Trakl

Nur drei Wochen waren vergangen, seit Dr. Z. ihn gefragt hatte, ob er nicht willens wäre (er gebrauchte diese Formulierung), seine Abschlussarbeit über den expressionistischen Dichter Georg Trakl zu schreiben.»Vielleicht kann sich später sogar mehr daraus ergeben«, hatte Z. hinzugefügt, stolz auf die Attraktivität seines Angebots, an das offensichtlich keine weitere Bedingung geknüpft werden sollte. Auch gab es keinerlei Beiklang in seiner Stimme, keine Geste des Mitleids, wie sie Ed mehr als einmal sprachlos gemacht hatte. Für Dr. Z. war Ed in erster Linie jener Student, der jeden der behandelten Texte auswendig hersagen konnte. Auch wenn er sich dafür in die entlegenste Ecke des Seminarraums verkroch und sein dunkles, schulterlanges Haar vors Gesicht hängen ließ, so redete er doch, irgendwann, hastig, lange und in sauber ausformulierten Sätzen.

Zwei Nächte schlief Ed kaum, um alles über Trakl zu lesen, was in der Institutsbibliothek vorrätig war. Die Trakl-Literatur befand sich im letzten einer Reihe schmaler Durchgangszimmer, wo man in der Regel allein und ungestört blieb. Ein kleiner Arbeitstisch stand unter dem Fenster, mit Ausblick auf den winzigen Garten und die unförmige, von Spinnweben überzogene Laube im Hinterhof, in die sich der Hausmeister des Instituts tagsüber zurückzog. Wahrscheinlich wohnte er auch dort, über den Mann kursierten die verschiedensten Gerüchte.

Die Bücher standen sehr weit oben, fast unter der Decke, man musste die Leiter benutzen. Ohne die Leiter erst Richtung T und Tr zu verschieben, war Ed hinaufgestiegen. Umständlich lehnte er sich zur Seite und zog Buch für Buch aus dem Regal. Die Leiter wurde unruhig, mahnend tackerten ihre stählernen Haken gegen die Schiene, wo sie eingehängt war, was Ed jedoch nicht vorsichtiger machte, im Gegenteil. Er beugte seinen Oberkörper noch ein Stück weiter Richtung Trakl und dann noch ein Stück und noch ein wenig. In diesem Moment hatte er es gespürt, das erste Mal.

Am Abend, wenn er am Schreibtisch saß, sprach er die Gedichte halblaut vor sich hin. Jeder Wortklang verknüpfte sich mit dem Bild einer großen kühlen Landschaft, die Ed vollständig gefangennahm; weiß, braun, blau, ein einziges Geheimnis. Schreiben und Leben des Georg Trakl — Pharmaziestudent, Heeresapotheker, Morphinist und Opiumesser. Neben Ed, in seinem Sessel, den er mit einem Laken bedeckt hielt, lag Matthew und schlief. Ab und zu drehte die Katze ein Ohr in seine Richtung, manchmal zuckte das Ohr, heftig und mehrmals hintereinander, als stünde der alte Sessel unter Strom.

Matthew — der Name stammte von G. Sie hatte das Tier gefunden, in einem Lichtschacht im Hof, winzig, schreiend, ein Flausch, kaum größer als ein Tennisball. Sie hatte zwei oder drei Stunden vor dem Schacht gehockt und es schließlich herausgelockt und nach oben getragen. Bis heute wusste er nicht, wie G. auf diesen Namen gekommen war, und er würde es niemals erfahren, es sei denn, die Katze würde es ihm sagen, irgendwann einmal.

Allen Hilfsangeboten hatte Ed sich entzogen. Er besuchte Seminare und legte Prüfungen ab, für die ihn Sektionsdirektor Professor H. gern freigestellt hätte: Die verständnisvolle Neigung seines großen Schädels, das gütig gewellte Haar, weiß und glänzend, und die Hand an seinem Arm, als er Ed im Treppenhaus des Instituts beiseitenahm, vor allem aber: seine samtene Stimme, der sich Ed gern hingegeben hätte … Aber Wissen war nicht sein Problem. Und Prüfungen ebenfalls nicht.

Alles, was Ed las in dieser Zeit, prägte sich ein, wie von selbst und buchstäblich, Wort für Wort, jedes Gedicht und jeder Kommentar, alles, was ihm vor Augen kam, während er allein zu Hause saß oder an seinem Tisch im letzten Raum der Bibliothek und auf die Hütte des Hausmeisters starrte. Sein Dasein ohne G. — fast war es eine Art Hypnose. Wenn er daraus auftauchte, nach einer bestimmten Zeit, summte das, was er gelesen hatte, in seinem Schädel. Das Studieren war eine Droge, die ihn ruhigstellte. Er las, er schrieb, er zitierte und rezitierte, und irgendwann ließen die Mitleidsbekundungen nach, die Hilfsangebote verstummten, die besorgten Blicke blieben aus. Dabei hatte Ed nie mit jemandem darüber gesprochen, weder über G. noch über seine Situation. Nur wenn er zu Hause war, redete er, unentwegt plapperte er etwas vor sich hin, und natürlich sprach er mit Matthew.

Nach seinen ersten Tagen mit Trakl hatte Ed nur noch Lehrveranstaltungen von Dr. Z. besucht. Lyrik des Barock, der Romantik, des Expressionismus. Laut Studienplan war das nicht erlaubt. Es gab Anwesenheitslisten und Eintragungen ins Studienbuch. Eine Tatsache, der sich auch Dr. Z. auf Dauer nicht würde verschließen können. Auf gewisse Weise schien Ed noch immer geschützt. Selten geschah es, dass ein Kommilitone den Versuch unternahm, statt seiner das Wort zu ergreifen. Lieber hörte man ihm zu, eingeschüchtert und fasziniert zugleich, als wäre Ed ein exotisches Wesen aus dem Zoo des menschlichen Unglücks, umgeben von einem Wassergraben furchtsamer Achtung.

Nach vier Jahren im selben Studiengang hatten alle die passenden Bilder im Kopf: G. und Ed an jedem Morgen Hand in Hand auf dem Parkplatz vor dem Institut; G. und Ed und die lange, zärtliche, nicht nachlassende Umarmung, während der Vorlesungssaal sich langsam füllte; G. und Ed und ihre Szenen am Abend im Café Corso (zuerst ging es um etwas, dann um alles) und dann, spätnachts, die überschwänglichen Versöhnungen, draußen auf der Straße, an der Straßenbahnhaltestelle. Aber erst, nachdem die letzte Bahn abgefahren war und sie nach Hause laufen mussten, drei Stationen bis zum Rannischen Platz und von dort noch einmal ein Stück zu Fuß bis vor ihre Tür. Während die Tram ihre letzten Kurven machte auf ihrer letzten Fahrt durch die Stadt und das höllische Jaulen und Kreischen des stählernen Fahrwerks die Nacht über Halle erfüllte wie ein Vorbote des Jüngsten Gerichts.

Ed, so hatte G. ihn genannt, manchmal auch Edsch oder Ede.

Ab und zu (immer öfter) stieg Ed auf die Leiter, um es zu spüren. Er nannte es den Stoff der Piloten. Zuerst das zittrige Schlagen der Haken. Dann das betörende Strömen, ein Schauder, der ihm ins Mark fuhr, in die Lenden — die Anspannung ließ nach. Er schloss die Augen und atmete tief. Er war ein Pilot in seiner Kapsel, er hing in der Luft, am seidenen Faden.

Vor der Hütte des Hausmeisters blühte seit Tagen der Flieder. Ein Holundergebüsch quoll direkt unter der Türschwelle hervor. Die Spinnweben im Türrahmen waren zerrissen, und ihre Enden schaukelten im Wind. Der Mann ist zu Hause, dachte Ed. Manchmal sah er ihn durch seinen verwilderten Garten schleichen oder bewegungslos dastehen, als lausche er auf irgendetwas. Wenn er seine Hütte betrat, tat er das sehr vorsichtig, mit ausgebreiteten Armen. Trotzdem klirrte es schon beim ersten Schritt, ein Meer von Flaschen bedeckte den Boden.

Eines der Gerüchte besagte, der Hausmeister sei habilitiert und ehemals im Ausland tätig gewesen, sogar» im NSW«, wie es hieß. Jetzt gehörte er zur Kaste der Ausgestoßenen, die ihr eigenes Leben lebten, der Garten und die Hütte waren Teil einer anderen Welt. Ed versuchte sich vorzustellen, was der Mann zum Frühstück aß. Er fand kein Bild, aber dann sah er einen kleinen Camembert (»Rügener Badejunge«), den der Hausmeister auf einem abgenutzten Schneidebrett in kleine mundgerechte Viertel schnitt. Er spickte die Käseecken auf die Spitze seines Messers und schob sie sich in den Mund, Stück für Stück. Für andere schwer vorstellbar, dass einsame Menschen überhaupt etwas essen, dachte Ed. Für ihn hingegen war der Hausmeister der einzige wirkliche Mensch in dieser Zeit, einsam und verlassen wie er selbst. Für einen verwirrenden Augenblick schien unklar, ob Ed sich lieber in die Obhut des Hausmeisters und seiner Hütte begeben hätte als unter die Fittiche Dr. Z. ‌s.

Um 19 Uhr schloss die Institutsbibliothek. Gleich nach seiner Heimkehr fütterte er Matthew. Er gab ihm Brot, ein in Scheiben geschnittenes Würstchen und etwas Milch. Früher war das G.s Aufgabe gewesen. So zuverlässig Ed für Matthew sorgte, hatte er doch noch immer nicht verstanden, dass Katzen keine Milch, aber Wasser benötigten zum Überleben. Deshalb wunderte es ihn, wenn das Tier im Hydrotopf mit der Zitronenpflanze scharrte, sobald er das Zimmer verließ. Wie angewurzelt stand er in der Küche und hörte das Geräusch. Das Klacken, mit dem die Kieselsteinchen aus dem Topf auf den Schrank und von dort auf die Dielen regneten. Er konnte nichts anderes tun, als zu lauschen. Er konnte nicht glauben, dass diese Dinge zu seinem Leben gehörten — dass er es war, dem all das geschah.



Matthew

Dann, am Vorabend seines vierundzwanzigsten Geburtstags, war Matthew verschwunden. Die halbe Nacht hatte Ed gelesen, für das Brockes-Seminar von Dr. Z.:»Indem ich nun bald hin, bald her / Im Schatten dieses Baumes gehe …«Irgendwann war er eingeschlafen an seinem Tisch. Am Morgen ging er ins Institut, über den Rannischen Platz bis zum Markt und Richtung Universität, die Barfüßerstraße entlang. In der engen, dunklen Straße lag der Merseburger Hof, wo Ed vor Beginn seiner Lehrveranstaltungen einkehrte, um Kaffee zu trinken. Der fettverschmierte Text auf der Rückseite der Speisekarte (vielleicht der Auszug aus einer älteren Chronik) verriet, dass die Barfüßerstraße früher» Bei den Brüdern «geheißen hatte, dann» Bei den geringeren Brüdern «und dann» Bei den Barfüßern«— ein seltsamer Abstieg, der Ed dazu brachte, sich mit der Straße solidarisch zu fühlen.

Am Nachmittag fehlte Matthew noch immer, und er begann, ihn zu rufen. Erst unten im Hof, dann aus dem Fenster, aber der kleine, vorwurfsvolle Schrei, mit dem das Tier gewöhnlich Antwort gab, blieb aus.

«Matthew!«

Der Geruch des Hofes: Es war, als würde man einen alten, schon stockfleckigen Kummer inhalieren. Ein Kummer aus Moder und Kohle, der gegenüber, in der eingestürzten Schuppenzeile, wohnte und unablässig abgesondert wurde von den darin verschütteten, für immer begrabenen Dingen. Im Haus wohnten vorwiegend Bunesen, Chemiearbeiter aus dem Bunawerk, das Richtung Süden vor der Stadt lag. Bunesen — Ed erinnerte sich, dass die Arbeiter selbst mit diesem Wort voneinander sprachen; sie verwendeten es selbstverständlich und nicht ohne Stolz, wie man die Zugehörigkeit zu einem Volk unterstreicht, dessen Geschichte bekannt ist, ein Stamm, in den man hineingeboren wurde und von dem man sicher sein kann, dass es ihn noch lange, lange geben wird.

«Matthew!«

Eine Weile stand Ed am geöffneten Fenster und lauschte den Ratten. Er dachte ›Geburtstag, mein Geburtstag‹ und begann erneut zu rufen:»Matthew!«Um unsichtbar zu bleiben, hatte er das Licht gelöscht. Gegenüber, auf dem Berg über der Böschung, lag der flache, langgestreckte Ziegelbau des Pflegeheims. Seit er rief, waren die Fenster der Baracke bevölkert. Er sah die verwaschenen Farben von Hemden und Strickjacken und die grauen, im Neonlicht glänzenden Schädel — die Alten interessierte alles im Hof, besonders nachts. Oft dauerte es einige Sekunden, ehe sie ihre Deckenlampen wieder ausgeschaltet hatten. Ed beobachtete das lila Nachglühen des Neons und stellte sich vor, wie sie dort in der Finsternis standen, dicht beieinander, und wie die hinten in den Nacken ihrer Vorderleute bliesen mit ihrem schlechten, fauligen Atem. Vielleicht hatte einer von ihnen Matthew gesehen? Und jetzt diskutierten sie leise (erst leise, dann heftiger, dann wieder gedämpft, um die Aufsicht nicht zu alarmieren), ob und wie sie ihren Kassiber zustellen sollten.

Zwei Tage später rief er noch immer. Am Anfang war ihm das laute Rufen unangenehm gewesen, jetzt konnte er nicht mehr aufhören damit. Jede Stunde rief er eine Weile in den Hof, mechanisch, fast bewusstlos, mit einem an der Nachtluft erkalteten Gesicht, einer Maske, die ihm bis unter die Haarspitzen wuchs. Das Mitgefühl im Haus war aufgebraucht. Fenster wurden aufgerissen und zugeschlagen, es wurde geflucht, auf Hallisch oder Bunesisch. Man klingelte bei ihm oder schlug gegen die Tür.

«Matthew! Würstchen, feine Milch!«

«Steck dir dein Würstchen sonst wohin, du Penner, dann können wir vielleicht schlafen!«

Der Juniabend war kühl, aber jetzt ließ Ed das Fenster offen. Ohne dass er es eigentlich bemerkte, hatte er sich erst ganz leicht und dann immer weiter vorgebeugt über den niedrigen, aus Sicherheitsgründen mit einer Eisenstange aufgestockten Fenstersims. Wie ein Turngerät umklammerte er mit beiden Händen die rostige Stange und entließ seinen Oberkörper langsam in den Hof:

«Matthew!«

Seine Stimme gewann an Volumen, ihr Klang wurde reiner und stärker, ein dunkles, sauber hallendes U:

«Matth- ew!«

Drinnen, irgendwo weit hinter ihm, tänzelten seine Fußspitzen über das Linoleum, und rund um die letzten Fortsätze seiner Wirbelsäule begann der Stoff der Piloten zu strömen, in einem ganz unbekannten, unvergleichlichen Maß. Eine angenehme Steife setzte ein, nein, es war viel mehr, eine Wollust, die ihn zum Erstarren brachte, vom Scheitel bis zur Sohle –

«Matth--ew!«

Sein Körper schwamm oder schwebte. Er genoss die warme, samtweiche Färbung des Echos am Grund, alles Fremde darin war verschwunden. Noch einmal, vorsichtig, holte er Luft und setzte zum Rufen an, und ohne weiteres traf er den Ton, der den Hof und die Finsternis und die umliegende Welt von Halle an der Saale zu einer einzigen, weichen, schwingenden Einheit verband, in die einzutauchen er geneigt und nun endlich auch vollkommen bereit war —

«Matthew!«

Wie getroffen schlug Ed ins Zimmer zurück. Zwei Schritte schaffte er noch, dann knickte er ein und ging zu Boden. Es war Matthew gewesen, Matthews Schrei. Ein empörtes, beleidigtes Kreischen oder Quietschen, das Geräusch eines ungeölten Scharniers, einer Tür zwischen Diesseits und Jenseits, die mit einem Knall zugeschlagen war und ihn zurückgeschleudert hatte aus dem Sturz — erstes, zweites, drittes Stockwerk. Ihm war schwarz vor Augen; er musste Luft einsaugen und wieder ausblasen, unauffällig, als atme er nicht wirklich, als atme er eigentlich nicht mehr.

Nach einer Weile gelang es ihm, die Hände vom Gesicht zu nehmen. Sein Blick fiel auf das offene Fenster.

Die Katze war sehr still.

Sie war gar nicht da.

Während er einschlief, beugte sich G. über ihn. Sie war ganz nah und deutete mit dem Finger auf ihren halb offenen Mund. Dabei zog sie ihre Lippen in die Breite und presste die Spitze ihrer kleinen, glänzenden Zunge hinter die Vorderzähne, die bei ihr leicht schräg zueinander standen, wie der Schieber eines Schneepflugs:»Matthew, sagen Sie mal Ma-tthhew«.

Er versuchte auszuweichen und fragte, ob alle Englisch-Lehrerinnen diesen kleinen Schneepflug im Mund hätten, in den die Zunge sich so gut einschmiegen ließe.

G. schüttelte den Kopf und schob ihren Zeigefinger in seinen Mund.

«Edgar Bendler, ist das Ihr Name? Edgar Bendler, vierundzwanzig Jahre? Was fehlt Ihnen denn, Ed? Sie meinen, Ihre Behinderung sei angeboren? Dann sagen Sie mal thanks

«Thanks.«

«Sagen Sie mal both of us

«Both of us.«

Der Finger in seinem Mund bewegte sich jetzt und erklärte ihm alles. Alles, was ihm fehlte.

«Und jetzt noch einmal both of us, und dann solange Sie können, bitte.«

«Both, both …«

Steif wie eine kleine schwarze Sphinx setzte sich Matthew neben das Bett, um eine Weile dabei zuzusehen, wie er langsam, sehr langsam, in G. eindrang, so, wie es ihr am besten gefiel, millimeterweise.



Wolfstraße

Genau genommen war sein Aufenthalt in der Wolfstraße 18 nicht ganz legal. In dem vom täglichen Auswurf der beiden großen Chemiewerke ergrauten Backsteinbau wohnte er nur zur Untermiete bei einer Untermieterin, war also eine Art Unteruntermieter. Mit Sicherheit existierten auch noch weitere Untervermietungen in der wenigstens hundertjährigen Mietgeschichte dieser Wohnung, lose zusammengehalten durch selbstgemachte, oft nur handgeschriebene Verträge, Inventarlisten oder Absprachen über Kellerbenutzung und verbindliche Vereinbarungen die Benutzung der Toilette betreffend, an die sich kein Mensch mehr erinnern konnte. Fern der Wohnungsämter und ihrer Prozeduren der zentralen Vergabe wuchsen über die Jahre ganze Stammbäume von Untermietverhältnissen heran, aber schon nach zwei Mietgenerationen begann man, die Vorbewohner aus dem Blick zu verlieren. Bald wusste man nur noch ihre Namen, sie sammelten sich auf Briefkästen und Türen, ähnlich den verblassten und zerschrammten Wappen ferngelegener Städte auf einem weitgereisten Stück Gepäck. Ja, so ist es, dachte Ed, man reist nur so in Wohnungen durch die Welt, als alterndes Gepäck.

Den ganzen Tag war er halb bewusstlos durch die Stadt geirrt. Der Schreck dröhnte noch in seinem Schädel, und er schämte sich, was auf irgendeine Weise mit der Frage zusammenhing, ob er gesprungen war oder nicht.

Noch immer stand er vor seiner Tür, auf deren grau überstrichenem Holz sich eine kleine Herde von Plastik- und Messingschildchen aneinanderdrängte. Er dachte an den Wanderstock seines Großvaters, der vom Griff bis zur Spitze mit den silbernen oder goldglänzenden Abzeichen fremder Orte bestückt gewesen war. Später hatte ihm der Stock als Krücke gedient. Als Kind, noch vor der Einschulung, zur Zeit der größten Entdeckungsreisen also, war es für Ed ein reiner Genuss gewesen, mit dem Finger über die kleinen, glänzenden Metallplättchen zu gleiten, von der Spitze des Stockes bis zum Griff und zurück, immer wieder, hin und her. Dabei spürte er die Kühle der Wappen, und während er die fremden Orte streichelte, buchstabierte er sie, so gut er es eben vermochte, und sein Großvater korrigierte ihn:

«A-a-schch-chn. Aschn!«

«M-mm-me-met-tss, Mee-tss.«

«Ss-ss-sst-ssstuuu, sstuutt, sstutt ‌…«

«K-K-Kooop-en-Koopeen-…«

Aachen oder Kopenhagen lauteten die Worte für Orte, die in einer Art Jenseits, jedenfalls in seltsamer Ferne zu liegen schienen und deren Existenz mindestens fraglich war; eigenartigerweise bezweifelte Ed das noch immer, trotz besseren Wissens. Am Ende hatten die Abzeichen die vertraute Gestalt seines Großvaters fremd gemacht und den Alten selbst in eine gewisse Ferne gerückt, in eine Vorzeit, deren Verbindung zur Gegenwart nicht mehr hergestellt werden konnte. Ähnlich verhielt es sich mit Stengel, Kolpacki, Augenlos und Rust — so lauteten die Namen, die noch lesbar waren auf Edgars Tür. Auf einem Zettel über dem Türknauf stand sein eigener Name. Der Name darunter war sauber ausradiert, für ihn aber sichtbar geblieben, auch bei vollständiger Finsternis, auch ohne Papier und ohne Tür. Er hatte damals mit Bleistift geschrieben und das Papier, das sich inzwischen wellte und an den Rändern zu vergilben begann, sorgfältig aufgeklebt.

«Meine weitgereiste Tür«, flüsterte Ed und drehte den Schlüssel im Schloss.

Einerseits herrschte die Allmacht der Ämter und das scharfe Instrument der Zentralen Wohnraumlenkung, andererseits wusste niemand im Haus, wohin Stengel, Kolpacki, Augenlos und Rust gegangen sein konnten oder ob sie überhaupt noch existierten — was Ed für ein gutes Omen zu halten begann.

Er öffnete den Küchenschrank und sah seine kümmerlichen Vorräte durch. Das meiste warf er in den Müll. Einer Eingebung folgend, schraubte er die Ofenklappe auf. Er griff nach dem Hefter mit den Seminaraufzeichnungen der letzten Wochen, steckte ihn ins Ofenloch und zündete ihn an. Er brannte gut. Er nahm einen anderen Hefter und einen weiteren, ohne besondere Auswahl. Schnell wurde es warm im Zimmer, die Schamottesteine knackten. Er zog die grau marmorierte Mappe mit seinen Schreibanfängen aus dem Regal und legte sie aufs Ofenblech. Nach einer Weile stellte er sie zurück und öffnete das Fenster. Es war ein Versuch.

Den ganzen Tag verbrachte er damit, seine Wohnung aufzuräumen, Bücher, Hefter und Blätter zu sortieren und alles in irgendeine Ordnung zu bringen, als ginge es um seinen Nachlass. Sicher, er bemerkte auch, dass er an bestimmten Dingen hing,»aber nur, weil du wegwillst«, flüsterte Ed. Es tat gut, ab und zu den Zweig eines leise gesprochenen Halbsatzes in die Glut zu schieben, damit die schwache Feuerstelle seiner Anwesenheit nicht ganz erlosch.

Matthew fehlte.

Matthew.

Am nächsten Morgen nahm er den Aschekasten aus dem Ofen und brachte ihn zum Kübel, bedeckt mit einem Lappen, damit die feine, schwarzblättrige Asche nicht heruntergeweht werden konnte — so hatte es ihm sein Vater beigebracht. Seit seinem zehnten Geburtstag war Ed ein Schlüsselkind gewesen und also verantwortlich für das Heizen ihres Kachelofens, wenn er allein am frühen Nachmittag von der Schule nach Hause kam. Neben der Kellerordnung und dem Abtrocknen des Geschirrs zählte der Ofen zu seinen» kleinen Pflichten«— ein Wort seiner Mutter. Für fast alles, was ihn betraf, gebrauchte sie Formen der Verkleinerung:»Kleine Pflichten«,»kleine Hobbys«,»du und deine kleine Freundin«. Solche Dinge spukten in Eds Kopf (und er spürte die Hitze der Verwirrung auf seiner Stirn), als er entschied, wirklich niemandem Bescheid zu geben. Edgar Bendler hatte beschlossen, zu verschwinden, ein Satz wie aus einem Roman.

Er ging auf die Knie und fegte rund um den Ofen. Er wischte den Boden, sein stumpfes Rotbraun glänzte. Die heruntergetretenen Kanten der Schwellen und die blanken, abgeschabten Stellen wurden schwarz dabei. Die schwarzen Stellen hatten Fragen. Warum nicht gesprungen? Was hier noch verloren? Hhmm? Hhmm? Ed versuchte, nirgendwo anzustoßen, und setzte den Eimer vorsichtig ab. Er fühlte sich bereits als Eindringling, fremd in einem alten, ehemals eigenen Leben, wie ein Mann ohne Land. Er hörte Schritte vor der Tür, er hielt den Atem an. Er schlich in die Küche, nahm das Megalack aus dem Schrank und trank. Es war eine Art flüssiger Kalk, der seine Schleimhäute tünchte; seit seiner frühen Jugend hatte er einfach zu viel Säure im Magen.

Erst am späten Nachmittag konnte er damit beginnen, seine Tasche zu packen. Er wählte ein paar Bücher aus, dazu sein übergroßes braunes Notizbuch, das er sporadisch als eine Art Tagebuch benutzt hatte. Es war sperrig, unpraktisch, aber ein Geschenk von G. Matthews Decke und seine stinkende Schüssel trug er nach unten in den Hof. Ein zerbrochenes Fenster, ein Moment des Zögerns, dann schleuderte er alles zusammen ins Dunkel des Kummerschuppens.

In einem Schuhkarton mit Postkarten und Stadtplänen fand er eine ältere Landkarte der Ostseeküste. Jemand hatte die Namen einiger Orte mit Lineal unterstrichen und die Küste mit blauer Tinte nachgezeichnet.»Wäre schon möglich, durchaus möglich, Ed, dass du das warst«, murmelte Ed. Tatsächlich hätte er nicht sagen können, wie die Karte in seine Sammlung geraten war, vielleicht aus dem Fundus seines Vaters.

Zum Abschied wollte er sich eine Musik auflegen, leise, sehr leise Musik. Eine Weile stand er wie bewusstlos vor dem Herd, ehe er begriff, dass die Schallplatte auf der Kochfläche nicht abgespielt werden konnte. Dass die Kochfläche kein Plattenteller war.

Zuletzt, bevor Ed seine Wohnung in der Wolfstraße verließ, schraubte er die Sicherungen aus dem Elektrokasten und stellte sie in einer Reihe auf den Zähler: eine kostbare automatische Sicherung mit Druckknopf und zwei ältere, schon angegraute Keramik-Sicherungen. Ein paar Sekunden konzentrierte er sich auf das blanke Zählrad. Wegen der feinen, hypnotisierenden Riffelung des Rädchens wusste man nie genau, ob es tatsächlich stillstand. Ed erinnerte sich daran, wie er mit dreizehn oder vierzehn Jahren das erste Mal von seiner Mutter ins Treppenhaus hinausgeschickt worden war, um allein eine Sicherung zu wechseln. Die Geräusche des Hauses und ihr dumpfer Hall, die Stimmen aus der Nachbarwohnung, ein Husten von oben, das Schlagen von Geschirr — diese Welt war Äonen entfernt, als er die alte Sicherung beiseitelegte und seine Angst die Form einer unbändigen Versuchung annahm. Er sah, wie er langsam, aber unaufhaltsam seinen Zeigefinger ausstreckte und ihn in die leere, glänzende Fassung steckte. Es war das erste Mal gewesen, dass er es so klar und deutlich wahrgenommen hatte: Unter der Oberfläche, gewissermaßen hinter dem Leben, herrschte eine immerwährende Verlockung, ein Angebot ohnegleichen. Es brauchte den festen Entschluss, sich abzuwenden, und nichts anderes war es, was Ed tat an diesem Tag.

Er schob den Schlüssel unter die Matte, das Blech seiner Briefkastentür war nur eingeklemmt; im Ernstfall würde Verlass auf die Bunesen sein.



Hotel am Bahnhof

Noch vor dem Aussteigen roch er das Meer. Aus seiner Kindheit (Erinnerungen an ihre einzige Ostseereise) kannte er das Hotel am Bahnhof. Es lag dem Bahnhof direkt gegenüber, eine große, schöne Verlockung mit zu Rundtürmen ausgebauten Erkern und Wetterfahnen, in denen die Jahreszahlen bröckelten.

Er ließ ein paar Autos vorbei und zögerte. Es ist nicht klug, besonders was das Geld betrifft, so lautete der Einwand. Andererseits ergab es keinen Sinn, erst am Nachmittag auf der Insel zu landen, denn dann bliebe wahrscheinlich nicht genug Zeit, irgendwo unterzukommen — falls ihm das überhaupt gelingen sollte. Etwa hundertfünfzig Mark trug er bei sich, wenn er gut wirtschaftete, konnte er damit drei, vielleicht sogar vier Wochen überbrücken. Neunzig Mark hatte er für Mietüberweisungen auf seinem Konto zurückgelassen, genug bis September. Wenn er Glück hatte, würde niemand Anstoß nehmen an seinem Verschwinden. Er konnte krank geworden sein. In drei Wochen begannen die Semesterferien. Seinen Eltern hatte er eine Karte geschrieben. Für sie befand er sich in Polen, in Katowice, im sogenannten Internationalen Studentensommer, genau wie im vorigen Jahr.

Die Rezeption war ungewöhnlich hoch gebaut und wie leergefegt, keine Papiere, keine Schlüssel. Andererseits: Was wusste Ed schon von Hotels. Erst im letzten Moment tauchten die Köpfe dreier Frauen auf, versetzt wie die Kolben eines Viertaktmotors, bei dem die vierte Kerze nicht gezündet hatte. Unmöglich, genauer auszumachen, aus welcher Tiefe die Rezeptionistinnen plötzlich heraufgekommen waren; vielleicht stand das hohe Bord in Verbindung mit einem Hinterzimmer, oder die Frauen hatten sich über die Jahre einfach daran gewöhnt, so lange wie möglich in Deckung zu bleiben, still für sich, hinter ihrer dunkel furnierten Barriere.

«Guten Tag, ich …«

Seine Stimme klang matt. Allein im Abteil, war es ihm wieder nicht gelungen zu schlafen. Eine Militärstreife, wahrscheinlich eine Art vorgelagerter Grenzschutz, hatte seine Ostseekarte eingezogen. Der Zug hatte lange in Anklam gehalten, dort mussten sie zugestiegen sein. Er bereute, dass ihm nichts Klügeres eingefallen war, als zu behaupten, dies sei eigentlich nicht seine eigene Karte … Demzufolge er auch nicht wissen könne, warum bestimmte Orte unterstrichen und bestimmte Küstenlinien nachgezeichnet … Plötzlich hatte seine Stimme versagt, stattdessen das Summen in seinem Schädel, Brockes, Eichendorff und immer wieder Trakl, der am unerbittlichsten tönte mit seinen Versen aus Laub und Braun, weshalb Ed sich an den Kopf fassen musste. Die plötzliche Gebärde: Im Reflex hob einer der Soldaten sein Maschinengewehr.

Am Ende konnte Ed wohl von Glück sagen, dass sie ihn sitzen gelassen hatten.»Komischer Vogel«, raunte der Kalaschnikow-Soldat draußen im Gang. Ed stand der Schweiß auf der Stirn, Felder zogen vorüber, schwarzes Gras, den Bahndamm entlang.

«Haben Sie reserviert?«

Zum ersten Mal in seinem Leben nahm er ein Zimmer. Das Wunder war, dass es funktionierte. Ed erhielt ein längeres Formular aus stumpfem Papier, sein Personalausweis wurde verlangt. Während er mit Mühe seinen Ellbogen über das hohe Bord schob und mit steifem Handgelenk das Formular ausfüllte, blätterten die Rezeptionistinnen abwechselnd in dem Ausweisheftchen herum. Für einen unsinnigen Moment befürchtete Ed, dass sein heimlicher Aufbruch sich unterwegs automatisch eingetragen haben könnte, ganz hinten, auf einer der leeren Seiten, unter Visa und Reisen. Unerlaubt entfernt — schon während seiner Zeit beim Militär hatte es diesen kleinen, verhängnisvollen Stempel gegeben, der die verschiedensten Strafen nach sich zog.

«Entschuldigung, ich mache das zum ersten Mal«, sagte Ed.

«Was?«, fragte die Concierge.

Ed hob den Kopf und versuchte ein Lächeln, aber der Brückenschlag funktionierte nicht. Er bekam einen Schlüssel, an den mit kurzem Strick ein lackierter Holzwürfel gebunden war. Er schloss die Faust um den Würfel und wusste die Nummer seines Zimmers. Die Zahl war sauber eingebrannt. Augenblicklich sah er den Hausmeister des Hotels in seiner Werkstatt im Keller; er hockte dort vor einer endlosen Reihe mühsam auf Größe gesägter und geschmirgelter Klötzchen, auf die er das glühende Eisen seines Lötkolbens setzte — Zahl für Zahl, Zimmer für Zimmer. Auch Ed war einmal ein Arbeiter gewesen, und noch immer schien ein Teil seiner selbst in den Werkstätten zu Haus, in den Höhlen der werktätigen Klasse, jenen Nebenräumen der Welt, in denen die Dinge ihren klaren, greifbaren Umriss behauptet hatten.

«Zweiter Stock, die Treppe links, junger Mann.«

Über einer messingbeschlagenen Tür neben der Treppe schimmerte das Wort Moccastube. Auf dem ersten Absatz sah Ed sich noch einmal um; zwei der drei Frauenköpfe waren wieder verschwunden, die dritte Frau telefonierte und verfolgte ihn dabei mit ihrem Blick.

Als er erwachte, war es schon nach sechzehn Uhr. Am Fußende des Doppelbettes stand ein Wäscheschrank. In der Ecke ein Fernseher auf einem verchromten Untergestell. Über der Toilette hing ein gusseiserner, mit Kondenswasser beschlagener Spülkasten, der aus einer viel früheren Zeit stammen musste. Der Hebel für die Spülung imitierte zwei springende Delphine. Während die Tiere gemächlich in ihre Ausgangsstellung zurückkehrten, ergoss sich ein endloser Schwall. Ed genoss das Geräusch und fühlte sich befreundet mit den Delphinen.

Dass man ein Hotel betreten, ein Zimmer verlangen und erhalten konnte (einigermaßen umstandslos), musste zu den wenigen Wundern gezählt werden, die überlebt hatten — »trotz al-le-dem und alle-dem«, gurgelte Ed in den Wasserstrahl der Dusche. Mit der Zeit vergaß man einfach, dass diese Dinge noch existierten, im Grunde glaubte man nicht mehr daran, ja, man vergaß, wozu das Leben überhaupt gut sein konnte. So oder so ähnlich dachte Ed. Er wollte onanieren, aber dann fehlte ihm die Konzentration.

Rechts vom Hotel lag ein See mit einer Fontäne, die sich regelmäßig in den Himmel hob, dann wieder in sich zusammenbrach und für Sekunden verschwunden blieb. Ein Pärchen in einem Tretboot glitt langsam an das Wasserspiel heran. Plötzlich, beim Überqueren der Straße zum See, überkam Ed ein gutes Gefühl. Das alles ist der Beginn von etwas. Jemand, der schon einiges hinter sich hat, zeigt sich in der Lage … Hier endete sein Satz. Ihm wurde klar, dass es ein verspäteter Aufbruch war. Er fühlte den Schmerz. Als erwachte er erst jetzt aus seiner Betäubung, millimeterweise.

Eine gepflasterte Straße, die nach links abbog, hieß An den Bleichen. Er kam an ein paar heruntergekommenen Villen vorbei, mit Wintergärten, Höfen und Garagen darin. Er trat vor eines der Klingelschilder, um einen Blick auf die bisherige Reiseroute des Hauses zu werfen. Das kleine tapfere Licht im Inneren des Klingelbretts hielt auch einige der unteren, schon länger, vielleicht seit Jahren überklebten Namen lesbar. Im Weitergehen versuchte Ed, ihren Rhythmus aufzunehmen: Schiele, Dahme, Glambeck, Krieger … Aus seinem Gemurmel wurde ein Steg über den See, und seine Schritte auf dem Holz ergaben eine Art Metronom.»Die-schon-mal-ge-stor-ben-sind …«, flüsterte Ed und fasste sich unwillkürlich ins Gesicht, … sehen alles mit anderen Augen? Die alte Stadtmauer tauchte auf, ein Torbogen und ein Café namens Torschließerhaus.

Er durchquerte die Altstadt bis zum Hafen und kontrollierte die Abfahrtszeiten der Fähre. Im Kiosk der» Weißen Flotte «erwarb er eine Überfahrt für den nächsten Tag. Der Anblick der Schiffe stimmte ihn euphorisch. Die Stufen bis zum Kai, ein hellgrauer Beton, und dann: das Meer.

Um billig zu essen, kehrte Ed in den Bahnhof zurück. Er fühlte sich ausgeruht und erwog seine Chancen. Versteck im See, geheime See, Hiddensee … Er kannte die Geschichten. Ein unablässiges Raunen umspülte das Eiland.

Ed kaute bedächtig und trank seinen Kaffee in winzigen Schlucken. Zuerst würde es nicht leicht sein, auf eines der Schiffe zu kommen. Dann fast unmöglich, ein Quartier zu finden, aber ein anderes Ziel war nicht denkbar innerhalb der Grenzen. Sicher, er hatte Experten gehört, die behaupteten, dass Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht.

In Halle hatte Ed einen Historiker kennengelernt, der den Winter über in den Offenbach-Stuben bediente, einem Weinrestaurant, wo er mit G. einige Male an der Bar gewesen war. In jedem Frühjahr, zu Saisonbeginn, kehrte der Historiker (so nannte man ihn noch) auf die Insel zurück.»Endlich, endlich!«, wie er seinen Gästen gern zurief, die nachsichtig nickten, wenn er anhob zu einer seiner Elogen, für die er das Publikum der Offenbach-Stuben gewöhnlich mit» Ihr Lieben!«ansprach.»Die Insel, ihr Lieben, hat alles, was ich brauche, immer gesucht habe, bereits wenn sie auftaucht am Horizont, vom Dampfer aus gesehen, ihre schmale zerbrechliche Gestalt, ihr feiner Umriss, im Rücken noch der letzte graue Hahnenkamm des Festlands, Stralsund mit seinen Türmen, das ganze Hinterland mit seinem Dreck, ihr wisst, ihr Lieben, was ich meine, ihr Lieben, die Insel taucht auf und augenblicklich vergesst ihr das alles, denn jetzt liegt sie vor euch, und etwas Neues fängt an, ja, schon da, auf dem Dampfer!«, schwärmte der Mann, ein grauhaariger Mittvierziger, aus dem Universitätsdienst ausgeschieden, freiwillig, wie es hieß, und dafür umso tiefer in Träume versunken; wie viele Denker des Landes trug er eine Art Marx-Bart.»Die Freiheit, ihr Lieben, besteht im Kern darin, im Rahmen der existierenden Gesetze eigene Gesetze zu erfinden, Objekt und Subjekt der Gesetzgebung zugleich zu sein, das ist ein Hauptzug des Lebens dort oben, im Norden. «So fasste es der Historiker der Offenbach-Stuben zusammen, eine Trommel voller Schoppen vor der Brust.

Die für Ed wichtigste Nachricht besagte, dass auch während der Saison plötzlich Stellen frei werden konnten. Von einem Tag auf den anderen wurden Kellner gesucht, Abwäscher, Küchengehilfen. Es gab Saisonkräfte, die über Nacht verschwanden, aus den verschiedensten Gründen. In der Regel verstummten die Erzähler an diesem Punkt, um einen Blick auf ihr Gegenüber zu werfen, und dann, je nach Lage der Dinge, in eine der möglichen oder unmöglichen Richtungen fortzufahren:»Natürlich gibt es immer wieder Leute, die aufgeben, zurückgehen aufs Festland, die einfach nicht geschaffen sind dafür. «Oder:»Du weißt, eine Ausreise wird plötzlich genehmigt, mitten im Sommer …«Oder:»Sicher, es ist kaum zu glauben, fünfzig Kilometer, aber gute Schwimmer hat es schon immer gegeben …«Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet — man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.

Nach dem Essen kehrte Ed ins Hotel zurück. Jemand hatte sich an seinen Sachen zu schaffen gemacht, doch nichts fehlte. Er trat ans Fenster und sah zum Bahnhof hinüber. Im Bett begann er nach Matthew zu rufen — ein Rückfall. Aber er rief nur sehr leise und nur, um noch einmal seine Stimme zu hören vor dem Schlafen. Nein, er war nicht gesprungen.



Die Insel

Meist kam die Absage sofort. Irgendjemand, der im Vorbeigehen rief:»Alles voll!«, ein paar Köpfe, die sich hoben, wenn Ed sich halblaut bedankte und möglichst rasch wieder entfernte, die Faust geballt um den verschwitzten Riemen seiner Kunstledertasche.

Er war im Norden an Land gegangen und Richtung Süden gewandert, etwa sechs Kilometer, die er dann noch einmal in umgekehrter Richtung zurücklegte. Die Insel war stellenweise so schmal, dass man zu beiden Seiten das Wasser sehen konnte. Links das Meer aus Silber, rechts der Bodden, ein dunkelblaues Glas, fast schwarz. Die Wolken schienen tiefer zu ziehen als gewöhnlich, und für eine Weile hing Ed ihren sonderbar langgestreckten Formen nach. Während der Horizont noch wuchs, schrumpfte der Abstand zum Himmel, eine Dimension verschob die andere. Am Ende des Tages, als er die Hoffnung bereits zu verlieren begann, machte ihm die Frage so gut wie nichts mehr aus:»Hätten Sie vielleicht eine Arbeit für mich? Aber ich bräuchte auch ein Zimmer.«

In einer Gastwirtschaft namens» Norderende «bot man ihm 1,40 Mark die Stunde, für alle möglichen Tätigkeiten, wie es hieß,»aber ohne Quartier«. Etwas abseits standen ein paar ausrangierte Strandkörbe. Ed mochte das ausgeblichene Blau ihrer Markisen, es war die Farbe von Nichtstun, Juli, Sonne im Gesicht. Während der übelgelaunte Wirt ein paar Worte mit ihm wechselte (Eds erstes Gespräch auf der Insel), huschten zwei seiner Angestellten vorüber, mit gesenktem Kopf, als hätten sie den Verlust ihrer Anstellung zu befürchten. Einen Moment verharrte Ed noch zwischen den Abfalltonnen und Getränkekisten. Ohne es zu bemerken, hatte er die Demutshaltung eines Bettlers angenommen.

Als er weiterzog, rief ihm einer der Angestellten etwas nach, durch die fast geschlossene Tür des Lagerschuppens, so dass Ed den Mann nicht genauer erkennen konnte. Alles, was er verstand, war das Wort» Klausner«, und dann» Crusoe, Crusoe — «, als würde Ed eine geheime Botschaft übermittelt. Wahrscheinlicher war, dass der Mann ihn verspotten wollte mit der alten Geschichte vom Schiffbruch.

Es dämmerte bereits, und in den Häusern gingen die Lichter an. Das Gewicht seines Gepäcks zwang Ed, beständig etwas schief zu gehen. Der Trageriemen war viel zu schmal und schnitt in die Schulter, das Kunstleder war brüchig geworden. Ed überlegte, ob es günstiger gewesen wäre, wenn er die Tasche abgestellt, besser noch, versteckt hätte in einem der Sanddornbüsche am Weg. Die Frage nach Arbeit hatte er mit Sicherheit falsch formuliert, falsch und dumm, als gehöre er nicht zur selben Gesellschaft. Hier hatte man die Arbeit, niemand musste darum bitten, und schon gar nicht auf diese Weise, von Haus zu Haus, mit einer verlotterten Tasche über der Schulter. Die Arbeit war wie ein Ausweis, man musste sie vorzeigen können; keine Arbeit zu haben widersprach dem Gesetz und war strafbar. Ed ahnte, dass die Frage, so wie er sie gestellt hatte, gar nicht erhört werden konnte, im Gegenteil, sie glich einer Provokation. Und während er so vor sich hin trottete mit seiner viel zu schweren Tasche, formulierte er neu:

Benötigen Sie vielleicht noch etwas Hilfe in dieser Saison?

Es kam auf die richtigen Worte an.

Auf dem Weg durch Kloster, das nördlichste Dorf der Insel, begegneten ihm ein paar Urlauber. Kurzerhand bat er sie um Unterkunft. Sie lachten, als hätte er einen großartigen Scherz gemacht, und wünschten ihm» noch alles Glück der Welt«. Er kam an einer Reihe schöner älterer Holzhäuser vorüber. Ein Mann im Alter seines Vaters beschimpfte ihn vom Balkon aus, dabei stieß er seine Bierflasche mehrmals ruckartig in die Luft. Offensichtlich war er betrunken genug, um einen Dahergelaufenen ohne weiteres zu erkennen.

«Bräuchten Sie noch Unterstützung in Ihrer Küche? Ich hätte gerade etwas Zeit.«

Vom Kellner der Offenbach-Stuben (überall hielt er Ausschau nach dem Marx-Bart) wusste Ed, dass es gefährlich sein konnte, am Strand zu schlafen. Es hatte mit den Grenzpatrouillen zu tun. Sie würden ihn finden, sie würden ihm mitten im Traum ins Gesicht leuchten mit ihren Stabtaschenlampen und ihn nach seinem Fluchtplan befragen. Ohne Passierschein oder Quartier war der Aufenthalt im Grenzgebiet verboten. Die Kontrolleure auf dem Dampfer hatten sich nicht besonders dafür interessiert, Benutzer der frühen Fähre hielt man für Tagestouristen. Wichtig war, dass man bei Nachfrage irgendetwas erzählen konnte, irgendeinen Namen, irgendeine Adresse. Der Naturalist Gerhart Hauptmann hatte behauptet, auf der Insel hießen alle Menschen Schluck und Jau, eigentlich gäbe es nur diese beiden Familien: Schluck und Jau. Ed misstraute diesen Namen, Schluck oder Jau, das klang unglaubwürdig, erfunden. Ja, in der Literatur war es möglich, aber nicht im Leben. Im Stralsunder Hafen hatte er im Telefonbuch nachgeschlagen und den Namen Weidner gewählt und ihn auf einen Zettel gekritzelt, den er eng zusammengefaltet bei sich trug: Familie Weidner, Kloster Nr. 42.

«Bräuchten Sie zufällig noch Hilfe in Ihrer Betriebsgaststätte?«

Ein Satz wie aus Holz.

Und wahrscheinlich sah man ihm an, dass er nur unterkriechen, nur verschwinden wollte, dass er im Grunde gescheitert war, aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.

Der Strand kam nicht in Frage und auch die Reste des Küstenbunkers nicht. Seine Ängste waren kindlich: Jemand könnte ihm im Schlaf auf den Kopf treten, versehentlich. Das Wasser könnte plötzlich ansteigen und ihn ertränken. Es könnte Ratten geben im Bunker.

Mit Einbruch der Dunkelheit erreichte Ed das nördliche Ende der Insel. Alle drei Dörfer hatte er zweifach durchwandert: Neuendorf, Vitte und Kloster. Auf einer Tafel, die er im Hafen fand (seltsam, dort wieder anzukommen, wo er am Vormittag an Land gegangen war, schon vor Jahren, wie ihm schien), hieß die Gegend hinter dem Ort Bessiner Haken, ein Vogelschutzgebiet.

Eine Nacht unter freiem Himmel gehörte jetzt zu seinem Leben, davon war Ed überzeugt, und es war richtig, dass es so begann, trotz seiner Ängste. Am Ortsausgang stand ein verwitterter Wegweiser mit der Aufschrift» Strahleninstitut«. Auf einem Hügel in der Ferne, hinter Pappeln, war der Umriss eines größeren Gebäudes zu erkennen. Er kam an einer großen Scheune und an Zäunen vorbei, die mit Altöl gestrichen waren. Das Schilf am Weg rauschte, es überragte ihn, so dass er das Wasser aus dem Blick verlor; die Abendschreie irgendwelcher Gänse tönten durch die Luft. Das letzte Haus, ein mit Moos überwachsenes Reetdach. Der Gemüsegarten erinnerte Ed an den Garten seiner Großmutter: Kartoffeln, Kohlrabi und Astern. Der Panzerplattenweg, nachlässig verlegt, verlor sich in einer sumpfigen Wiese.

Der erste Hochstand glich eher einer Kabine, einem Baumhaus, ein überaus gutes Versteck, leider war es verriegelt. Der zweite, kleinere Hochsitz stand offen und schwankte, so dass Ed sich fragen musste, ob er überhaupt noch in Benutzung war. Mit Mühe hievte er seine Tasche nach oben. Er versuchte, alles möglichst leise zu verrichten. Er las etwas Holz auf, um den Eingang zum Turm am Ende der Leiter provisorisch zu verbarrikadieren. Als er mit ein paar morschen Ästen oben anlangte, streifte ihn ein Licht. Wie getroffen warf Ed sich zu Boden und prallte mit der Stirn gegen die Sitzbank. Regungslos blieb er liegen. Er atmete schwer, er roch das Holz, seine Stirn brannte. Die kleine Grundfläche des Hochstands erlaubte es nicht, die Füße auszustrecken. Er dachte an Klondike-Fieber, an den Mann in der Wüste aus Schnee, dem es in letzter Sekunde gelungen war, ein Feuer zu entzünden, mit seinem letzten Streichholz, aber dann … Nach einer Weile kehrte das Licht zurück. Langsam erhob sich Ed und begrüßte den Leuchtturm wie einen alten Freund, den er nur vorübergehend aus den Augen verloren hatte.

«Und, brauchst du vielleicht noch jemanden?«

Das Leuchtfeuer fächerte sich ruckweise auf und schob sich wieder ineinander — wahrscheinlich war das ein Nein. Seltsam, wie der prismatische Finger aus Licht abschnittsweise vorschnellen konnte, um im nächsten Moment innezuhalten, als wäre er auf etwas gestoßen, das wichtiger war, als sich endlos weiter im Kreis zu drehen.

«Ich meine nur so, als Hilfe, für diese Saison?«, murmelte Ed.

Seinen Plan, noch einmal in den Ort zu gehen, um in einer der Kneipen etwas zu essen, hatte er aufgegeben. Er war auch noch gar nicht am Strand gewesen. Aber allein die Tatsache, hier zu sein, auf der Insel … Eine Weile lauschte er noch ins Dunkel des Dschungels ringsum, dann streifte er Pullover und Jacke über. Den Rest seiner Sachen breitete er, so gut es ging, auf dem Bretterboden des Hochstands aus. Es war kalt in dieser Nacht.



Zum Klausner

13. Juni. Eds Hochstand war noch in Dunkelheit getaucht, als ein ohrenbetäubender Lärm anhob. Die Vögel des Vogelschutzgebiets erwachten und forderten den Tag, ein Getöse voller Unwillen und langwieriger, sich endlos wiederholender Beschwerden. Noch vor Sonnenaufgang verließ Ed sein Quartier und trabte landeinwärts, sein Gesicht war von Insekten zerstochen, die Stirn brannte.

Seine erste Aufgabe würde es sein, die Gegend zu erkunden, vor allem ein besseres Versteck aufzuspüren oder wenigstens einen Ort, wo er tagsüber seine Tasche und seine Sachen (die schwere Thälmannjacke, den Pullover) sicher unterbringen konnte. Bis auf die Märchen und Mythen des Festlands wusste Ed nicht viel über die Insel, weder über ihre Geographie noch über die Zyklen von Überwachung und Kontrolle durch die Grenzkompanie. Zunächst schien alles sehr übersichtlich: Wiesen, Heide und eine einzige Straße, halbwegs befestigt mit Platten aus Beton, keine Landschaft für Verstecke. Verlockend dagegen der Wald und das Hochland im Norden.

Die folgende Nacht kroch Ed in eine der hohen Einbuchtungen zu Füßen der Küste. Seine Höhle glich einem breiten frischen Riss; der Steilhang hatte sich für ihn geöffnet. Es gab keine Mücken, aber aus dem Lehm tropfte Wasser in seinen Nacken. Das Meer war schwarz und fast stumm, bis auf ein regelmäßig wiederkehrendes Siedegeräusch im Kies zwischen den Ufersteinen — als gieße jemand Wasser auf eine glühende Kochplatte. In seiner Höhle gab es eine Vielzahl von Geräuschen, die Ed nicht zuordnen konnte. Etwas raschelte über ihm, und es raschelte im Lehm. Und manchmal atmete es oder stöhnte leise. Aus den Auswendigbeständen summten ein paar Verse herüber, in denen es hieß, die kleine schlappe Ostseewelle ahme das Flüstern der Toten nach. Ed verdrossen diese Einflüsterungen; wenn er es ernst meinte mit seinem Aufbruch (und Neuanfang), würde er dagegen angehen müssen, weshalb er es noch einmal mit eigenen Gedanken versuchte.

Er schloss die Augen, und nach einer Weile sah er den Ostseewellenmann. Er war groß, gebeugt, es war der Hausmeister des Instituts. Er schöpfte Wasser aus dem Meer und goss es über seine Feuerstelle am Strand. Das Wasser verdampfte, Rauch stieg auf, und der Mann selbst wurde immer dünner und durchsichtiger dabei. Zuletzt blieb nur noch sein Gesicht. Es lächelte ihn an aus dem Sand und entblößte dabei sein fauliges Gebiss, eine Masse aus Miesmuscheln, Teer und Algen; es sprach:»Meine Anwesenheit ist verbraucht.«

Am Morgen waren seine Sachen durchnässt, und ein feines Delta hatte sich in den Strand gegraben. Das Quellwasser formte den Lehm zu glänzenden Schollen, auf denen man ausgezeichnet gehen konnte. An einigen Stellen staute es sich. Erst umständlich kniend (wie ein Tier mit erhobenem Hinterteil und vorgerecktem Schädel) und dann lang ausgestreckt, versuchte er zu trinken. Obwohl so kurz nach Sonnenaufgang kein Mensch am Strand sein würde, fühlte Ed sich beobachtet. Mit einer Hand schob er sein halblanges Haar in den Nacken, mit der anderen hielt er die Steine auf Abstand, die sich zwischen seine Rippen pressen wollten.»Die Natur ist kein Zuckerschlecken, jawoll«, murmelte Ed; er imitierte die Stimme seines Vaters und musste kichern dabei. Er hatte die zweite Nacht geschafft.

Das Quellwasser schmeckte nach Seife und roch vergoren. Er verfolgte das Delta zurück bis in die Spalte, die unmittelbar neben seinem Schlafplatz lag. Ein Tier starrte ihn an. Es war ein Fuchs. Er beschützte die Quelle und belauerte Ed, wahrscheinlich schon lange.

«Hast du mich erschreckt, kleiner Racker«, flüsterte Ed. Der Fuchs sagte nichts, er bewegte sich nicht. Sein Kopf lag auf den Vorderpfoten, wie bei einem Hund; sein Blick ging aufs Meer hinaus. Ein entwurzelter Sanddornbusch beschattete sein Fell, das sehr frisch und lebendig aussah.

«Einen schönen Platz hast du hier, alter Racker, schön verborgen. Keine Mücken, frisches Wasser … Bist jedenfalls ein ganz Gescheiter, oder?«

Ed breitete seine Sachen zum Trocknen auf den Steinen aus, aber dann fehlte ihm die Ruhe, und er sammelte sie wieder ein. Er hatte Hunger und einen Faulgeschmack auf der Zunge. Aus den Brötchen, die er in Kloster bei einem Bäcker namens Kasten gekauft hatte, war ein einziger Brei geworden. Er knetete ein paar Kugeln und drückte dabei eine spermaähnliche Flüssigkeit aus dem Teig. Er kaute langsam und schluckte. Die Energie des Aufbruchs war verbraucht, und er spürte ein Ziehen hinter den Augen. Es war eigentlich kein Schmerz, nur eine Erinnerung an abgekaute Fingernägel. Die entzündeten Nagelbetten und das faserige, ausgefranste Pflaster — G.s Fingernägel. Er überlegte, wie lange er auf diese Weise weitermachen konnte. Wie lange seine Kraft noch reichen würde. Wann er umkehren müsste.

«Hätte gar keinen Sinn, alter Racker.«

Die hohe ausgemergelte Küste — er hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen. Es gab Abbrüche und Überhänge und eine Art Gletscherlandschaft, riesige mäandernde Zungen aus Lehm und Ton auf dem Weg ins Meer. Es gab bewachsene und kahle Abschnitte, rissig und zerfurcht, und es gab graue, lehmige Wände, aus denen sich ab und zu der Schädel eines Zyklopen neigte und verächtlich auf Ed hinunterblickte. Aber Ed sah kaum nach oben, ihm war nicht nach Zyklopen oder wofür auch immer man diese Felsblöcke halten musste. Mit gesenktem Kopf stiefelte er den steinigen Strand entlang und versuchte, das kleine Lagerfeuer seines Selbstgesprächs in Gang zu halten, mit Ermunterungen und guten Argumenten. Mit eigenen Worten.

Ein Stück weiter Richtung Norden gab das Küstengebüsch plötzlich eine Treppe frei. Die Betonklötze, mit denen man versucht hatte, ihre stählerne Konstruktion im Strand zu verankern, hingen in der Luft, etwa einen Meter über dem Boden. Als Ed sich auf die unterste Stufe schwang, erklang ein heller metallischer Ton. Wie das Stahlblech untergehender Schiffe leise zu singen beginnt, flüsterte Ed und hielt inne; das rostige Eisen wippte bedrohlich. Am Ende zählte Ed fast dreihundert Stufen (jede dritte verfault oder zerbrochen), verteilt über verschiedene Abschnitte und Absätze bis auf das fünfzig oder sechzig Meter hohe Kliff.

Durch die Kiefern schimmerte ein helles, an den Giebeln mit Holz verkleidetes Gebäude. Auf den ersten Blick erinnerte es an einen Mississippidampfer, einen gestrandeten Schaufelraddampfer, der versucht hatte, durch den Wald das offene Meer zu erreichen. Ringsum ankerten einige kleinere Blockhütten, die das Mutterschiff wie Rettungsboote umgaben.

Damit es sich nicht verflüchtigen konnte, behielt Ed das Bild fest im Blick: Vom Schiff her zog sich eine gepflasterte Terrasse mit Tischen und Biergartenstühlen fast bis an den Steilhang heran. Die äußeren Reihen der Tische waren überdacht und ähnelten Futterkrippen für die Tiere des Waldes. Auf der Schiefertafel neben dem Eingang stand mit schwungvoller Schrift etwas geschrieben, aber Ed war noch zu weit entfernt. Links vom Eingang, über einem Schiebefenster des hölzernen Vorbaus, der zum Radkasten des Dampfers gehörte, hing eine kleine, steife Fahne mit der Aufschrift EIS. Rechts davon, in der Mitte des Vorbaus, war ein handgefertigtes Schild aufgeschraubt: ZUM KLAUSNER.

Das» Z «war aufwendig verziert, und für einen Moment hatte Ed den Schildermaler vor Augen; er sah, wie man ihm den Auftrag erteilte, wie er den Namen des Schiffes und den Termin seiner Taufe notierte. Bis aufs Haar empfand Ed die Mühe, die dieser erste Buchstabe ihm bereitet haben musste, und augenblicklich überspülte ihn ein Gefühl tiefer Vergeblichkeit.

Um sicherzugehen, dass eine dritte Dimension existierte, umkreiste Ed langsam das Gebäude. Es war ein Schiff im Waldhausstil. Die Giebel hatten sich moosgrün verfärbt, und aus dem Sockel blühten Salpeterkrusten. Hinter dem ersten befand sich ein zweites, etwas moderneres Haus, dazwischen der Hof und dahinter der Wald. Grob gesehen, bestand die Anlage aus drei konzentrischen Kreisen. Im Innersten der Hof mit den beiden Hauptgebäuden und einer weiteren kleinen Terrasse, bevölkert von einer Horde schmiedeeiserner Kaffeehausstühle, weiß und rostfleckig. Im zweiten Kreis lagen die Blockhütten, dazu zwei Schuppen und ein Holzplatz mit Hackstock. Im Norden öffnete sich der Hof auf eine Lichtung, ein verwurzelter Wiesenhang, der leicht anstieg bis zum Waldrand, und ein Pfad, der zum Leuchtturm führen musste, seinem alten Freund. Mitten auf der Lichtung hatte man einen Spielplatz errichtet, mit Kletterpilz, Wippe, Sandkasten und einer Tischtennisplatte aus Beton. Für einen Moment staunte Ed darüber, dass es der landesweit übliche Spielplatz sogar bis an diesen märchenhaften Ort geschafft hatte, hoch über der Brandung. Den dritten, äußersten Kreis markierte eine kleine Palisade, genauer gesagt eine Art Wildzaun aus Totholz, sorgsam zwischen die vordersten Stämme des Waldes geflochten. Das ganze Gelände war dicht von Kiefern und Buchen umschlossen.

Ed schlenderte über die Lichtung zur Küste und blickte aufs Meer hinaus. Durch die Feuchte des Morgens zog eine weiche, süße Strömung, eine betörende Mischung aus Wald und See. Es war neblig, ein milchig verwaschener Horizont, den man atmen konnte, wenn man die Luft nur tief genug einsog; man ist zugleich hier und dort draußen, dachte Ed.

Auf dem Hügel oberhalb des Spielplatzes lag regungslos ein Mann, tot oder schlafend. Als Ed sich näherte, hörte er den Mann; er sprach leise gen Himmel. Vielleicht ein Gebet, dachte Ed, aber es klang wie von Schlangen, eine Art Zischeln, und irgendwann verstand er es.

«Verpiss dich, piss dich, piss dich …«

Tatsächlich war es erst sechs Uhr morgens. Ed setzte sich in eine der Krippen und beschloss zu warten. Er fror, er war hungrig, er hatte kaum geschlafen in den letzten Nächten. Das Thälmannleder hatte sich vollgesogen, die Jacke war jetzt schwerer als jede Rüstung. Aber die Bank, der Tisch und das kleine Dach spendeten Trost — als wäre er schon Wochen fernab gewesen und kehre in diesem Moment aus der Wildnis zurück. Er öffnete seine Tasche, damit Feuchtigkeit entweichen konnte. Ein paar Sachen und Bücher zog er heraus und legte sie zum Trocknen aus.

Die Fenster des Vorbaus, hinter dem das Restaurant liegen musste, waren mit einer groben, netzartigen Gardine verhangen, die sich ab sieben Uhr einige Male deutlich bewegte. Ed versuchte, gerade zu sitzen und zugleich einen gelassenen Eindruck zu machen. Vom Meer her kam Wind auf. Die Tür wurde aufgestoßen und ihre Flügel mit Haken am Vorbau verankert; der Mann, der das getan hatte, beachtete ihn nicht. Sein leuchtend weißes Hemd. Für einen Moment sah Ed eine ovale Brille mit Metallgestell und einen großen schwarzbuschigen Schnauzbart. Der Mann ging zur Tafel und löschte das Steak au four vom Vortag aus und schrieb mit Kreide in die dunkle, noch feuchte Lücke das Wort Ochsenschwanzsuppe.

«Rimbaud!«

Jemand hatte gerufen, und Ed war aufgesprungen, um vorzutragen, es geschah automatisch, er konnte nichts dagegen tun, im allerersten Moment jedenfalls, in seinem Schädel polterten die Bestände: Das trunkene Schiff in der freien Nachdichtung Paul Zechs …»Rimbaud!«, rief es noch einmal aus dem Inneren des Klausners, und Ed begriff, dass der Kellner mit dem Schnauzbart gemeint war.

Fast eine Stunde verging, bevor ein anderer, kleinerer Mann in der Tür erschien und eine Weile regungslos zu ihm hinsah. Sein Gesicht blieb im Schatten. Etwas an seiner Haltung verriet, dass er die Schwelle nicht überschreiten würde. Nach einer Weile hob er auf undefinierbare Weise die Hand, nur halb hoch, als begrüße er Ed oder als winke er ab. Ed erhob sich, und obwohl er noch einige Tische weit von der Tür entfernt war, begann der Mann zu sprechen, so laut, als wäre draußen auf der Terrasse eine halbe Hundertschaft von Leuten versammelt, für die es wichtig sein würde, ihn von Anfang an gut zu verstehen.

«Mein Name ist Krombach, Werner Krombach, Direktor des Betriebsferienheims Zum Klausner.«

«Mein Name ist Edgar Bendler«, beeilte sich Ed zu erwidern, er rief es in den Rücken des vorauseilenden Direktors und beschleunigte dabei seinen Schritt. Sie durchquerten den Gastraum, der Mann wirkte sportlich, untersetzt, das glänzende Ei einer kleinen gepflegten Glatze zog sich bis auf den Hinterkopf, das Haar an den Seiten war grau und kurz geschoren. Mit halbem Auge nahm Ed den Tresen und eine gusseiserne Kasse wahr. Sie betraten ein winziges Kontor, geschickt schob sich der Direktor an seinem Schreibtisch vorbei, nahm Aufstellung und reichte ihm die Hand.

«Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Bendler.«

Nichts in seinem Auftritt verriet Misstrauen oder Verachtung. Er nahm Eds Ausweis zur Hand, schlug ihn auf, blätterte darin, strich sich dabei mehrmals über die hohe Stirn, als wäre das, was er dort zu sehen bekäme, im Grunde schon zu viel, und fragte ihn schließlich, ob er gesund sei.

Auf Krombachs Tisch stand eine vorsintflutliche Schreibmaschine der Marke Torpedo, daneben ein graues Telefon und ein Foto, das ihn vor dem Eingang eines großen, kupferglänzenden Gebäudes zeigte; es war das sagenumwobene Palasthotel — von den Schweden errichtet, wann und wo auch immer im Land die Sprache darauf kam, fand sich einer, der diese Bemerkung in die Runde raunte,»von den Schweden …«Das Foto zeigte den Direktor umgeben von einer ganzen Schar Frauen und Männer in Kellnerkleidung oder Hoteluniformen, nur Krombach trug beinah dasselbe wie an diesem Tag: ein blassrosa Sommerhemd mit weinroten Manschettenknöpfen, ein leichtes Sakko, hellbraun kariert, und ein Tuch um den Hals, vielleicht aus Seide. Nur die Krawatte fehlte.

«Keine Krankheiten, nirgendwo?«Ed blickte auf, und Krombach sah ihn ernst und eindringlich an.

Wahrscheinlich war, dass er die Frage nicht richtig verstand. Ed hatte keine Ahnung, worauf Krombach hinauswollte, und schwieg vorsichtshalber. Er hatte beschlossen, in jedem Fall geeignet zu sein. Woher Ed komme und was er bisher getan habe — Krombachs Fragen, beiläufig und nur so, als entsprächen sie irgendeinem Protokoll, das ihn selbst nicht besonders interessierte. Zu Eds beruflicher Laufbahn gehörte, dass er Maurer gelernt hatte, und er sagte es.»Baufacharbeiter also«, korrigierte ihn Krombach.»Putzarbeiten, Mauerwerksbau, Beton und Schalung und so weiter, dann Ihr Studium, Germanistik und Geschichte, Lehrerstudium vermute ich, der übliche Verlauf, und dann das Übliche?«

Noch bevor Ed etwas erwidern konnte, sprach Krombach über die Insel und sein Restaurant. Seine Stimme veränderte sich, sie wurde leise und wie abwesend.»Wir haben hier oben eine besondere Lage, besondere Bedingungen, in jeder Hinsicht, aber das ist Ihnen sicher bewusst, Herr Bendler, ich glaube, sonst wären Sie jetzt nicht hier. Zunächst die Strömungsverhältnisse. Das ständige Abbrechen und langsame Abdriften der Küste, auf der man dieses Restaurant einmal errichtet hat, vor beinah achtzig Jahren, auf den Steinen der alten Einsiedelei, den Fundamenten, die der Einsiedler uns hinterlassen …«

Während der Direktor vom langsamen, unaufhaltsamen Verschwinden der Insel in den Weiten der Ostsee zur Geschichte des Klausners wechselte, schien er zu vergessen, dass Ed vor ihm saß. Länger war von einem Mann namens Ettersberg oder Ettenburg die Rede, den er mit warmer Stimme den Urklausner nannte, ein Mann in langen Gewändern,»immer unterwegs zwischen Turngeräten und Tusculum, Brausebad und Bibliothek …«

Zerstreut genoss Ed die einschläfernde Musik in Krombachs Rede. Offensichtlich gefiel es dem Direktor, seemännische Ausdrücke zu verwenden; jeder seiner Mitarbeiter zählte für ihn zur» Besatzung«, und er selbst hieß gelegentlich» der Kapitän«.»Sie haben es also gesehen? Scholle für Scholle bricht ab von der Küste und rutscht in diese schöne Schlucht, tatsächlich ein Naturtheater, und irgendwann wird sich auch der Klausner, unsere Arche, auf den Weg machen, eines Nachts, vielleicht schon beim nächsten oder übernächsten Sturm, hinaus aufs Meer, und mit ihm Passagiere und Besatzung, und dann kommt es wirklich darauf an, verstehen Sie?«

Tatsächlich war das Büro nur ein Kabuff, dessen Decke in Krombachs Rücken steil abfiel, so dass der Raum an seinem Ende nicht mehr als einen guten Meter Höhe maß. Dort war ein Schlafsofa aufgestellt, geschützt von einer Tagesdecke. Links von Ed stand ein Schrank. In seinem oberen, offenen Teil stapelten sich Blechschachteln mit Zigarillos der Marke Dannemann Brasil, im Fach darunter standen zwanzig oder dreißig kleine dunkle Flaschen, das Etikett war nicht zu entziffern. An der Wand über dem Schrank thronte ein Bullauge mit Aussicht auf die hellbraun gestreifte Tapete. Erst jetzt bemerkte es Ed: Das Büro hatte kein Fenster. Den Geräuschen nach zu urteilen, war es direkt unter eine Treppe gebaut, die ins Obergeschoss führte. Ohne Zweifel der Ort, der gewöhnlich für Abstell- oder Besenkammern reserviert war. Neben dem Bullauge hing eine Reihe quadratischer Schaukästchen mit komplizierten Seemannsknoten, die aussahen wie hinter Glas ergraute Herzen, ihre Windungen wie ewige Rätsel –

«… und der Iphigenie?«, fragte der Direktor. Ed stotterte, aber die Bestände sprangen an, sein kleiner Überlebensdynamo.

«Richtig, genau dieses Stück!«

Ed nickte, sobald der Blick des Direktors ihn streifte. Tatsächlich fiel es ihm schwer, der Rede zu folgen, die Krombachs Einstellungsansprache sein musste. Vielleicht waren diese Sätze schon zu oft gesprochen worden. Trotz ihres ungewöhnlichen Inhalts hatten sie etwas Abgenutztes, aber auch Wärmendes, Stubenhaftes, und dazu passte das Kabuff. Vier Tage nach seinem Sprung (nein, er war nicht gesprungen) erschien es Ed nur gut, in diesem winzigen Kontor zu hocken und den Worten des Direktors zu lauschen. Ja, er wollte weg, abtauchen, einsam sein, aber nicht mehr allein. Krombachs sanft murmelnde Rede, das genügte ihm, er fühlte sich geborgen. Es hatte auch mit dem Geruch zu tun, von dem das Kabuff erfüllt war, Geruch aus einer viel früheren Zeit, stark und beizend; es schien von Krombach selbst auszugehen, von der glatten Haut, die seinen Schädel umspannte wie frisch geölt, vielleicht aber auch von den Flaschen im Schrank …

«Also gut. Warum sind Sie hier, Herr Bendler?«

Ich habe mich zu weit aus dem Fenster gelehnt, flog es Ed durch den Kopf. Nur mit Mühe brachte er seinen Satz heraus, versehentlich auf die alte, unbrauchbare Weise:»Ich suche eine Arbeit, aber ich bräuchte auch ein Zimmer.«

Krombach holte Luft, drehte sich auf seinem Bürostuhl ins Profil und betrachtete die angegrauten Herzen.

«Keine Angst. Auf diesem Stuhl musste sich noch niemand entschuldigen dafür, im Gegenteil, gewissermaßen ist es die Voraussetzung. Meine Besatzung, glauben Sie mir, das sind die verschiedensten Typen, verschiedenste Wege, aber alle führten in dieses Büro, und noch kein Einziger wurde hier schlecht behandelt, nur weil ihn das Festland ausgespuckt hat. Verschiedene Wege, aber letztlich ist es überall dasselbe. Das kennt man, das weiß man, irgendwann kommt der Punkt. Die Insel hat uns aufgenommen. Wir haben hier unseren Platz gefunden, und unter den Esskaas ist einer für den andern da, wenn es darauf ankommt. In dieser Besatzung allerdings«, seine Hand kreiste weiträumig über dem Schreibtisch und streifte dabei fast die Wände seines Kabuffs,»geht es um mehr, und darin sind wir uns alle einig …«

Der Direktor drehte sich zurück und steckte einen Finger in die Wählscheibe des Telefons. Dabei schaute er auf Ed, als müsse dieser ihm jetzt nur noch seine Nummer geben.

Ohne Zweifel war das der Zeitpunkt, etwas Eigenes beizutragen. Etwas, das darauf hinwies, dass er die (weitgehend unausgesprochene) Voraussetzung erfüllte, eine Aussage, seinen bisherigen Lebenslauf betreffend, die eigene Geschichte, die allerdings nichts mit Ärger oder Ausspucken zu tun gehabt hatte, mehr mit einer Straßenbahn.

Der Finger des Direktors ruckte an der Wählscheibe, ungeduldig — ein kleines schnarrendes Geräusch.

«Gesund also?«

«Ja, ja, ich denke, jedenfalls nicht, dass ich wüsste …«Die Frage machte ihn verlegen.

«Gesund, aber kein Gesundheitszeugnis?«

«Gesundheitszeugnis?«Ed hatte nie von der Notwendigkeit eines solchen Dokuments gehört.

«Gesund, aber weder Quartiernachweis noch Meldeschein?«

«Nein, ich wollte …«

«Gesund und befreit von der Vergangenheit, wie wir alle hier oben?«

Krombach lachte leise und warf einen raschen Blick auf die angegrauten Herzen; mit ihnen schien er besonders befreundet zu sein. Die plötzliche Direktheit bereitete Ed Unbehagen.

«Ich meine, keine allzu bösen Krankheiten in der Vergangenheit, oder?«

«Nein. Einmal habe ich mir den Arm gebrochen, das linke Handgelenk, das war kompliziert, ein Sturz beim Klettern, ich war neun Jahre alt und sollte in die Ferienspiele, aber am Morgen …«

Krombach sah ihn ruhig und verständnislos an, und Ed verstummte.

«Niemand weiß, dass du hier bist?«

«Nein«, entgegnete Ed rasch, und nahm den Wechsel zum Du als eine Art Vorschuss.

«Du hast niemandem Bescheid gegeben, oder?«

«Nein.«

«Und du bist allein gekommen?«

«Ja.«

«Wie lange könntest du bleiben?«

«Den Sommer …?«Momentlang hatte Ed seinen Kalender vor sich gesehen, mit dem Rückmeldetermin für das Herbstsemester — fast schämte er sich dafür. Von draußen hörte er das Klirren von Geschirr. Den Schritten und Stimmen nach zu urteilen, wurde das Frühstück abgeräumt; es klang herausfordernd und grob. Das Fremde wehte ihn an, die Angst vor dem Eintritt ins Unbekannte.

«Den Sommer also. Vielleicht auch den Herbst?«

«Ja, vielleicht.«

«Vielleicht, hmm? Wir hatten Schwierigkeiten hier in der vergangenen Saison, Probleme, und damit ist nicht zu viel gesagt. Wir haben Leute verloren, auf verschiedene Weise, unser letzter Eisverkäufer zum Beispiel …«Krombach atmete schwer.

«Warum hast du dich angeschlichen?«

«Angeschlichen?«

«Du bist von hinten gekommen, über die Steilküste, das ist eine weite, beschwerliche Strecke, zwei Stunden den steinigen Strand entlang, mit einer Reisetasche!«

«Ich …«

«Gut, gut. «Der Direktor wirkte plötzlich erschöpft. Er bog Eds Ausweis mit der im Knick schon beschädigten Plastikhülle gegen die Bindung, im nächsten Moment musste das Papier zerreißen. Dann ließ er das Heftchen einfach fallen, mit spitzen Fingern, in ein für Ed unsichtbares Fach des Sekretärs.

«Du bleibst, bis Crusoe zurückkehrt. Du arbeitest dich ein, dann sehen wir weiter. Unterkunft, freie Verpflegung, Verdienst pro Stunde zwei Mark siebzig. Was hältst du vom Abwasch? Bei entsprechender Eignung, wie gesagt. Alle anderen Dinge … Alles andere kommt später.«

Ed nickte und senkte den Blick. Krombachs Halbschuh stand auf der löchrigen Verkleidung eines Bahnheizkörpers. Plötzlich erkannte er den Geruch; es war das Haarwasser seines Vaters, jeden Morgen, jeden Abend — Exlepäng.



Das Zimmer

Das Zimmer, das Ed an diesem Vormittag in Besitz nahm, wirkte bewohnt. Auf dem Waschbecken lag eine mit Zahncreme verkrustete Zahnbürste. Im Zahnputzbecher stand eine Brille. Das Bettzeug war benutzt. Das Laken warf wulstige Falten, ein angegrautes Faltengebirge, das eine säuerliche Aura verströmte … Ed beugte sich über das Bett und lauschte; es war ihr höllischer Kurvengesang, sehr leise, sehr weit entfernt. G. winkte, die Bahn fuhr ihre letzte Runde, ein paar Verse dröhnten in seinem Schädel.

Anfangs war es Ed schwergefallen, den Grundriss des Klausners zu erfassen, seine inneren Zusammenhänge und die verschiedenen Verbindungen von Raum zu Raum. Anzahl und Lage der Zimmer waren ihm lange ein Rätsel, im Grunde schien es nicht möglich, sie allesamt unterzubringen in dem zweistöckigen Gebäude, das auf den Echt Foto-Postkarten von Bild und Heimat Reichenbach (das Stück zu fünfundzwanzig Pfennig am Tresen) einen eher bescheidenen Eindruck machte — kein Schiff jedenfalls, kein Mississippidampfer. Mehr eine Baude, ein Waldhaus mit holzverkleideten Giebeln und Anbauten nach allen Seiten statt Schaufelradkästen. Trotzdem gingen vor Eds innerem Auge alle Zimmer aufs Meer hinaus. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass der Klausner Tag und Nacht umspült war vom Rauschen; ununterbrochen wurde das Sehen vom Hören überschwemmt, geschliffen, umgeformt. Eingeschlossen ins Geräusch, passte sich das Denken der Brandung an, dem Gang der Gezeiten.

Zuerst hatte Krombach ihn an die Rückseite des Hauses geführt. Die Tür war schmal und niedrig. Ein separater Eingang, hinter dem sofort eine Treppe anhob, der Aufstieg zu den Zimmern. Sie erinnerte Ed an die Dienstbotenstiege im Haus seiner Kindheit, weshalb er nach Klingelzügen Ausschau hielt, wie sie vom Schlafzimmer seiner Großeltern zu den Kammern der Dienstboten geführt hatten. Die Kammern waren seit Jahrzehnten leer, trotzdem pflegte sein Großvater die aufwendige Mechanik, und ab und zu betätigte er sie, am liebsten vor Ed. Als Kind war Ed sicher gewesen, sie würden es hören, das Klingeln der kleinen verrosteten Glocken am Ende der Seilzüge würde die lange verstorbenen Dienstboten auf irgendeine Weise wieder hervorrufen; sobald das Licht gelöscht wäre, begänne das knochige Schlurfen draußen im Flur, dann das Pochen der blanken Knochen an der Schlafzimmertür und schließlich das Rufen,»ja, der Herr, ja?«

Ein Schlüssel sei nicht nötig, hatte Krombach erklärt, die Tür bliebe auch nachts geöffnet, überhaupt immer geöffnet, und das gehöre übrigens zu den Dingen, die wichtig seien für den Klausner und seine Bestimmung. Wieder hatte Ed das Gefühl, etwas nicht verstanden zu haben, irgendeine Bedeutung oder Bedingung vielleicht, die sich in den Worten Esskaa oder Crusoe versteckt hielt.

Es gab eine Feder, die dafür sorgte, dass das Türblatt hinter ihnen zuschlug, während sie die Treppe nach oben stiegen. Krombach öffnete Eds Zimmer, und augenblicklich umgab sie ein Schwall verbrauchter Luft, süßliche, fettige Luft, die man auf der Haut spüren konnte. Der Direktor fluchte leise, durchquerte mit zwei Schritten den Raum, riss den Vorhang beiseite und öffnete das Fenster. Für einen Moment flutete es; ein Gleißen, das sich zu Silber und dann zu einem sauberen Blau beruhigte. Vor dem Fenster der Körper des Meeres, übermächtig und verheißungsvoll.

«Eines unserer schönsten«, sagte Krombach.

Es war das Giebelzimmer, unmittelbar am Ausgang der Treppe. Von dort zog sich ein Korridor mit weiteren Türen links und rechts in die Tiefe des Dachgeschosses. Es gab einen Schrank, rechts von der Tür, dahinter das Waschbecken — breit, klobig, zwei graue Plastikwasserhähne. Unter dem Fenster ein Nachttisch und eine Lampe. Kein Stuhl, kein Tisch. Das Bett unter der Dachschräge.

«Bettwäsche am Ende des Gangs, bei Monika. Und morgen meldest du dich bei Koch-Mike, 8 Uhr, in der Küche«, diktierte Krombach leise und verschwand.

Erst Tage später erfuhr Ed, dass Monika oder Mona, wie sie auch genannt wurde, Krombachs Tochter war. Ihr Duft begann im letzten Drittel des Korridors, am Ende des Gangs lag die Tür zu ihrer kleinen Wohnung. Innerhalb der Besatzung führte sie den Beinamen» kleine Unsichtbare«. Sie hatte die Stellung eines Zimmermädchens, kümmerte sich aber kaum um die Zimmer. Dafür wusch sie alles, was es zu waschen gab, und übertrug ihren guten Geruch auf Bettwäsche, Geschirrtücher und Tischdecken, weshalb man sie öfter in unmittelbarer Nähe wähnte.

Auch Eds eigene Tür ließ sich nicht verschließen, aber er dachte nicht weiter darüber nach. Er war sicher, dass es in diesem Sommer (und Herbst und Winter vielleicht) keinen besseren Ort für ihn geben konnte; erst jetzt fiel ihm seine Tasche ein.

Auf der Terrasse hatte sich eine Gruppe von Urlaubern versammelt. Sie tranken Kaffee oder Bier und sahen aufs Meer hinaus. Jemand hatte Eds Bücher gewendet und zum Trocknen ein Stück weiter ins Licht der Sonne geschoben. Nichts fehlte. Ein großes Frühstück stand an seinem Platz: Mortadella, eine Käseecke und ein Klumpen Mehrfruchtmarmelade, der aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Ed sah sich um, der Kellner, den sie Rimbaud gerufen hatten, nickte ihm zu. Ed fehlte der Kaffee, aber er wagte es nicht, danach zu fragen. Als er in sein Zimmer zurückkam, lag frische Bettwäsche auf dem Kissen, die alte war verschwunden. Er rief ein halblautes» Danke «in den Gang und lauschte. Er versuchte sich Monika vorzustellen. Er sah eine winzige Frau, schwarzes Haar, ein Zopf vielleicht. Kaum hatte Ed sein Bett bezogen, sank er um und schlief ein.

Die Beduinen zerrten jetzt so heftig an dem Tier (Wülste von Kamelhaut in ihren Fäusten), dass es flächig wurde, breit, sich dem Horizont der Wüste anglich. Es war die Art, das Tier zu benutzen, als fliegenden Teppich.»Die Beduinen hatten das Kamel klargemacht«, raunte der Erzähler.»Ein Sandstrahl traf ihre Sonnenbrillen, aber das war erst der Anfang einer langen Reise.«

Als Ed erwachte, hatte der Abend begonnen. Die Tapete über seinem Kopf schälte sich, wie verbrannte Haut. Die ganze Dachschräge war übersät mit den Resten erschlagener Insekten. An manchen Flecken hing ein kleiner Blutstreif, dem Schweif eines Kometen ähnlich. Manchmal war das Blut auch nur rundum verspritzt, wie nach einer winzigen Explosion. Ed dachte an sein erstes Zimmer mit dem Mond über dem Bett, den Sternen und dem Sandmann, der mit seinem gut geschnürten Sandsack und einem schönen, sauberen Diamant-Fahrrad über die Hügel einer dunkelblauen Nacht geradelt war. Er selbst hatte später nur ein Mifa-Fahrrad besessen, ein sogenanntes Klappfahrrad, das man zusammenklappen konnte, um es im Kofferraum oder sonst wo zu verstauen. Alles in seiner Kindheit war praktisch gewesen,»Wie praktisch!«galt als höchstes Lob: ein Klapprad, ein Klappbett (das man tagsüber wegklappte an die Wand, wo es zu einer Art Schrank mutierte) und Kleidungsstücke von nahezu unbegrenzter Haltbarkeit.

Trotz Schmutz und Geruch fühlte Ed sich geborgen in seiner neuen Behausung. Andere hätte ein solches Zimmer vielleicht entmutigt, dachte Ed, für mich ist es genau das Richtige. Er spürte eine Art Vorfreude, aber er hatte auch Angst zu versagen.

Das Bett war ein schwerer Kasten aus hell furnierten Pressspanplatten, die Matratze hatte eine Kuhle, in der Ed dem Schlaf seiner Vorgänger nachspüren konnte — er fand es nicht unbequem. Nur das Kissen war unbrauchbar, ein einziger Klumpen. Er würde seinen Pullover als Ersatz benutzen, nicht anders als in den Nächten zuvor. Ed war stolz auf diese Nächte. Er stand auf und warf das Steinkissen auf den Schrank; augenblicklich lag Staub in der Luft. Als er den Schrank öffnete, begann die Tür von innen zu schmelzen, in dunklen Wellen. Zuallererst war das ein Traum, aber schon im nächsten Augenblick schlug Ed auf das Fließen ein — heftig, hämmernd, fast hätte er das dünne Holz zerschmettert. Irgendwann war es vorbei, und er hielt inne, atemlos, mit rasendem Herzen. An der Sohle seines Schuhs klebte ein einziger Treffer. Ein halber, genauer gesagt, der hintere Teil des Körpers war zerquetscht, während der vordere noch immer zu entkommen versuchte. Von vielleicht fünfzig Kakerlaken hatte er nur eine einzige erwischt. Nur eine, dachte Ed.



Die Zwiebel

15. Juni. Die Arbeit war ihm fremd, und er benahm sich ungeschickt. Aber niemand kam, um etwas zu zeigen oder zu erklären, während er sich Eimer für Eimer in das Geheimnis der Zwiebel vertiefte. Auf Bewährung, dachte Ed, in diesem Hof, auf dieser Insel. Er versuchte, sich die Handgriffe seiner Mutter vor Augen zu führen, ihr blitzschnelles Hantieren mit dem Kleinenspitzen, wie sie das rasierklingenscharfe Messer mit dem ausgeblichenen Holzgriff und der bis auf wenige Millimeter heruntergeschliffenen Klinge nannte; er ahmte sie nach, er war seine Mutter, so gut es ging, ihre Haltung, ihre Bewegungen.

Sein Platz befand sich im Freien, an der Rückseite des Klausners, an einem der Futterkrippen-Tische. Er saß direkt unter den von Fettresten und Spinnweben verkrusteten Fenstern des Abwaschs. Der Abwasch war ein grau verputzter, länglicher Anbau mit einer Hintertür, die auf eine kleine quadratische Rampe führte. Ab und zu vernahm Ed Stimmen von drinnen und eine Art Singsang, den er nicht zu deuten wusste; beinah ununterbrochen das Klirren von Geschirr, dazwischen ein dumpfes Unterwassergedröhn, Besteck wahrscheinlich, das am Grund irgendeines Beckens hin und her gewälzt wurde. Wenn es still war, beobachteten sie ihn vielleicht, den reglosen Umriss seines verkrampften Rückens, ein nicht mehr ganz junger Abenteurer, der knielange, abgeschnittene Jeans trug, dazu ein rotes, um die Achseln weit geschnittenes Unterhemd, vielleicht amüsierte sie der Anblick. Seine Haare wurden von einem zerfaserten Stirnband hinter den Ohren gehalten, das ständig verrutschte; die Sonne stach ihm ins Gesicht. Dass es besser wäre, im Schatten zu sitzen, und vor allem nicht im Hof, sondern unter einer der Kiefern nah der Küste, wo es immer genug Wind gab um die Augen, hatte ihm niemand erklärt. Von sich aus hätte er es ohnehin nicht gewagt, den Hof zu verlassen. Er wollte zur Besatzung gehören, und das nicht nur auf irgendeinem Außenposten. Vor allem wollte er zeigen, dass er arbeiten konnte, Ausdauer hatte und Disziplin. Sieben Eimer am ersten Tag.

«Also, ich bin Koch-Mike«, hatte der schwergewichtige Mann mit den schwarzkarierten Clownshosen zu Ed gesagt,»Mike, nicht Maik, gesprochen wie geschrieben, also Mike. «Schweißperlen bedeckten seinen breiten Schädel und glitzerten wie Schmuck. In dem Stoffband, das seine fleckige Kochjacke über dem Bauch zusammenhielt, steckte ein Geschirrtuch, das er benutzte, um sich in Abständen die Stirn und den Nacken zu trocknen. Das Tuch war so groß, dass er es dafür nicht aus dem Gürtel ziehen musste, es baumelte wie ein riesiges Geschlecht zwischen seinen Beinen, manchmal warf er es sich auch über die Schulter. Die seltenen Male, die Koch-Mike sprach, Anweisungen gab oder fluchte, war er schwer zu verstehen, weil er die Unterbrechungen nutzte, um sich mit seinem Schweif übers Gesicht zu fahren. Ed hatte noch nie jemanden gesehen, für den der Begriff Arbeitstier zutreffender gewesen wäre. Fast beschämt über die gute Gelegenheit, etwas Unangenehmes abzugeben, hatte Koch-Mike die Zwiebeln aus der Kühlzelle in den Hof geschleppt und auf die Rampe gewuchtet, Eimer für Eimer. Ed dachte das Wort Strafarbeit, aber es kränkte ihn nicht, es berührte ihn nicht einmal.

Manchmal wehte ein leichter, warmer Wind über die Küste in den Hof, der genügte. Bei Windstille aber trieb es ihm unweigerlich die Tränen in die Augen. Es war ein endloses, unerbittliches Weinen, das irgendwo hinter den Augäpfeln begann und ihn dazu zwang, die Stirn in Falten zu legen. Wie ein hilfloses Tier reckte Ed das Kinn gen Himmel oder warf den Kopf zur Seite, aber davon wurde es nicht besser. Anfangs wischte er sich noch mit dem Handrücken übers Gesicht, dann gab er auf; er ließ den Tränen freien Lauf. Lichtflecken und Schwärme von Lichtpünktchen senkten sich über der Landschaft, tänzelnd wie Schnee. Es war das erste Mal, dass er weinte, seitdem.

An jedem Vormittag gegen elf Uhr wurde geliefert; der Kutscher Mäcki fuhr den Klausner an. Mäcki, ein kleiner stämmiger Insulaner mit Igelfrisur, die ihm wahrscheinlich zu seinem Namen verholfen hatte, benutzte die schmale, mit Panzerplatten ausgelegte Zufahrt, die vom Hafen her in weiten Bögen durch das Hügelland bis ans Haupttor der Kaserne führte; hundert Meter zuvor zweigte der Waldweg Richtung Klausner ab. Zuerst das dumpfe Pochen der Hufe, aber dann, im Hof, schwebte der gummibereifte Wagen fast lautlos heran. Mäcki musste sein Pferd nie festbinden; er hatte einen schmiedeeisernen Anker hinter dem Kutschbock, den er dort, wo er Halt machen wollte, hinunterstieß in den Sand. Ed, der beweisen wollte, dass er die Arbeit sah (»das ist einer, der die Arbeit sieht«— so lautete das Lob seines Vaters für Leute,»denen man nicht erst alles sagen muss«), half dem Kutscher beim Entladen. Wenn sie fertig waren, verschwand Mäcki durch den Abwasch in die Küche, ohne Dank, ohne Gruß.

Nach drei Tagen war Ed sicher genug. Sein Rücken schmerzte, aber das Schälen ging jetzt wie von selbst. Abgesehen von ein paar Urlaubern, die achtlos den Hof überquerten auf ihrem Weg zum Speisesaal (das Gebäude hinter dem Klausner beherbergte die Feriengäste), war niemand in der Nähe, wenn ihm das Wasser aus den Augen lief. Niemand, bis auf das Pferd des Kutschers, das seine schwarzen weichen Nüstern ab und zu still zu ihm hindrehte, so nah, dass er den warmen Pferdeatem spüren konnte in seinem von endlosem Wischen und Reiben geröteten Gesicht. Mit seiner zotteligen Gestalt und dem schwankenden Gang (das dicke Haar um die kurzen Beine, es franste herunter bis auf die schweren, unglaublich breiten Hufe) glich das Pferd einem Bären; es war eine Art Bärenpferd, bei dem Ed sich ausweinte, und wenn er den Blick hob, weinte er sich auch bei den Bäumen auf der Steilküste aus, jenen windflüchtigen Krüppeln auf dem Kliff, die auch ohne Wasser in den Augen aussahen wie verzerrt oder als duckten sie sich vor etwas, das ihnen in genau dieser Sekunde mit aller Wucht vom Meer her entgegenflog.

Langsam wurde Platz hinter seinen Augen, und er fühlte eine angenehme Leere in seinem Kopf. Er staunte darüber, wie zufrieden ihn die Arbeit machte. Er musste nichts denken, nichts reden, er genoss die Sonne und die verschwommene Anwesenheit des Meeres. Mit dem Horizont vor Augen schien ihm der Raum viel größer, den er bis an diesen Ort durchquert, die Entfernung viel weiter, die er bis hierher zurückgelegt hatte; das Meer dehnte die Zeit, und der Wind kühlte seine Wangen.

Mit Ausnahme Krombachs und Koch-Mikes hatte seit seiner Ankunft niemand mit Ed gesprochen. Die Schlafräume lagen auf einer Etage, zum selben Korridor, und sie benutzten dieselbe Toilette, weshalb es Begegnungen gab, die aber ohne Folgen blieben. Die Besatzung des Klausners hielt sich bedeckt, als sollte Ed, solange noch nichts endgültig entschieden war, möglichst wenig erfahren über das Schiff, auf dem er anheuern wollte. Es gefiel Ed, in den maritimen Begriffen Krombachs zu denken. Man brauchte nur ein paar Worte auszutauschen und das Ganze war ein Märchen, kaum weniger abenteuerlich als eine Fahrt auf der Ghost oder der Hispaniola. Seltsamerweise beruhigte ihn der Gedanke. Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste … Warum sollte er sein Leben nicht einfach an dieser Stelle fortsetzen können, wo es in der Kindheit aufgehört hatte? Kaum zehn Jahre zuvor. Warum sollte er nicht — auf bestimmte, mehr gedankliche Weise — dort wieder ansetzen können, wo die großen Vierteiler über Crusoe und Seewolf zu Ende gegangen waren, dort, in jenen Tagen? Bevor die Schatzinsel und die Geschichten über Alexander Selkirk und Peter Serrano, über Mosquito-William und die Flusspiraten des Mississippi und all die anderen Legenden der Kindheit ein für alle Mal ausgelesen und in straff geschnürten Bündeln (er erinnerte sich an den billigen, faserigen Strick) zum Altstoffhandel geschleppt worden waren … Noch einmal schämte er sich — obwohl man sich gar nicht schämen musste dafür, denn ohne Zweifel zählte der Altstoffhandel in dieser Zeit zu den allerhöchsten Instanzen, und zwar landesweit:»Flaschen und Gläser für Angela Davis «oder» Lumpen für Luis Corvalán«, Altstoff und internationale Solidarität gehörten zusammen, gingen ineinander über, unmittelbar,»für immer vereint«, waberte es Ed durch den Kopf, Leergut und Amerika, Lumpen und Chile, ein Bündel Volkswacht im Kampf für Unidad Popular und eine Kiste leerer Gurkengläser gegen Rassismus … Unter Führung des Altstoffhandels hatte Ed sich gelöst von der Literatur. Ohnehin galt als sicher, dass seine Zukunft (irgendein kaltes, holzschnittartiges Gebilde) im Bauwesen liegen, dass er auf den Bau gehen und eine Lehre als Baufacharbeiter beginnen würde, seit der achten Klasse und einem halbstündigen Termin im Berufsberatungszentrum, das zu Füßen des Frauengefängnisses von Gera lag, galt das als ausgemacht. Er konnte sich erinnern, wie er an der Seite seiner Mutter, endlos erleichtert, das Gespräch auf irgendeine zufriedenstellende Weise absolviert zu haben (Interesse heuchelnd, war er allen Empfehlungen gefolgt und hatte sich» entschieden«), das Gebäude der Berufsberatung verlassen hatte und dabei sein Blick auf das Frauengefängnis gefallen war, das hoch oben am Berghang thronte — und mahnte. Und jetzt, von seinem Platz im Hof des Klausners aus, mit dem Kleinenspitzen in der Hand und einem Eimer Zwiebeln zwischen den Beinen, schien es ihm noch einmal geradezu rätselhaft, dass er nur wenige Jahre später (Jahre auf Baustellen, in Baubuden) wieder bei den Büchern angekommen war, nur nicht bei Selkirk und Mosquito-William, nicht bei den Abenteuern seiner Kindheit, den Flusspiraten des Mississippi … Ein leichter Schwindel hatte Ed erfasst, und frische Tränen liefen über seine Wangen.

Täglich brachte ihm der Gehilfe Koch-Mikes das Essen in den Hof. Sein Name war Rolf. Rolf balancierte die Rampe herunter, stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand sofort wieder, ohne ein Wort. Er trug eine steife, weiträumige Kochjacke; sie war wie ein Gehäuse, in das er sich bei Bedarf zurückziehen konnte wie eine Schildkröte in ihren Panzer.

Eds Frühstück kam gleich nach Arbeitsbeginn, aber das Mittagessen ließ auf sich warten; oft kam es erst um vierzehn Uhr, manchmal noch später. Meist Fleisch mit Kartoffeln und Mischgemüse. Oft verspürte Ed schon vor zwölf Uhr einen unabweisbaren Hunger. Irgendwann nahm er eine der Zwiebeln in die Hand und verspeiste sie wie einen Apfel, ohne innezuhalten. Zwiebel war (neben Blutwurst) die einzige Sache, die Ed nicht oder nur äußerst ungern aß — jetzt schmeckte sie ihm. Auch die Empfindlichkeit seines Magens schien plötzlich überwunden. Von da an nahm sich Ed an jedem Tag Punkt zwölf Uhr eine der großen selbstgeschälten Zwiebeln, später auch ein Stück Mischbrot dazu, das er aus den Frühstückskörbchen der Betriebsurlauber stahl. Es war eine Art zweites Frühstück; seine erste eigene Gewohnheit.



Das Tagebuch

Wenn Ed sich morgens aufsetzte in seinem Bett, sah er das Meer, das genügte für alles. Trotzdem trat dieses Glück nicht direkt mit ihm in Verbindung. Auf irgendeine Weise blieb es verschlossen, entweder in seiner Brust oder im Anblick des Meeres selbst mit den Signalen der Ozeanriesen draußen, oder es verbarg sich in der Dämmerung, die es eigentlich nicht gab; es gab nur das goldene Licht, das die fleckigen Wände langsam nach oben stieg und das Zimmer überschwemmte, und dann, nach Sonnenuntergang, den langen Finger des Suchscheinwerfers, der über das Wasser tastete und mit jeder Berührung die Wellenkämme zum Leuchten brachte, als wäre dort etwas.

Wie gebannt starrte Ed hinaus und erwartete das Einsetzen von Motorengeräuschen. Dazu ein nackter Arm, der versuchte, das Missgeschick abzuwehren, mit einer verzweifelten Gebärde.

Der Lichtkegel des Suchscheinwerfers hatte seine Wurzel irgendwo im Wald hinter dem Klausner. Manchmal hob sich der Finger und zeigte weiter hinaus, aufs offene Wasser. Ed stellte sich vor, wie die Bewohner des gegenüberliegenden Landes beim Abendbrot saßen und ab und zu die Augen mit der Hand beschatten mussten, um die Blendung abzuwehren. Tagsüber, bei guter Sicht, war Møn zu sehen, die Kreidefelsen von Møns Klint, die zum Königreich Dänemark gehörten, aber natürlich reichte das Licht nicht fünfzig Kilometer weit, und in Wahrheit ging die Entfernung zum anderen Ufer gegen unendlich. Gerade deshalb reizte es Ed, sich diese Menschen vor Augen zu führen, phantastische Bewohner eines fremden Planeten beim Abendbrot …»Es ist ein Traum«, flüsterte Ed ins Licht der rasch abtauchenden Sonne, und das neue Glück stimmte ihm zu, wenn auch auf eine verhaltene, undurchsichtige Weise.

Ein Nachteil seines Zimmers war die Lage zur Treppe und zum Flur. Gegen Mitternacht hob ein Rumoren an, Stimmen und das Schlagen der Dienstbotentür, eingeleitet vom Aufjaulen der Feder, wenn sie sich spannte, ein Geräusch, das ihn schmerzte, weil es an Matthew erinnerte, seinen kleinen beleidigten Schrei kurz vor dem Sprung (nicht gesprungen). Dann die Schritte, das Getrappel, das erschöpfte Atmen am Ende der Treppe. Ab und zu hatte er auch das Gefühl, jemand verharre dort vor seiner Tür, um zu lauschen. Aber das war lächerlich, und mit der Zeit gewöhnte sich Ed an das Geräuschtheater. Er nahm sich vor, dem Ganzen keine besondere Beachtung zu schenken.»Es ist das Inselleben, das ganze Treiben da draußen, von dem du keine Ahnung hast«, flüsterte er ins Dunkel hinaus, seine Stimme klang vollkommen ruhig, sein Spiegelbild stand still im geöffneten Fensterflügel. Den Kopf hielt er vorgebeugt, als wollte er jetzt noch tiefer hinein ins ewige Rauschen. Aber noch ehe der Stoff zu strömen begann, machte Ed einen großen Schritt zurück. Er schaltete die Nachttischlampe ein und zog seinen kleinen Hermes-Kalender aus der Reisetasche, die er wegen der Kakerlaken nicht im Schrank aufbewahrte. Seine Augen brannten. Sobald er sie schloss, loderte ein kleines Feuer. Nicht reiben, ich hätte nicht reiben dürfen, dachte Ed.

19. JUNI

Wieder Zwiebeln, aber alles schon viel besser. Muss mir Sonnencreme besorgen, Augentropfen viell. Was sind Esskaas? Wer ist Crusoe? Hab gar nichts schriftlich. Nachfragen bei K.?

Das Schreiben beruhigte Ed. Jeder Tag hatte nur fünf Zeilen. Raum für» Termine und Notizen«. Er blätterte eine Seite zurück und schrieb:

18. JUNI

Der Mann mit dem Verpiss-dich-Gebet ist hier der Eisverkäufer, schlimmer Typ. Lieber vorsichtig sein. Hat mich aus der Gaststube gezerrt. Ein Gesicht wie Rilke, langgezogen, dicke Augen und Schnauzbart, wie fast alle hier.

Ed überlegte, ob es sinnvoll gewesen war, seine fünf Zeilen für diesen Eintrag zu verbrauchen. Sicher nicht, wenn er eine Art Tagebuch mit den wichtigsten Ereignissen führen wollte. Andererseits war das seit Krombach seine einzige wirkliche Begegnung gewesen, von Koch-Mike abgesehen. Auf halbem Weg durch die Gaststube hatte ihn der Eisverkäufer eingeholt, von hinten am Hemd gepackt und durch die Vordertür wieder hinausgestoßen, vor allen Gästen. Offensichtlich war die Gästetoilette während der Öffnungszeiten tabu. Schon das Benutzen der Vordertür galt wahrscheinlich als Verstoß, dachte Ed, und noch einmal spürte er die Kränkung. Er war so überrascht gewesen, dass er sich sofort ergeben und widerstandslos hatte abführen lassen — wie ein Kind; er entschuldigte sich sogar. Er hatte nicht nach oben gehen wollen auf die Dienstbotenetage, um dem Eindruck vorzubeugen, er stehle sich während der Arbeitszeit auf sein Zimmer. Das war alles gewesen.»Geh doch in das verdammte Meer zum Scheißen«, hatte der Eisverkäufer gesagt. Er trug eine schwarzsamtene Weste mit silbern glänzenden Knöpfen, vielleicht hielt er sich für eine Art Torero. Noch einmal blätterte Ed zurück:

17. JUNI

Der Kochgehilfe spricht kein Wort, taubstumm viell. Auch ich bin still. Hab meine Ruhe. Das Zimmer ist ein Geschenk, das Essen reicht aus. Kämpfe mit den Zwiebeln, reinstes Zwiebeldelirium!

Stellenweise klang sein Eintrag nach Post aus dem Ferienlager, aber das war nicht wichtig. Sobald Ed etwas Eigenes schrieb, mit eigenen Worten, führte er den Stift gegen das Summen der Bestände in seinem Kopf, wie einen Hobel über die Halde, dachte Ed, oder durch die Halde hindurch; ja, es war doch mehr eine Bohrung, er schrieb und bohrte auf etwas zu, auf G. vielleicht, auf sich selbst, auf einen großen freien Raum, eine helle Bucht mit Wind, wo er stundenlang das sandige Ufer entlangging, mit stummem Schädel und kühlen Schläfen, die Füße überspült vom Saum des Meeres …

Aus der unteren Etage kamen Radiogeräusche, Stimmen, manchmal Musik, aber sehr unregelmäßig, schwankend, unterbrochen von einer Art Husten oder Krächzen. Vor Mitternacht Haydn, eigentlich schön und rätselhaft in seinem zittrigen Klang, aber dann war es wieder zu laut auf dem Flur.

Ed zog sich seine Sachen über und schlüpfte nach draußen. Geräuschlos nahm er die Treppe in den Hof und marschierte über die Lichtung ein Stück auf den Wald zu; die Schwärze tat seinen Augen gut. Im Abwasch brannte Licht. Jemand musste vergessen haben, es zu löschen, oder es brannte die ganze Nacht. Nicht unüblich, dachte Ed, es gab diese Häuser, gerade in den großen Küchen brannte alle Nächte irgendeine Lampe, seltsamerweise, eine Art Ritual vielleicht, ein Positionslicht der Trostlosigkeit. Gern hätte Ed all diese Lampen ausgemerzt, abgeschossen zu Gunsten einer guten, behütenden Dunkelheit — ein kleiner, spitzer Schrei zuckte durch die Nacht. Durch die verschmierten Fensterscheiben des Abwaschs waren Gestalten zu sehen, Umrisse, Schatten. Ed rückte ein Stück die Böschung hinauf. Einige der Gestalten reichten fast bis zur Decke. Dann duckten sie sich und verschwanden. Ed war bemüht, mehr zu erkennen, aber seine Augen tränten wieder. Jemand machte sich an den großen Figuren zu schaffen, er fuhr ihren Umriss entlang, auf und ab, er streichelte sie, mal mit langen, langsamen, dann wieder mit schnellen, kleineren Bewegungen. Vielleicht wird ihre Größe vermessen, dachte Ed und spürte die Scham. Seine Mutter hatte daneben gesessen, als der Schneider mit seinem Maßband und seinen Fingern am Maßband in seinen Schritt vorgedrungen war; er war dreizehn Jahre alt, und alles war normal gewesen. Auch die Gestalten im Abwasch schrumpften nach und nach auf übliche Größe. Eine war bereits im Hof und kam auf ihn zu. Ed wischte sich über die Augen — ein Gespenst mit langen, nassen Haaren? Eine Frau? Gehüllt in ein Laken? Die Gestalt huschte über den Hof und nahm die Dienstbotenstiege. Matthews Schrei, das Schlagen der Tür, dann ein neues und noch ein weiteres Gespenst; dann kehrte Ruhe ein. Die Trostlosigkeit erlosch, und das gute Dunkel nahm den Abwasch des Klausners in seine Obhut. Ed sah einen Mann, der über den Hof ging und den Weg hinunter zum Meer einschlug.



Kruso

Während er redete, bot der Mann dem Bärenpferd zärtlich die Stirn — als hätte er das Pferd und nicht Ed begrüßt. Mit fester Hand schlug er die Flanke, so derb, wie es nur Menschen tun, die mit Tieren vertraut sind. Ed wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Langsam beugte sich der Mann zu ihm herunter und Ed sah, dass er lächelte.

«Alexander Krusowitsch, die meisten sagen Kruso, ein paar Freunde nennen mich Losch, von Alexander, das heißt von Aljoscha, Aloscha — Losch. «Lächelnd nahm er Ed das Kleinespitze aus der Hand und führte ihn wie einen Blinden über die Rampe ins Innere des Klausners. Deutlich spürte Ed den leichten Druck am Oberarm. Eine länger andauernde Berührung war er seit G. (seit über einem Jahr also) nicht mehr gewöhnt, genauer gesagt, er war ihr nicht mehr gewachsen, weshalb er sich beinah wie verloren fühlte, als der Mann ihn wieder freigab.

«Danke«, sagte Ed und sah zu Boden, mehr brachte er nicht heraus, und wofür bedankte er sich?

Man hielt Krusowitsch nicht für einen Russen, Deutschrussen oder Russlanddeutschen. Er hatte schwarzes, halblanges Haar, das er bei der Arbeit im Abwasch zu einem Zopf band. Wegen eines Wirbels über der Stirn wölbte sich das zurückgebundene Haar am Ansatz, wie der dunkle, lappige Kamm eines Hahns. Das Komische dieser Verformung wurde aufgehoben von der Ernsthaftigkeit seines Blicks; ohnehin kam einem nichts komisch vor, wenn man Krusowitsch gegenüberstand. Seine Nase war schmal und kantig, sein Gesicht ein langes, weiches, nahezu perfektes Oval mit großen Wangen, die Augenbrauen fast gerade, dazu die dunkle Färbung seiner Haut — Krusowitsch glich eher einem Venezuelaner oder Kolumbier, der im nächsten Moment seine Panflöte hervorziehen würde, um eine seiner trotzig-traurigen Verzauberungen anzustimmen.

Der Abwasch war ein schmaler, gefliester Anbau, mit einem im Halbdunkel liegenden Durchgang zum Gastraum und einer Schwenktür zur Küche.»Unser Hinterzimmer«, sagte Kruso. Es klang wichtig, und als wollte er damit noch etwas anderes ausdrücken. Unter den hoch gelegenen Fenstern standen zwei große braune Steinbecken sowie zwei kleinere Becken aus Stahl. Das Wasser strömte aus kurzen, an den Wasserhähnen mit Drähten befestigten Gummischläuchen. Die Becken standen paarweise beieinander (ein Steinbecken, ein Stahlbecken), dazwischen stählerne Ablagetische. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich einige rostige Regale, gefüllt mit Töpfen, Kellen und Geschirr. Der Fußboden war schmierig und glatt. Die ehemals rotbraunen Fliesen hatten sich mit dem Schmutz versöhnt und einen Grauschleier angenommen. Einige der Steine waren zerbrochen, ein paar fehlten, die offenen Stellen im Muster hatte man mit Zement ausgestrichen. Ein taubes Licht fiel durch die Fensterscheiben.

«Wir arbeiten hier mit der Hand, mit der bloßen Hand«, betonte Kruso und streckte ihm seine geöffneten Hände entgegen, als wolle er damit eine alles umfassende Unschuld belegen. Aber es war nur der Anfang seiner ersten Unterweisung, Krusos erste Lektion. Ed sah eine Menge Linien, lange, große, weitverzweigte Erzählungen, die darauf warteten, gelesen und verstanden zu werden, dazu breite, quadratische Fingernägel …

«Zeig mir deine Hände!«

Zögernd folgte Ed.

«Bleib so«, sagte Kruso, griff nach einer Limonadeflasche auf der Fensterbank und schüttelte etwas von einer dicken weißlichen Flüssigkeit auf seine Handrücken.»Nicht die Hände eines Studenten«, urteilte Kruso und fuhr ihm kräftig zwischen die Finger; er knetete seine Knochen so fest, dass Ed um ein Haar aufgeschrien hätte. Aber sein Mund war wie zugenäht. Nichts und niemand hätte ihn dazu bringen können, sich jetzt eine Blöße zu geben.

«Wichse, gute pure Wichse, sagen die Kellner. Und Rimbaud behauptet, seit Jahren würde das Zeug nicht weniger …«Kruso lächelte ihn ernsthaft an. Zum Abschluss hob er seine Rechte, als wollte er schwören, legte aber nur Daumen und Zeigefinger aneinander.»Der Präzisionsgriff, du weißt. Daumen und Zeigefinger finden plötzlich zueinander, und die Menschwerdung des Affen beginnt, lange vor dem ersten Wort …«Ohne weiteres trat er an eines der Becken und tauchte die Arme bis zu den Ellbogen ins Wasser. Seine Hände rotierten in einer mit gelbem Schaum besetzten Brühe, wo sie etwas erledigten, wofür er offensichtlich nicht genauer hinzusehen brauchte.

Bei der Arbeit trug Kruso, der ihn um Kopfeslänge überragte, ein schwarzes Unterhemd, an den Armen und über der Brust weit ausgeschnitten. Wenn er sich nach vorn beugte, stand es vom Oberkörper ab. Seine Brust war dicht behaart, die Haut gebräunt. Um seine Hüften war ein Tuch geschlungen, das einem Schurz glich. An den Füßen hatte er Mokassins, die von Nässe glänzten.

Das Steinbecken fürs Grobe (Töpfe, Pfannen, Schüsseln) und das stählerne Spülbecken für Mittagsgeschirr befanden sich auf seiner Seite — »deine Seite«, erklärte Kruso, vertrauensvoll und ohne eine Spur von Ironie. Eds Seite lag am Durchgang zum Gastraum, ein kleiner leicht abschüssiger Korridor, durch den die Kellner — nicht selten in vollem Lauf — das Geschirr heranschleppten und abwarfen. Kruso nannte es die Einflugschneise, für die es Regeln zu beachten gab.

Auf Krusos Seite lag das Becken für Besteck, das möglichst lange weichen sollte, um dann, ohne Zwischenschritt, also in einem einzigen Arbeitsgang, gereinigt und poliert zu werden:»Anders schaffst auch du das nicht«, erklärte Kruso und lächelte ihn abermals an. Wozu sollte ich das versuchen, dachte Ed, aber noch ehe die Frage in seinem Kopf zusammengesetzt war, spürte er die Wärme des Zutrauens und der Zuneigung in seiner Brust.

Da ein normales Trockentuch bei dem In-einem-Schritt-Verfahren in kürzester Zeit vollkommen verschmiert und durchnässt gewesen wäre, wurde Bettzeug benutzt, riesige, hundert Jahre alte Laken und Überzüge aus der Frühzeit des Klausners, deren Ende man sich über die Schulter werfen musste oder um die Hüften band, genauso, wie es Ed schon einmal gesehen hatte, nachts im Hof. Am Besteckbecken zu arbeiten wurde deshalb auch» den Römer machen «genannt. Der Römer sei, wie Kruso erklärte, noch nie besonders beliebt gewesen, nur bei Cavallo stünden die Römer» ganz oben«. Cavallo war einer der drei Kellner, so viel hatte Ed bereits verstanden.

Eine Weile blieb Kruso auf der Seite Eds, um sie ihm besser erklären zu können. Ed, sein Schüler, stand neben ihm und versuchte, auf alles zu achten. Der Meister fischte am Grund nach einer zweiten, besonderen Bürste, die er Ed vorführen wollte. Im Übereifer griff auch Ed in das Becken. Blitzschnell schnappte Kruso nach seiner Hand und hielt sie für einen Moment unter Wasser — offensichtlich ein Reflex oder ein plötzlicher Krampf, eine Sekundenepilepsie. Ed entschuldigte sich augenblicklich.

Während Alexander Krusowitsch ihm mit wenigen präzisen, halb ins Becken und halb zu ihm hin gesprochenen Sätzen das Zusammenspiel der verschiedenen Arbeitsbereiche des Klausners erklärte (Ausschank und Gaststube, Küche, Biergarten, Abwasch, Bettenhaus und Speisesaal der Betriebsurlauber) und diesen und jenen Namen erwähnte (unmöglich für Ed, sich alles zu merken), zog er mit einem einzigen Griff einen Stapel Mittagsteller aus dem Wasser. Eine einzige zeitlupenhaft ausgeführte Drehung seines kräftigen Handgelenks genügte, die Teller auf einem großen, von Rost übersäten Drahtgestell zu platzieren.

Als hätte er es soeben erst entdeckt, fixierte Kruso das Drahtgestell.»Wir müssten mehr davon machen, mehr und bessere vielleicht. «Er klang erschöpft und zugleich entschlossen.»Wir müssen selbst für uns sorgen. Für uns und die Pilger, für uns und für sie den ganzen Betrieb hier aufrechterhalten, das ist unser täglich Brot. «Gern hätte Ed ihm zugestimmt, aber das wäre lächerlich gewesen. Er wusste nichts von Abtropfgestellen und ihrer Herstellung und noch weniger, wen Kruso gemeint haben konnte mit» die Pilger«.

Tags zuvor war Ed zufällig Krombach begegnet, am Strand. Er hatte sich ein Herz gefasst und den Direktor angesprochen: Wann der Mann zurückkehren würde, von dem die Entscheidung über seine Einstellung abhängen sollte, war seine Frage. Krombach hatte geantwortet, dass Kruso einmal im Jahr, jeweils in diesen Tagen, die Insel umrunde,»auch die schilfigen und auch die sumpfigen Strecken — er geht durch jedes Gebüsch, gut dreißig Kilometer, keine Schwierigkeit für jemanden, der praktisch auf der Sturmbahn aufgewachsen ist«. Ed spürte, dass Krombach nicht zu viel erzählen wollte. Trotzdem blieb der Direktor noch ein wenig bei ihm stehen und blickte aufs Wasser hinaus, vielleicht nur, um ihre Begegnung nicht allzu abrupt enden zu lassen.»Es ist eine Art Gedenkmarsch, zu Ehren seiner Schwester. Das heißt, wir wissen nie genau, wann er zurückkommt.«

«Hast du noch Fragen, Edgar?«Es war das erste Mal, dass Kruso ihn mit seinem Namen ansprach. Noch einmal spürte Ed die Wärme.»Nein. Das heißt, welche Toilette könnte ich benutzen, ich meine, während der Arbeit?«

«Ich weiß, ich weiß«, murmelte Kruso.

Vorsichtig nahm er die Limonadeflasche vom Fensterbrett.»René ist …«Kruso atmete tief.»Bitte nimm das nicht ernst. Wir halten hier alle zusammen. «Er schüttelte sich einen kleinen Fladen der seltsamen Creme in die Hände und ließ Ed allein zurück.

In den ersten Stunden wusch und schrubbte Ed, ohne aufzublicken. Die abgeschnittenen Fettstreifen, die ineinandergerührten Reste, die Papiertaschentücher voller Rotze oder Blut, die Schiffstickets, die Merkzettel, die Kaugummis, die verknoteten Haargummis (an denen ein paar ausgerissene Haare hingen), die Kippen, die Kotze, die Sonnencreme, der ganze Abfall, der auf den Tellern von der Terrasse zurückkam in den Abwasch, das alles war jetzt Teil seiner Arbeit. Er betrachtete die Biss-Spuren im Fleisch, große Bisse, kleine Bisse, manche winzig, wie von Nagetieren, nicht menschlicher Herkunft jedenfalls. Er schaute sich um, er war allein. Er nahm eine Kartoffel mit dem rot umrandeten Biss einer Frau in die Hand, warf sie in die Luft, fing sie auf und zerdrückte sie langsam in seiner Faust. Dabei bleckte er die Zähne und spuckte den Rest eines imaginären Seewolf-Zigarillos in die Tonne. Wie es ihm Kruso gezeigt hatte, gab er die guten Reste in verschiedene Schüsseln, das Übrige schabte er mit einem fettigen Stück Pappe vom Geschirr in die Abfalltonne.

Manchmal war es nicht leicht zu entscheiden, was noch als gut angesehen werden konnte. Kruso hatte dazu einige unverständliche Dinge gesagt und kaum konkrete Beispiele gegeben. Erneut war von den Pilgern die Rede gewesen und von ihrer Suppe, womöglich einer heiligen Suppe oder auch einer eiligen Suppe oder alles zusammen, im öden Nachhall des Abwaschs war alles eine einzige Suppe. Ab und zu gab es Mittagsteller, die fast unberührt zurückkamen, mit ganzen Schnitzeln, Kohlrouladen, Kartoffeln, Gemüse, dann war es einfach.

Bald schmerzte sein Rücken. Wenn er sicher war, unbeobachtet zu sein, hob er die Hände aus dem Wasser und streckte sich. Etwas von der gelblichen Brühe lief ihm dabei in die Achselhöhlen. Wenn er auf Zehenspitzen stand, konnte er mit seiner Bürste fürs Grobe die Decke des Abwaschs berühren. Hinterzimmer, im Hinterzimmer — hieß das nicht, auf dem besten Weg zu sein?

Zuerst war Ed wie geblendet vom Auftritt der drei Kellner; er wusste nicht viel von Gastronomie und fand es erstaunlich, dass ihm hier, im Abwasch, an der Abfalltonne (Schweinetonne hatte Kruso sie genannt), Männer mit weißen Hemden und schwarzen Anzügen gegenübertraten, sozusagen im Frack. Das Ganze schien eine Art Zirkus zu sein oder ein absurdes Theater, an dem er als Zuschauer teilnehmen durfte; er hatte die Musik und das Gebrüll der Löwen vernommen, sich klammheimlich davongestohlen, und jetzt sah er der Vorstellung mit pochendem Herzen entgegen. Ein Vagabund, der hofft, unterwegs sein Elend loszuwerden, dachte Ed, und einen Moment lang fühlte er das Schäbige seines von Waschwasser durchnässten Aufzugs. Er kratzte sich unauffällig. Der fettige Dunst über den Becken verklebte die Poren.

Ab zwölf Uhr wurde Ed von Geschirr überschwemmt. Da in der Mittagszeit nie genug Teller vorrätig waren, musste er gleichzeitig abwaschen, abtrocknen und die frischen Stapel in der dafür vorgesehenen Durchreiche zur Küche platzieren. Er arbeitete schnell, aber allein war es kaum zu schaffen. Die Kellner rannten, doch auch für sie war das Ganze im Grunde zu viel. Trotzdem ging der, den sie Rimbaud genannt hatten, dazu über, seine Teller selbst abzukratzen, um sie dann sofort in Eds Becken fürs Grobe zu werfen. Er tat das mit großem Schwung und verblüffendem Geschick: Die Teller tauchten im Sturzflug an Eds rotierenden Händen vorbei und vollführten erst Zentimeter vor dem Aufprall eine nicht mehr für möglich gehaltene Wendung, um sich schließlich waagerecht und geschmeidig wie träumende Flundern auf den Grund des Beckens zu legen. Ed konnte so mit beiden Händen im Wasser bleiben und erreichte ein viel höheres Tempo. Ihm fiel auf, dass auch Rimbaud jene Regel befolgte, die gute und weniger gute Reste betraf, langsam füllten sich die Schüsseln.

«Teller, ihr Ratten, ich brauche Teller, Teller — Kreuzspinne und Kreuzschnabel!«Es war Koch-Mike, seine schrille, heisere Stimme aus der Küche. Als auch das Besteck auszugehen drohte, der Römer auf den schmierigen Boden fiel, und Ed nicht mehr wusste, was er zuerst tun sollte, tauchte Kruso wieder auf.

Eine ganze Stunde blieb er ohne Pause an seiner Seite. Ed bewunderte die Ruhe und das Gleichmaß seiner Bewegungen. Kruso arbeitete anders, auf eine, Ed fand kein besseres Wort, landesunübliche Weise. Alles, was er tat, unterstrich seine Ernsthaftigkeit. Dabei waren es weniger seine Ausdauer oder Schnelligkeit, eher etwas wie Rhythmus und innere Anspannung — als gehöre sein ganzes Dasein etwas Größerem an oder als sei die Arbeit im Abwasch nur Ausdruck von etwas anderem, Eigenem, das sorgsam behandelt werden musste.

Rimbaud scherzte mit Kruso, aber Ed verstand die beiden nicht. Auch der kleine Kellner, sein Name war Chris, hatte Tempo aufgenommen, in einem seltsam humpelnden, holzschnittartigen Schritt, was vielleicht auf seine O-Beine zurückzuführen war. Sein schwarzlockiges, fettglänzendes Haar bewegte sich dabei wie mechanisch vor und zurück, das Haar humpelte mit.

Sie machten jetzt schnell Boden gut, und die Teller-Rufe verstummten. Rimbaud stand auf der Seite Krusos und redete leise auf ihn ein. Beide blickten in ein Buch, auf das Foto eines Mannes, soviel Ed erkennen konnte. Das Buch war in Packpapier eingeschlagen, und wenn Ed es richtig gesehen hatte, entstammte es der Schüssel, die von Kruso» unser Nest «genannt worden war, eine blassgrüne Plastikschüssel voller Trockentücher. Rimbaud blätterte um und begann etwas vorzutragen. Er rezitierte Kruso ins Ohr. Dabei stand er steif und leicht vorgebeugt, regungslos wie eine Zeichnung. Als er damit fertig war, zog Kruso ihn an seine Brust. Mitten in die Umarmung platzte ein Schrei aus dem Gang hinter Ed — mit einem gewaltigen Sprung hechtete Kruso an ihm vorbei, um einen Berg langsam, aber unweigerlich rutschender Teller abzufangen; der humpelnde Chris hatte seinen rechten Arm bis auf die Schulter, fast bis auf seinen Kopf hinauf mit schmutzigem Geschirr beladen. Alle lachten. Rimbaud schlug das Buch zu und schob es zurück ins Nest, zwischen die Tücher. Ed hörte, wie ihn Chris in seinem Rücken» Zwiebel «nannte, aber vielleicht täuschte er sich. Der Hallraum des Abwaschs schluckte jedes Wort. Um sich wirklich mitzuteilen, musste man näher zueinander treten. Trotzdem gab es vieles, das Ed nicht verstand, als würde innerhalb der Besatzung eine ihm fremde Sprache gesprochen. Zum Beispiel tauchte öfter der Ausdruck» Vergabe «oder» Vergebung «auf — was auch immer damit gemeint war, es blieb rätselhaft.

Ich werde es lernen, dachte Ed.

Das erste Mal seit seinem Aufbruch überkam ihn ein Gefühl von Verlorenheit. Er kratzte die schlierigen Überbleibsel eines Gemüses in die Tonne und ließ den Teller in sein Becken gleiten. Noch einmal spielte sein Schädel ein paar Zeilen des Trunkenen Schiffs; das Summen der Bestände.

Kurz vor Feierabend kam der stumme Rolf vorbei und trug die Schüsseln mit den guten Resten in die Küche. Ein kleiner Stapel Kaffeegeschirr rutschte Ed aus der Hand und zerschellte. Niemand sagte ein Wort. Koch-Mike drückte die Schwenktür zur Küche auf und schob ihm Handfeger und Kehrblech zu. Ein Schwall von Wasserdampf waberte über den Boden. Ed hatte sich sofort gebückt, um die größten Scherben aufzulesen. Dabei spürte er den Umriss Krusos im Rücken, dann eine Hand in seinem Nacken, flüchtig nur, wie man ein Kind berührt bei seinen Hausaufgaben.



Ans Meer

Gefesselt vom Anblick der Topographien, die unter der Oberfläche des Wassers zu wandern schienen, wäre Ed fast gestürzt. Der Abstieg zum Strand führte über mehrere Tableaus aus Lehm und Sand, verbunden durch Treppen, die ihrer Bauart nach aus verschiedenen Jahrhunderten stammen mussten und in jämmerlichem Zustand waren. Von Stufe zu Stufe ergab sich ein neues Panorama. Der Anblick des Meeres! Ed fühlte die Verheißung. Und nichts anderes war es doch, wonach er sich sehnte, eine Art Jenseits, groß, rein, übermächtig.

Auf halber Höhe öffnete sich die Aussicht nach Norden, auf den höchsten Küstenabschnitt. Dort im Gestrüpp auf dem Kliff lag das Gelände der Beobachtungskompanie.»Keine große Bewaffnung«, so erzählten es die Festlandlegenden, andere raunten von extrem genauen Geschützen mit einer nahezu unvorstellbaren Reichweite.

Ed war der Einzige, der die Mittagspause dazu nutzte, ans Wasser zu kommen. Das Leben im Haus stand um diese Zeit still. Nach dem Chaos der Mittagsschicht mit den Schiffen voller Tagestouristen senkte sich Schlaf über die Lichtung. Ed erinnerte das an die Mittagsruhe seiner frühen Schulzeit, wenn sie nach dem Essen die Pritschen von der Rückwand des Klassenzimmers genommen und ausgeklappt hatten und wie auf Kommando in schwere Träume gesunken waren. Rimbaud fiel auf das abgewetzte Chaiselongue im Speisesaal, das in Verlängerung der sogenannten Leseecke aufgestellt war, ein kleiner runder Tisch mit Zeitschriften, FF-Dabei, Du und dein Garten, Guter Rat. Er ließ seine Füße mit den abgelaufenen Kellnerschuhen über die Lehne hängen und bedeckte sein Gesicht mit der Ostsee-Zeitung, die täglich mit dem Postboot angeliefert wurde. Alle Fähren, die zwischen den Inseln verkehrten, wurden von den Einheimischen» das Postboot «genannt. Schiffe, die vom Festland kamen, hießen» der Dampfer«.»Kommst du mit dem Postboot oder mit dem Dampfer?«, war eine der ersten, richtungsweisenden Fragen … Ab und zu legte Rimbaud sich auch zu den anderen auf die grasbewachsene Böschung am Waldrand, nicht weit von der Stelle, wo der Weg hinüber zum Leuchtturm begann. An manchen Tagen sah Ed dort alle drei Kellner nebeneinander, in ihren weißen, aufgeknöpften Hemden, regungslos ausgestreckt, wie erschossen, wie nach einem Blutbad zu Zeiten der Prohibition — drei tote Freunde, mit weit ausgebreiteten Armen, auf einem der Römerlaken:

«Was hast du all die Jahre gemacht?«

«Ich bin früh schlafen gegangen.«

Nur Kruso ruhte nie. Und er schien nie zu ermüden. Oft arbeitete er im Keller unter dem Abwasch, wo es einen Ofen zum Erhitzen des Wassers und eine Art Werkstatt geben musste. Oder er sammelte Totholz und trug es zum Hackstock. Sein Schurz aus einem rotkarierten Geschirrtuch, der freie Oberkörper, das zum Zopf gebundene Haar — tatsächlich glich Kruso einem Indianer, der mit großer Bestimmtheit, ja, mit Kraft und Eleganz, die nötigen Vorkehrungen traf — ohne dass Ed hätte sagen können, wofür. Es musste etwas Großes sein.

An jedem Tag wurde Holz gemacht, wie Kruso es nannte, Treibholz oder Totholz auf Ofenlänge geschnitten oder zerstückelt mit der Axt. Öfter baute er auch an seiner Barriere, die sich im Halbkreis um den Klausner zog, eine Art Wildzaun vielleicht, für den er weniger gutes, dünnes Unterholz geschickt ineinanderflocht und dabei die kleineren, dicht beieinanderstehenden Stämme der Kiefern als Pfähle benutzte. Er selbst nannte den Zaun die äußere Palisade, wobei nicht klar war, wo dann die innere Palisade liegen sollte. Die Palisade war eine natürliche Barriere, die sich begrünte mit der Zeit und von selbst zu wachsen schien.

War Kruso am Hackstock, vibrierte das Wasser in den Becken. Einmal hatte Ed ihn dabei beobachtet, wie gefangen vom Rhythmus der Axt und dem Anblick der ruhigen, kraftvollen Bewegung eines makellosen Körpers. Gewissenhaft wurde ein Holzklotz zu Scheiten zerkleinert. Ed wusste, dass es unmöglich war, ihn durch das verkrustete Fenster des Abwaschs zu erkennen, aber plötzlich hatte Kruso innegehalten und gewunken. Wenig später stand er an seiner Seite, die Axt noch in der Faust. Ernsthaft lächelnd (jene irritierende Verbindung zweier Ausdrücke in seinem großen, ovalen Gesicht) nahm Kruso ihn abermals am Arm und führte ihn im Hof herum.

«Der Garten muss geschützt werden, die Wildschweine pflügen alles um mit ihren Schnauzen«, dabei deutete er auf eine Anlage am Waldrand, in der mit gutem Willen einige Beete zu erkennen waren. Rund um die Anpflanzungen waren Schnapsflaschen eingegraben. Das Ganze erinnerte an den Garten eines Trinkers und seinen Wunsch nach Versöhnung mit der Welt.

Kruso ging in die Knie und legte seine Hand auf das Beet.

«Nur deshalb kommen sie hier herüber — sie wittern die Freiheit, sie sind wie die Menschen.«

Für einen Moment schaute er Ed in die Augen.

«Im vergangenen Jahr haben sie den Garten vollständig verwüstet, sämtliche Pilze und die heiligen Kräuter. Die Dosis war natürlich zu hoch. Danach fühlten die Schweine sich vollkommen frei, frei von allem. Sie sind etliche Runden geschwommen, rund um die Insel, und haben Gefechtsalarm ausgelöst. Hast du Schweine je schwimmen sehen, Ed? Vater, Mutter, Kind, in einer Reihe, so ziehen sie durchs Wasser, viel schneller, als du es für möglich hältst, mit weit aus dem Wasser gereckten Schnauzen. Und genauso haben sie sie abgeschossen, Vater, Mutter, Kind — paff, paff, paff. Sie dachten, was sie denken mussten: Flüchtlinge, hartgesottene Grenzverletzer, die nicht einmal auf Zuruf oder Warnschuss reagierten. Der Sand da unten war rot für eine Weile. Es dauerte Stunden, bis sie ihren Irrtum eingesehen und alle Kadaver aus dem Wasser gefischt hatten. Koch-Mike hat natürlich versucht, ein bisschen frisches Fleisch für den Klausner abzustauben, aber da führte kein Weg rein; Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt: Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen — sie existieren einfach nicht.«

Kruso sah zu Boden. Seine Lippen waren blass, die Augen fast geschlossen. Dieser Mann war Ed fremd und doch vertraut. Und nicht wirklich vertraut — es war mehr ein Vertrauen, nach dem man sich sehnte.

Kruso zupfte etwas aus dem Beet. Für Ed waren Kraut und Unkraut nicht zu unterscheiden. Er versuchte, sich einen Reim auf die Geschichte zu machen, und wollte Kruso nach den Kräutern fragen.

«Die Schweine hatten zu viel Freiheit im Blut, verstehst du das, Ed? Diese Freiheit …«, er deutete auf den Kräutergarten und machte eine Handbewegung hinüber zum Klausner und verstummte.

Da der Strand zu Füßen der Treppe steinig war, wanderte Ed ein Stück Richtung Norden, bis zum ersten Küstenvorsprung, wo es sandige Stellen gab. Er hatte das große unhandliche Notizbuch dabei (mit der Widmung von G. im Einband), er verbarg es in seinem Handtuch. Ed hegte die Vorstellung, auf irgendeine Weise zu sich zu kommen in dieser Pausenstunde, das Meer zu atmen, nachzudenken, aber er war viel zu erschöpft. Also saß er einfach nur da und schaute hinaus. Seine Hände schienen, trotz Creme, wie aufgelöst, die Haut porös, weiß und faltig. Die Hände einer Wasserleiche, dachte Ed. Seine Fingernägel wackelten wie lose in den Nagelbetten, und hätte er es gewollt, hätte er sie mit wenig Mühe aus dem Fleisch ziehen können. Er öffnete seine Handflächen zur Sonne, legte sie in den Schoß und sah aufs Wasser hinaus.

Seine Augen hatten sich erholt, immerhin. Und die seifigen, fauligen Dünste des Abwaschs hatten den Umriss jenes Schreckens aufgeweicht, der ihm noch immer in den Knochen pochte (nicht gesprungen!). Seine Erschöpfung erinnerte ihn an seine Zeit als Lehrling auf dem Bau. An die fast vergessene Müdigkeit der jungen Jahre (wieder nannte er es so, als wäre er inzwischen alt), und er fühlte etwas wie ein Heimweh nach Arbeit. Eine körperliche, wie eingeborene Sehnsucht, die beinah in Vergessenheit geraten oder, mehr noch, vollkommen verschüttet worden war. Das Studium hatte ihn konturlos und beliebig gemacht. Bei der Arbeit wurde er sich wieder ähnlich, die Arbeit führte ihn zurück in eine spürbare Ähnlichkeit.»Müdseligkeit«, summte es aus seinen Beständen, woraufhin Ed Steine ins Wasser zu schleudern begann. Er fragte sich, ob er bestanden hatte, ob er jetzt der Abwäscher des Klausners war.

Auf dem Rückweg begann er, Treibholz aufzulesen. Wurzeln, Brettzeug, Reste von Schiffen vielleicht. Am Ende hatte er ein stattliches Bündel vor der Brust. Auf der Treppe nach oben glitt ihm das mit Muscheln und Algen besetzte Holz fast aus der Hand, aber er ließ es nicht zu: Diese Prüfung würde er in jedem Fall bestehen. Die Treppe war steil, und der Schweiß lief ihm in die Augen. Er stellte sich vor, wie Kruso ihn entdeckte. Sein ernsthaftes Lächeln. Er sah Ed, den Wilden, der schnell begriff und sich vom ersten Tag an als nützlich erwies. Als Ed am Holzplatz ankam, ließ er das Bündel fallen, so geräuschvoll wie möglich. In seiner Lebensverwirrung hatte er einen unvergleichlichen Lehrer gefunden.



Das Frühstück

21. Juni. Das Frühstück war der einzige Zeitpunkt, zu dem die Besatzung des Klausners vollständig zusammenkam, und Ed begriff schnell, dass es nicht möglich war, unpünktlich zu sein. Jeden Morgen um sieben Uhr war die Tafel komplett eingedeckt. Zwölf Teller, je fünf an den Längsseiten, zwei an den Stirnseiten. Eds Aufnahme dauerte nur wenige Minuten, und kein Wunder war, dass sie ihm später noch oft vor Augen stand.

Nachdem Kruso und Koch-Mike Platz genommen hatten, wählte Ed einen der Stühle, auf der hinteren, zur Wand gelegenen Seite der Tafel, und traf damit eine gute Wahl. Tatsächlich handelte es sich um den Platz seines Vorgängers namens Speiche. Speiche wurde noch ab und zu erwähnt in den Gesprächen, aber nur zur Belustigung über einen, der den Klausner offensichtlich nicht bestanden hatte und» auch darüber hinaus nicht geeignet gewesen war«. So drückte es Kruso aus, als griffe er dabei auf ein verbindliches Regelwerk zurück, den Kodex der Esskaas, wie Ed vermuten musste.

Inzwischen hatte er verstanden, dass Esskaa nichts anderes bedeutete als die gesprochene Abkürzung für Saisonkraft. SK erinnerte an den Begriff des EK, des Entlassungskandidaten beim Militär, und wie es während seiner Zeit bei der Armee eine EK-Bewegung gegeben hatte, ein Konglomerat aus derben bis tödlichen Späßen, verbunden mit einem unbedingten Verlangen nach Unterordnung (alles zusammengenommen eine Art martialischer Vorfreude auf den Tag der» Freiheit«, die Entlassung), würde es auch eine Esskaa-Bewegung geben, schlussfolgerte Ed, natürlich mit eigenen, ganz anderen Gesetzen, weshalb es nur von Vorteil sein konnte, sich diesen Kodex so rasch wie möglich anzueignen. Dabei dachte Ed an jenen Soldaten, der wie er ein sogenannter» Frischer «gewesen war, ein» Glatter«, ein Soldat im ersten Diensthalbjahr. Für ein Spiel namens Schildkröte hatten die Ekaas ihm Stahlhelme an Knie und Ellbogen geschnürt, um ihn dann in den Korridor ihrer Baracke zu schleudern, mit großem Schwung über das spiegelglatte Linoleum, das zuvor von dem Soldaten selbst gebohnert und gekeult worden war, stundenlang. Seine Fahrt war enorm gewesen. Bis zur Wand am Ende des Flurs, an der er sich das Genick gebrochen hatte.

Kruso lachte nie über die Witze, die aus dem verschollenen Abwäscher einen Hampelmann und arbeitsscheuen Versager machten. Speiche, das Heimkind … Zuerst hatte Ed diese Bezeichnung für einen groben Scherz gehalten, später erfuhr er, dass sein Vorgänger tatsächlich Waise gewesen und nach dem Erreichen der Volljährigkeit direkt aus dem Heim (»ausm Heim!«) auf die Insel gekommen war. Niemand schien wirklich daran interessiert, wohin der eltern- und geschwisterlose Speiche so plötzlich gegangen sein konnte. Hier, im Vorhof des Verschwindens, fragt keiner, wohin einer noch gehen könnte, flog es Ed durch den Kopf, sinnloserweise. Es gab Fälle von Abwanderung in andere Lokale, tatsächlich schien das vorzukommen. Lokale mit besseren Bedingungen und Konditionen, das» Wieseneck «oder der» Dornbusch «boten höheren Stundenlohn, auch die Ruhetage wurden mit einer Prämie vergütet, sogar von» Wochenendzuschlag «wurde gesprochen, und in der» Inselbar «waren die Kellner verpflichtet, selbst das Besteck zu polieren, oder sie zahlten dem Abwäscher fünf Mark extra dafür, so jedenfalls hatte es der stumme Rolf ihm erzählt, den die Geldfrage zum Reden brachte. Aber schließlich ging es Ed nicht um Geld, darum war es nie gegangen.

Speiche hatte nicht nur seinen sauren Geruch, seine Zahnbürste, seine Brille und die Kakerlaken im Zimmer zurückgelassen. Auch eine Tasche am Boden des Schranks, die einen warmen, handgestrickten Pullover und ein paar Wildlederschuhe enthielt. Diese als Tramper gehandelten Schuhe mit ihrer flachen, dünnen Sohle waren außerordentlich begehrt und schwer zu beschaffen, was ihr Zurückbleiben noch eigenartiger machte. Vielleicht würde Speiche eines Tages wieder auftauchen, um seine Siebensachen einzusammeln, dachte Ed und ließ die Tasche unangetastet.

Die Tafel für das Frühstück, der sogenannte Personaltisch (auch Persotisch genannt), befand sich im hinteren Drittel der Gaststube, in einer Nische, von der auch die Tür zu Krombachs Kabinett abging. Nachdem alle Platz genommen hatten, öffnete sich der Verschlag und Krombach trat hinter seinen Stuhl, gehüllt in eine Wolke Exlepäng. Dabei rieb er sich die Hände, als wäre schon alles oder jedenfalls für diesen Moment alles gelungen. Augenblicklich erhob sich Kruso und trug die dampfende, braun geäderte Stahlkanne mit dem Kaffee vom Tresen an den Tisch, wo er Krombach, sich selbst und Koch-Mike bediente, um die Kanne dann in der Mitte der Tafel abzustellen. Ed sah, wie Kruso sich auf jede einzelne seiner Bewegungen konzentrierte und dabei eine Haltung einnahm, die dem besonderen Stolz entsprach, den er auch im Abwasch oder am Hackstock an den Tag gelegt hatte. Sowohl Krombach als auch Koch-Mike dankten Kruso mit kleinen Gesten, die befangen wirkten, aber vielleicht täuschte sich Ed.

Krombach murmelte ein paar belanglose Sätze über das Wetter in der Nacht, die Strömung, den Wellengang und den Wind am Morgen, als ginge es darum, zum Fischfang auszufahren. Dann beklagte er einen neuen Küstenabrutsch» zwischen Signalmasthuk und Totem Kerl«, er musste bereits unten am Wasser gewesen sein. Dann herrschte Schweigen. Eine Gedenkminute vielleicht für das stetige Schrumpfen der Insel. Das Schweigen war angenehm. Eine Weile gab es nicht mehr als die Frühstücksgeräusche und die höhnischen Schreie einer Möwe draußen auf dem Kliff. Die beiden Türflügel zur Terrasse waren weit geöffnet, die Meeresluft strömte herein und spülte den Dunst des Vorabends aus der Gaststube. Für eine Sekunde schloss Ed die Augen und sah den Kopf des Bärenpferds; keine Tränen mehr.

Es gab Brötchen, Brot, Leberwurst, Teewurst, ein paar Schmelzkäseecken, etwas Salami, Schnittkäse und einen zähen, zittrigen Block Mehrfruchtmarmelade auf einem Teller — »zwei Persoplatten für zwölf Mann Persofrühstück«, wie es Koch-Mike ausdrückte, der seine eigene extragroße Tasse an den Tisch mitgebracht hatte. Ed säbelte an der Marmelade. Nach ein paar Minuten begann der Direktor behutsam und kaum hörbar seine Anweisungen in die Runde zu streuen. Für einen Augenblick hielten alle ihr Messer still in der Luft, und Ed spürte die Anspannung.»Eine Sache, die ich nicht vergessen will …«, murmelte Krombach; es ging um die Gasflaschen und die maroden Leitungen der Zapfanlage. Kruso wusste die Antwort. Im Grunde redete Krombach ohnehin nur mit Krusowitsch oder Koch-Mike. Nachdenklich strich sich Kruso über seine muskulösen Oberarme und senkte den Kopf, den er dabei leicht schief hielt. Es war erst Juni, aber seine Haut war bereits braungebrannt wie die eines Sioux. Unberührbar. Ed betrachtete die große, leicht hakenförmige Nase. Öfter schüttelte Kruso ganz leicht den Kopf; es war Ausdruck seiner stetigen Aufmerksamkeit, keine Verneinung jedenfalls.

Koch-Mike machte Notizen auf gebrauchtem Packpapier, das er sich zu unförmigen, handtellergroßen Zetteln riss. Mit einem stumpfen Kopierstift überarbeitete er die Bestell-Listen der Küche für die kommenden Tage; der Schweiß brach ihm aus, und die Listen wurden unleserlich. Offensichtlich betrachtete es der Koch des Klausners als seine natürliche Pflicht, auf alle Engpässe in der Versorgung eine Antwort zu finden. Er hatte seinen Platz am anderen Ende der Tafel, dem Direktor genau gegenüber; die Sätze der beiden liefen zwischen den Reihen der Esskaas wie durch eine Gasse auf und ab.

«Matrosen, ich möchte euch Edgar Bendler vorstellen.«

Der Direktor erhob sich. Sein auf diese Weise ausgesprochener Name, vollständig, kräftig, mit einem guten, fast fröhlichen Klang, berührte Ed. Es war wie eine seltene Zärtlichkeit, und für einen Moment erlosch das ungute Gefühl, es ginge dabei um einen Dritten, den er hier nur vertrat; ja, es war, als könne er jetzt davon ausgehen, dass er selbst an diesem Tisch saß und tatsächlich ein Teil war dieser für ihn noch gar nicht fassbaren Runde, angekommen im Herzen des Klausners, hoch über dem Meer.

«In einer für ihn schwierigen Situation und nach Nächten des Umherirrens …«

Es folgte eine kurze Rede, in der Krombach ihn mit einer halb erfundenen und halb zutreffenden Beschreibung» seines bisherigen Werdegangs «präsentierte. Niemand verzog eine Miene. Mit seiner flachen, offenen Hand deutete der Direktor schließlich auf jeden einzelnen Platz am Tisch, zuerst jedoch auf den leeren Stuhl rechts von ihm:

«Monika, meine Tochter — die heute entschuldigt ist.«

Seine Hand zeigte auf das Obergeschoss, dann begann sie ihre Reise rund um den Tisch.»Chris, Mirko und Rimbaud aus dem Service, unsere Kellnerschaft, hervorragend, ich möchte sagen unschlagbar. Sowohl in Schnelligkeit und Ausdauer als auch in Klugheit und Weisheit, gastronomisches und philosophisches Wissen sind hier aufs Schönste vereint. «Krombach lächelte. Keine Spur von Ironie oder Zynismus in seinem glatten, glänzenden Gesicht.»Mirko, promoviert in Soziologie, er kommt wie du, Edgar, aus Halle an der Saale und wird hier bei uns Cavallo genannt. Und hier, vom gleichen akademischen Grad, sein Freund Rimbaud, unser Philosoph — hab schon fast vergessen, wie du wirklich heißt, mein Lieber, einmal geheißen hast, meine ich …«Einen Moment lang stockte seine Hand auf ihrer Wanderung.»Kruso kennst du inzwischen, Schirmherr dieses Eilands, möchte man sagen, und auch Koch-Mike aus Samtens auf Rügen, mit dem du deine ersten Tage gearbeitet hast, ich habe darüber nur Gutes gehört. Rolf, unser fleißiger Smutje. Und dort, zu deiner Linken, sitzen Karo und Rick, das heißt Karola und Richard, unser Tresenehepaar, tatsächlich ein Paar! Sie und ich, wir haben, wenn ich das sagen darf, eine gemeinsame Vergangenheit, eine Hauptstadt-Vergangenheit, nicht wahr, sagen wir eine Palastgeschichte! Rick jedenfalls ist der, an den du dich wenden kannst in allen Fragen, er ist Chef der Bar und Chef des Service. Und rechts von dir René, unser Eisverkäufer, mein Schwiegersohn.«

Allein die letzte Mitteilung des Direktors wirkte seltsam gepresst. Das Auf und Ab seiner weichen, auf Kopfhöhe erhobenen Hand und ihr Weiterrücken im Halbkreis von Stuhl zu Stuhl erinnerte Ed an die Erteilung des Segens. Schon während der Vorstellung hatte sich der Eisverkäufer angewidert abgewandt, weshalb Ed seinen Kopf zunächst gesenkt hielt, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen.

«Vergessen wir nicht, dass wir alle auf irgendeine Weise Schiffbrüchige sind …«Der Direktor hob beide Hände, als wollte er den Erdkreis einbeziehen in seinen Segen, seine Stimme wurde wieder leiser. Dann sah es so aus, als tauche er seine Hände in eine unsichtbare Wand oder in Wasser oder jedenfalls in etwas, das sich zwischen ihn und den Rest der Welt geschoben hatte.

Ed war nervös. Der rednerische Aufwand machte ihn verlegen, zu viel für einen Abwäscher, einen Nachrücker zumal, und es fiel ihm schwer, sich auf Krombachs Predigt zu konzentrieren. In der Ecke über Koch-Mikes schwitzendem Walrossschädel hingen Fotos der Belegschaften vergangener Jahre. Bei einigen war der Jahrgang mit Filzstift auf den Rahmen geschrieben, 1984, 1976, 1968. Auf einem der Bilder, es war das von 1968, hoben alle Männer und Frauen gleichzeitig eine Bierflasche an den Mund. Die Aufnahme wirkte obszön, sie beeindruckte Ed. In einer zweiten Gruppe, praktisch übereck, den alten Besatzungen gegenüber, hingen die Bilder berühmter Gäste, von denen Ed nur Billy Wilder und Thomas Mann sofort erkannte, dann entdeckte er noch Lotte Lenya. Neben ihr eine winzige Reproduktion des Abendmahls von Leonardo. Darunter eine stilisierte Darstellung König Hedins, eine Gestalt aus der Edda, soviel Ed wusste. Das Bild zeigte zwei Männer im Kampf, eng umschlungen, dabei war nicht zu entscheiden, ob es um Tod oder Liebe oder vielleicht um beides ging. Die Bildunterschrift hieß»Hedin auf Hedinsey«. Berühmtheiten und Belegschaften waren so platziert, dass sie sich praktisch in die Augen sehen mussten. Über allen aber, schon knapp unter der Gaststubendecke und wie eine Ikone auf der Spitze des Altars, thronte die Fotografie Alexander Ettenburgs im Mönchsgewand, begleitet von einem Esel und einer Katze,»begreifen wir als das Vermächtnis des Urklausners …«— in diesem Punkt kannte Ed die Rede. Die neueste Fotografie war noch nicht gerahmt, nur mit Nadeln angesteckt, eine Aufnahme vom Saisonbeginn im April. Ed entdeckte den Mann, der Speiche sein musste. Er war groß und ausgesprochen schmal. Sein schiefes Lächeln zeigte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Zuerst hatte ihn Ed an seiner Brille erkannt; warum hatte er seine Brille zurückgelassen?

«… und die Insel hier unsere Rettung war, als uns nicht etwa das Meer oder ein Fisch, sondern das Land ausgespuckt hat …«Während Krombach über» die weiteren Aufgaben des Klausners «sprach und ihn erneut» unsere Arche «nannte (offensichtlich war die Belegschaft entschlossen, das Gasthaus auf der Steilküste in diesem Jahr wenigstens bis Heiligabend, vielleicht auch den Winter über geöffnet zu halten und» hier oben beieinanderzubleiben«, wie Krombach es sagte, als ginge es um den Zusammenhalt einer Familie in schwieriger Zeit), träumte Ed, Teil der obszönen Besatzung von 1968 gewesen zu sein. Unauffällig sah er zu Kruso, um zu prüfen, ob auch er ein 68er war.

Krusos Gesicht war jetzt starr, wie versteinert, und es sah aus, als würde er beten. Koch-Mike wischte sich das Wasser von der Stirn und knetete sein Schweißtuch zu einer kleinen Pyramide. Der Kellner, den Krombach Cavallo genannt hatte, atmete schwer und blickte nervös auf den Hof hinaus. Der Ventilator an der Decke machte ein feines Geräusch. Die nikotingelben, mit flockigem Schmutz verklebten Geräte waren ein Überbleibsel aus den zwanziger Jahren, der Ausstattung Emil Hirsekorns, eines Berliner Händlers von Herrenstoffen,»feinsten Stoffen«, wie es Krombach in seinem Abriss der Geschichte betonte, jedenfalls war es so in Eds Ohr geflossen oder an seinen Ohren vorübergeströmt. Das Schrappen der Ventilatoren versetzte den Klausner in eine südlichere Gegend, die in diesem Fall auch nördlich oder westlich liegen konnte, irgendwo im offenen Meer. Ihr unablässiges Wirbeln verstärkte die Drift; wie phantastische Propeller hoben sie den Persotisch mit seiner Frühstücks-Besatzung weit hinaus in den Raum, weiter noch, als er ohnehin schon von Land und Staat entfernt zu sein schien …

Als Ed wieder auftauchte aus seinem Traum, sah er, dass Krombach ihm seine Segenshand entgegenhielt, quer über den Tisch. Ed sprang auf, überrascht griff er nach der Hand und deshalb etwas zu hastig. Und Krombach drückte sie länger, als vielleicht nötig gewesen wäre. Wie man es Ed von Kindsbeinen an beigebracht hatte, blickte er dem Direktor dabei in die Augen. Auch Krombach sah ihn an, aber Ed spürte den Blick nicht. Er sah nur die glänzende, wie immer frisch gecremte Haut, von der das Auge eingefasst war, dann den wässrigen blauen Knopf mit dem schwarzen Punkt in der Mitte. Als hätte irgendeine Erschöpfung oder Krankheit das Sehen stumpf gemacht oder als käme das Sehen nicht mehr recht heraus aus den Augen des Direktors, der so fürsorglich und ernst wie ein wirklicher Kapitän gesprochen hatte. Tatsächlich ging kein Angeschautwerden von ihm aus, es war, als erblicke er nichts Bestimmtes — oder alles. Alles, was ihn und Ed und Kruso betraf, auch das, was noch kommen würde, ja, Krombach durchschaute ihn. Er konnte sehen, dass Ed die unausgesprochene Voraussetzung nicht erfüllte, dass er im Grunde ungeeignet war.

«All hands on deck!«Alle hoben ihre Kaffeetassen, das Frühstück war beendet.»Prost Mahlzeit!«René schmetterte seine Tasse auf den Tisch und rülpste. Ohne weiteres drehte Krombach sich um und verschwand in seinem Kabuff. Ed gehörte zur Besatzung.



Die Christkiefer

Irgendwann in der Nacht verstummte das Rauschen. Die Brandung stand still. Der Wald stand still. Das Nebelhorn tönte.

«Beim letzten Ton des Zeitzeichens …«

Ed tastete zur Dienstbodentreppe. Der Himmel war klar, ein unfassbares Gewölbe. Die Kiefern hatten ihn bereits erwartet; sie waren seine Freunde, mit ihnen konnte man reden. Alle zwanzig Sekunden streichelte der Fächer des Leuchtturms ihr Geäst.

Es gab einen großen einsamen Baum, sehr weit vorn, schon am Rand der Schlucht — für einen Augenblick stand er vollständig im Licht, wie ertappt. Ein Flüchtling vor dem Abstieg ins Meer. Von den Esskaas wurde der Baum» unsere Christkiefer «oder auch nur» die Leuchtkiefer «genannt. Drei Tage zuvor hatten sie sich um ihren Stamm versammelt und dem Horizont zugeprostet — frohe Weihnachten und alles Gute für die kommende Saison. Es war einer ihrer Bräuche geworden. Zur Begründung hieß es, sie wollten das Fest mit ihren Nächsten teilen, ihrer» Familie«. Im Winter wäre man wieder allein, ohne einander. Sie hatten auch gesungen. Stille Nacht, heilige Nacht und O, du fröhliche.»Mein drittes Weihnachten auf der Insel«, sagte Rimbaud, der neben Ed auf der Terrasse stand. Einige Esskaas waren verkleidet, ein paar trugen Kerzen auf dem Kopf. Sie feierten das Fest zum Termin der Sommersonnenwende. Am Ende wanderten sie zum Essen ins» Karl Krull«, wo man Ente und Rotkohl servierte. Das Ganze glich einer Provokation,»aber sie meinen es nicht so«, erklärte Rimbaud.

Rimbaud wohnte in der Bienenhütte, einer kleinen Baracke im Wald, ein Nebengelass, nicht weit vom Klausner. Er hatte dort sein eigenes Reich, und er empfing eigene Gäste. In wöchentlichem Wechsel waren das der Imker, der frische Königinnen auf die Insel brachte, und ein Mann, den er den Buchdealer nannte. In einem speziellen Tragegestell, das ihm wie die Kiste eines Kohlenträgers auf dem Rücken saß, schleppte der Buchdealer (er war Vertreter beim Verlag der Kunst) seine Ware ins Hochland des Dornbuschs, wertvolle Drucke, Prachtausgaben, aber auch die kostbaren Titel anderer, unerreichbarer Verlage, für die Rimbaud ihn mit Insel-Übernachtungen bezahlte.

Ed fröstelte. Noch immer hatte er eine Hand an der Weihnachtskiefer; im Licht des Leuchtturms schimmerte ihre Rinde wie die Haut eines prähistorischen Tiers. Er trat nah an die Abbruchkante heran und lauschte in die Tiefe. Feines, leises Sieden. Wasser wurde ins Geröll geschoben und dann wieder zurückgezogen. Das schwere, asthmatische Atmen der Ostsee. Er beugte sich etwas nach vorn. Seine Fallsucht war noch da, vielleicht war sie schon immer da gewesen. Ed begriff, dass man das eigene Leben immerzu verteidigen musste, einerseits gegen das, was dauernd geschah, andererseits gegen sich selbst und die Lust, aufzugeben.

Vom Personal waren ihm Kruso, Koch-Mike und das Tresenehepaar die Liebsten. Karola und Rick hatten ihn von Anfang an gut aufgenommen. Die Kellner bildeten eine eigene Gesellschaft. Chris erschien harmlos und gutmütig, aber mit Cavallo und Rimbaud war es anders; er konnte ihren Jähzorn spüren. Rimbaud wirkte gepflegt und in fast altertümlicher Weise auf männliche Ausstrahlung bedacht. Er war der Einzige, bei dem der Kellnerfrack wirklich saß. In seiner dicken, helmähnlichen Mähne glänzten ein paar silberweiße Strähnen, gleichmäßig verteilt und wie sauber hineingestrichelt.

Cavallo und Rimbaud wurden öfter verwechselt von den Gästen, was wegen fehlender Ähnlichkeit allein mit der Tatsache begründet werden konnte, dass beide einen Schnauzbart trugen. Dabei war Cavallos Schnauzer viel schmaler, im Grunde nur ein feiner Strich auf seiner Oberlippe; Rimbauds Bart hingegen glich einem dichten, sorgsam beschnittenen Büschel, auf das er beim Reden oder Rezitieren gern den kleinen Finger legte. Trotzdem gab es immer wieder Kundschaft, die fragte, ob sie nicht Geschwister seien — »bei dieser Ähnlichkeit …«Es war, als würde man Dalí und Nietzsche verwechseln. Sicher, diese Gäste wollten nur freundlich sein und aufgeschlossen (oder ihren Urlaubstag krönen durch ein Gespräch mit einem der Kellner des legendären Restaurants auf der Steilküste von Hiddensee, etwas, wovon man zu Hause gut erzählen konnte), wurden aber fortan nicht mehr bedient, weder von Cavallo noch von Rimbaud. Unter diesen Umständen war es gut, dass es Chris gab.

Abgesehen davon, waren Cavallo und Rimbaud tatsächlich befreundet. Während der Arbeit spielten sie Schach, ihr Brett war immer aufgebaut, auf dem kleinen Kellner-Pausentisch, direkt vor dem Tresen. Blieb keine Zeit für den Pausentisch, riefen sie sich ihre Züge zu, quer über die Köpfe der Gäste. Für Ed glichen sie alten Tataren, die stundenlang nebeneinander durch die Steppe reiten und dabei ganze Spiele absolvieren konnten, nur auf Zuruf, ohne Figuren. Ab und zu hatte Ed auch René, den Eisverkäufer, am Pausentisch gesehen, der aber nicht spielte, nur das Brett bewachte. Der Eisverkäufer redete viel, machte Witze und lachte hohl in seine Eiskübel hinein.

Trotz allem gerieten Cavallo und Rimbaud öfter in Streit, entweder ging es um Philosophie oder Politik, manchmal auch um Frauen.»Es geht nur um den Tagessieg«, erklärte Rick und stellte die dazugehörigen Getränke bereit.

Vor einem Stützpfeiler mitten im Gastraum thronte die Kasse. Wann immer Rimbaud an das ungewöhnlich hohe Pult herantrat, fasste er das Foto seines Namenspatrons ins Auge und flüsterte die Frage.

«Ruhm, wann kommst du?«

Es handelte sich um die schlechte Reproduktion eines Jugendfotos, aus einer Zeitschrift gerissen und auf Pappe geklebt. Am Tag seines Dienstantritts hatte Rimbaud das Bild auf der Kasse platziert und sich damit seinen Namen erworben. Ed war bereit gewesen, das Ganze für eine der zahlreichen Geschichten zu halten, die über Rimbaud im Umlauf waren, aber dann hatte er es selbst gesehen — der erhobene Kopf, die Bewegung des Schnauzbarts.

«Ruhm, wann kommst du?«



Warum ziehen der Mond und der Mann

Schon vor zwölf Uhr war die Terrasse von Gästen überschwemmt, an jedem Vormittag vier überfüllte Schiffe voller Tagestouristen, die sich vom Hafen her ins Hochland des Dornbuschs wälzten, als gäbe es keinen zweiten Ort. Auch die Lichtung und der Wald ringsum waren dann bis zur Steilküste hin mit Urlaubern besetzt, sprungbereit. Manche von ihnen versuchten, vom Rand her Bestellungen aufzugeben, bald standen einige der Schamlosesten zwischen den Tischen, mitten in den Serviergassen der Kellner. Man sah auf die Tische herunter, diskutierte die Speisen, streckte die Hände, um auf das Essen zu zeigen, und berührte es fast oder versuchte, mit einem feindseligen Geraune die sitzenden Gäste von ihren Plätzen zu vertreiben.»Achtung!«und» Vorsicht!«schrien die Kellner, aber auch ernsthaftere Zurechtweisungen wirkten nur vorübergehend, und irgendwann sah man Krombach den Biergarten umkreisen. Begütigend geleitete er die allzu Ungeduldigen zurück an den Rand der Terrasse, als führe er sie aus einem Labyrinth. Dabei hielt er sie am Arm, wie Blinde, manchmal ging er mit ihnen auch bis ans Kliff, zur Steilküste hin — um sie hinunterzustoßen, dachte Ed, was eine Lösung gewesen wäre und dem Wort Stoßzeit einen tiefen Sinn gegegeben hätte …

Tatsächlich brachte die Stoßzeit von allen das Beste zum Vorschein, und bald begann Ed zu verstehen, was sich hinter den hohen Begriffen von Besatzung und Mannschaft verbarg. Krombach, der das Büro ansonsten nie verließ, zog ein kurzes graues Stück Tau aus seiner Hosentasche und begann, Seemannsknoten vorzuführen, mit erhobenen Händen. Er knotete Herzen verschiedenster Gestalt, hielt sie in die Luft und erhielt Beifall. Dass jemand etwas vorführte, erweckte sofort Aufmerksamkeit, vor allem, weil das Ganze offensichtlich ungeplant geschah, spontan, ohne Eintritt und Kontrolle, und also einem seltenen, exotischen Ereignis gleichkam, etwas, das man eben nur hier, auf dieser Insel, erleben konnte.

Ed erfuhr nie, was Krombach während seiner Knotungen zum Besten gab. Auf die Touristen schienen die grauen Herzen dieselbe hypnotisierende Kraft auszuüben wie auf ihn. Nach vier oder fünf Herzen verbeugte sich der Direktor. Dann zog er weitere kleine Stricke aus seiner Hosentasche und verteilte sie unter den Umstehenden, die sie ungläubig und wie etwas außerordentlich Kostbares entgegennahmen. Augenblicklich begannen einige damit, die kurzen Enden zu verknoten, zumindest versuchten sie es, und eine Zeitlang erschien die Herstellung eigener Herzen begehrenswerter als Schnitzel oder Steak au four.

Rimbaud und Cavallo fielen schon bald in eine Art Dauerlauf, während Chris versuchte, sein Gehen beizubehalten, es dafür aber aufs Äußerste beschleunigen musste und schließlich zu dem für ihn typischen Humpelschritt steigerte. Das Geschirr kam jetzt in großen, schwankenden, von Speiseresten verklebten Stapeln ans Becken und musste (es war einfach immer zu wenig vorrätig davon) sofort gespült, getrocknet und erneut bereitgestellt werden. In Abständen erschien der bleiche Walrossschädel Koch-Mikes über der Schwenktür zur Küche. Seine Beschimpfungen waren nicht bösartig oder aggressiv, aber auf eine nicht zu überbietende Weise dramatisch, dringlich, eine täglich zur Stoßzeit einsetzende Arie über fehlende Teller, Messer, Schüsseln und den unter diesen Umständen zu erwartenden Ausgang, endgültigen Kollaps, Exitus. Ertönte die Arie, war die Zeit für Feinheiten vorbei. Ganze Stapel unabgeräumter Teller wurden ohne weiteres ins Becken gestürzt und die fettigen Reste von Schnitzeln, Kartoffeln, Salat oder Bouletten mit einem Schwung der Rückhand von der Wasseroberfläche zu Boden gefegt. Nachdem Ed einige Übung hatte, genügten ihm zwei, drei Rückhände in schneller Folge, eine Sache von Sekunden, und sein Becken war frei. Dabei musste er nur darauf achten, dass sauberes Geschirr nicht besudelt wurde, und ein gewisser Nachteil war, dass sie bis zum Abend in einem ekelerregenden Morast aus zertretenen Abfällen stapften, ein Sumpf aus Speisebrei, der obszöne Geräusche machte unter den Sohlen, weshalb Ed sich bald wie auf Gleitschuhen über die Fliesen bewegte. Damit die Kellner nicht ausrutschten, wischte und trocknete Kruso in Abständen die Einflugschneise — selbst jetzt, da kaum einer wusste, wo ihm der Kopf stand, zeigte er Übersicht, Verantwortung und Fürsorge. Ed hätte ihn gern umarmt dafür.

Das Klausner-Thermometer zeigte 43 Grad. Sie arbeiteten wie die Berserker, blieben aber in Verzug. Die Sonne stach durch die Fenster und das Waschwasser verbreitete eine ätzende Schwüle. Literweise schütteten sie Tee in sich hinein, den Karola am Tresen zubereitete und in einer großen braunen Steingutkanne in den Abwasch trug. Stammplatz der Kanne war die Öffnung zum Speiseaufzug in Eds Rücken, der früher vielleicht in den Keller hinunter- oder in die Dienstbotenetage hinaufgefahren war, inzwischen aber nur noch als Ablage diente. Da keine Zeit zum Einschenken blieb, trank Ed aus der Tülle. In der Eile stürzte ihm der lauwarme Tee über den Rand der Kanne ins Gesicht, was keine besondere Rolle spielte, da ihre Oberkörper frei und die Trockentücher um die Hüften ohnehin längst durchnässt waren von Spülwasser und Schweiß. Er war ein Galeerensklave. Er fühlte sich nackt, auch sein Geschlecht war nass, und es juckte zwischen den Beinen.

Nach einer Stunde Stoßzeit begann Cavallo, das erste Mal zu wiehern. Dabei vollführte er kleine zügellose Sprünge, wie ein Kind, das ein Galoppieren nachahmen möchte; dazu ein kleines Prusten, Schnauben, sein schmaler Schnauzer vibrierte. Diese Auftritte waren mit dem, was Cavallo sonst darstellte (die ganze Verschlossenheit seiner Person), schwer in Einklang zu bringen.»Romacavalli«, brüllte Rimbaud durch den Klausner und spornte sie an:»Avanti, avanti, dilettanti!«Ed bewunderte die Art, wie Rimbaud mit weit ausgebreiteten Armen herumwirbelte, als stünde er auf Zehenspitzen; wie er mit einer Hand die Kasse bediente, Quittungen sortierte, für Sekunden unbewegt etwas entzifferte auf einem der winzigen Bons und gleichzeitig (mit einem Arm, der immer länger wurde) das große Tablett mit Bier und Limonade vom Tresen aufnahm, fließend, als verfüge er über eine teleskopische Kraft; das alles, während er außerdem die Essenausgabe im Auge behielt und eine unmerkliche Geste zu dem in verwinkelten Bewegungen vorüberfegenden Chris hin machte.

«Ruhm, wann kommst du?«

Ging die Stoßzeit auf ihren Höhepunkt zu, begann Rimbaud damit, Zitate zum Besten zu geben, Zitate fäkalischen oder pornographischen Inhalts, die in vollkommenem Gegensatz zu seiner eleganten Erscheinung standen und irgendeinen für Ed nicht benennbaren Hass, eine abgrundtiefe Verachtung ausdrückten, Verachtung für alles im Leben und das Leben selbst, aber doch niemals so gemeint sein konnten, dachte Ed. Auch der euphorische, im Grunde kämpferische Klang seiner Stimme sprach eine andere Sprache. Ed verstand Rimbauds Zoten als Ausdruck der schwierigen Synthese von Philosoph und Oberkellner, wie sie das mit Sicherheit belesenste Mitglied ihrer Besatzung an jedem Tag so gut und stolz wie nur möglich vollzog. Manchmal begann Rimbaud plötzlich französisch zu sprechen;»mon plongeur, mon ami«, und wenn er auf dem Weg in den Abwasch an der Tür Krombachs vorübereilte, beschimpfte er ihn laut:»Chef du personnel — une catastrophe!«Nach seinem Einsatz auf der Terrasse blieb der Direktor unsichtbar.

Ed schuftete und schwitzte sich den Rest seiner Gedanken und Gefühle aus dem Leib. Er arbeitete sich durch bis auf den stabilen Grund einer wirklichen Erschöpfung, und für diese Stunden fühlte er sich rein, erlöst von sich selbst und seinem Unglück; er war nicht mehr und nicht weniger als ein Abwäscher, der auf passable Weise Stellung hielt im Chaos.

Beim ersten Mal hatte Ed geglaubt, Kruso erläutere etwas, eine Fortsetzung seiner Unterweisungen, auf die gut zu achten wäre. Sein Ohr hatte sich an den Hallraum des Abwaschs gewöhnt, trotzdem verstand er nur einzelne Worte, die sich wiederholten, es waren die Worte» Mann «und» Meer«.

«Was?«, brüllte Ed durch das Tosen der Stoßzeit, zu heftig vielleicht, denn augenblicklich hielt Kruso seine Hände still; das Wasser klatschte gegen die Wandung des Beckens.

«Am Hochried vorbei, am Niedermoor vorbei, zieht das Boot nach dem Meer.«

Es schien sich um eine Art Zauberformel zu handeln, denn schlagartig wurde es still ringsum, sogar das Radio in der Küche verstummte. Krusos Kopf blieb gesenkt, und Ed ging davon aus, dass das Gespräch, noch ehe es begonnen hatte, wieder beendet war. Er tauchte die Hände in sein Becken, um sich einen Teller zu greifen, als der Chor anhob:

«Am Hochried vorbei, am Niedermoor vorbei, zieht das Boot nach dem Meer. Zieht mit dem ziehenden Mond das Boot nach dem Meer …«

Ed registrierte Rimbaud und Cavallo in seinem Rücken; singend, keuchend und schwer beladen. Mit ihren ausgestreckten, von schmutzigem Geschirr bedeckten Armen wirkten sie wie Komparsen in einem absurden Stück. Dann, hinter ihnen, im Halbdunkel, Karola, mit ihrer dunklen, wunderbar singenden Stimme:

«So sind sie Gefährten zum Meer, das Boot, der Mond und der Mann …«

Kruso flüsterte nur noch, umso kräftiger die Bässe, es waren die Stimmen Koch-Mikes und Rolfs:

«Warum ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer, so bereit nach dem Meer!«

Noch ehe Ed die Szene begriffen hatte, krachten die Teller der Kellner in sein Becken; Chris stürzte an allen vorbei, er brüllte» So bereit nach dem Meer!«und umarmte Kruso, der dabei nahezu unbewegt blieb, was nicht eigentlich abweisend oder unnatürlich wirkte. Es entsprach nur der Würde des Gedichts, das sie gemeinsam vorgetragen hatten, offensichtlich eine Art Hymne des Klausners,»unser Heiliges«, wie Kruso es später noch öfter erklärte.

Wie die verknoteten Herzen oder das Wiehern Cavallos gehörte der Chor vom Mann und dem Meer zum Ritual der Stoßzeit und ihres Deliriums, es war ihr Höhepunkt. In den folgenden Minuten brüllte Koch-Mike sein» finito «aus der Küche, das Ende der Bestellungen à la carte. Rasch wurden die Menüs eingezogen, manchen besonders enttäuschten Gästen mussten die blassen Durchschläge regelrecht aus der Hand gerissen werden. Zwei oder drei Speisen blieben im Angebot, meist handelte es sich um Soljanka, Jägerschnitzel und Roulade. Das Ausrufen der Notkarte wurde von Chris übernommen, dem bei den Gästen wegen seiner burschikosen und umgänglichen Art beliebtesten Kellner. Unser bester Mann im Service, flötete Rimbaud und spitzte die Lippen, Rimbaud und Cavallo spotteten gern über Chris, der im vergangenen Jahr aus Magdeburg auf die Insel gekommen war, aus einem früheren Leben als Elektriker; als Elektrischer, wie er es selbst ausdrückte.

Nachdem Chris zwei Stunden lang wie ein Derwisch hin- und hergehumpelt war (im Nacken die träge federnde Matte seines fettigen, schwarzlockigen Haars), trat er hinaus und verharrte wie ein Bote des Königs auf den Stufen zur Terrasse. Er wartete, bis Ruhe einkehrte und sich alle Augen auf ihn gerichtet hatten. Dann rief er» Soljanka«, und wer Soljanka essen wollte, lernte es, sich laut und deutlich mit» hier «zu melden und gleichzeitig aufzustehen,»damit ich eine Übersicht habe«, wie Chris es begründete, logisch und nachvollziehbar. Ähnlich verhielt es sich beim Austragen der Speisen. Oft hatte Chris sechs oder sieben Teller auf den Armen, wenn er auf die Terrasse hinausstürmte und» Schnitzel «rief und sich die Besteller erhoben und» hier «brüllten, oft unnötig laut in der Hoffnung, bei denen zu sein, die zuerst bedient werden würden. Einige übertrieben dabei und riefen» HierSirr!«oder schlugen die Hacken zusammen, woraufhin Chris, der in einer einzigen fließenden Bewegung Teller für Teller oder Schüssel für Schüssel auf die Tische gleiten ließ, etwas zurückbrüllte wie» Zwanzig Liegestütze!«oder» Zum Hockstrecksprung weggetreten!«, dabei warf er den Kopf zurück, der Ausdruck seiner Gesichtszüge schwankte zwischen Verachtung und Wahnsinn, und natürlich war das Ganze nur ein Spiel.

Trotzdem trug das Salutieren hier und da ernsthafte Züge, als sei von Chris tatsächlich irgendeine höhere Gewalt ausgegangen oder als hätte er damit etwas geweckt, was mancher Gast kaum im Zaum halten konnte. Es gab Gäste, die in den Liegestütz fielen oder ihre Arme in Seitschlaghalte brachten und die Vögel, die in den angrenzenden Büschen versteckt auf Essensreste spekulierten, mit Hockstrecksprüngen entsetzten. Manche Gäste kannten einfach keine Grenzen (wie Eds Mutter es ausgedrückt hätte), offensichtlich bekam ihnen ihr Urlaub nicht, oder es war ihr ganzes unerfülltes Dasein. Chris war das egal. Am Ende der Stoßzeit überließ er sie ihrem Schicksal. 13.30 Uhr war Küchenschluss, Punkt 14 Uhr wurde die Tür zur Terrasse verriegelt.

Rimbaud und Cavallo warfen Jacken und Hemden ab, beugten sich über die Abwaschbecken und schöpften Hände voll kalten Wassers in ihre Achselhöhlen. Wenn Ed nach überstandener Stoßzeit nach draußen auf die Rampe trat, um frische Luft in seine von den Ausdünstungen des Abwaschs gereizten Lungen zu pumpen, kam er sich vor wie verkrustet, wie ein Fossil, dessen Versteinerung noch nicht abgeschlossen war. Während die Haut im Gesicht spannte wie altes Leder, löste sie sich an den Händen auf und franste in weißlichen Fetzchen um die Fingerkuppen. Er fühlte sich unsicher auf seinen Beinen, ein leichter Schwindel, der auch von dem sirupartigen Spülmittel rührte, das kaum Schaum produzierte, aber ätzende Dämpfe verströmte, die ihm auf den Magen schlugen.

Beim gemeinsamen Essen am Pausentisch fiel es Ed schwer, das Bild des sehnigen Schweineschnitzels auf seinem Teller zu trennen von denen, die er zuvor gesehen hatte, zerschnitten, durchgekaut, ausgespien, zertreten oder schwimmend in der Lauge seines Beckens. Eigentlich genügte ihm seine tägliche Zwiebel, er brauchte nicht mehr. Er war müde, und er wollte sich nicht mehr bewegen, nur noch liegen, ausstrecken, schlafen, aber er hielt fest an seinem Gang hinunter ans Meer.

Bevor Ed aufbrach, blieb er für einen Moment bei den anderen am Tisch im Hof, irgendwann aß er doch etwas und rauchte, er hatte wieder begonnen zu rauchen, alle rauchten, und es wurde kaum gesprochen. Es herrschte dieselbe schwerwiegende Zufriedenheit, die ihm damals auf dem Bau so gutgetan hatte, in den Jahren, bevor er zum Studium gegangen war, um sich zu verirren in den Geschichten der Sprache, ihren labyrinthischen Konstruktionen aus Syntax, Morphologie, Orthographie und Lexikologie, das ganze Idiotenkarussell, wie die Studenten die Prüfung jener Fächer am Ende des ersten Studienjahres nannten, voller Abscheu und Respekt, es war ihr Physikum, bestehend aus Sätzen von Musil oder Kleist, an denen nicht wenige verzweifelt und gescheitert waren.

Ed genoss die Befriedigung; es war eine Art Ehrgefühl: Für diesen Moment waren sie alle vereint in ihrem Stolz. Ein aufrichtiger Stolz, der vielleicht weniger von der Art ihrer Arbeit (Sklavenarbeit) herrührte als davon, etwas im Grunde Unmögliches geschafft, ja, einem Sturm standgehalten zu haben. Nichts gab ihnen so deutlich das Gefühl von Gemeinschaft wie die Stoßzeiten der Hauptsaison mit ihren Tumulten und Zumutungen. Sie gehörten zu jener Besatzung, die ihr Schiff bis zum Letzten verteidigen würde, so viel war sicher, unter Aufbietung all ihrer Geschicklichkeit, ihres gastronomischen Draufgängertums und jener Künste, über die sie aufgrund ihrer akademischen oder künstlerischen Herkunft verfügten. Indem sie das Unmögliche schafften, in dieser gewaltigen, chaotischen Aktion, erfüllten sie offensichtlich den Ehrenkodex, von dem Kruso gesprochen hatte. Jenen Kodex, der die Esskaas miteinander verband. Mit Hilfe eines speziellen Irrsinns, einer Essenz aus Gastronomie und Poesie, hielten sie ihre Arche über Wasser, Tag für Tag. Und retteten die schlingernde Insel.

Загрузка...