenblick zusammen. Sie kochte alle seine Lieblingsgerichte für ihn, sie hörten sich Platten an und redeten und redeten und versuchten, die Lücken der vergangenen Jahre zwischen ihnen wieder zu schließen. Ihr Körper war jetzt für ihn bereit, und sie fand ihn als Liebhaber genauso aufregend wie immer. Fast so aufregend.

Sie wollte es sich selbst nicht eingestehen, aber etwas war auf undefinierbare Weise an Larry anders. Er forderte mehr und gab weniger. Immer noch war da ein zärtliches Vorspiel, bevor sie sich liebten, aber er tat es auf mechanische Art, wie eine Pflichtübung sozusagen, bevor er zum eigentlichen Angriff überging. Und es war ein Angriff, ein wildes und ungestümes Nehmen, als wolle sich sein Körper für irgend etwas rächen, als wolle er strafen. Jedes Mal nachher war Catherine mit blauen Flecken übersät und fühlte sich zerschlagen, als ob sie verprügelt worden wäre. Vielleicht, verteidigte sie ihn, ist es nur, weil er so lange keine Frau gehabt hatte.

Die Tage vergingen, und seine Liebestechnik blieb die gleiche, und das brachte Catherine schließlich dazu, nach anderen Veränderungen an ihm zu forschen. Sie versuchte, ihn unparteiisch zu betrachten, versuchte zu vergessen, dass er ihr Mann war, den sie vergötterte. Sie sah einen großen gut gewachsenen Mann mit tiefen dunklen Augen und einem umwerfend schönen Gesicht. Oder vielleicht war »schön« nicht mehr das richtige Wort. Die Linien um seinen Mund verliehen seinen Zügen eine gewisse Härte. Wenn sie ihn als Fremden ansähe, hätte Catherine gedacht: Das ist ein Mann, der egoistisch, rücksichtslos und kalt sein kann. Und doch sagte sie sich, es sei lächerlich. Denn es war doch ihr Larry, liebevoll, freundlich und aufmerksam wie eh und je.

Stolz stellte sie ihn allen ihren Freunden und Kollegen vor, aber sie schienen ihn zu langweilen. Bei Parties zog er sich oft in eine Ecke zurück und verbrachte den Abend mit Trinken. Es schien Catherine, dass ihm an Geselligkeit nichts lag. »Warum auch?« fuhr er sie eines Abends an, als sie mit ihm darüber sprach. »Wo zum Teufel waren alle diese fetten Schweine, als ich in der Luft war und den Arsch hinhalten musste?«

Einige Male schnitt Catherine das Thema an, was Larry in Zukunft zu tun gedenke. Sie hatte angenommen, er würde in der Luftwaffe bleiben wollen, aber das erste, was Larry nach seiner Heimkehr tat, war, seinen Abschied zu nehmen.

»Der Militärdienst ist für Dummköpfe. Man kommt dabei nur herunter«, hatte er gesagt.

Es war fast wie eine Parodie ihrer ersten Unterhaltung mit ihm in Hollywood. Nur hatte er damals gescherzt.

Catherine musste mit jemandem über das Problem sprechen, und sie entschloss sich schließlich, mit Bill Fräser zu reden. Sie erzählte ihm, was sie bekümmerte, erwähnte aber die intimeren Probleme nicht.

»Wenn es irgendwie ein Trost für dich ist«, sagte Fräser mitfühlend, »es gibt Millionen von Frauen in der ganzen Welt, die das gleiche durchmachen wie du jetzt. Es ist wirklich ganz einfach, Catherine. Du bist mit einem Fremden verheiratet.«

Catherine blickte ihn schweigend an.

Fräser hielt inne, stopfte seine Pfeife und zündete sie an. »Du kannst nicht wirklich erwarten, dass alles wieder da weitergeht, wo ihr vor vier Jahren aufgehört habt, als Larry weg musste.

Diese damalige Situation stimmt nicht mehr. Du bist ihr entwachsen und Larry ebenfalls. Was eine Ehe hauptsächlich intakt hält, ist doch, dass Mann und Frau gemeinsame Erfahrungen haben. Sie entwickeln sich, und ihre Ehe entwickelt sich. Ihr werdet gemeinsame Berührungspunkte wieder finden müssen.«

»Ich finde es eigentlich nicht anständig von mir, mit dir darüber zu sprechen.«

Fräser lächelte. »Ich habe dich zuerst gekannt«, meinte er. »Erinnerst du dich?«

»O ja.«

»Sicher empfindet Larry ebenso«, fuhr Fräser fort. »Er hat vier Jahre mit tausend Männern zusammengelebt, und jetzt muss er sich daran gewöhnen, mit einem Mädchen zu leben.«

Sie lächelte. »Mit allem, was du sagst, hast du recht. Ich glaube, ich musste es nur einmal von jemandem hören.«

»Jeder kann gute Ratschläge geben, wie Verwundete zu behandeln sind«, bemerkte Fräser, »aber es gibt Wunden, die nicht zu sehen sind.

Manchmal gehen sie tief.« Er sah den Blick auf Catherines Gesicht. »Ich meine nichts Ernstes«, fügte er schnell hinzu. »Ich spreche nur über die Gräuel, die jeder Frontsoldat zu sehen gezwungen ist. Wenn der Mann nicht ein Rohling ist, muss so etwas eine enorme Wirkung auf seine seelische Verfassung haben. Verstehst du, was ich meine?« Catherine nickte. »Ja.« Die Frage war: Was für eine Wirkung hatte es gehabt?

Als Catherine endlich zu ihrer Arbeit zurückkehrte, waren die Leute in der Agentur überglücklich sie wieder zu sehen. Während der ersten drei Tage tat sie fast nichts anderes, als Werbekampagnen und Entwürfe für neue Klienten nachzuholen und zu bearbeiten. Sie arbeitete von frühmorgens bis spät in die Nacht, versuchte die Zeit, die sie verloren hatte, wieder einzuholen, plagte Texter und Sketchschreiber und beruhigte

nervöse Klienten. Sie verstand ihren Job ausgezeichnet, und sie liebte ihn.

Larry pflegte auf Catherine zu warten, wenn sie abends nach Hause kam. Anfangs hatte sie ihn gefragt, was er in ihrer Abwesenheit tat; aber seine Antworten waren stets vage, und schließlich fragte sie ihn nicht mehr. Er hatte eine Mauer zwischen ihnen errichtet, und sie wusste nicht, wie sie eine Bresche schlagen sollte. Er war über fast alles, was Catherine sagte, beleidigt, und es gab andauernd Streit wegen Kleinigkeiten. Gelegentlich aßen sie mit Fräser zu Abend, und sie gab sich große Mühe, diese Abende fröhlich und heiter zu gestalten, damit Fräser nicht merkte, dass etwas nicht stimmte.

Aber Catherine musste der Tatsache ins Auge blicken, dass irgend etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie fühlte, dass es zum Teil ihre Schuld war. Sie liebte Larry noch immer. Sie liebte sein Aussehen, seinen Körper, und sie liebte die Erinnerung an ihn, aber sie wusste, wenn er so weitermachte, würde er sie beide zugrunde richten.

Sie aß mit William Fräser zu Mittag.

»Wie geht es Larry?« fragte er.

Die automatische Antwort: »Großartig« wollte auf ihre Lippen kommen, und sie hielt inne. »Er braucht eine Stellung«, sagte Catherine unverblümt.

Fräser lehnte sich zurück und nickte. »Fängt er an, unruhig zu werden, weil er ohne Arbeit ist?«

Sie zögerte, wollte nicht lügen. »Er will nicht irgend etwas tun«, sagte sie vorsichtig. »Er müsste das Richtige finden.«

Fräser blickte sie prüfend an, versuchte herauszuhören, was hinter ihren Worten steckte.

»Würde es ihm liegen, Pilot zu sein?«

»Er will nicht in den Militärdienst zurück.«

»Ich dachte an eine der Fluglinien. Ich habe einen Freund, der Direktor bei der PAN AM ist. Die würden sich glücklich schätzen, jemanden mit Larrys Erfahrung zu bekommen.«

Catherine saß da und dachte darüber nach; sie versuchte, sich an Larrys Stelle zu versetzen. Er liebte das Fliegen mehr als irgend etwas auf der Welt. Es wäre ein guter Job, er würde genau zu ihm passen. »Es – es klingt wunderbar«, sagte sie behutsam. »Glaubst du wirklich, du könntest ihm diesen Job verschaffen, Bill?«

»Ich werde es versuchen«, sagte er. »Warum horchst du Larry nicht zuerst aus, was er davon hält?«

»Das werde ich tun.« Catherine nahm dankbar seine Hand in die ihre. »Tausend Dank.«

»Wofür?« fragte Fräser leichthin.

»Dafür, dass du immer da bist, wenn ich dich brauche.«

Er legte seine Hand auf die ihre. »Das gehört eben dazu.«

Als Catherine an jenem Abend Larry von Bill Fräsers Vorschlag berichtete, sagte er: »Das ist die beste Idee, die ich seit meiner Heimkehr gehört habe«, und zwei Tage später hatte er eine Verabredung mit Carl Eastman in der Zentrale der PAN AM in Manhattan. Catherine bügelte ihm seinen Anzug aus, wählte Hemd und Krawatte und putzte seine Schuhe so glänzend, dass sie sich darin spiegeln konnte. »Ich werde dich so bald wie möglich anrufen und dich wissen lassen, wie es gegangen ist.« Er küsste sie, lächelte sein jungenhaftes Lächeln und ging.

In vielerlei Hinsicht war Larry wirklich wie ein kleiner Junge, dachte Catherine. Er konnte reizbar, jähzornig, mürrisch sein, aber er war auch liebevoll und großzügig.

»Pech«, seufzte Catherine. »Ausgerechnet ich muss der einzige perfekte Mensch auf der ganzen Welt sein.«

Sie hatte sehr viel Arbeit vor sich, aber sie war außerstande, an etwas anderes zu denken als an Larry und seine Verabredung. Sie hatte das Gefühl, dass ihre ganze Ehe von dem abhing, was jetzt geschehen würde.

Es sollte der längste Tag in ihrem Leben werden.

Die Zentrale der PAN AM befand sich in einem modernen

Gebäude zwischen der Fifth Avenue und der 53. Straße. Carl Eastmans Büro war geräumig und bequem ausgestattet, er hatte offensichtlich eine wichtige Stellung inne.

»Kommen Sie herein und setzen Sie sich«, begrüßte er Larry, als dieser das Büro betrat.

Eastman war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, ein sportlicher Typ mit hervorstehenden Backenknochen und durchdringenden nussbraunen Augen, denen nichts entging. Er wies Larry einen Platz auf der Couch an und setzte sich ihm gegenüber.

»Kaffee?«

»Nein, danke«, sagte Larry.

»Ich habe gehört, Sie wollen bei uns arbeiten.«

»Wenn eine Stelle frei ist.«

»Es ist eine frei«, sagte Eastman, »nur haben sich etwa tausend Knüppeljockeis darum beworben.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Es ist unglaublich. Die Luftwaffe bringt Tausenden von intelligenten jungen Männern bei, wie man die kompliziertesten Maschinen fliegt, die je erfunden worden sind. Und wenn sie dann ihren Job getan haben und ihn verdammt gut getan haben, dann schickt sie die Luftwaffe zum Teufel. Man hat nichts für sie.« Er seufzte. »Sie würden es nicht glauben, wie viel Leute hier den ganzen Tag hereinkommen. Spitzenpiloten, Asse wie Sie selbst. Es gibt nur eine freie Stelle pro tausend Bewerber – und die anderen Fluglinien sind in genau der gleichen Lage.«

Ein Gefühl von Enttäuschung überkam Larry. »Warum haben Sie mich dann empfangen?« fragte er steif.

»Aus zwei Gründen. Nummer eins, weil der Mann über mir mich angewiesen hat.«

Larry fühlte, wie der Zorn in ihm aufstieg.

»Ich brauche keine«

Eastman beugte sich vor. »Nummer zwei, weil Sie verdammt gute Flugleistungen aufzuweisen haben.«

»Danke«, sagte Larry knapp.

Eastman blickte ihn prüfend an. »Sie müssten einen Trainingskurs mitmachen, verstehen Sie. Es wäre, als ob Sie wieder zur Schule gingen.«

Larry zögerte, unsicher, wohin das Gespräch führte.

»Das hört sich ganz gut an«, sagte er vorsichtig.

»Sie werden dieses Training in New York außerhalb von La-Guardia absolvieren müssen.«

Larry nickte, wartete.

»Es gibt vier Wochen Grundschulung und dann einen Monat Flugtraining.«

»Sie fliegen DC-4?« fragte Larry.

»Richtig. Nach Beendigung Ihres Trainings werden wir Sie als Navigator einsetzen. Ihr Gehalt während des Kurses beträgt 350 Dollar im Monat.«

Er hatte den Job bekommen! Dieser Hundesohn hatte ihn an der Nase herumgeführt mit den tausend Piloten, die hinter ihm her waren. Aber er hatte den Job. Worüber hatte er sich Sorgen gemacht? Niemand in der ganzen verdammten Luftwaffe hatte eine bessere Personalakte als er.

Larry grinste. »Es macht mir nichts aus, als Navigator anzufangen, aber ich bin Pilot. Wann kommt das an die Reihe?«

Eastman seufzte. »Die Fluglinien sind gewerkschaftlich organisiert. Der einzige Weg, wie jemand avancieren kann, führt über das höhere Dienstalter. Wollen Sie es versuchen?«

Larry nickte. »Was habe ich schon zu verlieren!«

»Gut«, sagte Eastman. »Ich werde die Formalitäten in Ordnung bringen. Sie werden sich natürlich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen müssen. Gibt es da irgendwelche Probleme?«

Larry grinste. »Die Japaner haben an mir alles in Ordnung gefunden.«

»Wann können Sie mit der Arbeit anfangen?«

»Ist heute Nachmittag zu früh?«

»Sagen wir Montag.« Eastman kritzelte einen Namen auf eine Karte und gab sie Larry. »Da. Man wird Sie um 9 Uhr Montag morgen erwarten.«

Als Larry Catherine anrief, um ihr die Neuigkeit zu überbringen, lag eine Erregung in seiner Stimme, wie Catherine sie seit langem nicht gehört hatte. Sie wusste, alles würde wieder in Ordnung kommen.

Noelle

Athen 1946

Constantin Demiris besaß eine Flotte von Flugzeugen für seinen persönlichen Gebrauch, aber sein Stolz war eine umgebaute Hawker Siddeley, die sechzehn Passagiere mit luxuriösem Komfort transportierte, eine Geschwindigkeit von dreihundert Meilen pro Stunde erreichte und eine vierköpfige Besatzung hatte. Es war ein fliegender Palast. Das Innere war von Frederick Sawrin ausgestattet worden, und Chagall hatte die Wände mit Fresken ausgemalt. Statt Flugsitzen waren Lehnsessel und komfortable Sofas in der Kabine angebracht. Die Achter-Kabine war in ein luxuriöses Schlafzimmer verwandelt worden. Vorne hinter dem Cockpit gab es eine moderne Küche. Jedes Mal, wenn Demiris oder Noelle flogen, war ein Koch an Bord.

Demiris hatte einen griechischen Flieger namens Paul Meta-xas und einen englischen Ex-RAF-Kampfflieger namens Ian Whitestone zu seinen persönlichen Piloten gewählt. Metaxas war ein untersetzter, liebenswürdiger Mann mit freundlichem Ausdruck und herzlichem, ansteckendem Lachen. Er war Mechaniker gewesen, hatte sich selbst das Fliegen beigebracht und hatte mit der RAF in der Schlacht um England gekämpft, wo er Ian Whitestone kennen gelernt hatte. Whitestone war hoch gewachsen, rothaarig und sehr dünn und hatte das unsichere Benehmen eines Schulmeisters am ersten Schultag in einer zweitklassigen Anstalt für Sonderschüler. In der Luft war Whitestone ganz anders. Er hatte die seltene natürliche Geschicklichkeit des geborenen Piloten, etwas, das man weder lehren noch erlernen kann. Whitestone und Metaxas waren drei Jahre zusammen gegen die deutsche Luftwaffe geflogen, und jeder schätzte den anderen sehr.

Noelle unternahm häufig Reisen in dem großen Flugzeug, manchmal geschäftlich mit Demiris, manchmal zum Vergnügen. Sie hatte die Piloten kennen gelernt, schenkte ihnen jedoch keine besondere Aufmerksamkeit.

Und dann hörte sie eines Tages zufällig, wie sie sich über ein Erlebnis unterhielten, das sie einmal in der RAF gehabt hatten.

Von diesem Augenblick an verbrachte Noelle entweder einen Teil des Fluges im Cockpit im Gespräch mit den beiden Männern oder bat einen von ihnen in die Kabine. Sie regte sie an, über ihre Kriegserlebnisse zu sprechen, und erfuhr schließlich, ohne je eine direkte Frage zu stellen, dass Whitestone Verbindungsoffizier in Larry Douglas' Staffel gewesen war, bevor Douglas die RAF verlassen hatte, und dass Metaxas zu spät in die Staffel versetzt worden war, um Larry kennen zu lernen. Noelle begann sich auf den englischen Piloten zu konzentrieren. Ermutigt und geschmeichelt durch das Interesse der Geliebten seines Arbeitgebers, sprach Whitestone offen über seine Vergangenheit und über seine künftigen Ambitionen. Er erzählte Noelle, dass er immer an der Elektronik interessiert gewesen sei. Sein Schwager in Australien hatte eine kleine Elektronikfirma aufgemacht und wollte Whitestone zum Partner haben, aber Whitestone hatte nicht das Kapital dazu.

»Bei meiner Lebensweise«, sagte er grinsend zu Noelle, »werde ich es nie schaffen.«

Noelle besuchte weiterhin einmal im Monat Christian Barbet in Paris. Barbet hatte Verbindung mit einem privaten Detektivbüro in Washington aufgenommen, und die Berichte über Larry Douglas strömten nur so herein. Einmal versuchte der kleine Detektiv, vorsichtig das Terrain zu sondieren, und bot ihr an, die Berichte nach Athen zu senden, aber sie sagte ihm, sie zöge es vor, sie persönlich abzuholen. Barbet hatte schlau mit dem Kopf genickt und im Verschwörerton gesagt: »Ich verstehe, Mademoiselle Page.« Sie wollte also nicht, dass Constantin Demiris von ihrem Interesse an Larry Douglas wusste. Die Möglichkeiten für eine Erpressung waren überwältigend.

»Sie sind sehr hilfreich gewesen, Monsieur Barbet«, sagte Noelle, »und sehr diskret.«

Er lächelte ölig. »Danke, Mademoiselle. Mein Beruf lebt von der Diskretion.«

»Genau«, erwiderte Noelle. »Ich weiß, Sie sind diskret, weil Constantin Demiris nie Ihren Namen mir gegenüber erwähnt hat. An dem Tag, an dem er es tut, werde ich ihn bitten, Sie zu vernichten.« Sie sagte das in einem freundlichen Gesprächston, aber es schlug wie eine Bombe ein.

Monsieur Barbet starrte Noelle lange erschrocken an und biss sich auf die Lippen. Er kratzte sich nervös in der Leistengegend und stammelte: »Ich – ich versichere Ihnen, Mademoisel-le, ich würde nie – nie ...«

»Sicherlich nicht«, sagte Noelle und ging.

In dem Linienflugzeug, das sie nach Griechenland zurückbrachte, las Noelle den vertraulichen Bericht.

ACME SICHERHEITSAGENTUR

1402 »D« Street Washington, D. C.

Betrifft: Nr. 2-179-210 2. Februar 1946

Sehr geehrter Monsieur Barbet,

einer unserer Detektive sprach mit einer Kontaktperson in der

Personalabteilung der PAN AM: Die fragliche Person wird als

fähiger Kampfpilot angesehen, aber man bezweifelt, ob er

diszipliniert genug ist, um zufrieden stellend in einer großen

straffen Organisation zu arbeiten.

Das Privatleben der fraglichen Person spielt sich in derselben

Weise ab wie in den vorhergehenden Berichten. Wir sind ihm

zu den Wohnungen verschiedener Frauen, die er aufgelesen

hatte, gefolgt, wo er sich während einer Zeitspanne von einer

bis fünf Stunden aufhielt, und wir nehmen an, dass er sexuelle

Beziehungen mit diesen Frauen hat. (Namen und Adressen sind

in unserer Kartei, falls Sie sie wünschen.)

Angesichts der neuen Beschäftigung der fraglichen Person ist

es möglich, dass diese Lebensweise sich ändert. Auf Ihr

Ersuchen hin werden wir dem nachgehen.

Unsere Rechnung ist beigefügt.

Mit vorzüglicher Hochachtung,

R. Ruttenberg

Direktor

Noelle lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie malte sich aus, wie Larry in der Falle saß, die ihm seine eigene Schwäche gestellt hatte, ruhelos, gequält, verheiratet mit einer ungeliebten Frau.

Seine neue Stellung bei der Fluglinie konnte Noelles Plan vielleicht etwas verzögern, aber sie hatte Geduld. Mit der Zeit würde sie Larry zu sich holen. Inzwischen konnte sie gewisse Schritte unternehmen, um die Dinge zu beschleunigen.

Ian Whitestone war entzückt, von Noelle Page zum Mittagessen eingeladen zu werden. Anfänglich hatte er sich eingebildet, dass sie ihn anziehend finde, aber alle ihre Begegnungen hatten sich auf einer liebenswürdigen, doch förmlichen Basis abgespielt, die ihn fühlen ließ, dass er ein Angestellter und sie für ihn unerreichbar war. Er hatte sich oft den Kopf zerbrochen, was Noelle von ihm wollte, denn Whitestone war ein intelligenter Mann und hatte das seltsame Gefühl, dass ihre Zufallsunterhaltungen ihr mehr bedeuteten als ihm.

An diesem Tag fuhren Whitestone und Noelle in eine kleine Stadt am Meer in der Nähe von Kap Sunion, wo sie zu Mittag aßen. Noelle war in ein weißes Sommerkleid und Sandalen gekleidet, ihr weiches blondes Haar flatterte im Wind, und sie war nie schöner gewesen, Ian Whitestone war mit einem Mannequin in London verlobt, und obwohl sie hübsch war,

konnte sie sich nicht mit Noelle messen. Whitestone war niemals einer Frau begegnet, die es mit ihr aufnehmen konnte, und er hätte Constantin Demiris beneidet, wenn ihm Noelle in der Rückerinnerung nicht stets begehrenswerter erschienen wäre. Wenn Whitestone wirklich mit ihr zusammen war, war er leicht eingeschüchtert. Jetzt hatte Noelle das Gespräch auf seine Zukunftspläne gelenkt, und er fragte sich, nicht zum ersten Mal, ob sie ihn etwa auf Demiris' Befehl hin aushorchte, wie ergeben er seinem Chef war.

»Ich liebe meinen Job«, versicherte der Pilot Noelle ernsthaft. »Ich möchte ihn gerne behalten, bis ich so alt bin, dass ich nicht mehr sehe, wohin ich fliege.«

Noelle sah ihn einen Augenblick prüfend an, merkte seinen Argwohn. »Sie enttäuschen mich«, sagte sie bedauernd. »Ich hatte gehofft, Sie hätten mehr Ehrgeiz.«

Whitestone starrte sie an. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie eines Tages Ihre eigene Elektronikfirma haben wollten?«

Er erinnerte sich, es einmal flüchtig erwähnt zu haben, und es erstaunte ihn, dass sie es noch wusste.

»Das war nur ein Wunschtraum«, erwiderte er. »Man braucht eine Menge Geld dazu.«

»Ein Mann mit Ihren Fähigkeiten«, sagte Noelle, »sollte sich nicht durch Mangel an Geld abhalten lassen.«

Whitestone saß verlegen da, er wusste nicht, was Noelle von ihm erwartete. Er mochte seine Stellung wirklich. Er verdiente mehr Geld, als er je in seinem Leben verdient hatte, die Arbeitszeit war gut, und die Arbeit war interessant. Andererseits musste er nach der Pfeife eines exzentrischen Milliardärs tanzen, der von ihm erwartete, dass er zu jeder Tages- und Nachtstunde zu seiner Verfügung stand. Sein Privatleben war dadurch sehr unruhig geworden, und seine Verlobte war trotz des guten Gehaltes über seine Tätigkeit nicht glücklich.

»Ich habe mit einem Freund über Sie gesprochen«, sagte

Noelle. »Er investiert gerne in neuen Unternehmungen.«

Ihre Stimme hatte einen fast emphatischen Klang, als wäre sie sehr angetan von dem, was sie sagte, ohne ihn direkt drängen zu wollen. Whitestone blickte auf.

»Er ist sehr an Ihnen interessiert«, sagte sie.

Whitestone schluckte. »Ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mademoiselle Page.«

»Ich erwarte nicht, dass Sie sich jetzt dazu äußern«, versicherte ihm Noelle.

Er dachte einen Augenblick nach. »Weiß Mr. Demiris davon?« fragte er endlich.

Noelle lächelte verschwörerisch. »Ich fürchte, Mr. Demiris würde nie zustimmen. Er verliert nicht gerne Angestellte, besonders wenn sie gut sind. Wie dem auch sei« Sie machte eine kleine Pause. »Ich glaube, jemand wie Sie hat das Recht, so viel aus dem Leben herauszuholen, wie er kann. Es sei denn natürlich«, fügte sie abschätzig hinzu, »Sie wollen Ihr ganzes Leben für andere arbeiten.«

»Das will ich nicht«, sagte Whitestone schnell und erkannte plötzlich, dass er sich gebunden hatte. Er musterte Noelles Gesicht, um zu sehen, ob er die Andeutung einer Falle darin entdecken konnte, aber alles, was er darin las, war mitfühlendes Verständnis. »Jeder Mann, der etwas taugt, möchte gern sein eigenes Geschäft haben«, sagte er zu seiner Rechtfertigung.

»Natürlich«, gab Noelle zu. »Denken Sie darüber nach, und wir sprechen noch einmal darüber.« Und dann fügte sie warnend hinzu: »Es bleibt unter uns.«

»Selbstverständlich«, sagte Whitestone, »und vielen Dank. Wenn es zustande käme, wäre es schon fabelhaft.«

Noelle nickte. »Ich habe das Gefühl, es kommt zustande.«

Catherine

Washington-Paris 1946

Um 9 Uhr am Montag morgen meldete sich Larry Douglas bei dem Chef-Piloten, Kapitän Hai Sakowitz, im Büro der PanAm auf dem La Guardia Flugplatz von New York. Als Larry eintrat, nahm Sakowitz die Kopie von Larrys Personalbogen, die er gerade studiert hatte, und schob sie in eine Schreibtischschublade.

Kapitän Sakowitz war ein untersetzter, robust wirkender Mann mit einem durchfurchten, Wetter gegerbten Gesicht und den größten Händen, die Larry je gesehen hatte. Sakowitz war einer der wahren Veteranen der Luftfahrt. Er hatte in den frühesten Tagen der Luftakrobatik angefangen, hatte einmotorige Postflugzeuge für die Regierung geflogen, war zwanzig Jahre lang Fluglinienpilot gewesen und PanAm-Chefpilot während der letzten fünf Jahre.

»Ich freue mich, Sie bei uns zu haben, Douglas«, sagte er.

»Ich freue mich, hier zu sein«, entgegnete Larry.

»Brennen Sie darauf, wieder in ein Flugzeug zu steigen?«

»Wer braucht schon ein Flugzeug?« grinste Larry. »Stellen Sie mich in die richtige Windrichtung, und ich starte.«

Sakowitz zeigte auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich. Ich lerne gerne euch Jungs kennen, die hier hereinkommen, um meinen Job zu übernehmen.«

Larry lachte. »Sie haben es also bemerkt.«

»Oh, ich mache keinem von euch einen Vorwurf. Ihr seid alle tolle Piloten, habt großartige Kampferfahrung, ihr kommt hier herein und denkt: >Wenn dieser dämliche Sakowitz Chefpilot sein kann, dann müssten sie mich zum Präsidenten der Gesellschaft machen.< Keiner von euch Jungen hat die Absicht, sehr lange Navigator zu bleiben. Es ist nur ein

Sprungbrett zum Piloten. Das ist ganz natürlich, und so soll es auch sein.«

»Es freut mich, dass Sie dieser Ansicht sind«, sagte Larry.

»Aber da gibt es etwas, was Sie von vornherein wissen müssen. Wir alle gehören einer Gewerkschaft an, Douglas, und Beförderungen gehen streng nach dem Dienstalter.«

»Ich verstehe.«

»Aber was Sie vielleicht nicht verstehen, ist, dass dies hier verdammt gute Jobs sind und mehr Leute kommen als gehen. Die Beförderungen gehen dadurch langsamer vor sich.«

»Ich werde mein Glück versuchen«, erwiderte Larry.

Sakowitz' Sekretärin brachte Kaffee und dänisches Gebäck, und die beiden Männer verbrachten die nächste Stunde damit, sich zu unterhalten und miteinander bekannt zu werden. Sakowitz' Benehmen war freundlich und leutselig, und viele seiner Fragen waren anscheinend belanglos und trivial, aber als Larry ihn verließ, um in seine erste Unterrichtsstunde zu gehen, hatte Sakowitz eine Menge über Larry Douglas erfahren. Ein paar Minuten nachdem Larry gegangen war, kam Carl Eastman in das Büro.

»Wie ist es verlaufen?« fragte Eastman.

»O. K.«

Eastman sah ihn scharf an. »Was halten Sie von ihm, Sak?«

»Wir werden ihn ausprobieren.«

»Ich fragte Sie, was Sie von ihm halten.«

Sakowitz zuckte die Schultern. »O. K. Ich werde es Ihnen sagen. Mein Gefühl ist, dass er ein verdammt guter Pilot ist. Er muss es sein, bei seiner Kriegserfahrung. Stecken Sie ihn in eine Maschine, und lassen Sie einen Haufen feindlicher Kampfflieger auf ihn schießen, und ich glaube, man könnte keinen besseren finden.« Er zögerte.

»Weiter«, sagte Eastman.

»Das Problem ist, dass es hier in Manhattan nicht viele feindliche Kampfflieger gibt. Ich habe Burschen wie Douglas

gekannt. Aus irgendeinem Grund, den ich nie herausgefunden habe, ist ihr Leben nur auf Gefahr eingestellt. Sie machen die verrücktesten Dinge, wie unmögliche Berge besteigen oder auf den Grund des Ozeans tauchen, oder was immer zum Teufel sie an Gefahren finden können. Wenn ein Krieg ausbricht, steigen sie nach oben wie Sahne in heißem Kaffee.« Er schwang seinen Stuhl herum und blickte aus dem Fenster. Eastman stand wartend da, sagte aber nichts.

»Ich habe so ein Gefühl bei Douglas, Carl. Irgend etwas stimmt mit ihm nicht. Vielleicht, wenn er Kapitän eines unserer Flugzeuge wäre und es selbst flöge, könnte er es schaffen. Aber ich glaube nicht, dass er psychologisch darauf vorbereitet ist, Befehle von einem ersten Offizier und einem Piloten hinzunehmen, besonders wenn er denkt, er könnte hundertmal besser fliegen als sie alle.« Er schwang den Stuhl wieder zurück, um Eastman anzusehen. »Und das Komische daran ist, dass er es wahrscheinlich könnte.«

»Sie machen mich nervös«, sagte Eastman.

»Mich selbst auch«, gestand Sakowitz. »Ich glaube nicht, dass er« Er hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort, »gefestigt ist. Wenn man mit ihm spricht, bekommt man das Gefühl, dass er ein Stück Dynamit im Hintern hat, das jeden Augenblick explodieren kann.«

»Was gedenken Sie zu tun?«

»Wir tun es ja. Er wird zur Schule gehen, und wir werden ein Auge auf ihn haben.«

»Vielleicht wird er ein Versager sein«, sagte Eastman.

»Sie kennen diese Typen nicht. Er wird den Kurs als Nummer eins in seiner Klasse beenden.«

Sakowitz' Prophezeiung stimmte.

Der Trainingskurs bestand aus vier Wochen Bodenschule, denen ein zusätzlicher Monat Flugtraining folgte. Da die Kursteilnehmer bereits erfahrene Piloten mit langjähriger Praxis waren, war der Kurs auf einen doppelten Zweck ausgerichtet: einmal, um Fächer wie Navigation, Radio, Fernmeldewesen, Kartenlesen und Blindfliegen summarisch zu wiederholen, die Kenntnisse der Männer wieder aufzufrischen und ihre eventuellen Schwächen festzustellen, zum anderen, um sie mit der neuen Apparatur, die sie gebrauchen würden, vertraut zu machen.

Das Blindfliegen wurde in einem Simulierflugzeug geübt, einem kleinen Modell eines Cockpits, das auf einem beweglichen Podest ruhte und es dem Piloten im Cockpit ermöglichte, mit dem Flugzeug alle Manöver auszuführen, einschließlich überzogener Kurven, Loopings, Abtrudeln und Rollen. Eine schwarze Kappe wurde über das Cockpit gezogen, so dass der Pilot blind flog und nur die ihm sichtbaren Instrumente benutzen konnte. Der Ausbilder außerhalb der Simuliermaschine gab dem Piloten Befehle, wie er sich zu verhalten habe beim Starten und Landen sowie im Falle von heftigem Wind, Sturm, Annäherung an Bergketten oder jeder sonst möglichen Gefahr. Die meisten unerfahrenen Piloten bestiegen das Simulierflugzeug mit einem gewissen Selbstvertrauen, aber sie fanden bald heraus, dass die kleinen Maschinen viel schwieriger zu handhaben waren, als es zunächst schien. Es war ein schauriges Gefühl, allein in dem winzigen Cockpit zu sitzen, während alle Sinne von der Außenwelt abgeschnitten waren.

Larry war ein begabter und aufmerksamer Schüler, der förmlich in sich einzog, was man ihn lehrte. Er machte seine Hausarbeiten gut und sorgfältig. Er verriet nie Anzeichen von Ungeduld, Unruhe oder Langeweile. Im Gegenteil, er war der eifrigste Schüler im Kurs und bestimmt der hervor ragendste. Das einzige für Larry neue Gebiet war die Ausrüstung der DC-4. Die Douglas-Maschinen waren lang gestreckt, elegant in der Linie und mit gewissen Apparaturen ausgestattet, die es bei Kriegsbeginn noch nicht gegeben hatte. Larry verbrachte Stunden damit, jeden Zoll des Flugzeugs zu untersuchen, zu studieren, wie es zusammengesetzt war und wie es funktionierte. Abend für Abend war er in Dutzende von Betriebsanweisungen über das Flugzeug vertieft.

Eines späten Abends, als die anderen Kursteilnehmer den Hangar schon verlassen hatten, fand Sakowitz Larry in einer der DC-4, wie er auf dem Rücken unter dem Cockpit lag und das Kabelwerk untersuchte.

»Ich sage ja, der Hurensohn hat es auf meinen Job abgesehen«, sagte Sakowitz am nächsten Morgen zu Carl Eastman.

»Wenn er so weitermacht, kriegt er ihn vielleicht«, meinte Eastman.

Am Ende der acht Wochen gab es eine kleine Abschlussfeier. Catherine flog stolz nach New York, um dabei zu sein, wenn man ihm seine Navigatorenwinkel verlieh.

Er versuchte, es als etwas Unwichtiges hinzustellen. »Cathy, es ist nur ein dummes kleines Stück Tuch, das sie einem geben, damit man weiß, wer man ist, wenn man in das Cockpit steigt.«

»O nein, sag das nicht«, erwiderte sie. »Ich sprach mit Kapitän Sakowitz, und er erzählte mir, wie gut du bist.«

»Was versteht schon ein doofer Polacke«, sagte Larry. »Gehen wir feiern.«

An jenem Abend gingen Catherine und Larry und vier von Larrys Mitschülern mit ihren Frauen in den Twenty-One Club in der East Fifty-Second Street zum Abendessen. Das Foyer war überfüllt, und der Maitre sagte ihnen, ohne Vorbestellung gebe es keine Tische.

»Zum Teufel mit diesem Restaurant«, sagte Larry. »Gehen wir nebenan zu Toots Shor's.«

»Warte einen Augenblick«, sagte Catherine. Sie ging zum Kellner hinüber und fragte nach Jerry Berns.

Einige Augenblicke später eilte ein kleiner dünner Mann mit neugierigen grauen Augen herbei.

»Ich bin Jerry Berns«, sagte er. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Mein Mann und ich sind mit ein paar Freunden hier«, erklärte Catherine. »Wir sind zehn.«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Nur wenn Sie vorbestellt haben ...«

»Ich bin William Fräsers Geschäftspartner«, sagte Catherine.

Jerry Berns blickte Catherine vorwurfsvoll an. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Geben Sie mir fünfzehn Minuten Zeit.«

»Danke«, sagte Catherine erfreut.

Sie ging zu ihrer Gruppe zurück.

»Na, was sagt ihr nun!« sagte Catherine. »Wir kriegen einen Tisch.«

»Wie hast du das fertig bekommen?« fragte Larry.

»Es war leicht«, sagte Catherine. »Ich erwähnte Bill Fräsers Namen.« Sie sah den Ausdruck in Larrys Augen. »Er kommt oft hierher«, fuhr Catherine schnell fort, »und er sagte, wenn ich mal einen Tisch brauchte, sollte ich mich auf ihn berufen.«

Larry drehte sich zu den anderen um. »Verdammt noch mal, gehen wir hier raus. Das hier ist nicht für unsereins.«

Die Gruppe bewegte sich auf die Tür zu. Larry sah Catherine an. »Kommst du?«

»Natürlich«, erwiderte Catherine zögernd. »Ich wollte ihnen nur sagen, dass wir nicht...«

»Zum Teufel mit denen«, sagte Larry laut. »Kommst du oder kommst du nicht?«

Die Leute drehten sich um und starrten sie an. Catherine spürte, dass sie errötete.

»Ja«, sagte sie. Sie wandte sich um und folgte Larry hinaus.

Sie gingen in ein italienisches Restaurant in der Sixth Avenue und aßen sehr schlecht. Nach außen hin benahm sich Catherine, als ob nichts vorgefallen wäre, aber sie kochte vor Wut. Sie war sehr böse auf Larry wegen seines kindischen Benehmens und weil er sie öffentlich gedemütigt hatte.

Als sie daheim ankamen, ging sie wortlos ins Schlafzimmer, entkleidete sich, machte das Licht aus und ging zu Bett. Sie hörte, wie Larry sich im Wohnzimmer einen Drink mixte.

Zehn Minuten später betrat er das Schlafzimmer, drehte das Licht an und kam an ihr Bett. »Beabsichtigst du, die Märtyrerin zu spielen?« fragte er.

Sie setzte sich wütend auf. »Versuch nicht, mich in die Defensive zu drängen«, sagte sie. »Dein Benehmen heute Abend war unverzeihlich. Was ist über dich gekommen?«

»Derselbe Kerl, der in dich gekommen ist.«

Sie starrte ihn an. »Was?«

»Ich spreche von Mr. Perfektion, Bill Fräser.«

Sie blickte ihn verständnislos an. »Bill hat uns immer nur geholfen.«

»Das kann man wohl sagen«, entgegnete er. »Du verdankst ihm deine Stellung, ich verdanke ihm die meine. Jetzt können wir uns nicht einmal ohne Fräsers Erlaubnis in ein Restaurant setzen. Er hängt mir zum Hals heraus.« Es war Larrys Tonfall, der Catherine mehr erschütterte als das, was er sagte. Er war derart erfüllt von Komplexen und Ohnmachtsgefühlen, dass sie zum ersten Mal begriff, wie er sich quälte. Warum auch nicht? Er war nach vier Jahren Krieg heimgekehrt und fand seine Frau als Partnerin ihres früheren Liebhabers vor. Und um es noch schlimmer zu machen, er selbst war nicht imstande gewesen, einen Job ohne die Hilfe Fräsers zu bekommen.

Als sie Larry ansah, wusste Catherine, dass dies ein Wendepunkt in ihrer Ehe war. Wenn sie mit ihm zusammenbleiben wollte, musste er von jetzt ab an erster Stelle stehen. Vor ihrem Beruf, vor allem ändern. Zum ersten Mal fühlte Catherine, dass sie Larry wirklich verstand.

Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, sagte Larry zerknirscht: »Es tut mir leid, ich habe mich heute Abend wie ein Schwein benommen. Aber als wir keinen Tisch kriegen konnten, bis du Fräsers magischen Namen erwähntest – da reichte es mir plötzlich.«

»Es tut mir leid, Larry«, sagte Catherine. »Ich werde dir das nie mehr antun.«

Und sie fielen einander in die Arme, und Larry sagte: »Bitte, verlass mich nie, Cathy«, und Catherine dachte, wie nahe daran sie gewesen war, und sie hielt ihn fester und sagte: »Ich werde dich nie verlassen, Liebling, niemals.«

Larrys erster Einsatz als Navigator war auf dem Flug 147 von Washington nach Paris. Er blieb nach jedem Flug achtundvierzig Stunden in Paris, dann kehrte er drei Tage heim, bevor er wieder abflog.

Eines Morgens rief Larry Catherine in ihrem Büro an, seine Stimme klang aufgeregt. »Hör mal, ich habe ein tolles Restaurant für uns gefunden. Kannst du dich fürs Mittagessen frei machen?«

Catherine blickte auf den Stapel graphischer Entwürfe, die bis Mittag durchgesehen und genehmigt werden mussten. »Klar«, sagte sie leichtsinnig.

»Ich hole dich in fünfzehn Minuten ab.«

»Sie lassen mich doch nicht etwa allein!« jammerte ihre Assistentin Lucia. »Stuyvesant wird aus der Haut fahren, wenn wir ihm die Werbekampagne heute nicht liefern.«

»Er wird eben warten müssen«, sagte Catherine. »Ich gehe mit meinem Mann zum Essen.«

Lucia zuckte die Schultern. »Kann ich verstehen. Wenn Sie ihn mal satt haben, lassen Sie es mich bitte wissen.«

Catherine lachte. »Dann werden Sie zu alt sein, meine Liebe.«

Larry holte Catherine vor dem Büro mit dem Wagen ab.

»Habe ich dir den Tag vermurkst?« fragte er boshaft.

»Natürlich nicht.«

Er lachte. »Diese ganzen Direktoren wird der Schlag treffen.«

Larry lenkte den Wagen in Richtung Flughafen.

»Ist das Restaurant weit?« fragte Catherine. Sie hatte fünf Verabredungen am Nachmittag, die erste um zwei Uhr.

»Nicht weit... Bist du heute Nachmittag sehr beschäftigt?«

»Nein«, log sie. »Nicht besonders.«

»Gut.«

Als sie die Abzweigung zum Flugplatz erreichten, bog Larry in die Einfahrt ein.

»Ist das Restaurant am Flughafen?«

»Am anderen Ende«, erwiderte Larry. Er parkte den Wagen, nahm Catherines Arm und führte sie zum Schalter der PanAm.

Das attraktive Mädchen hinter dem Desk begrüßte Larry mit Namen.

»Das ist meine Frau«, sagte Larry stolz. »Das ist Amy Winston.«

Sie begrüßten einander.

»Komm.« Larry nahm Catherines Arm, und sie gingen auf die Abflugrampe zu.

»Larry«, begann Catherine. »Wo ...«

»Hör mal, du bist das lauteste Mädchen, das ich je zum Essen eingeladen habe.«

Sie waren bei Gate 37 angekommen. Zwei Männer hinter dem Schalter fertigten die Passagiere ab. Auf der Informationstafel stand: »Flug 147 nach Paris – Abflug 13 Uhr.«

Larry ging zu einem der Männer hinter dem Desk. »Hier ist sie, Tony.« Er gab dem Mann einen Flugschein. »Cathy, das ist Tony Lombardi. Das ist Catherine.«

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte der Mann lächelnd. »Ihr Ticket ist in Ordnung.« Er übergab Catherine das Ticket.

Catherine blickte es völlig verwirrt an. »Was soll das?«

»Ich habe dich angelogen«, lächelte Larry. »Wir gehen nicht hier zum Essen. Ich bringe dich nach Paris zum Maxim.«

Catherines Stimme brach. »M-Maxim? In Paris? Jetzt?«

»Jawohl.«

»Ich kann nicht«, klagte Catherine. »Ich kann jetzt nicht nach Paris fliegen.«

»Natürlich kannst du.« Er grinste. »Ich habe deinen Pass in

der Tasche.«

»Larry«, sagte sie, »du bist verrückt! Ich habe nichts anzuziehen und unheimlich viele Termine. Ich«

»Ich werde dir Kleider in Paris kaufen. Sag deine Termine ab. Fräser kann ein paar Tage ohne dich auskommen.«

Catherine starrte ihn an, wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie entsann sich aller Vorsätze, die sie gefasst hatte. Larry war ihr Mann. Er hatte den Vorrang. Catherine begriff, dass es für Larry nicht wichtig war, ihr einfach Paris zu zeigen, sondern sich vor ihr in Szene zu setzen und sie in das Flugzeug einzuladen, in dem er Navigator war. Fast hätte sie ihm den Spaß verdorben. Sie legte ihre Hand in die seine und lächelte zu ihm auf.

»Worauf warten wir?« sagte Catherine. »Ich sterbe vor Hunger.«

Paris war ein toller Wirbel von Vergnügungen. Larry hatte sich eine ganze Woche frei genommen, und es schien Catherine, dass jede Tag- und Nachtstunde voll ausgefüllt war. Sie wohnten in einem bezaubernden kleinen Hotel am linken Ufer.

An ihrem ersten Morgen in Paris führte Larry Catherine in ein elegantes Geschäft auf den Champs-Elysees, das er offenbar für sie leer kaufen wollte. Aber sie kaufte nur, was sie brauchte, und war entsetzt über die hohen Preise.

»Weißt du, was dein Problem ist?« sagte Larry. »Du machst dir zuviel Sorgen ums Geld. Du bist auf der Hochzeitsreise.«

»Ja, Sir«, sagte sie. Aber sie weigerte sich, ein Abendkleid zu kaufen, das sie nicht brauchte. Als sie Larry fragte, wo all das Geld herkomme, wollte er nicht darüber sprechen, aber sie bestand darauf, es zu erfahren.

»Ich habe einen Vorschuss auf mein Gehalt genommen«, sagte Larry. »Ist das so eine große Sache?«

Und Catherine hatte nicht das Herz, etwas dagegen zu sagen. Er ging wie ein Kind mit Geld um, achtlos und großzügig, und das war ein Teil seines Charmes.

Wie es auch der Charme von Catherines Vater gewesen war.

Larry zeigte ihr Paris wie einer Touristin: den Louvre, die Tuilerien und den Invalidendom mit Napoleons Grab. Sie gingen zu den Hallen, dem berühmten Markt von Paris, und sahen das frische Obst und das Fleisch und Gemüse, das die Bauern vom Lande nach Paris bringen; sie verbrachten ihren letzten Sonntag in Versailles und dinierten dann im Coq Hardi außerhalb von Paris. Es waren perfekte zweite Flitterwochen.

Hai Sakowitz saß in seinem Büro und sah die wöchentlichen Personalberichte durch. Vor ihm lag der Bericht über Larry Douglas. Sakowitz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und studierte ihn sorgfältig, wobei er gedankenverloren auf seiner Unterlippe herum biss. Endlich lehnte er sich nach vorn und drückte auf eine Sprechtaste. »Schicken Sie ihn herein«, sagte er.

Einen Augenblick später kam Larry zur Tür herein, er trug seine PanAm-Uniform und seine Flugtasche. Er lächelte Sakowitz flüchtig zu. »Guten Morgen, Chef«, sagte er.

»Setzen Sie sich.«

Larry ließ sich lässig in einen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch fallen und zündete sich eine Zigarette an.

Sakowitz sagte: »Ich habe hier einen Bericht, wonach Sie sich letzten Montag in Paris fünfundvierzig Minuten zu spät bei Ihrer Flugeinweisung gemeldet haben.«

Larrys Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich war in eine Parade auf den Champs-Elysees geraten. Das Flugzeug ist pünktlich abgeflogen. Ich wusste nicht, dass es hier wie in einem Jugendlager zugeht.«

»Hier geht es zu wie bei einer Fluglinie«, sagte Sakowitz ruhig. »Und da geht alles nach Plan.«

»O. K.«, sagte Larry zornig. »Ich werde mich von den Champs-Elysees fernhalten. Noch etwas?«

»Ja. Captain Swift meint, Sie hätten vor den letzten beiden Starts ein paar Drinks gekippt.«

»Das ist eine verdammte Lüge!« fuhr Larry auf.

»Warum sollte Captain Swift lügen?«

»Weil er fürchtet, dass ich ihm seinen Job wegnehme.« In Larrys Stimme lag bitterer Zorn. »Dieser Hurensohn ist eine ängstliche alte Jungfer, die schon vor zehn Jahren hätte in Pension gehen sollen.«

»Sie sind mit vier verschiedenen Kapitänen geflogen«, sagte Sakowitz. »Welche haben Ihnen gefallen?«

»Keiner von ihnen«, erwiderte Larry. Er merkte die Falle zu spät. Schnell fügte er hinzu: »Ich meine – sie sind schon in Ordnung. Ich habe nichts gegen sie.«

»Mit Ihnen fliegen die auch nicht gerne«, sagte Sakowitz ruhig. »Sie machen sie nervös.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Das heißt, im Falle einer Notlage will man des Mannes ganz sicher sein, der neben einem sitzt. Bei Ihnen fühlen sie sich nicht sicher.«

»Ach, zum Teufel«, explodierte Larry. »Ich habe vier Jahre lang Notlagen über Deutschland und im Südpazifik erlebt und habe jeden Tag Kopf und Kragen riskiert, während die hier unten auf ihren fetten Hintern saßen und große Gehälter kassierten; und die sollen kein Vertrauen zu mir haben? Sie scherzen wohl!«

»Niemand behauptet, dass Sie in einem Kampfflugzeug nicht großartig sind«, erwiderte Sakowitz ruhig. »Aber wir befördern hier Passagiere. Es ist eine andere Art von Sport.«

Larry saß da, ballte die Fäuste und versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. »O. K.«, sagte er mürrisch. »Ich hab's verstanden. Wenn Sie nun fertig sind, mein Flug geht nämlich in ein paar Minuten.«

»Ein anderer übernimmt den Flug«, sagte Sakowitz. »Sie sind entlassen.«

Larry starrte ihn ungläubig an. »Ich bin was?«

»Irgendwie ist es wohl auch meine Schuld, Douglas. Ich hätte

Sie von vornherein nicht einstellen sollen.«

Larry sprang auf, seine Augen funkelten vor Zorn. »Warum zum Teufel haben Sie's dann getan?« fragte er erregt.

»Weil Ihre Frau einen Freund namens Bill Fräser hat ...«, begann Sakowitz.

Larry sprang auf und knallte über den Schreibtisch hinweg seine Faust in Sakowitz' Gesicht. Der Schlag warf Sakowitz gegen die Wand. Diesen Schwung benützte er, um hochzu-schnellen. Er traf Larry zweimal, wich etwas zurück und versuchte, sich wieder in die Gewalt zu bekommen.

»Machen Sie, dass Sie hier rauskommen«, sagte er. »Und zwar sofort!«

Larry starrte ihn an, sein Gesicht war vor Hass verzerrt. »Sie Hurensohn«, sagte er. »Ich würde nicht mehr in die Nähe dieser Fluglinie gehen, selbst wenn Sie mich auf den Knien darum bäten!« Er drehte sich um und stürmte aus dem Büro.

Sakowitz stand da und blickte ihm nach. Seine Sekretärin eilte herein. Sie sah den umgeworfenen Stuhl und Sakowitz' blutige Lippe.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie.

»Großartig«, sagte er. »Fragen Sie bei Mr. Eastman an, ob ich ihn sprechen kann.«

Zehn Minuten später hatte Sakowitz Eastman den Vorfall genau berichtet.

»Was ist nun eigentlich Ihrer Meinung nach los mit Douglas?« fragte Eastman.

»Ehrlich gesagt, ich glaube, er ist ein Psychopath.«

Eastman sah ihn mit seinen durchdringenden nussbraunen Augen an. »Ich finde das reichlich stark ausgedrückt, Sak. Er war beim Flug nicht betrunken. Man kann ihm nicht einmal nachweisen, dass er auf dem Boden einen Drink genommen hatte. Und jeder kann sich ab und zu einmal verspäten.«

»Wenn das alles wäre, hätte ich ihn nicht entlassen, Carl. Douglas ist viel zu leicht erregbar. Um die Wahrheit zu sagen,

ich hatte heute versucht, ihn zu provozieren, und es war nicht schwer. Wenn er dem Druck standgehalten hätte, hätte ich's vielleicht riskiert, ihn zu behalten. Wissen Sie, was mir Sorgen macht?«

»Was?«

Sakowitz sagte: »Vor ein paar Tagen traf ich einen alten Freund, der mit Douglas in der RAF gedient hat. Er erzählte mir eine verrückte Geschichte. Anscheinend verliebte sich Douglas, als er in der Adler-Staffel diente, in ein kleines englisches Mädchen, das mit einem Jungen aus Douglas' Staffel namens Clark verlobt war. Douglas tat alles, um sie für sich zu gewinnen, aber das Mädchen wollte nichts von ihm wissen. Eine Woche bevor sie und Clark heiraten sollten, stieg die Staffel auf, um einige Bomber beim Angriff auf Dieppe abzuschirmen. Douglas flog hinten. Die Bomber warfen ihre Bomben ab, und alle flogen heimwärts. Als sie über dem Kanal waren, wurden sie von Messerschmitts angegriffen, und Clark wurde abgeschossen.« Er hielt inne und grübelte vor sich hin. Eastman wartete, dass er fortfahre, und endlich blickte Sakowitz auf. »Nach Aussage meines Freundes waren überhaupt keine Messerschmitts in der Nähe, als es Clark erwischte.«

Eastman starrte ihn ungläubig an. »Mein Gott! Wollen Sie damit sagen, dass Larry Douglas ... ?«

»Ich sage gar nichts. Ich erzähle Ihnen nur eine interessante Geschichte, die ich gehört habe.« Er hielt sich wieder das Taschentuch an die Lippen. Sie bluteten nicht mehr. »Es ist schwer zu sagen, was in einem Nahkampf vor sich geht. Vielleicht ging Clark nur der Treibstoff aus.«

»Was geschah mit seinem Mädchen?«

»Douglas lebte mit ihr, bis er in die Staaten zurückkehrte, dann ließ er sie sitzen.« Er blickte Eastman gedankenvoll an. »Ich kann Ihnen nur eines sagen: Douglas' Frau tut mir leid.«

Catherine war im Konferenzzimmer und hatte gerade eine

Sitzung mit den Mitarbeitern, als die Tür aufging und Larry hereinkam.

Sein Auge war blau und geschwollen, er hatte einen Schnitt auf der Wange. Sie eilte auf ihn zu. »Larry, was ist passiert?«

»Ich habe meinen Job aufgegeben«, murmelte er.

Catherine zog ihn in ihr Büro, weg von den neugierigen Blicken der anderen, und legte ein nasses Tuch auf sein Auge und seine Wange. »Erzähl mir alles«, sagte sie und versuchte, ihren Zorn über das, was man ihm angetan hatte, zu unterdrücken.

»Sie haben mich schon lange schikaniert, Cathy. Ich glaube, sie sind eifersüchtig, weil ich im Krieg war und sie nicht. Trotzdem, heute hat mir's gereicht. Sakowitz ließ mich kommen und sagte mir, sie hätten mich nur angestellt, weil du Bill Fräsers Freundin seiest.«

Catherine blickte ihn sprachlos an.

»Ich habe ihn geschlagen«, sagte Larry. »Ich konnte nicht anders.«

»Oh, Liebling!« sagte Catherine. »Es tut mir so leid.«

»Sakowitz tut's noch mehr leid«, erwiderte Larry. »Ich habe ihn wirklich fertig gemacht. Job oder nicht, ich konnte es nicht zulassen, dass jemand so von dir redet.«

Sie hielt ihn fest umarmt und beruhigte ihn. »Mach dir keine Sorgen. Du kannst bei jeder Fluglinie im Land arbeiten.«

Catherine stellte sich als schlechte Prophetin heraus. Larry bewarb sich bei allen Fluglinien, und mehrere von ihnen empfingen ihn auch, aber es kam nichts dabei heraus. Bill Fräser lunchte mit Catherine zusammen, und sie erzählte ihm, was geschehen war. Fräser sagte nichts, aber er war während des ganzen Essens sehr nachdenklich. Mehrere Male fühlte sie, dass er ihr beinahe etwas gesagt hätte, aber immer wieder hielt er sich zurück. Endlich sagte er: »Ich kenne eine Menge Leute, Cathy. Soll ich versuchen, anderswo etwas für Larry zu finden?«

»Ich danke dir wirklich vielmals«, sagte Catherine. »Aber ich glaube nicht. Wir werden schon selber etwas finden.«

Fräser blickte sie einen Augenblick an, dann nickte er. »Lass es mich bitte wissen, wenn du es dir anders überlegst.«

»Sicher«, sagte sie dankbar. »Anscheinend komme ich immer wieder mit meinen Problemen zu dir.«

ACME SICHERHEITSAGENTUR

1402 »D« Street Washington, D. C.

Betrifft: Nr. 2-179-210 1. April 1946

Sehr geehrter Monsieur Barbet,

wir haben Ihren Brief vom 15. März 1946 und Ihre Banküberweisung dankend erhalten.

Seit meinem letzten Bericht hat die fragliche Person eine Anstellung als Pilot bei der Flying Wheels Transport Company gefunden, einer kleinen unabhängigen Frachtlinie, die von Long Island aus tätig ist. Eine Überprüfung durch die Firma Dun und Bradstreet ergab, dass sie einen Kapitalwert von unter 750 000 Dollar hat. Ihre Ausrüstung besteht aus einer umgebauten B-26 und einer umgebauten DC-3. Sie hat Bankschulden von über 400 000 Dollar. Der Vizepräsident der Banque de Paris in New York, bei der sie ihr größtes Konto hat, versichert mir, dass die Gesellschaft eine ausgezeichnete Wachstumschance hätte. Die Bank zieht in Erwägung, ihnen genügend Kapital für den Erwerb weiterer Flugzeuge zur Verfügung zu stellen, auf der Grundlage eines laufenden Gewinns von 80 000 Dollar pro Jahr mit einer jährlichen geplanten Zuwachsrate von 30 Prozent für die nächsten fünf Jahre.

Falls Sie weitere Einzelheiten über die finanziellen Aspekte der Gesellschaft wünschen, lassen Sie mich es bitte wissen. Die fragliche Person trat ihre Stellung bei der Gesellschaft am

19. März 1946 an. Der Personalchef (der auch einer der Teilhaber ist) informierte unseren Mitarbeiter, dass er sich sehr glücklich schätze, die fragliche Person als Piloten bekommen zu haben. Weitere Einzelheiten folgen.

Hochachtungsvoll R. Ruttenberg Direktor

Banque de Paris New York City, New York

Philippe Chardon Direktor

Liebe Noelle,

Du bist wirklich schlimm! Ich weiß nicht, was Dir dieser Mann

getan hat, aber was immer es sei, er hat dafür bezahlt. Die

Flying Wheels Company hat ihn vor die Tür gesetzt, und mein

Freund sagt mir, dass er einen Wutanfall darüber bekommen

hat.

Ich gedenke, bald in Athen zu sein und Dich zu sehen.

Richte Costa freundliche Grüße aus und sei beruhigt, der

kleine Gefallen, den ich Dir erwiesen habe, bleibt unter uns.

Dein Philippe

ACME SICHERHEITSAGENTUR

1402 »D« Street Washington, D. C.

Betrifft: Nr. 2-179-210 22. Mai 1946

Sehr geehrter Monsieur Barbet,

dies ist eine Ergänzung zu meinem Bericht vom 1. Mai 1946. Am 14. Mai 1946 wurde die fragliche Person von der Flying Wheels Transport Company entlassen. Ich habe versucht,

durch diskrete Nachforschungen den Grund zu erfahren, bin

aber jedes Mal gegen Mauern gestoßen. Niemand will darüber

sprechen, ich kann also nur annehmen, dass die fragliche

Person sich irgendwie mißliebig gemacht hat und man darüber

nicht sprechen will.

Die fragliche Person bemüht sich um eine andere Stellung, hat

aber offensichtlich keine unmittelbaren Aussichten.

Ich werde mit meinen Nachforschungen über den Grund seiner

Entlassung fortfahren.

Hochachtungsvoll R. Ruttenberg Direktor

TELEGRAMM

Christian Barbet 29. Mai 1946

Cable Chrisbar Paris, Frankreich

TELEGRAMM ERHALTEN STOP WERDE SOFORT NACHFORSCHUNGEN UEBER ENTLASSUNG DER FRAGLICHEN PERSON EINSTELLEN STOP WERDE MIT ALLEM ANDEREN WIE BISHER FORTFAHREN R. RUTTENBERG ACME SICHERHEITSAGENTUR

ACME SICHERHEITSAGENTUR

1402 »D« Street Washington, D. C.

Betrifft: Nr. 2-179-210 16. Juni 1946

Sehr geehrter Monsieur Barbet,

ich habe Ihren Brief vom 10. Juni und Ihre Banküberweisung

dankend erhalten.

Am 15. Juni erhielt die fragliche Person eine Stellung als

Kopilot bei der Global Airways, einer regionalen Zubringer-

linie, die zwischen Washington, Boston und Philadelphia verkehrt.

Global Airways ist eine kleine neue Fluglinie mit einem Bestand von drei umgebauten Militärmaschinen, und soweit ich feststellen konnte, sind sie unterkapitalisiert und verschuldet. Der Vizepräsident der Firma informierte mich, dass man ihnen ein Darlehen von der Dallas First National Bank innerhalb der nächsten sechzig Tage versprochen hat, was ihnen genug Geldmittel bringen würde, um ihren Verbindlichkeiten nachzukommen und sich zu erweitern. Die fragliche Person wird sehr geschätzt und scheint eine gute Zukunft bei ihnen zu haben.

Bitte lassen Sie mich wissen, ob Sie weitere Informationen über die Global Airways benötigen.

Hochachtungsvoll R. Ruttenberg Direktor

ACME SICHERHEITSAGENTUR

1402 »D« Street Washington, D. C.

Betrifft: Nr. 2-179-210 20. Juli 1946

Sehr geehrter Monsieur Barbet,

die Global Airways hat unerwartet Konkurs angemeldet und stellt ihren Betrieb ein. Soweit ich erfahren konnte, wurde dies durch die Weigerung der Dallas First National Bank verursacht, das versprochene Darlehen zu gewähren. Die fragliche Person ist jetzt wieder ohne Stellung und zu ihrer früheren Lebensweise zurückgekehrt, wie es in den vorhergehenden Berichten in großen Zügen geschildert wurde. Ich werde keine Nachforschungen über den Grund der Verweigerung des Darlehens oder die finanziellen Schwierig-

keiten der Global Airways anstellen, bis Sie mir spezielle Anweisung geben.

Hochachtungsvoll R. Ruttenberg Direktor

Noelle bewahrte alle Berichte und Zeitungsausschnitte in einer besonderen Ledertasche auf, zu der nur sie den Schlüssel hatte. Die Tasche befand sich in einem verschlossenen Koffer, der ganz hinten in ihrem Schlafzimmerschrank versteckt war, nicht weil sie glaubte, dass Demiris in ihren Sachen herumstöbern würde, sondern weil sie wusste, wie sehr er Intrigen liebte. Dies war Noelles ganz persönliche Vendetta, und sie wollte sichergehen, dass Demiris nichts davon ahnte.

Constantin Demiris sollte eine Rolle in ihrem Racheplan spielen, es aber nie erfahren. Noelle warf einen letzten Blick auf den Bericht und schloss ihn befriedigt weg.

Jetzt war sie soweit.

Mit einem Telefonanruf begann es.

Catherine und Larry saßen gerade schweigend in unbehaglicher Stimmung beim Abendessen. Larry war in letzter Zeit sehr wenig zu Hause gewesen, und wenn er zu Hause war, so war er schlecht gelaunt und grob. Catherine hatte Verständnis für sein Elend.

»Es ist wie verhext«, hatte er zu ihr gesagt, als die Global Airways Bankrott machte. Und es stimmte. Er hatte eine unglaubliche Pechsträhne gehabt. Catherine versuchte, Larry wieder Selbstvertrauen einzuflößen, ihn daran zu erinnern, was für ein wunderbarer Pilot er war und wie glücklich alle sich schätzen müssten, ihn zu haben. Aber es war, als ob man mit einem verwundeten Löwen lebte. Catherine wusste nie, wann er seine Pranke gegen sie erheben würde, und weil sie ihn nicht im Stich lassen wollte, versuchte sie, für seine wilden Wutausbrüche Verständnis zu haben und sie möglichst zu übersehen. Das Telefon läutete, als sie den Nachtisch servierte. Sie nahm den Hörer ab.

»Hallo.«

Am anderen Ende des Drahtes war die Stimme eines Engländers, der sagte: »Ist Larry Douglas zu sprechen? Hier ist Ian Whitestone.«

»Einen Augenblick.« Sie hielt Larry den Hörer hin. »Für dich. Ian Whitestone.«

Verblüfft runzelte er die Stirn. »Wer?« Dann erhellte sich sein Gesicht. »Um Himmels willen!« Er ging zu Catherine hinüber und nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Ian?« Er lachte kurz auf. »Mein Gott, es ist fast sieben Jahre her. Wie zum Teufel hast du mich aufgespürt?«

Catherine sah, wie Larry nickte und lächelte, als er zuhörte. Nach etwa fünf Minuten sagte er: »Gut, das klingt interessant, alter Kumpel. Natürlich kann ich. Wo?« Er hörte zu. »Gut. In einer halben Stunde. Bis dann.« Nachdenklich legte er den Hörer auf. »Ist er ein Freund von dir?« fragte Catherine.

Larry wandte sich um und sah sie an. »Nein, eigentlich nicht. Das ist ja das Merkwürdige daran. Wir waren zusammen in der RAF und haben uns eigentlich nie sehr gut verstanden. Aber er sagt, er hat mir einen Vorschlag zu machen.«

»Was für einen Vorschlag?« fragte Catherine.

Larry zuckte die Achseln. »Ich werde es dir sagen, wenn ich nach Hause komme.«

Es war fast drei Uhr morgens, als Larry in die Wohnung zurückkehrte. Catherine saß im Bett und las. Larry erschien in der Schlafzimmertür.

»Hallo.«

Etwas war mit ihm vorgegangen. Er strahlte eine Erregung aus, die Catherine seit langem nicht an ihm gesehen hatte. Er ging auf ihr Bett zu.

»Wie ist deine Unterredung verlaufen?«

»Sehr gut, glaube ich«, sagte Larry vorsichtig. »Eigentlich so gut, dass ich es noch nicht fassen kann. Ich glaube, ich habe eine Stellung.«

»Bei Ian Whitestone?«

»Nein. Ian ist ein Pilot wie ich. Ich sagte dir, dass wir zusammen in der RAF waren.«

»Ja.«

»Gut – nach dem Krieg verschaffte ihm ein griechischer Kamerad einen Job als Privatpilot bei Demiris.«

»Dem Tankerkönig?«

»Schiffe, Petroleum, Gold – Demiris gehört die halbe Welt. Whitestone hatte einen großartigen Posten da.«

»Und was ist passiert?«

Larry blickte sie an und grinste. »Whitestone hat seinen Job aufgegeben. Er geht nach Australien. Jemand richtet ihm dort ein eigenes Geschäft ein.«

»Ich begreife immer noch nicht«, sagte Catherine. »Was hat das alles mit dir zu tun?«

»Whitestone sprach mit Demiris darüber, dass ich seinen Posten übernehmen könnte. Er ist gerade erst gegangen, und Demiris hat noch keine Gelegenheit gehabt, sich nach Ersatz umzusehen. Whitestone meint, der Job wäre mir so gut wie sicher.« Er zögerte. »Du weißt nicht, Cathy, was das bedeuten könnte.«

Cathy dachte an die anderen Male, die anderen Stellungen und erinnerte sich an ihren Vater und an seine leeren Träume, und sie ließ ihre Stimme unverbindlich klingen, weil sie keine falschen Hoffnungen in Larry erwecken und doch seinen Enthusiasmus nicht dämpfen wollte.

»Sagtest du nicht, dass du und Whitestone nie besonders gute Freunde wart?«

Er zögerte. »N-ja.« Eine kleine Runzel furchte seine Stirn. Die Wahrheit war, dass er und Whitestone sich nie hatten leiden können. Der Anruf von heute Abend war eine große

Überraschung gewesen. Beim Zusammentreffen schien sich Whitestone nicht so ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. Als er ihm die Situation erklärt und Larry gesagt hatte: »Es überrascht mich, dass du gerade an mich gedacht hast«, entstand eine peinliche Pause, und dann hatte Whitestone gesagt: »Demiris will einen hervorragenden Piloten, und das bist du.« Es war fast, als ob Whitestone ihm den Job aufdrängen wollte und Larry ihm einen Gefallen erwiese, wenn er annähme. Er schien sehr erleichtert, als Larry sagte, er wäre interessiert, und machte dann den Eindruck, als ob er es eilig hätte wegzukommen. Alles in allem war es ein sonderbares Treffen gewesen.

»Es könnte die Chance meines Lebens sein«, sagte Larry zu Catherine. »Demiris zahlte Whitestone fünfzehntausend Drachmen im Monat. Das sind fünfhundert Dollar, er lebte wie ein König dort.«

»Aber würde das nicht bedeuten, dass du in Griechenland leben müsstest?«

»Wir würden in Griechenland leben«, verbesserte Larry sie. »Bei einem solchen Gehalt könnten wir genug sparen, um uns nach einem Jahr unabhängig zu machen. Ich muss es versuchen.«

Catherine zögerte, wählte ihre Worte sorgsam. »Larry, es ist so weit weg, und du kennst Constantin Demiris nicht. Es muss hier einen Job für einen Flieger geben, der ...«

»Nein!« Sein Ton klang wütend. »Niemand hier schert sich darum, wie gut man als Pilot ist. Alles, was hier zählt, ist, wie lange man seine verdammten Gewerkschaftsbeiträge entrichtet hat. Dort drüben wäre ich unabhängig. Es ist genau das, wovon ich geträumt habe, Cathy. Demiris hat eine Flotte von Flugzeugen, wie du es dir nicht vorstellen kannst, und ich werde wieder fliegen, Baby. Der einzige, den ich zufrieden stellen müsste, wäre Demiris, und Whitestone sagt, ich werde ihm gefallen.«

Sie dachte wieder an Larrys Job bei der PanAm und die

Hoffnungen, die er darauf gesetzt hatte, und seine Misserfolge bei den kleinen Fluglinien. Mein Gott, dachte sie. In was lasse ich mich da ein? Es würde bedeuten, das Unternehmen aufzugeben, das sie sich aufgebaut hatte, an einem fremden Ort unter Fremden zu leben mit einem Mann, der fast ein Fremder war.

Er beobachtete sie. »Machst du mit?«

Sie blickte in sein eifriges Gesicht. Das war ihr Mann, und wenn sie ihre Ehe aufrechterhalten wollte, würde sie zu leben haben, wo er lebte. Und wie schön wäre es, wenn es klappte. Er wäre wieder der alte Larry. Der bezaubernde, amüsante, wunderbare Mann, den sie geheiratet hatte. Sie musste es riskieren.

»Natürlich mache ich mit«, sagte Catherine. »Warum fliegst du nicht hin und sprichst mit Demiris ? Wenn du den Job kriegst, komme ich nach.«

Er lächelte jungenhaft. »Ich wusste ja, dass ich mich auf dich verlassen kann, Baby.« Er schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich. »Zieh lieber dein Nachthemd aus«, sagte Larry, »sonst bohre ich noch Löcher hinein.«

Aber während Catherine es langsam auszog, dachte sie daran, wie sie es Bill Fräser beibringen sollte.

Am nächsten Morgen flog Larry nach Athen, um sich Cons-tantin Demiris vorzustellen.

In den nächsten Tagen hörte Catherine nichts von ihrem Mann. Als die Woche sich hinzog, hoffte Catherine, dass es in Griechenland nicht geklappt hatte und Larry bald nach Hause kommen würde. Selbst wenn er die Stellung bei Demiris bekäme, konnte man nie wissen, wie lange er sie behalten würde.

Sicherlich könnte er in den Staaten eine Stellung finden.

Sechs Tage nach Larrys Abreise erhielt Catherine ein Ferngespräch aus Übersee.

»Catherine?«

»Hallo, Liebling.«

»Pack deine Sachen. Du sprichst mit dem neuen Privatpiloten von Constantin Demiris.«

Zehn Tage später war Catherine auf dem Weg nach Griechenland.

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