Rommstedt

Auf der Steilküstentreppe wäre Ed fast gestürzt. Mit etwas Glut in der Kohlenzange hatte er ein Stück vom Duschvorhang abgetrennt und die Mappe darin eingeschlagen. Er schaltete die Taschenlampe ein und lauschte. Er nahm sich vor, von nun an alles ganz in Ruhe zu tun, eins nach dem anderen. Er hatte das nie als Rat begriffen, nur als Redensart: Eins nach dem anderen — bis zur Mitternachtsstreife würde ausreichend Zeit dafür sein.

Über dem Wasser gab es noch Licht. Ein heller, fast weißer Streifen, umschlossen von Dunkelheit.

«Es ist schon spät.«

«Entschuldige bitte, vielleicht ist es das letzte Mal.«

«Vielleicht, vielleicht nicht. Wenn etwas schwierig wird für dich, kommst du zu mir, nicht wahr?«

«Ich hatte Pech, mein Alterchen, einfach Pech«, murmelte Ed und tastete dabei in die Höhle. Aus seinem Fuchs war ein hartes, borstiges Stück Leder geworden. Vorsichtig schob er den Kadaver zur Seite und begann eine ausreichend große Kuhle zu graben.

Eine Woche vor dem Tag der Insel hatte Losch die Mappe mit den Gedichten im Keller versteckt, vorsichtshalber, wie er sagte. Es waren vierzig, vielleicht fünfzig Gedichte — Krusos Band.

Sorgfältig ebnete Ed das Lager wieder ein und zog den Kadaver zurück an seinen Platz. Noch einmal die Taschenlampe. Sein Fuchs war nur noch eine Stiefelsohle.

«Und die Karte, du Held?«

Ed starrte in die Höhle.

«Was sind ein paar Gedichte gegen die Karte, die Karte der Wahrheit?«

Bis zur Strahlenstation brauchte er fast eine Stunde. Er war noch nicht kräftig genug für diesen Marsch, aber es tat gut, draußen zu sein, sich zu bewegen, im Freien zu gehen, die kühle Nachtluft im Gesicht. Er musste aufs Hochufer zurück und zwischen den Hügeln hinunter zum Bodden. Die Verletzung unter dem Auge begann zu pulsieren, aber er hatte keine Angst mehr, entdeckt zu werden. Er gehorchte jetzt älteren Regeln, jener ersten, im Grunde kindlichen Überzeugung von Freundschaft und dem, was sie beinhaltete, wenn sie echt und einzig war.

Die Tür zum alten Trafo, den Kruso den Turm genannt hatte, war unverschlossen. Ed bemühte sich, die herabhängenden Wolldecken von seinem Gesicht fernzuhalten, und fand schließlich den Aufstieg. Ein paar Schubfächer standen offen. Die Karte war verschwunden.

«Zu spät, zu spät!«

Fast wäre Ed in die Knie gegangen.

«Keine Angst, ich sitze hier nur, junger Mann.«

Mit ausgestreckter Hand wehrte die Gestalt im Lehnstuhl Eds Lichtstrahl ab.

«Bitte …«

Auf dem Schoß des Fremden hockte eine Katze, deren Schädel so groß und schwer war wie der eines Kindes. Krusos Katze. Ihre breiten, flächigen Tatzen umfingen die Knie des Mannes.

«Sie haben viel geseufzt, als ich Sie das letzte Mal sah, wie geht es Ihrem Gesicht?«

«Gut«, antwortete Ed mechanisch, mehr brachte er nicht heraus. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er begriff, dass es Professor Rommstedt war, der ihm gegenübersaß, Krusos Stiefvater, Leiter der Strahlenstation.

«Ich habe ein paar Aufnahmen von Ihnen gemacht, wie Sie vielleicht wissen.«

Ed versuchte, sich zu sammeln. Der Professor streckte Ed eine Hand entgegen. Rasch trat Ed auf ihn zu. Der Mann war groß, selbst im Sitzen. Die Katze riss ihr Maul auf.

«Das Bild, ich meine die Aufnahme, soll sehr gut geworden sein, sagt die Inselärztin. «Jetzt schwieg der Professor in seinem Stuhl, und der halb gestotterte Satz hallte nach, so lange, bis seine Belanglosigkeit offenkundig war.

«Das Bild, ja — ein Bild ist wohl das Allerwenigste hier. Aber lassen wir das. Es freut mich, dass Sie gekommen sind. Es freut mich, dass Aloscha einen wirklichen Freund hat auf der Insel.«

Ed wollte etwas erwidern, aber Rommstedt wehrte ab. Er bat ihn, die Kerze auf Krusos Schreibtisch anzuzünden.

«Ja, sie waren schon da, schneller als ich sogar. Aber was kann das schon heißen? Vermutlich sind sie immer da, wissen alles, sehen alles, wer weiß. Das erste Mal kamen sie nach Sonjas Tod, oder sagen wir lieber, nach ihrem Verschwinden. Aloscha war neun Jahre alt. Damals haben sie jeden von uns in die Mangel genommen, auch den völlig verstörten Aloscha. Lange hat er kein einziges Wort gesprochen.«

Der Professor verstummte. Vielleicht stand er unter Schock. Er schien auf Ed gewartet zu haben oder auf irgendjemanden. Er trug eine schwarze Joppe und eine braune, ausgebeulte Manchesterhose. Er sah aus, als hätte er eben noch Gartenarbeit verrichtet. Ed konnte sein Gesicht nicht erkennen, nur kurzes silbergraues Haar.

«In jedem Sommer hatten die beiden eine eigene Sandburg, unten am heutigen Kellnerstrand, mit Steinen beschriftet, weiße Steine, schwarze Steine, Kiesel und Basalt, eine Art Mosaik, mit dem sie tagelang beschäftigt waren, ein wahres Kunstwerk. Es enthielt ihre Geburtsdaten und ihre Namen, Sonja und Aloscha — Aloscha von Alexander, seine Mutter hat ihn so genannt.«

«Die Artistin.«

«Sie waren am Strand. Und Aloscha hat gesehen, wie seine Schwester ans Wasser gegangen ist, aber mehr sicher nicht. Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg — das hat sie zu ihm gesagt. Dass er dort so lange auf sie warten soll, in ihrer Sandburg. Nichts weiter. Irgendwann später erzählte er uns das, unter Tränen. Er hat gewartet, aber sie kam nicht zurück. Und im Grunde tut er das bis heute, er rührt sich nicht weg, er wartet auf sie. Falls Sie verstehen, was ich meine?«Rommstedt beugte sich vor, und Ed sah feine Büschel grauer Haare, die dem Professor aus den Ohren wuchsen; als streckte das Hören seine Fühler in die Dunkelheit.

«Losch hat nie darüber gesprochen.«

«Ich weiß. Losch von Aloscha, oder? Losch und Ed, diese beiden.«

Ed fragte sich, ob Kruso von ihm gesprochen, ihn gelegentlich erwähnt hatte in seiner Rede — Ed wie Äh, nicht mehr als ein Füllsel.

«Nach dem Tod ihrer Mutter hatte mein Schwager die Kinder bei uns in Pflege gegeben. Sie waren unzertrennlich. Aber eigentlich war es noch mehr. Sie waren füreinander geschaffen, ihre ganze schwierige Geschichte, ihr Unglück hatte sie füreinander bestimmt. Sie konnten nicht ohne einander.«

Ed lehnte an Krusos Schreibtisch, auf dem ein paar Bücher standen. An den Staubrändern war zu erkennen, dass mehr als die Hälfte der Titel fehlten. Unter den übriggebliebenen erkannte er Benno Pludra, Lütt Matten und die weiße Muschel. Außerdem Camus, der braune Reclam-Band mit der Pest. Nichts Verbotenes, kein Westbuch.

«Eigenartig war«, fuhr der Professor fort,»dass am Tag ihres Verschwindens zwei oder drei Graue draußen patrouillierten, nicht weit vom Ufer, näher als üblich jedenfalls, erstaunlich nah, wie es die Inselleute später erzählten. Eigentlich kümmert sich niemand um die Schiffe. Ihr Anblick ist Alltag, im Grunde sind sie unsichtbar. Mit der Zeit nimmt man schließlich auch die Grenze kaum noch wahr.«

Es war still im Turm. Die Kerze flackerte, und der Lehnstuhl des Professors entfernte sich, langsam, er trieb ab, ins Nichts.

«Nur mit Mühe bekamen wir Aloscha aus seiner Sandburg heraus. Er stand dort wie angewurzelt und starrte aufs Meer, er zitterte wie Espenlaub. Nachts lief er zurück an den Strand, dieselbe Stelle. Draußen lagen noch immer die Grauen vor Anker mit ihren Lichtern. Er schrie, und wir mussten ihn tragen. Er schlug um sich, und wir hatten schließlich keine andere Wahl, als ihm Hände und Füße zu binden. Wir haben ihn so in unsere Karre gesetzt und nach Hause geschoben, über die halbe Insel. Er schrie den ganzen Weg, ich glaube, es gab keinen, der uns nicht gesehen hat damals.«

«Wer sind die Grauen?«, fragte Ed.

«Die Patrouillenboote. Grenzkompanie. Ich dachte, Sie wären eingeweiht. Von damals an jedenfalls führte Aloscha eine Art Logbuch. Bis sie wiederkamen und alles konfiszierten, haben wir nicht verstanden, was er da eigentlich tat, aber es wäre mir nicht im Traum eingefallen, sein Tagebuch zu lesen. Er sprach kaum noch mit uns, noch weniger mit seinem Vater, dem General, wenn er zu Besuch kam. Ich glaube, er hasste ihn, aber er hasste auch uns, seitdem wir ihn wie ein Stück Gepäck vom Strand abtransportiert hatten. Aber bitte entschuldigen Sie, natürlich kann ich nicht wissen, was Aloscha, ich meine Losch, bereits erzählt hat von — diesen Dingen. Ich meine, von seiner Schwester.«

«Ich habe ein Foto, es ist …«

«Ein Foto von Sonja!«, fiel ihm der Professor ins Wort,»das ist gut, ja, das ist sehr gut. Ausgezeichnet. «Er war überrascht und versuchte, es zu verbergen.

«Wie dem auch sei. Sieben Jahre lang hat er jede ihrer Bewegungen notiert, Küstenwache, Kanonenschiffe, Minensucher, jedes Manöver. Typ, Zeit, Kurs des Bootes und immer, ob es Lichter gab auf den Schiffen, welche Lichter, welche Farben. Mehrmals haben sie uns gefragt, warum er jedes grüne Licht extra eingekreist habe. Bis zuletzt konnten sie sich das nicht erklären. Heute bin ich sicher, dass er darin ein Zeichen sah — Sonja, die ihm Zeichen gab. Er glaubte an das grüne Licht.«

Ed dachte an Loschs Frage. Ob er Sonja gesehen hätte,»da draußen«.

«Natürlich verurteilten sie ihn. Verdacht auf Grenzdurchbruch, Republikflucht, Landesverrat, wie auch immer sie es gerade nannten; er war siebzehn geworden in diesem Jahr. Einer sagte, wir hätten eine Sippe von Grenzverletzern großgezogen. Aus ihrer Sicht sind wir es, die verletzen, die Haut der Heimat, ihren empfindlichen Leib. Wie schlechtes Blut, eine Beule voll Eiter, die plötzlich aufbricht, rauswill.«

Ed fragte sich, ob er dem Professor vom Kreishygieneinspektor erzählen sollte, aber das Katzentier schüttelte langsam den Kopf. Es war eine andauernde und seltsam wohlige Verneinung, die Ed vollständig gefangennahm. Er dachte an Matthew. Seine Wunden summten, und er wäre gern auf der Stelle in den Schlaf gesunken.

«Ich habe ein paar Entdeckungen gemacht, auf dem Gebiet der Strahlenphysik, wie Sie vielleicht wissen oder es vielleicht sogar fühlen können, wenn ich das einmal so sagen darf. Nach der Gefangennahme unseres Stiefsohnes war damit Schluss. Alle Experimente wurden eingestellt und meine Mitarbeiter nach Berlin versetzt. Die Apparaturen sind noch da, gut gepflegt. Alle Jubeljahre ein Fall wie Ihrer, dann schalte ich mein Kraftwerk ein, und, ja, Sie waren schon ein besonderer Patient, Herr Bendler, ein großer Seufzer vor dem Herrn, wenn Sie erlauben.«

Rommstedt lachte leise.

In der Verbitterung des Professors war ein pechschwarzer Ton hörbar gewesen, und Ed nahm sich vor, darauf zu achten.

«Was geschah mit den Tagebüchern?«

Die Frage schien dumm und überflüssig.

«Aloscha kam in den Jugendwerkhof, nach Torgelow. Eigentlich ein Gefängnis, zu Nazizeiten hat man dort Deserteure untergebracht. Nach einem halben Jahr entließen sie ihn, relativ schnell. Nicht jeder hat einen General zum Vater. Auch wir haben etwas getan, aber das tut nichts zur Sache. Es hieß, er solle sich bewähren, in der sozialistischen Produktion und so weiter. Seltsamerweise schlug er selbst den Klausner vor. Schon als Kind ist er oft dort oben gewesen, die Saisonkräfte mochten ihn. Ab und zu half er, Gläser einzusammeln und Tische abzuwischen, dann gaben sie ihm Eis oder Limonade. Er hat viel Zeit dort verbracht, er war ihr Maskottchen, und die meisten kannten seine Geschichte. Von damals ist freilich niemand mehr da. Gute Leute, verstreut in alle Winde. Sei's drum. Man bot ihm also eine Ausbildung an, zum Facharbeiter für Gastronomie. Aber Aloscha lehnte ab, er wollte einfach in den Abwasch, als Ungelernter. Am Ende waren sie einverstanden. Ich glaube, sie sahen es als eine Art Buße, der Klausner als Arbeitslager, der Abwasch als Sonderbehandlung, Strafarbeit, vorübergehend. Etwas, das ihm die Flausen austreiben würde, eine gute Voraussetzung, um später einmal etwas zu werden, ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft, ›Meine Hand für mein Produkt‹, etwas in diese Richtung. Aus heutiger Sicht eine absurde Idee. Aber damals war es noch anders hier, das Land war anders, die Insel war anders. Es gab keine Gesellschaft jenseits der Gesellschaft, es gab Saisonkräfte, gut, aber nicht diese Kaste und ihr Gewese, manches ist einfach geschmacklos, nicht wahr?«

«Ich habe kaum teilgenommen, bisher.«

«Haben Sie nie eine Nacht auf dem buddhistischen Baum zugebracht?«

«Losch meint, das sei nicht unbedingt nötig.«

«Nicht unbedingt nötig, sehr gut! Seit zehn Jahren ist dieser kluge junge Mann im Abwasch, der Schädel vernebelt, die Hände aufgeweicht und ohne Produkt — nicht unbedingt nötig, oder?«

Das Katzentier rieb seinen großen runden Kopf zwischen den Oberschenkeln des Professors. Diesmal war es ein Nicken, ein hypnotisches Nicken.

«Im Winter führe ich ihn offiziell als Hausmeister der Strahlenstation. Absurd, wenn man bedenkt, dass er sich seit seiner Rückkehr aus Torgelow weigert, das Haupthaus zu betreten. Damals hat er diesen Backsteinbau bezogen, den alten Trafo, schon vor unserer Zeit das Zwischenlager für Laborabfall; er nennt ihn den Turm. Im Winter wird es eisig hier, aber das stört Aloscha nicht, es ist seine Festung. Er sitzt am Fernrohr, schreibt, schmiedet irgendwelche Pläne.«

«Es gibt Leute, die behaupten, sie hätten Sonja noch gesehen, am selben Tag, auf der Straße, im Dorf.«

«Auf der Insel wird viel geredet, junger Freund. Über Sonjas Verschwinden kursieren zwanzig verschiedene Gerüchte, und in jedem langen Winter kommt eines hinzu. Vergessen Sie nicht, dass Aloscha inzwischen sehr bekannt ist hier, vielleicht der bekannteste Mann auf der Insel. Nach Torgelow hat er plötzlich mit allen möglichen Leuten gesprochen. Etwas muss er mitgebracht haben von dort, etwas, das ihn antreibt seitdem. Mit uns spricht er nur, wenn es um Schlafplätze im Haupthaus geht, schwarze Quartiere für die armen Schlucker, die ohne alles auf die Insel kommen, nur mit sich und ihrer Sehnsucht nach Weite und Ferne im Gepäck, jedes Jahr werden es mehr … Sei's drum. Und, ja, sicher will er nur Gutes. Aber sie nutzen ihn aus, alle! Trotzdem versucht er, jeden von diesen versoffenen Esskaas zu gewinnen für …«

«… die Organisation, die Rettung der Schiffbrüchigen, ihre Erleuchtung und …«

«Gott, ja, das sind seine Begriffe — Obdachlose, Schiffbrüchige, die geheiligten Plätze, all das. Mit Piraten und Schiffbrüchigen hat Aloscha schon als Kind gespielt, unentwegt. Vielleicht, bitte entschuldigen Sie, vielleicht wäre es gut, wenn Sie etwas aufmerksamer, etwas genauer wären in Ihren Beobachtungen und etwas vorsichtiger in Ihren Schlussfolgerungen.«

«Ich habe immer zu Losch gestanden, an seiner Seite, das heißt …«

«Sicher, sicher, Sie verstehen mich falsch. Ohne Zweifel hat es Aloscha sehr gut getan, dass Sie … ihm beigestanden haben. Ich bin ganz überzeugt davon, dass er in Ihnen einen Gefährten sieht, vor allem — wie soll ich sagen — in seiner Verzweiflung. So besessen, aber im Grunde verwirrt er damals Tagebuch geführt hat, so gewissenhaft und verblendet nahm er später in Angriff, was er inzwischen, wie ich hörte, den Bund der Eingeweihten nennt. Eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in diesem Sinn; ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken. Keine kleine Illusion, eher eine ausgewachsene Wahnvorstellung, die mich sehr traurig machen muss, wie Sie vielleicht begreifen.«

«Sie täuschen sich.«

«Aloscha ist ein sehnsüchtiger Junge. Sind Sie das auch, Edgar?«

«Losch hilft!«Eds Gerechtigkeitssinn, glutheiß.

«Seine Verzweiflung, seine Verbissenheit, das alles war einmal Sehnsucht, seine Sehnsucht ist einfach zu groß.«

«Losch kümmert sich um jeden! Das ist es, was er tut. Er ist mutig und voller … Er hat mich aufgenommen, und nicht nur mich, er hat mir vieles beigebracht. Sicher ist nicht alles sofort zu begreifen, und manchmal war auch ich zu schwach oder einfach zu ängstlich und …«

«Und jetzt sind Sie sein Freund. Jetzt wollen Sie ihm helfen. Das ist verständlich und ganz wunderbar, und nur deshalb spreche ich mit Ihnen, nur deshalb erzähle ich Ihnen diese Geschichte, anstatt Sie des Hauses zu verweisen, anzuzeigen oder«— er strich der Katze zärtlich über ihren großen Schädel — »Ihnen dieses Baby auf den Hals zu hetzen.«

Der Professor lächelte, und für einen Augenblick sah Ed eine Reihe schwarzumrandeter Zähne. Verstrahlt, dachte Ed.

«Wir müssen vertrauen, das Beste hoffen. Ich wollte Sie lediglich ein wenig unterrichten, ein wenig warnen vielleicht. Die Karte ist weg, wie Sie sehen. Und auch Aloscha wird lange nicht wiederkehren, wenn überhaupt. Was hielten Sie von einem kleinen Streifzug durch die Station?«



Das alte Leben

18. August. Eine Weile stand er so und sah auf Speiches Tasche. (Verhaftet.) Dann verschloss er den Schrank, setzte sich auf sein Bett und zog seine eigene Tasche darunter hervor. (Lange nicht, wenn überhaupt.) Das Seitenfach mit Reißverschluss, wo er seinen Hermes-Taschenkalender aufbewahrte: Seit Wochen hatte er nichts mehr eingetragen, sein Tagebuch war eingeschlafen. (Torgelow.)

Eine Weile blätterte er darin herum. Blaue Linien, leere Tage. Das raue Papier, das ein pelziges Gefühl machte im Mund. SA für Sonnenaufgang. SU für Sonnenuntergang. Und die alten Termine. 23. April: Konsultation bei Professor W. zur Romantik-Prüfung; Einsprechthema Novalis, 1.) Die» Enzyklopädie«, Versuch einer Neubestimmung der Welt und ihres Wissens, 2.)»Die Bedeutung der Illusion für die Geschichte unseres Willens«, 3.)»Europa und die Christenheit«. 8. Januar: Ein Film über Max Ernst im Filmclub 66. Was sich ihm eingeprägt hatte, waren die Bilder vom Hausbau in der Wüste, Sonne und Holz, das eigene Haus, wie der Maler es plante und baute und sich so eine Höhle schuf für seine Arbeit, weitab von allem, ungestört. Alle sechs Wochen ein Galerist aus New York, der nachsieht, ob inzwischen etwas fertig geworden ist. 3. Mai: Dissertationsverteidigung Knut Mewes, ein alter Freund von G. Ein paar Mal war er bei ihnen in der Wolfstraße gewesen, ein schwerer Mann mit großen Augen, rauschebärtig, familiär, Wielandforscher. 2. Februar: Kohlen. 14. März: Tierarzt. 25. August: Yatra. Ein Film? Indische Musik? Etwas jedenfalls, das er eingeschrieben und geplant hatte, Monate vorher. Wie die Fahrt in den Bungalow seiner Eltern (zum Arbeiten womöglich), Eintrag vom 30. Juni, lange vorbei. Er hatte die Zugzeiten notiert, von Halle bis Zeitz, von Zeitz bis Meuselwitz, der Bus von Meuselwitz nach Kayna, zur Not zu Fuß, es war nicht weit.

Und so fort.

Es war, als blättere er in den Terminen eines Toten. Dann wieder, als wäre sein altes Leben noch da — ein seltsames Gefühl. Er hatte sich davongestohlen, aus dem für ihn vorgesehenen Leben. Jetzt schien es ihm fremd, aber noch immer für ihn bestimmt. Er fragte sich, ob es dort auf ihn wartete, im Zimmer mit den zwei schäbigen Sesseln, dem Vertiko und der Zitronenpflanze.

Einsam und zurückgeblieben, dachte Ed. Das alte Leben, an den Ofen gelehnt. Da stand es herum, ganz allein, nur für sich. Welche Kränkung.

Er blätterte weiter und begann zu zählen: Achtundsechzig Tage seit seiner Ankunft auf der Insel. Achtundsechzig Tage. Keine Jahre. Obwohl es doch Jahre waren, zweifellos.

Er dachte nicht so, aber irgendwann begann er, die Tage bis zum Rückmeldeschluss für das neue Semester abzuzählen. Er rechnete nach. Bis zum Ende des alten hatte er nur drei Wochen gefehlt, nicht mehr. Er konnte krank gewesen sein. Sicher, er war nicht krankgeschrieben gewesen. Aber die besonderen Umstände, sein labiler Zustand, irgendein Attest vielleicht, psychische Probleme.

Er hatte begonnen, an G. zu denken.

Er konnte wieder an sie denken, ohne Trakl und das. Er sah ihre zum Schreiben geballte Faust und das kleine lachende Tier (ähnlich einer Maus), das sie mit Schwüngen und Punkten einzeichnete in ihre Unterschrift, wenn sie ihm eine Nachricht hinterließ.»Komm nach der Demo ins Corso. Freu mich auf Dich!«Darunter die Maus. Es war der 1. Mai, Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, der schöne freie Nachmittag nach dem Marschieren und ihre Tradition: Erst Café Corso, dann die Gosenschänke.

Ich hatte psychische Probleme, formulierte Ed. Es hörte sich glaubhaft an.

Krombach fiel ihm ein.

Gesund also, wirklich gesund?

Dann seine Lüge.

Er tat nur so. Er hatte verschwinden, im Grunde sich selbst zum Verschwinden bringen wollen. Unmöglich in einem Land, in dem doch vermutlich alle Stellen auf irgendeine Weise in Verbindung standen, Universität, Meldestelle, Kreishygienekommission? Aber nicht der Klausner, dachte Ed, nicht die Arche! Er schüttelte den Kopf, aber sein Kopf war immer noch schwer, und ihm wurde schwindlig davon.



Der eigene Ton

SA 4.49 Uhr. Als er aufbrach, war es noch dunkel. Er durchquerte den Wald und betrat den Panzerplattenweg. Durch die weichen Sohlen seiner Wildlederschuhe empfing er die Zeichen. Es war, als würde er wieder auf den Füßen seines Vaters stehen und sein Vater schritte voran, das alte Spiel, Sonntagmittag, wenn er das Üben überstanden hatte. Sie begannen nach dem Frühstück, gegen neun. Gegen zehn die ersten Tränen. Ed verlor die Fähigkeit, zwei plus zwei zusammenzuzählen. Dann das Schlimmste: der Beschluss seines Vaters, ihm das Fach Mathematik noch einmal von vorn, von allem Anfang an, zu erklären.»Was willst du einmal ohne die Grundlagen tun, ohne das, worauf alles aufbaut?«Was folgte, waren Ungeduld, Jähzorn, ein Rauschen im Kopf. Der Blick aus dem Augenwinkel auf die Stubenuhr. Irgendwann musste es vorbei sein. Dann war es vorbei. Sein Vater zog ihn hoch, drückte ihn an seine Brust und stellte ihn auf seine Pantoffelfüße. Mit großen Schritten gingen sie (Ed hielt die Arme um die Hüften seines Vaters geschlungen) über den orangefarbenen Teppich zum Balkon und zurück bis zur Schlafzimmertür, hin und her, mit großen Schritten gegen das eigene, innere Gehen. Für jeden Schritt musste der eigene tief im Körper verankerte Richtungssinn neu preisgegeben werden: Widerstand, Aufgabe, Erleichterung, in jedem Schritt, und ein Jauchzen — schließlich war es ein Spiel … Sich gehen lassen, dachte Ed.

Niemand schien ernsthaft in Betracht gezogen zu haben, dass er die Insel verlassen könnte.

Tatsächlich hatten ihm weder der Inselpolizist noch der Kreishygieneinspektor etwas mitgeteilt, das ihn zum Bleiben verpflichtet hätte, irgendetwas, aus dem hervorgegangen wäre, dass er unter Arrest stand. Er war verdächtig für sie. Und er war krank. Und er gehörte zum Klausner, praktisch für immer. Etwas machte sie sicher. Vielleicht sein Gesicht. Aber die Wunden verheilten, obwohl er noch immer wie ein Gezeichneter aussah. Als hätte ich kein eigenes Leben, dachte Ed.

Wenn er flacher und härter auftrat, konnte er die Prägungen in den Panzerplatten spüren. Einige, die nach Eds Verständnis den Gütegrad des Betons anzeigten, andere waren Hieroglyphen ähnlich, Schrift aus Pyramiden, altägyptisch, aztekisch, sumerisch vielleicht.»Sie befreien uns von aller Schwere. Wenn du sie richtig triffst, entheben sie dich, Herz und Seele, von der Last ihres Daseins«, hatte Kruso gesagt und war schneller geworden. Sein hüftsteifer Gang auf den Zeichen. Das starre Quadrat, in dessen Mitte Krusos Gemächt — Ed dachte das Wort, und er hatte es vor Augen, im Zentrum der Bewegung. Es ging bergab, am Großen Inselblick vorbei. Es war jetzt ein Lauf, ohne Anstrengung, ein leichtes Springen, mit jedem Schritt über zwei, drei Platten, von Zeichen zu Zeichen. Jedes Auftreffen der Sohle auf dem Boden sprengte etwas in Ed. Nach fünfzig Metern war er befreit vom Gefühl der Peinlichkeit: Zwei erwachsene Männer, die wie Kinder den Berg hinunterrannten.»Komm, komm!«, brüllte Kruso und wurde schneller. Ed spürte das Federnde. Ihr raumgreifender Lauf. Vor ihm die Insel, langhin gestreckt, und er, der ansetzte zum Überflug. Ein Heben und Senken der Welt, auf und ab, sein Rückenmark schmolz und begann zu fließen, ein Allmachtsgefühl. Es strömte von hinten in ihn ein und füllte ihn aus. Er jauchzte. Er sprang und jauchzte, er konnte nichts dagegen tun.»Dawai, dawai«, brüllte Kruso, Land und Wasser waren eins. Ed sog die Meeresluft ein, den Geruch der Insel. Er lief durch die Luft, wie in den Träumen.

Fünfzehn Minuten bis zum Hafen. In jedem Fall war damit zu rechnen, dass sie die Schiffe überwachten. Zunächst versteckte er sich hinter den Resten der Hafenlatrine, einer vernagelten Baracke aus lange vergangenen Tagen. Er schob seine Tasche ins Gebüsch und setzte sich darauf. Er war jetzt selbst das Zentrum der Niederlage, er ganz allein.

Bald wurde es hell, und die ersten Fahrgäste trafen ein. Nur Einheimische benutzten die frühe Fähre, Leute, die auf dem Festland arbeiteten oder einkaufen wollten. Man wechselte einen Gruß, man kannte den Kapitän. Ed beneidete die Insulaner um ihr karges Miteinander, das kaum aus Worten, nur aus Gesten bestand. Ein kurzes Nicken, eine unverständliche Wendung, Ausdruck ihrer Abwehr gegen die Unzahl von Fremden und ihre plappernde Invasion, jene dem Norden grundfremde Kakophonie, von der die Insel überschwemmt wurde in jedem Sommer. Eine Grenze auch für die Esskaas mit ihrem haltlosen Gerede über die Insel, das Meer und das Leben. Selbst auf vollbesetzten Schiffen erkannte man die Eingeborenen sofort. Sie erschienen vollkommen unempfindlich gegen das Getöse ringsum, als hätten sie ihr Dasein endgültig abgedichtet, ja, als wären sie geimpft und für immer immun gegen jenes abscheuliche Wesen namens Feriengast. Die Welten vermischten sich nicht. Nur jemand wie Kruso verkehrte in beiden Sphären … Verhaftet, dachte Ed. Lange nicht, wenn überhaupt. Torgelow.

Die kurze Gangway, die aus Brettern und einem Eisenrohr als Geländer bestand, wurde aufs Schiff gezerrt. Ed rappelte sich, der Riemen seiner Reisetasche schnitt in die Schulter, da entdeckte er sie. Das Tresenehepaar. Mit einer Karre voller Gepäck. Er zweifelte noch, etwas schien fremd in ihrer Haltung, als bemühten sie sich, es nicht wirklich zu sein — und vielleicht waren sie es nicht? Ed zögerte. Noch einmal schob er seine Tasche ins Gebüsch und schlug einen Bogen — zurück auf den Weg Richtung Hafen.

Das Tresenehepaar. Zwei Sekunden voller Freude. Wie man unvermutet einem Bekannten begegnet und ihn in der Überraschung herzlicher begrüßt als angebracht. Schon im nächsten Moment verschloss sich Karolas Gesicht; Rick blickte angestrengt zur Fähre hinüber.

Rasch hatte Ed erklärt, dass er nur einen der Klausnerkarren abholen wollte im Hafen — für den Brottransport. Dabei fiel sein Blick auf die Karre mit dem Gepäck und der rot lackierten Aufschrift» Zum Klausner«, und wie rot lackiert stand auch seine Lüge im Raum.

«Gut, warte«, sagte Karola kurz und begann das Gepäck auszuladen, auf ihre energische Art.

«Nein, bitte, es gibt doch noch andere, andere Karren, hinten, auf dem Karrenplatz«, beeilte sich Ed zu versichern, das Blut stieg ihm zu Kopf, aber dann, was sollte er sonst tun, half er beim Entladen. Und schließlich, als sei er nur dazu aufgetaucht, half er auch, die Sachen im Bug der Fähre zu verstauen. Der Spalt zwischen Pier und Bordwand, die Zugbrückenangst. Der Moment, sich anzuvertrauen, war vorüber. Kein Wohin. Eine der Botschaften oder das Ungarische-Grenze-Rätsel? Keine Frage.

Das Gepäck: Es war alles. In einer Tasche klirrten Flaschen, aus einer anderen ragte eine mit Muscheln und Bernsteinsplittern beklebte Nachttischlampe. Etwas Großes, Unabsehbares hatte sich verschoben. Und es verschob sich noch immer, unaufhaltsam, unentwegt, als wären sie Teil einer Drift auf riesigen Schollen (ein tiefes, kindliches Gefühl), und als das Tresenehepaar die Zugbrücke überschritten hatte und die Motoren anliefen und der Stahl des Schiffsrumpfes zu zittern begann, waren sie bereits weit voneinander entfernt, weiter als auf unterschiedlichen Kontinenten.

Die Schiffssirene heulte auf, und der verrückte Junge trat ins Bild; er dirigierte die Abfahrt der Fähre. Langsam löste sich das Heck des Schiffes von der Hafenkante und schob sich ein Stück ins Hafenbecken. Der Junge kreiste windmühlenartig mit seinem rechten Arm durch die Luft, und der Rumpf drehte auf Kurs. Mit einem dumpfen Wummern nahm der Dampfer Fahrt auf. Ed atmete den Diesel, sein blauschwarzes Gift, das die Schleimhäute beizte.

Karolas Lippen blieben schmal, als hätte sie beschlossen, kein Wort mehr zu verlieren. Weder über den Klausner noch über ihre verschworene Gemeinschaft, für die das Tresenehepaar wie Eltern waren. Vielleicht misstraute sie ihm, sicher sogar. Was sollte sie auch glauben über sein plötzliches Erscheinen im Hafen. Brot holen, obwohl er an jedem Morgen um diese Zeit im Keller saß und heizte. Brot holen, obwohl Bäcker Kasten die Brote ohnehin nicht vor acht Uhr … Erst jetzt bemerkte Ed die Tränen, und schließlich öffnete sich Karolas Mund. Der Diesel heulte auf, und ihn erreichte nicht mehr als die Bewegung ihrer Lippen.

Ed starrte sie an, er hob den Arm, ungläubig, zögernd. Versehentlich war er auf der falschen Seite des Abschieds gelandet.

«Wann denn sonst, Ed.«

Hatte sie das gesagt?

Ja, ohne Zweifel, das hatte sie gesagt.

Oder doch etwas anderes?

«War doch schön, Ed «oder» Wehr dich sanft, Ed «oder» Wen du willst, Ed«.

Wehr dich sanft. Dabei hatte sie eine Geste gemacht, auf Ed hin, als wollte sie ihn streicheln, und dann, als wollte sie auch den Dornbusch streicheln, das Hochland und schließlich die gesamte Insel. Streicheln auf die zärtlichste Art, die auf diese Entfernung möglich war. Eine Weile hatten sie und Rick noch an der Reling gestanden, dann waren sie verschwunden.

Ed konnte noch nicht glauben, dass sie gingen. Noch weniger ertrug er, wofür sie ihn gehalten hatten. Verrat auf allen Seiten. Die Vorstellung des Tresens ohne Tresenehepaar.

Herden von Tagesurlaubern zogen vorüber. Abfahrt der nächsten und der übernächsten Fähre, ohne Ed. Der Kutscher Mäcki und sein Bärenpferd, das ihn fragend ansah. Der verrückte Junge mit offenem Mund. Er saß auf einem Plastikstuhl an der Hafenkante, er hatte die Beine übereinandergeschlagen und den Oberkörper zur Seite gedreht, als hätte ihn plötzlicher Ekel ergriffen. Dabei ging es ihm nur um den Wind; er neigte seinen Kopf, um das Hereinwehen des Windes in seinen Mund zu erleichtern, er grunzte und röhrte in den Wind und stieß Möwen- oder Babyschreie aus, lang und anhaltend. Im Vorübergehn entdeckte Ed, dass er kein Junge mehr war, kein Kind, schon lange nicht mehr. Sein Gesicht war alt.

Da seine Verlegenheit nicht nachließ, spielte er weiterhin den Brotabholer. Er zerrte seine Tasche aus dem Gebüsch und warf sie in die Karre. Zu spät fiel ihm die Flasche ein — Blauer Würger, unversehrt. Er drehte den Schraubverschluss und lauschte auf das feine Knacken. Er trank und hörte das Pfeifen — gegen den Westmond.

Die Tür zum Hitthim war mit einer Sperrholzplatte verkleidet. Er fragte sich, ob sie zu Bruch gegangen war im Kampf. Und wie René und er den langen Weg von dort bis zum Hafenbecken zurückgelegt hatten; er erinnerte sich nicht. Er blickte sich um, als könnte es noch Spuren geben. Als könnte der Eisverkäufer hervortreten hinter der Kastanie, die auf halbem Weg zwischen Hitthim und Hafenbecken stand, der einzige Baum weit und breit. Tut mir leid, aber du weißt … Ein Büschel Haare in der Hand.

Hinter dem Tresen der Inselbar erkannte Ed den Umriss Santiagos; er blickte zu Boden, umkurvte ein Sandloch und war vorbei. Im Schaukasten des Hauptmannhauses brannte noch Licht, obwohl die Sonne inzwischen hoch am Himmel stand. An Stelle des Hauptmanngedichts hing die Ankündigung einer Lesung des Schriftstellers Rainer Kirsch hinter dem Glas; sein neuer Band wurde vorgestellt. Das Blau des Aquarells von Ivo Hauptmann war ausgeblichen, die Reißnägel hatten Rost angesetzt. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Ed dem Maler Ivo Hauptmann nah, vielleicht nur, weil er es geschafft hatte, ein Sohn zu sein.

Die Karre ließ Ed am Weg zurück und stapfte ein Stück den Kellnerstrand Richtung Norden, er war vollkommen leer um diese Zeit. Er überstieg den Draht, der den Strand von der Hochwasserschutzdüne trennte. Nach ein paar Metern ließ er sich fallen und schlief ein. Noch einmal sah er die Hand, die ihn gesegnet hatte, beim ersten Frühstück. Dann die Hand Loschs auf seiner Schulter.

Als er erwachte, schien ihm die Sonne ins Gesicht; er konnte spüren, wie seine Wunden heilten. Er zog die Flasche aus seiner Tasche, trank und schlief wieder ein. Er träumte den Kameltraum, den Traum, mit dem er aufgebrochen war. Als er das zweite Mal erwachte, sah er den Klausner, die Arche. Es fehlten: René, Cavallo, Monika, Karola, Rick, Kruso und er selbst, mehr als die Hälfte der Besatzung. Er trank, aß die Zwiebel, die er sich eingepackt hatte für die Überfahrt, dazu zwei Scheiben Mischbrot. Angekurbelt vom Wind zirkelten die Spitzen des Strandhafers geometrisch saubere Kreise in den Sand. Dazu die Brandung, das leise, unablässige Rauschen, in das Eds Denken sich eingerollt hatte wie in einen warmen, schützenden Kokon.

Dann hörte er es. Das erste Mal. Mitten in ihm selbst wohnte der Ton. Ein eigener Ton, so gut wie ein eigenes Schicksal. Er musste ihm nur folgen: Zwei Wochen bis zum Ende der Ferienzeit, vier Wochen bis zum Ende der Hauptsaison, dachte Ed und schloss noch einmal seine Augen, aber nur für Sekunden.



Das Blut kommt später

Der sogenannte Capriweg verlief nah an der Abbruchkante. Er war so dicht von Bäumen und Gebüsch umschlossen, dass er nur selten den Blick aufs Meer freigab. Ed sog den Geruch des Waldes ein, der mit dem Geräusch der See eine feine, irgendwie asiatische Verbindung einging. Vor den Stufen aus Kieferwurzeln hatten sich lange Teppiche aus Tannennadeln aufgestaut, die ihm Schritt für Schritt zurückgaben, weich, federnd, als wäre das Gehen reine Gnade und als läge der Heimweg schon lange bereit: Ja, ich komme, werde da sein, im Abwasch und am Ofen, Abwäscher und Heizer, und wenn ich nur schnell genug bin, kann ich es schaffen, Teile des Ausschanks zu übernehmen, die Limonaden zum Beispiel, die Selters. Einen anderen Teil würden Rimbaud und Chris erledigen müssen, den Kaffee Rolf vielleicht. Die Eisluke bliebe geschlossen — kein Verlust.

Die Last seiner Tasche spürte er kaum. Der Horizont war weiß, wie verwischt. Im Vordergrund der Umriss eines Patrouillenboots; je deutlicher es hervortrat aus dem Nebel, umso unwahrscheinlicher erschien Ed, was er noch am Morgen vorgehabt hatte. Die Voraussetzung, die nicht ausgesprochen werden musste — jetzt erfüllte er sie. Er war nirgendwo sonst als im Klausner zu Haus.

Ihm fiel ein, wie er als Kind losgezogen war, am Nachmittag nach der Schule, allein durch den Wald bis an den Waldrand. Er hatte nie darüber nachgedacht: Sein Weg endete immer dort auf der kleinen, moosbewachsenen Böschung mit Blick auf die Felder, in denen das Ende der Welt vor sich hin wogte oder stillstand. Irgendwann war es Zeit, und er musste nach Hause zurück.

Er sammelte ein paar große Blätter, zerrte seine Hose bis unter die Knie und hockte sich in eine der Mulden. Sie erinnerten an Bombentrichter. Die Unterseiten der Blätter waren mit weißen Härchen besetzt, die sich am Anus überraschend rau anfühlten. Er musste vorsichtig sein, weil das Grünzeug leicht zerriss. Eine Weile hockte er noch, wie versteinert. Ein warmer Wind, der vom Meer her kam, spielte ihm zwischen die Beine, eine Gänsehaut zog sich bis unters Haar.

«Bin gleich so weit!«

Ed erschrak, dann erkannte er die Stimme. Es war der gute Soldat. Er kauerte dort, nur dreißig, vierzig Meter vor ihm, und versuchte, ein Feuer zu entfachen. Während er kleines Astwerk zerknickte und in eine für Ed noch unsichtbare Flamme blies, sprach er laut vor sich hin. Als handele es sich um die nächste Szene eines Schattentheaters, wurde eine zweite Figur, die man bis dahin hinter einer der hohen, dunklen Buchenstämme versteckt gehalten hatte, auf die Bühne geschoben. Sofort verschärfte sich ihr Umriss. Ohne Zweifel: Es war Kruso.

Oder nicht. Zu viel Blauer Würger, dachte Ed und blieb hocken. Das Licht der untergehenden Sonne projizierte Gestalten in den Wald, Wunschbilder und Stimmen. Ed versuchte, sich auf seine Hose zu konzentrieren: Hose, Gürtel, Hemd. Eine alles überspülende Freude hatte in ihm zu pulsieren begonnen und machte seine Hände zittrig. Er konnte nichts dagegen tun.

In der folgenden Szene verschmolz der Umriss Krusos mit dem des guten Soldaten. Ed war jetzt wie geblendet von den Sonnenstrahlen, die vom Meer her durchs Unterholz brachen. Er hörte ein Lachen, fast ein Gekicher, und dann, wie die Kruso-Gestalt etwas erklärte, auf ihre ernsthafte Weise. Dabei deutete sie auf den Stamm eines Baums, und jetzt erkannte Ed auch den Baum. Es war der buddhistische Baum, Baum der vielen Arme und Flaschen, Baum des niemals versiegenden Getränks, wie die Esskaas ihn nannten, ihr Traumzauberbaum.

Ihre Umarmung war lang, fest und voller Bedeutung. Der gute Soldat zog ein paar Flaschen unter den Wurzeln hervor. Sie stießen an, tranken, stießen nochmals an. Sie lachten wie Diebe, die einen ganz unglaublichen Coup gelandet hatten.

Eds Freude war vollkommen rein und überstrahlte augenblicklich sämtliche Niederlagen — den Verlust seines Zimmers an den Verteiler, den Verlust von C. an die Regeln, all die schlaflosen Nächte, die Wunden in seinem Gesicht. Er war erleichtert wie ein Kind, das plötzlich erkennt, dass all seine Ängste und Befürchtungen unbegründet gewesen waren. Er hatte einen Freund verloren, er hatte die Insel verloren, und jetzt erhielt er alles zurück — mit einem Schlag.

«Wie geht es dir, Losch?«

«Gut, Ed, es geht mir wirklich gut.«

«Sie haben dich …«

Mit einer einzigen Bewegung seiner Hand fegte Kruso die Frage beiseite. Sie tranken und lachten. Sie lachten! Ed dachte an Handschellen, Verhöre, eine Zelle in Rostock oder Torgelow, Folter womöglich …

Noch einmal umarmten sie sich. Sie würden reden, später, mit Sicherheit.

Ein paar Dinge konnte Ed aus Krusos großer warmer Wange lesen, und aus seiner Brust, seinem Herzschlag, in dem ihre Freundschaft und ein unbändiger Wille pochten. Rommstedt kam ihm in den Sinn, die Strahlenstation, aber dieser Moment überstieg jeden Zweifel. Wange an Wange.

«Ho-ho-ho«, machte der gute Soldat. Mit geheimnisvoller Miene zog er eine Klinge aus seinem Koppel — das heißt, genau wusste es Ed später nicht mehr, woher sie plötzlich gekommen war, diese schlechte, stumpfe, von alter Seife verkrustete Klinge.

Sie folgten Kruso ein paar Schritte Richtung Küste. Der Feuerball sank, Capri, die rote Sonne, in wenigen Minuten würde sie das Meer verschlucken.

Zuerst die Frage, an welcher Stelle sie sich schneiden wollten. Es musste eine gute Stelle sein, wie Kruso erklärte. Ed dachte bei» schneiden «zunächst an den Puls, dann an die weißen, weichen Innenseiten seiner Arme mit dem blaugrünen Delta unter der Haut. Er spürte kaum Angst, wahrscheinlich war er betrunken. Wie ein Handwerker, der ein Werkstück prüft, betastete Kruso seinen braunen, dicht behaarten Arm. Er fand einen brauchbaren Platz über dem Handgelenk,»jederzeit sichtbar, eine Narbe fürs Leben, kostbarer als Gold«— solche Dinge konnte Alexander Krusowitsch sagen, ohne dass es lächerlich wirkte.

Und natürlich machte er den Anfang, kräftig und ohne zu zögern. Zu Eds Überraschung ergriff als Nächster der gute Soldat die Klinge. Kruso ermunterte ihn, was Ed nicht verstimmte oder kränkte, wie es immerhin möglich gewesen wäre, da doch der Soldat nun plötzlich auf einer Stufe stand mit ihnen, den Gefährten, auf einer Stufe mit ihrer sagenhaften Wiederbegegnung (die Heimkehr seines Freundes, die in eins gefallen war mit seiner eigenen Umkehr — gut, dass er seine Tasche in der Mulde zurückgelassen hatte), eine Wiedervereinigung voller Glück, auf die alles, was kommen würde, bauen konnte … Ja, es war ein Sieg. Und je länger Ed darüber nachsann, umso unklarer wurde, weshalb dem guten Soldaten ohne weiteres erlaubt werden sollte, der Dritte im Bunde zu sein.

«Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«, mahnte Kruso, dann ein unverständliches Gemurmel. Tatsächlich stimmte er das Lied an, leise, fast unhörbar. Brüder zum Lichte empor. Eds Herz verstand den Hinweis. Man musste sich öffnen, zusammenstehen, gehenlassen. Und sicher gehörte der Soldat nicht zu den Finsterlingen. Kruso wusste, was er tat.

Die Klinge war fettig vom Blut des guten Soldaten. Es überraschte Ed, wie leicht sie sich bog und wie schwer sie sich halten ließ zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit Rasierklingen hatte er keine Erfahrung. Sein Vater rasierte sich trocken und hatte ihm, als er fünfzehn wurde, seinen alten Bebo Sher überlassen.

Ein Ruck — kein Blut.

Weshalb Ed noch einmal ansetzte, verkrampft wie ein Kind, das unbedingt schreiben möchte, aber das Schreibgerät ist noch vollkommen fremd. Er rutschte ab und verfehlte den vorigen Einschnitt. Vollkommen nichtig war in diesem Augenblick der Gedanke, wie gut er es in der Regel vermochte, freihändig eine Linie zu ziehen,»Gerade so, als hättest du ein Lineal benutzt, Edgar!«, hatte seine Mutter öfter ausgerufen, voller Lob, aber auf Haut war es anders. Haut gab nach, Haut wich aus.

Woran er sich später erinnerte: Dass er seine nichtigen Gedanken gern ausgesprochen hätte. Und vielleicht hatte er es sogar getan in seiner Angst, versehentlich zu viel Kraft anzuwenden und dabei, zum Beispiel, ein wichtiges Gefäß zu verletzen. Für einen Augenblick durchzuckte Ed der irrwitzige Gedanke, er könnte von innen trocken sein oder es ströme in ihm einfach nicht genug von dem Saft der Brüderschaft, der jetzt ans Licht gebracht und vorgezeigt werden musste. Sicher hatte es mit seinem niedrigen Blutdruck zu tun. Schon seit frühester Kindheit hatte man ihn daran gewöhnt, Kaffee zu trinken, nicht nur bei Familienfesten, auch an Wochentagen, Kaffee und Kuchen, jeden Nachmittag, mit den Eltern nach der Arbeit,»echter Bohnenkaffee!«, der stolze Hinweis auf die Kostbarkeit des bitteren Getränks, das man für ihn verdünnen musste mit Wasser oder Milch,»das Blut kommt später …«

«Das Blut kommt später«, flüsterte Kruso, beschwichtigend und mit Sorge im Ton, als er sah, wie Ed mit der Klinge auf der Haut herumfuhr, hektisch und nervös in dem Bemühen, den einmal gemachten Schnitt endlich zu vertiefen.

Als verglichen sie Uhren, hielten Kruso und der gute Soldat ihre blutigen Arme angewinkelt. Der gute Soldat zog etwas an den Rändern seines Schnitts, bei Kruso tropfte es einfach in den Sand; er stellte seinen Fuß darauf und bewegte ihn — als trete er eine Zigarette aus.

Plötzlich Blut.

Es schoss aus all seinen Ritzen und Schnitten, kreuz und quer, es quoll regelrecht über. Vollkommen in Rage zog Ed die klebrige Klinge noch einmal durchs Fleisch, sinnloserweise — es tat einfach gut, dieses Blut.

Die Sonne verschwand, das Meer wurde dunkel und massiv. Die Umrisse der Bäume waren jetzt greifbar. Kräftig erklang das Nachtgeräusch der Brandung und noch viel kräftiger hier oben bei ihnen. Die Insel wie ein gestrandetes Tier. Sein Atmen im Schlaf oder kurz vor dem Sterben, aus, ein, aus, ein … Ed sah ein großes chromglänzendes Stethoskop, wie es eindrang in die graue, faltige Haut und darin verschwand; dann der dumpf pochende Herzschlag: Dr.-Dr.-Dr.-Da-the … Lachhaft das alles im Vergleich zu ihnen hier oben mit den sauber blutenden Armen. Lachhaft die ganze Geschichte ihrer Jugend, so lachhaft wie das Wort Grenzverletzer, so lachhaft wie die Welt im Vergleich. Ein langes, lang anhaltendes Rollen der Brandung, und sie pressten die Arme aufeinander, die Hände zu Fäusten geballt. Ed spürte, wie ein warmer Faden Blut an seinem Ellbogen hinunterzog, und das war der Moment: Langsam glitt er heraus aus seinem Kokon, durch einen Tunnel aus Seufzern, er streckte sich, er löste sich — und gewann zwei Brüder.



Pan

Mit den Einquartierungen war es vorbei. Wie herrenlose Schafe trotteten die Schiffbrüchigen den Strand entlang. Ihre Pilgerschaft ebbte allmählich ab, trotzdem tauchten noch täglich neue Gesichter auf, um den vorgezeichneten Pfaden der Freiheit zu folgen. Immer gab es ein paar, die etwas gehört hatten über Eselställe, Kellnerzimmer oder Totengräberhütten und eine aussichtsreiche Terrasse hoch über dem Meer mit Getränken und einer warmen Suppe an jedem Tag. Einige hielten sich für ein paar Nächte am Strand. Irgendwann wurden sie aufgestöbert, dem Verdacht der Republikflucht ausgesetzt und kurzerhand zum nächsten Schiff eskortiert, nicht ohne die Drohung, dass» die Behörden sich bei ihnen melden «und» man schon bald, sehr bald, voneinander hören würde«.

Die Stimmung unter den Esskaas war gedämpft. Man war zurückgezogen, misstrauisch, sparsam in den Gesten der Verbundenheit. Ein Teil der Kaste hatte Hiddensee bereits verlassen, Richtung Süden, wie es hieß. Viel mehr wurde darüber nicht ausgetauscht, als berühre das Ganze irgendein Tabu, einer schwerwiegenden Kränkung ähnlich, wie sie Liebende erfahren, wenn ihr Verhältnis plötzlich erlischt. Dass über die neuen Ereignisse, die bei Viola inzwischen stündlich eine Rolle spielten und bereits an zweiter oder dritter Stelle der Berichterstattung standen, kaum gesprochen wurde, hatte Ed zunächst für eine Maßnahme allgemeiner Vorsicht gehalten. Erst allmählich begann er zu begreifen, dass es vor allem darum ging, an einem ganz auf die Insel und das Insulare gegründeten Vorteil festzuhalten, ein mit der Insel insgeheim verbundenes, nahezu abstammungsmäßiges Gefühl der Sicherheit und Selbstgewissheit: Man war ein Inselmensch und würde ein Inselmensch bleiben. Es ging um die Verteidigung dieser seltenen, ja, einmaligen Enklave vor den Anfechtungen der restlichen Welt mit ihren Irrungen und Wirrungen, ihren Bedrohungen und Verlockungen, ihrer ganzen Ansprüchlichkeit, Zudringlichkeit, ihrem grenzenlosen Appetit auf Inseln …

Ohne Umstände hatte Kruso den Tresen übernommen. Chris und Rimbaud gaben im Service ihr Bestes. Ed machte das Geschirr jetzt praktisch allein, er hatte die Kraft dafür, er hatte die Zuversicht. Seit seiner Rückkehr arbeitete er praktisch ohne Pause. Nach der Arbeit hockte er für eine Weile auf seinem Platz unter dem Radio, um dort ein wenig auszuruhen und an seiner Zwiebel zu nagen. Vor allem die Berichte über ein sogenanntes Picknick, ein paneuropäisches Picknick, wie es hieß, bei dem über sechshundert Flüchtlinge die Grenze zu Österreich überschritten hätten, passten sich nahtlos ein in die Bildwelt, die Ed von dieser südlichen Gegend mit ihren Büschen, Weinstöcken und einem vermutlich löchrigen Drahtzaun gewonnen hatte. Aus einer tödlichen Flucht war ein Picknick geworden; man kam mit Decken, Körben, ungarischer Salami vielleicht; Pan trat auf und musizierte europäische Weisen … Erschöpft von seinem Tag glitt Ed in diesen seltsamen Traum hinein, in dem sich eine Wand aus Stahl zuerst in einen maroden Zaun und dann in lieblich flüsterndes Schilf verwandelte.

Tagsüber waren die Ereignisse kein Thema. Allein Rimbaud, dem die Abwesenheit Cavallos zu schaffen machte (was er nicht zugegeben hätte), ließ diese oder jene Bemerkung fallen, ätzende Bonmots, Aussagen zur Lage, wie gestanzt, aber die Enden seiner Sätze vibrierten. Schon länger legte er keine Bücher mehr ins Nest, und irgendwann hatte er aufgehört, philosophische Motti auf den Speiseplan zu setzen. Stattdessen begann er, über Politik zu monologisieren, bevorzugt über Politiker des Westens. Es klang, als rezitiere er dabei aus einem zynischen Poem, ja, als sei Antonin Artaud auferstanden, um seinen fäkalischen Hohn über alle und jeden auszukübeln.

Gern beleidigte er Gäste. Er kommentierte ihr Aussehen, ihre Bestellungen, ihre, seines Erachtens, mehr als ungenügenden intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten.»Jeder nach seinen Fähigkeiten!«, brüllte er über die Tische, wenn er mit einer Trommel voller Biergläser die Terrasse betrat. Dazu sein herrischer Ausdruck. Wie ein Feldherr am Vorabend des letzten Gefechts.

Rimbauds Haar ergraute in diesen Tagen. Sein Schnauzbart war verklebt, seine Augen groß und glänzend, wenn er die zu kassierenden Beträge in die Registrierkasse hackte, aber kaum noch den Kopf hob.»Ruhm, wann kommst du …«Langsam verwandelte er sich in ein Gespenst. Wenn er die Rennbahn Richtung Abwasch hinunterstürmte und das Geschirr auf die Ablage krachen ließ, sah es aus, als müsse er sich übergeben.

Wie so oft in den letzten Tagen machte sich das Fehlen des Tresenehepaars bemerkbar; Karolas Zaubertee, das Eis, ihre kalten Fingerspitzen auf dem Rücken. Und Rick, der sich nie zu schade gewesen war, bei den Gästen für seine Kellner um Verzeihung zu bitten, alles ohne Vorwurf an die Kollegen. Nur gute Worte und väterliche Mahnung, mit der ihr alter Tresenmann die Persogläser auf dem Sprelacart des Tresens aufgereiht und den süßen, klebrigen Stoff des Trostes eingegossen hatte, bis zum Rand.

27. August. Krombach schleppte Stapel von Bettzeug über den Hof, das Gesicht in die Wäsche gedrückt. Die Reste des guten Geruchs, dachte Ed. Der Direktor hatte die Arbeit seiner Tochter übernommen und verrichtete sie wie einen Gedenkgottesdienst. Auch die Tische im Speisesaal deckte Krombach jetzt selbst ein; Brotkorb, Besteck, das Gewürzset mit dem orangen Senfbehälter in der Mitte. Wie eine Hilfskraft an ihrem ersten Tag tippelte er vor dem Tresen umher. Er füllte Salz und Pfeffer nach und rührte den Senf auf, in dessen Mitte kleine Wasserlöcher standen, während die Ränder dunkelbraun versteinert waren.

«Guten Morgen, Herr Bendler!«

Ed fuhr herum, eine Suppentasse schlug gegen den Stein des Beckens. Der Hygienekommissar hob die Hände und zeigte sein Heliomaticlächeln. Er musste über die Rampe in den Abwasch geschlichen sein. Ed versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Schwungvoll ging der Kommissar in die Hocke und stocherte eine Weile in den Abflüssen herum. Vielleicht hatten die Dämpfe des Abwaschs sein Gedächtnis gelöscht. Plötzlich sprang er auf, packte Ed am Arm und teilte ihm mit, dass er sich» nach Dienstschluss «auf der Meldestelle einzufinden hätte.

Kruso hatte begonnen, seine Streifzüge wieder aufzunehmen. Ed begriff nicht, wie er es wagen konnte, seine alten Kreise zu ziehen. Die erste Route der Ruhetage nach seiner Rückkehr glich einem Triumphzug. Fast überall wurde er herzlich begrüßt, gelegentlich auch mit großem Hallo, Getränken, Speisen, kleinen Geschenken. Im Dornbusch eine ganze Flasche Pfefferminzlikör. In der Inselbar gab Santiago ein Essen. Trotzdem fehlte es am Ende an der Bereitschaft, die alten Absprachen zu erneuern. Man wich aus, schenkte nach, erzählte Inselanekdoten. So oft ihr alter Impresario auch Anlauf nahm (auf die indirekte, vorsichtige, ehrenvollere Weise), stieß er auf Ausflüchte, Vorwände, vereinzelt auch auf ein einfaches Schweigen. In seiner Enttäuschung verwendete Kruso bald Formulierungen wie» unter allen Umständen «und» die Situation erfordert«. Je länger er sprach, umso leerer wurden die Gesichter der Esskaas.

Dabei ging Kruso lange Wege. Nach Feierabend wanderte er bis in den vergleichsweise abgelegenen Süden der Insel, wo man ihn weniger kannte, fand aber auch dort keine neuen Verbündeten. Die alte, mit den Ideen der Freiheit wie natürlich verknüpfte Begeisterungsbereitschaft, reinste Form des Inselpatriotismus, existierte plötzlich nicht mehr. Aus Krusos Sicht ein Rückfall in saisonbedingte Stumpfheit, eine Art Krankheit, ein Infekt, das Ganze ähnelte dem Verlauf einer Seuche.

Schwerwiegend war der Verdacht, den Krusos rasche Rückkehr ausgelöst hatte. Sein Ruf als Held (in Handschellen abgeführt) war fragwürdig geworden, und es gab Gerüchte.

«Kruso, ein Russe?«

«Spricht doch Deutsch.«

«Und der Akzent? Diese komischen Worte?«

«Eine Art Thüringisch vielleicht.«

«Er kommt nicht von dort.«

«Aber auch nicht von hier, oder?«

An Tagen, die Vergabe-Tage gewesen wären, saß Kruso auf der Klausnerterrasse und trank. Ein paar Esskaas kamen herauf und entschuldigten andere. Bei der Arbeit sprach Kruso jetzt vor allem mit Rimbaud, gelegentlich ging er zu Krombach ins Büro. Nachts saß er bei Ed, dessen Blutsbrüderschaftsgekritzel (sieben Schnitte) sich im Waschwasser entzündet hatte. Aber das war nicht der Rede wert, nicht vor Losch, wenn dieser ihn besuchte auf seinem Zimmer, beinah wie früher.

Ed hätte Fragen gehabt, aber Kruso war es, der ihn fragend ansah. Als wäre es an Ed, etwas auszusprechen, zu benennen, ein Verhängnis, eine unsichtbare Wunde. In der Regel bat er Ed, Trakl vorzutragen, am liebsten jene Verse, in denen die Schwester vorkam. Davon gab es viele, zwanzig, dreißig Gedichte vielleicht oder mehr. Von sich selbst trug Kruso nichts mehr vor. Er erklärte, er sei nicht mehr rein genug dafür, was auch immer das bedeuten sollte. Er sagte auch andere seltsame Dinge, nur über seine Verhaftung verlor er kein Wort. Ed beschloss, ihn nicht zu bedrängen. Nur zu Trakl forderte er ihn auf, so lange, bis sein Freund es tatsächlich versuchte.

Er schaffte vier Zeilen, dann brach er ab. Eine Weile probierte er es stumm, indem er nur die Lippen formte, dann gab er auf. Sein Gesicht entleerte sich, es verlor jeden Ausdruck. Augenblicklich waren seine Wangen zu groß und von einer säuglingshaften Konsistenz. Der Ort der tiefsten Zärtlichkeit. Für ein paar Sekunden sah Ed seinen Freund mit anderen Augen, länger ertrug er es nicht. Leise las er das Gedicht. Er tat sein Bestes, er gab sich Mühe, und nach ein paar Versen bemerkte er, dass es ihm möglich war, den Ton zu treffen. Sein Herz schlug stärker, in seiner Stimme vibrierte die Kraft, der Rhythmus, genug, die unsichtbare Wunde zu verarzten mit Versen, Versen von Schwermut und Trauer, die alles übertrafen.

Sie tranken» Lindenblatt«. Sie sprachen über Zugvögel und Vogelringe, als Kruso ihm plötzlich versicherte, dass er es nicht gewesen sei mit René. Was gewesen, fragte Ed, und Kruso erklärte, er und ein paar andere hätten ihm lediglich geholfen, im Grunde natürlich viel zu spät, und das tue ihm noch immer sehr leid. Aber jetzt gehe es Ed ja wieder gut, nach der Behandlung in der Strahlenstation. Welche Behandlung, wollte Ed fragen, aber das war nicht wichtig. Eine Röntgenaufnahme, vielleicht mehrere, egal. Er fühlte sich geborgen in der Anwesenheit seines Freundes. Bester einziger Freund. Und nun sogar ein Bruder.



Die Maschine

«Wie geht es dir?«, fragte Ed.

Die Stiefelsohle hatte ein knöchernes Gesicht, stellenweise etwas Fell. Die neue, spöttische Fratze war keiner Gattung zuzuordnen. Aber es war noch immer sein Fuchs, die leeren Augenhöhlen voller Aufmerksamkeit.

«Wann wirst du mich begraben, Ed?«

«Ich möchte dir etwas vorlesen, bitte.«

Umständlich zog Ed einen Zettel aus der Hosentasche und begann zu lesen:

Sie können mich fragen, und ich werde Ihnen offen sagen, was ich weiß und denke, doch die gleiche Offenheit will ich anderen gegenüber auch behalten dürfen, aber das kann ich nicht, wenn ich mit Ihnen zusammenarbeite …

«Wie findest du das?«

«Entsetzlich.«

Eine Doppelexistenz ist für mich nicht möglich, ich muss alles, was ich beobachte und denke, offen den Betreffenden sagen können, schon die Vorstellung hat Beklemmung ausgelöst.

«Und das?«

«Schlecht, Ed. Was soll das mit der Beklemmung? Glaubst du, irgendjemand von denen interessiert sich für deine Beklemmungen? Stell es mehr als echte Schwäche dar. Du bist ein geschwätziger Mensch. Ein schlechter Charakter. Du kannst nichts für dich behalten, musst alles ausplaudern, du bist schon von Natur komplett ungeeignet und so weiter. Das gibst du zu. Zudem bist du irgendwie ein Moralapostel in Sachen Wahrheit. Du kannst einfach niemanden belügen, selbst wenn du wolltest, verstehst du? Du übernimmst Verantwortung, zeigst Wachsamkeit und Klassenbewusstsein — indem du vor dir selbst warnst.«

Nach Vitte ging Ed am Strand entlang. Er spürte die Einschlüsse alter Angst, mumifizierte, halb versteinerte, unsterbliche Ängste, zur Auferstehung bereit. Sie hatten begonnen, ihre Position durchzugeben, ihren Status, ihre kindlichen Titel und Namen, wie» Helmuts Hund «oder» Erblinden im Schlaf «oder» Böser gefräßiger Sandmann «und so weiter, dazu die weniger tiefen, die hießen» Prüfung in zehn Tagen «oder» Sturmbahn «und» Gefechtsalarm«. Auch Sprachen, die man lange nicht spricht, überwintern irgendwo im Abgrund des Körpers (das Russische zum Beispiel), auch Worte, die man ewig nicht benutzt, Gefühle, die man nie wieder haben wollte, stecken fest auf diese Weise, tief in einem selbst, dachte Ed.

Eine Seitentür des FDGB-Hotels» Zur Ostsee «stand offen. Ein dunkel getäfelter Raum, wenig Beleuchtung, die weißen Tischdecken wie kleine Segel, halb verloren im Saal. Ein Kellner, der Besteck sortierte, gebeugt über einen ebenfalls holzgetäfelten Kasten mit Fächern für Messer, Gabel, Licht. Ed sah zu Boden und schlich vorüber. Er ging so weiter, in dieser Haltung. Schwarze und weiße Fliesen aus Stein im Eingang zur Lobby, die Vorstellung von Kühle und einem besseren Leben.

Die Tür zur Meldestelle. Einen Moment zögerte Ed, dann trat er in den Flur. Die Frau hinter dem Schreibtisch hob den Kopf und lächelte breit.

«Gehen Sie doch bitte gleich nach hinten durch!«

Sie musste vertraut sein mit dem Ablauf des Ganzen, weshalb Ed ihre eigenartige Fröhlichkeit als einen halbseidenen, vielleicht verzweifelten Versuch verstand, sich ihrer Rolle zu entziehen.

Die Tür zum Hinterzimmer war nur angelehnt, der Hygienekommissar kam ihm entgegen. Auf halbem Wege riss er wie ein Verkehrspolizist bei der Arbeit die Arme in die Luft und nannte zum ersten Mal seinen Namen:»Rebhuhn, bitte!«Seine Rechte deutete auf einen Stuhl, der offensichtlich für Ed bestimmt war, die Linke zeigte seinen eigenen Platz. Sie saßen sich gegenüber, zwei Seiten eines blanken, langgezogenen Tisches, um den noch zehn oder zwölf weitere Stühle standen.

«Wie geht es Ihnen, Herr Bendler?«

Für einen Moment musste Ed daran denken, wie verhalten und schweigsam das Personalfrühstück in letzter Zeit ausgefallen war. Die Stirnseiten unverändert: Koch-Mike und Krombach, wie Brückenköpfe. Der eine in seinem Schweiß, der andere in einer Wolke aus Exlepäng und Gesichtscreme. Auf Eds Seite waren nur noch Rolf und er selbst übriggeblieben, ein paar Stühle weit voneinander entfernt, da die Sitzordnung noch immer eingehalten wurde. Links von ihm fehlte das Tresenehepaar, rechts von ihm fehlte René. Sie waren von ihm abgerückt, und er selbst hatte Schuld daran … Manchmal überwältigte ihn dieser Gedanke.

«Herr Bendler?«

Der Kommissar trug die schwarze Lederjacke mit den vielen praktischen Taschen. Die Heliomaticgläser schimmerten in einem sanften Hellbraun. Auf dem Stuhl an der Stirnseite der Tafel stand ein flacher Aktenkoffer, als sei er es, der ihrem Treffen vorsitze.

Ed strich sich die Haare aus dem Gesicht, seine Wunden waren verheilt. Er wusste nicht, was er antworten sollte.

«Die gute Behandlung bei Professor Rommstedt, nicht wahr? Haben Sie länger mit ihm gesprochen? Wie schätzen Sie ihn ein? Früher hatten wir dort einige Probleme, was immer sehr schade ist — bei einem so exzellenten Wissenschaftler, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir brauchen die Wissenschaft! Mehr denn je. Wir brauchen Hand, Herz und Hirn! Sicher haben Sie gehört von unserem Mikroprozessor, 32-Bit! Ochs und Esel!«

«Ich war noch bewusstlos während der — Behandlung. Und was ich sagen wollte …«

«Sicher. Ihnen fehlte das Bewusstsein, Herr Bendler. Aber langsam wird es Zeit, dass Sie aufwachen. Wie geht es übrigens Ihrem Freund, jetzt, nach seiner glücklichen Heimkehr?«

Ed sah zum Fenster. Ein schlammiger Hof mit breiten, tiefen Spuren, als wäre ein Lastkraftwagen lange im Kreis gefahren. Mitten in dem Schlammkreis stand ein ausrangiertes Fuhrwerk, daneben die grüne Schwalbe des Inselpolizisten, der Sturzhelm am Lenker. Das Meer war höchstens hundert Meter entfernt, aber er konnte es nicht hören.

«Wie schaffen Sie es jetzt da oben, im Klausner? Und was treiben Sie sonst so, zum Beispiel am Abend? Sind Sie wieder bei den Gedichten? Oder zeichnen Sie Karten? Ansichtsmaterial für Schiffbrüchige und Obdachlose, wie Ihr Freund das nennt, so fürsorglich und liebevoll er eben ist mit seiner slawischen Seele, nicht wahr, Herr Bendler? Also, machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube!«

Rebhuhn. Eine seltsame Wahl, wenn der Name erfunden war, dachte Ed. Er fragte sich, ob es im Aktenkoffer ein Tonband gab, das die Selbstkritik, die er mit Hilfe seines Fuchses vorbereitet hatte, aufzeichnen würde. Wieder hatte er das B 56 vor Augen, das tschechische Tonbandgerät seines Vaters in der Schrankwand, die kleinen Hebel zum Spulen und die feuerwehrrote Aufnahmetaste — Don't cry for me, Argentina, oft hatte Ed zu diesem Titel zurückgespult und …

«Ich sage es mal so, nur unter uns, gewissermaßen. Wäre Ihr Freund nicht so durch und durch slawisch — oder wie soll ich es nennen, Herr Bendler? — , dann würde er hier schon lange nicht mehr frei herumspazieren, das ist Ihnen doch klar? Oder nennen wir es: Sowjetische Gerichtsbarkeit. Ein Vater im Potsdamer Russenstädtchen, herrjemine! Ein General! Aber das wissen Sie längst. Nur wir hier haben den Ärger, die Arbeit, an uns bleibt alles hängen, als wären wir hier Sachalin oder St. Helena! Aber nicht nur an uns, auch an Ihnen, dem Professor, dem Klausner, allen, die er hineinzieht in seinen Kreis, und genau das, Herr Bendler, scheint Ihnen nicht bewusst zu sein, welche Gefahr …«

Zuerst die Stimme des DJs, sein künstlicher Eifer, der auch vom stillen, leise wogenden Auftakt des Songs nicht zu stoppen gewesen war und also für immer die ersten Takte beschmutzte. Aber da lag Ed schon auf dem Teppich, mit ausgebreiteten Armen, in Erwartung der außerirdischen Stimme einer Sängerin namens Julie Covington. Er war 14 Jahre alt, und eigentlich hasste er alles, was Schlagermusik genannt werden konnte. Aber jetzt lag er nur da, auf dem Teppich, und bald begannen die Tränen zu fließen.

«Alexander Krusowitsch ist mein Bruder.«

Es war nicht gerade das, was er hatte sagen wollen.

Nicht gerade das, was er vorbereitet hatte.

Aber es war sein Satz. Ein ziemlich guter Satz.

Noch immer schaute er zum Fenster hinaus.

Über den Traktorspuren im Hof kreiste bereits sein zweiter guter Satz:

«Sind wir nicht alle Slawen, bis zur Elbe, Herr Rebhuhn?«

Im nächsten Moment wusste er nicht mehr, ob er Slawen oder Sklaven gesagt hatte.

Der Hygienekommissar starrte ihn an, dann sah er auf seinen Notizblock, als müsse er sich gewaltsam ablenken von der Erscheinung Eds und ihrer ganzen Widerlichkeit. Eine kleine schmutzige Saisonkraft, wankelmütig, labil, schwer einzuschätzen. Vom Studium getürmt, trotz guter Perspektive, und bisher nichts gelernt im Leben als ein paar Gedichte voller dumpfer, inzestuöser Verse.

Sie verließen die Meldestelle, aber es war nicht vorbei. Rebhuhn ging voraus. Unerträglich die Vorstellung, mit ihm gesehen zu werden. Zwei Radfahrer, Spaziergänger, Touristen auf ihrem Abendspaziergang nach dem Abendbrot, das in den Ferienheimen oft schon um 18 Uhr eingenommen werden musste. Sie betraten ein Haus, der Meldestelle schräg gegenüber. Ein kleiner schattiger Flur, an dessen Ende eine Treppe in den Keller führte. Zuerst ein niedriger, von Neonröhren ausgeleuchteter Raum, der mit seinen Bänken und Stühlen einem Klassenzimmer ähnlich sah. Es roch nach Desinfektionsmittel, vielleicht war es auch Rattengift. Ed spürte ein leichtes Vibrieren, dann hörte er den Brummton. Der Kommissar trat vor die Klasse und zog einen Stab unter dem Lehrertisch hervor. Einem Billardspieler ähnlich fixierte er die rot lackierte Spitze des Stocks, dreht sie leicht in der Hand und führte sie vor seinen Mund, als wollte er sie küssen. Schließlich spitzte er die Lippen und blies einen imaginären Rest von Kreide oder Staub vom Lack, der daraufhin zu leuchten oder zu glühen begann, aber das war nur ein Reflex im Neonlicht. Jeder seiner Handgriffe wirkte jetzt beiläufig und sicher, anders als oben in der Meldestelle. Erst jetzt schien Rebhuhn im Spiel. Er setzte sich halb auf den Tisch, seine Haltung war lässig und überlegen. Das Griffende seines Stabs pochte leicht und wie ungeduldig gegen Metall. Ed war am Eingang des Klassenzimmers stehen geblieben; ein Schüler in Erwartung seiner Strafe. Die Tafel so sauber, als wäre auf ihr nie geschrieben worden.

Ed bereute, gekommen zu sein. Er hätte sich weigern können. (Hätte er?) Er hätte es vergessen können, versehentlich, aber er hatte Angst gehabt und die Vorstellung, etwas hinter sich bringen zu müssen. Es brauchte einfach diesen Schritt, um zu beweisen, dass er den Kommissar nicht verachtete (was er in Wahrheit tat), und indem er ihm dieses Mindestmaß an Respekt entgegenbrachte (ihn tröstete, dachte Ed, hinwegtröstete über das Perfide und Hässliche seiner Erscheinung), wäre der Weg frei für den Rücktritt, die Erklärung seiner kompletten Unfähigkeit zur Konspiration. Eine Weigerung von vornherein hingegen wäre unmöglich gewesen, inakzeptabel. Zuerst musste man den Termin respektieren, dann den Kopf (vorsichtig, langsam) aus der Schlinge ziehen. Nur war jetzt auch die Angst wieder da. Blanke Angst, jenseits aller Gedanken.

Der Kommissar kam auf ihn zu, mit kleinen rhythmischen Doppelschlägen, erst gegen die Bänke, dann gegen die Wand. Eine bis dahin unsichtbare Tür ging auf, der Sesam öffnete sich. Alles Routine, dachte Ed, die übliche Routine. Seltsam war nur, dass er es erlebte, jetzt, in diesem Moment.

Das Brummen schwoll an, wurde laut, ein atemversetzender Gestank schlug ihnen entgegen, sie betraten den Maschinenraum. Rechts von Ed stand Rebhuhn, der den Maschinisten begrüßte. Die Maschine war ein Gestell aus Stahl in der Mitte des Raums mit einem unförmigen, milchig glänzenden Aufbau. Sie hatte einen Kopf, aber kein Gesicht. Keine Lippen jedenfalls und keine Ohren, nur Zähne. Sie hatte Haare, verklebt mit Sand und Algen, Reste von Gliedmaßen in alle Richtungen, durchscheinend und grau oder grün wie von Folie überzogenes Moos, ein aufgequollener Fuß. Etwas wie ein Fuß. Die Maschine war es nicht, die brummte, sie brummte nicht …

Ed wich zurück, er suchte den Ausgang, aber der Maschinist hinderte ihn und drückte ihm stattdessen einen weißen Emailleeimer vor die Brust. Zuerst hatte Ed geglaubt, der Mann wolle ihm den Eimer über den Kopf stülpen, aber schließlich hatte er nur versucht, ihm den Henkel über den Scheitel zu ziehen. Es schien ein extra weit ausgeformter Henkel zu sein, keine Frage, der Eimer war wie gemacht für diesen Fall. Trotzdem blieben ein paar Haare hängen, wurden ausgerissen. Noch während Ed sich übergab, begann der Hygienekommissar seinen Vortrag über die Maschine.

«Dieser Körper hat drei, mindestens zwei Wochen im Wasser gelegen … Herr Bendler, hören Sie, was ich sage?«

Ed spuckte.

«Gut, gut so. Können Sie bestätigen, Herr Bendler, dass es sich bei dem Toten«, sein Zeigestock kreiste über der Maschine,»um den vermissten René Salzlach handelt, Eisverkäufer im Betriebsferienheim Zum Klausner in Kloster, Hiddensee?«Seine Frage klang bemüht, beinah gelangweilt, als wäre das Ganze im Grunde schon nicht mehr von Interesse.

Die Maschine. Ein Batzen fauliges Gelee.

Der Kommissar versuchte, sich weiterhin pädagogisch zu verhalten, mit Erläuterungen zum Zustand des Toten und Blicken zu Ed hin, als müsse er seine Aufmerksamkeit überprüfen.

«René Salzlach ist ein typischer Fall, der typische Grenzverletzer, würde ich sagen. Wichtigstes Merkmal: Diese Leute neigen dazu, sich zu überschätzen, das ist ihr Charakter, nicht wahr, Herr Bendler? Deshalb unterschätzen sie die Strecke, die Kälte, das Meer. Und wir müssen sie dann retten, aber freilich können wir nicht überall, nicht immer rechtzeitig zur Stelle sein.«

In Eds Ohren dröhnte das Brummen des Aggregats (ein Kühlaggregat, wie sich herausstellte). Er umklammerte den Eimer und drückte ihn fester gegen seine Rippen. Er war jetzt das Kamel, das Kamel seiner Träume, mit einem Fressnapf um den Hals. Die rote Spitze des Billardstocks kreiste, dann ein paar Bögen, als schriebe sie etwas in die Luft. Die milchigen Reste Renés bildeten jetzt eine Fläche aus Glas oder Eis, auf der die Kugeln rollten, hin und her, und eine nach der anderen verschwand in den dunklen, verwesten Öffnungen der Maschine, ohne Geräusch.

«Woher aber, fragen wir uns, stammen diese Verletzungen, Herr Bendler?«Augenblicklich stockte das Schreiben, und die rote Spitze senkte sich auf das milchig-graue Gewese. Vom Würgen war Ed Wasser in die Augen getreten; ihn schwindelte. Er fror.

«Diese Hämatome zum Beispiel. Ohne Zweifel hat das Opfer sie sich vor dem Eintritt ins Wasser zugezogen. Für den Laien mag das schwer zu erkennen sein, selbst für mich, zugegeben, aber wir haben Experten, Herr Bendler, wir haben Labore, Schiffe, Taucher, wir haben 32-Bit, falls Sie verstehen, was ich meine!«

Erst die Berührung, dann die feine Schliere, die wie ein Spinnfaden den Zeigestock mit der Maschine verband. Ed glaubte die Besinnung zu verlieren. Die Knie wurden ihm weich. Er wollte sich auf den Boden hocken, aber der Maschinist trat von hinten an ihn heran und hielt ihn aufrecht. Der Henkel seines Eimers machte einen langen, quiekenden Laut.

«Herr Bendler, also, was meinen Sie? Vielleicht erinnern Sie sich nicht, nicht genau jedenfalls? Keine Angst, das geht allen so. Am Anfang. Aber dann kommt man doch ins Gespräch, und meist gibt es viel zu erzählen.«

Auf einem kleinen stählernen Tisch, der Räder hatte und wie ein Servierwagen herangerollt wurde, lagen die Papiere, die Ed unterzeichnen sollte. Es waren vier oder fünf Blatt. Als er sich nach vorn beugte, quietschte der Eimer.



Exodos

Am 5. September fehlte Koch-Mike beim Frühstück. Krombach erschien, räusperte sich und verlas einen Abschiedsbrief, der mit Fettstift und großen Druckbuchstaben auf ein Stück Packpapier gekritzelt war. Der Brief handelte von einer Frau und einem Kind, die in Bergen auf Rügen lebten, Koch-Mikes Frau, Koch-Mikes Kind. Es ging um eine gemeinsame Reise, die Chance auf einen Neuanfang nach soundso viel Jahren und so weiter. Am Ende stand ein Satz mit der Wendung» in diesen schweren Zeiten«, verbunden mit der Bitte um Entschuldigung» an alle«. Bis dahin hatte Ed noch nie etwas gehört von einer Familie. Er sah Koch-Mike vor sich, dem der Schweiß aus allen Poren rann, während er den Abschiedsbrief» An die Besatzung «schrieb, mühsam, wie eine seiner Bestell-Listen.

«Wie ihr wisst, war Koch-Mike die Zuverlässigkeit selbst und«, Krombach hatte zu einer Art Nachruf angesetzt, brach aber ab und beschränkte sich auf den Hinweis, dass es» unter den gegebenen Umständen «nahezu unmöglich sein würde, einen neuen Koch aufzutreiben.

«Wozu auch?«, flüsterte Kruso, er saß sehr gerade, aufrecht, wie immer. Seine Hände lagen links und rechts vom Teller, als müsse er den Tisch beruhigen.

«Rolf, was meinst du?«Kruso wartete, bis der Hilfskoch ihn ansah.

«Erstens: das Menü. Ab heute kurz und einfach. Nur das, was du kannst, klare kleine Sachen. Zweitens: In der Stoßzeit könntest du, Werner, ab und zu in der Küche aushelfen.«

Krombach schwieg. Von Viola kamen Nachrichten, unverständlich, dann eine Meldung zur Verkehrslage, unverständlich, dann» In unserer Morgenandacht spricht Pfarrer Thomä aus Darmstadt«. Es war das erste Mal, dass Kruso offen das Kommando übernahm.

Nach Ferienende hatte der Urlauberstrom deutlich nachgelassen, vor allem die Zahl der Tagestouristen. Der Fahrplan für den Fährverkehr wurde umgestellt. Sie arbeiteten hart, und mühsam gelang es, den Klausner über Wasser zu halten. Ed genoss die Erschöpfung am Abend. Die süße Ruhe und keine größere Frage als die nach einem letzten Getränk, um noch eine Weile bewusstlos draußen auf der Terrasse zu sitzen. Schnell wurde es kühl, und um Mitternacht goss der Mond sein Licht in die Kiefernspitzen.

Wie man Alpträume vergessen will, wenn sie zu blutig sind, vergaß Ed den Traum vom verwesten Kamel. Eigentlich war es glatter als das, was man vergessen nennt. Mehr so, als säbele man etwas ab und es fiele irgendwohin, ins Dunkel der Zelle — noch da, aber unsichtbar. Was blieb, waren die Empfindung einer noch stärkeren Verbundenheit mit Losch und jenes unklar wuchernde Schuldgefühl, das René betraf. Auch ohne sein Zutun sprach sich herum, dass man ihn gefunden hatte, mit einem Fischernetz aus dem Wasser gezogen, in mehreren Teilen, wie es hieß. Auch andere Versionen wurden verbreitet. War Ed in der Nähe, verliefen die Gespräche wie gedämpft, Vermutungen wurden leiser und fragender vorgebracht. Man zeigte sich bereit, Rücksicht zu nehmen auf seine doch irgendwie unmittelbare Beteiligung an diesem Todesfall, dem endgültigsten der Abgänge in diesen Tagen.

Die kleinen einfachen Gerichte waren beliebt, und Rolf kämpfte seinen einsamen Kampf in der Küche. Die Verkürzung der Karte hatte man hingenommen, wie auch sonst alles hingenommen wurde, im Grunde nicht nur hingenommen, sondern empfangen wie ein Glücksbeweis: Die rote Brause war schal, aber doch auf der Insel serviert, der dünne Kaffee schmeckte ganz ausgezeichnet, weil er bewies, dass man es geschafft hatte bis hierher, auf diese Terrasse, hoch über dem Meer, dem reizvollsten Ausblick des Landes, ein Tag, der unvergesslich bleiben würde.

Andererseits schien es, als kippten die Gäste der Spätsaison den Inhalt ihrer Tassen und Gläser immer schneller hinunter, als wollten sie diesen seltsamen Sommer rasch zu Ende trinken. Am Ausschank häuften sich die Bestellungen, Kruso fluchte, weshalb Ed den Abwasch irgendwann aufgab und seinem Freund zu Hilfe eilte. Es war ihr täglicher Kampf, in dem Ed die Tiefe ihrer Verbindung spürte, die wenigen Worte, zufälligen Berührungen (wie äußerste Zärtlichkeiten), ein nahezu blindes Verständnis, wenn sie gemeinsam bewiesen, dass der Klausner unsinkbar war.

19. September. Zwei Wochen waren seit dem Abgang Koch-Mikes verstrichen, als Rimbaud nicht zum Frühstück erschien. Rolf schenkte Kaffee aus und bot an, in der Bienenhütte nachzusehen, um den Kollegen zu wecken, der sich wohl am Abend zuvor» die Augen zugekippt «hätte, wie er sich ausdrückte. Kruso machte eine Kopfbewegung zur Tür, sah dabei aber zu Ed hin, als säße dort sein Mann für solche Dinge.

Ein verzweifeltes Geräusch, das die gesamte Lichtung erfüllte; es schien aus der Erde zu kommen und nicht von den Bienenvölkern her. Tote Königin, dachte Ed, ohne zu wissen, weshalb. Er rief nach Rimbaud. Langsam öffnete er die Tür, und ein süßlicher Dunst schlug ihm entgegen. Das Bett war zerwühlt, es roch nach Schlaf und Speiseresten. Als wäre er nur deshalb gekommen, trat Ed an das Bücherregal, und erst jetzt bemerkte er es. Auf jeder Etage des Regals lagen zerbrochene Waben, aus denen Honig über die Bücher troff. Rimbauds kleine Bibliothek (nicht mehr als zweihundert Bände) glich einem weichen, golden fließenden Block und darin einem lebendigen Wesen, zäh, organisch, äußerste Hülle eines phantastischen Embryos. Der Nektar rann stetig, unvermindert, als ob in den Waben ein unbegrenzter Vorrat herrschte oder als ob er inzwischen auch aus den Büchern selbst hervorquoll. Die Bücher wirkten sehr zufrieden unter dem süßen, trüb-mäandernden Fließen, wie versonnen oder nachdenklich.»Zum Trost«, murmelte Ed, denn der Honig schien die Bücher zu trösten, ja, Honig und Bücher gehörten zusammen, Bücher und Honig, ein einzigartiges Ambrosia. Aber das täuschte natürlich. In Wahrheit waren die Bücher so traurig wie verschütteter Honig. Ab jetzt, so dachten die Bücher, wird es keinen Kellner mehr geben, der uns in den Abwasch trägt, um den Tellerwäschern vorzulesen, und es wird keine Tellerwäscher mehr geben, die uns mit Gedichten zu antworten verstehen, das heißt, die Gedichte der Tellerwäscher wird es nie wieder geben auf dieser Welt, mithin keine Hoffnung auf ihre Bücher, und so ist der Zirkel zerbrochen.»Nein, noch nicht, noch ist etwas Zeit«, flüsterte Ed,»das verspreche ich euch.«

Die Honigbibliothek. Ed hätte nicht sagen können, wie lange er in ihrem langsamen Verrinnen, diesem sanftesten Zugrundegehen, versunken war. Weil er noch nicht zurückkehren wollte, setzte er sich an den kleinen Tisch unter dem Fenster, auf dem ein Bleistift und einige Runen lagen, vielleicht vom Tag der Insel oder von Vergaben früherer Zeit. Sein Fuß stieß gegen einen Kohleeimer, wie er in der Bienenhütte, in der es keinen Ofen gab, eigentlich nichts verloren hatte. Er zog ein paar zerknüllte Blätter aus dem Eimer und strich sie glatt. Auf den meisten stand nur eine einzige Zeile, eine Art Überschrift, sonst nichts.»Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebr. 13,14«Ed erkannte den Satz, es war das Motto über der Leichenhalle auf dem Inselfriedhof. Auf einem anderen Blatt fand sich eine kurze Abhandlung über Bienen. Darunter eine Zeichnung von einem bienenartigen Mann, dessen Brust von feinen Härchen bedeckt war; sein Bienengesicht zeigte Verbitterung oder wenigstens Ärger. Zwei seiner Gliedmaßen mündeten in Füße, die er vor dem Geschlecht zusammenpresste (oder der Stelle, an der das Geschlecht zu vermuten war). Es sah aus, als riebe er die Fußsohlen gegeneinander. Man hätte ihn für einen Buddha halten können, womöglich eine Anspielung auf den bacchantischen Kult der Esskaas rund um den buddhistischen Baum, aber aus seinen Fußzehen wuchsen feine, zu Widerhaken gebogene Krallen, und sein Bart endete in einem Dreizack — ohne Zweifel das seltsamste Wesen, das Ed je zu Gesicht gekommen war.

Wortlos legte Ed das Blatt mit dem Bienentext und der Zeichnung neben Krombachs Teller (versehentlich dort — es war der alte Respekt vor dem Direktor), doch Krombach gab die Seite blicklos weiter an Chris, der sie zu Krusos Tischende hinschob. Kruso bedankte sich, seltsam förmlich, wie jemand, der sich ermahnen muss, auf seine Würde zu achten. Vorsichtig hob er das Papier ins Licht, warf einen Blick darauf und legte es wieder ab. Er kaute mit gesenktem Kopf, schluckte, nahm das Blatt noch einmal zur Hand und begann vorzulesen.

«Die Geschlechtstiere der Honigbiene …«, Kruso schluckte und begann erneut.»Die Geschlechtstiere der Honigbiene — Königin und Drohnen — legen zur Verpaarung große Strecken zurück. Eine Königin lässt sich von mehreren Drohnen frei im Flug begatten. Um eine Verpaarung von Tieren mit besonders vorzüglichen Eigenschaften vornehmen zu können, müssen Orte gefunden werden, deren Gegebenheiten einen Zuflug nicht erwünschter Drohnen unterbinden, Inseln zum Beispiel. Zuchtziele sind Rassen voller Fleiß, Sanftmütigkeit und geringer Neigung zum Schwarm — Eigenschaften der Apis mellifera carnica, der Rasse Hiddensees.«

Der Kühlschrank am Tresen schaltete sich ein und übertönte das Geräusch des Winds in den Kiefern. Die ersten Herbststürme kündigten sich an.

«Diese Botschaft«, erklärte Kruso,»beweist, dass Rimbaud über kurz oder lang zurückkehren wird.«

Es war zu spät, um zu erwähnen, dass die Botschaft aus dem Kohleneimer stammte. Gleichzeitig musste Ed sich fragen, warum er das Papier so sorgfältig glattgestrichen und wie eine Petition vom Bienengrund heraufgebracht hatte.

«Einige verlassen uns jetzt«, begann Kruso leise. Er stand auf, und sein Gesicht verschwand im Dunkel über der Gaststubenlampe.»Nicht wenige darunter, die wir gebraucht hätten, ja, die dringend gebraucht werden hier. «Er stützte die Hände auf den Tisch, und seine großen verletzlichen Wangen kehrten zurück ins Licht.

«Einige werden wiederkommen, viele sogar. Sie haben die Insel im Stich gelassen, ja, aber bald werden sie begreifen, dass auch mit Valuta «

Selbst aus Krusos Rede schimmerte das Wort wie ein Goldstück im Dunkel, es glänzte und klimperte verstohlen, und es roch gut, Valuta, Geld aus dem Westen, welch satter, gediegener Klang, Geld aus dem Osten dagegen war Schweinetonne und Aluminiumbesteck …

Als hätte Kruso diesen Gedanken erraten, unterbrach er sich und schaute auf Ed hinunter.»Nur die Trugbilder der Freiheit haben einen Preis. Die Freiheit aber ist unbezahlbar. Und sie besteht in erster Linie aus Pflichten, verdammt, nicht aus Privilegien. «Er hatte seinen» Was-sich-mit-Worten-kaum-sagen-lässt-Ton «fallenlassen.

«Formulieren wir es lieber so: Die uns jetzt verlassen, leugnen die Verantwortung, die sie haben für diesen Ort, sie denken nur an sich selbst. Und nun seid ihr es, die das alles tragen, ihr, mit eurer Arbeit, jeder an seinem Platz …«

«Schon gut, ist ja gut«, murmelte Chris und goss Schnaps in ihre Kaffeetassen. Rolf blickte zu Boden und sah blass aus, er hatte seinen Stuhl vom Tisch abgerückt.

«… nicht zuletzt für die Schiffbrüchigen und Obdachlosen, die es noch lange, lange geben wird, an diese Küste geworfen aus einem Meer voller Bedrängnis, einem Meer, in dem man ersticken kann, ohne zu sterben.«

Für einen Moment hatte Ed das Gefühl, Kruso sein Beileid aussprechen zu müssen. Aus irgendeinem Grund empfand er Mitleid und schämte sich sogleich dafür. Schließlich war es sein Bruder, der hier sprach, voller Leidenschaft, und hatte er nicht recht, in jenem tiefen, sehr tiefen Sinn? Trotzdem wirkte es, als stünde er auf einer großen Eisscholle, die immer weiter hinaustrieb, während er ihnen die Mittel zur Freiheit aufzählte (der Klausner, die Insel, das Meer) und die Mittel zur Knechtschaft (Valuta).

«Ich möchte jetzt nur so viel sagen: Unsere Kräuter gedeihen. Die Pilze wachsen, die Suppe kocht, die Zimmer sind bereit — wir verfügen über eine schöne Anzahl von Schlafmöglichkeiten, im Grunde mehr als jemals zuvor, nicht wahr, Werner? Und bald wird auch das ganze Bettenhaus frei sein. Und so sollten wir es sehen. Alles wird sich beruhigen. Der Herbst ist da, der Winter liegt vor uns, und ihr seid bereit, und dafür möchte ich euch danken!«

Etwas war in Gang gekommen. Erdteile verschoben sich. Zu fünft würde es nahezu unmöglich sein, den Klausner zu betreiben. Die Erwähnung des Winters bedrückte Ed. Weihnachten, Geschenke, Kälte, irgendein großes Bedauern, eine große Traurigkeit. Als hätte er Vorsorge treffen müssen, und nun war es dafür zu spät. Krusos Scholle war inzwischen weit draußen, weshalb sie ihn nicht mehr verstehen konnten. Nur noch sein Umriss am Horizont, das blasse Leuchten seiner Wangen, das Öffnen und Schließen des Mundes.

Noch einmal goss Chris Korn in ihre Frühstückstassen, Korn und Kirsch-Whisky, halb und halb, wie es Koch-Mike am liebsten mochte.

«Warum ziehen der Mond und der Mann — «

«zu zweit so bereit nach dem Meer!«

Ein paar Stimmen fehlten. Sie erhoben sich und tranken. Ed kannte Loschs Wange (groß, weich, unrasiert), aber jetzt fühlten sich seine Umarmungen anders an als damals, als es noch um ein Foto gegangen war und um Gedichte und um jemanden, den man vermisste, mehr als alles auf der Welt.

Es begannen die Tage der Notbesatzung. Am Morgen entfernte Kruso die unbesetzten Stühle vom Personaltisch und verteilte sie in der Gaststube. In den Augen Eds verharrten sie dort, die Fortgegangenen, an verschiedenen Tischen, wie Ausgestoßene, obwohl sie es doch gewesen waren, die sich entschlossen hatten, von Bord zu gehen (wie Krombach es ausdrückte).

Sie hielten die Stellung. Chris im Service, Rolf in der Küche, Ed im Abwasch, Kruso am Tresen und Krombach, der die Betriebsurlauber besänftigte. Noch immer führte er mittwochs den sogenannten Heimabend durch, zu dem er Inselgeschichten erzählte und seine grauen Herzen sprechen ließ. Ohne hinzusehen, mit den Armen über Kopf, knotete er Herz für Herz und warf sie den Urlauberinnen in den Schoß. Er blühte auf an diesen Abenden. Ed sah ihn später noch auf der Terrasse mit einigen Gästen, er hörte ihre Stimmen, Gekicher, wie von weit her, ein Lachen aus einer schon lange vergangenen Zeit. Am Ende saß nur noch eine kleine, rundliche Urlauberfrau mit leuchtend weißer Strickjacke an seinem Tisch, die Krombach umschlungen hielt, als wäre sie sein allerletzter Halt. Sein halbkahler Schädel phosphoreszierte im Licht der Terrassenlaternen, vielleicht vom Exlepäng, dachte Ed. Er musste an jenen Schwimmer denken, der bei seiner Flucht über zwanzig Kilometer Richtung Nordwesten geschwommen war und sich um Mitternacht an eine Fahrwassertonne geklammert hatte, deren gasbetriebene Lampe genug Wärme abgab, um ihn vor dem Erfrieren zu bewahren. Cavallo hatte ihm diese Geschichte erzählt und auch den Namen des Mannes genannt, Mittelbauer oder Mitbauer. Am Morgen, als Mitbauer weiterschwimmen wollte, um die verbleibenden Kilometer in Angriff zu nehmen, sei ein großes Lübecker Fährschiff namens» Nordland «vorbeigekommen. Von der Reling (haushoch über ihm) hätte der Kapitän der» Nordland «den Flüchtling gefragt, ob er ihn ein Stück mitnehmen solle.

«Was, glaubst du, hat der Schwimmer geantwortet, Ed?«

«Was?«

«Warum nicht. Er sagte: Warum nicht.«

Die Antwort des Schwimmers hatte Ed über alle Maßen gefallen.»Warum nicht «war ein feines Ja, das die möglichen Gründe für ein Nein offensichtlich erwogen hatte. Warum nicht. Bei Cavallo hatten die Fluchtgeschichten einen anderen Klang gehabt als bei Kruso, bei ihm waren es gute, befriedigende Geschichten.

Ed sah noch einmal auf die Terrasse hinaus und begriff, dass bei Krombach kein Schiff mehr vorbeikommen würde. Die weiße Strickjacke war Endstation. Allerletzte Boje.

Am Vorabend der Ruhetage war Ed restlos erschöpft. Wieder war es nötig gewesen, im Ausschank einzuspringen, weshalb er einen Teil des Geschirrs erst nach Dienstschluss abwaschen konnte,»wegbaggern den Dreck«, so hatte Rick es genannt. Die Speisereste auf den Tellern waren versteinert und die Kaffeeränder wie eingebrannt in den Tassen. Sofort nach der Arbeit legte er sich auf sein Bett. Sein nasses, schmutzverkrustetes Baumwollzeug verströmte einen üblen Geruch; nach Monas Abschied hatte es keine Wäschewechsel mehr gegeben. Ihm dröhnte der Schädel, und er hatte das Rauschen in den Ohren. Noch einmal verließ er sein Zimmer und stieg die Klausnertreppe hinunter, seit Tagen war er nicht am Meer gewesen.

Auf dem Rückweg hatte er einen Schwächeanfall.»Oktober, und die letzte Honigbirne / hat nun zum Fallen ihr Gewicht. «In der Übermüdung meldeten sich seine Bestände zurück, ausgesprochen sanft und, wie sollte er es sagen, verständnisvoll. Sie okkupierten ihn nicht mehr. Die Treppe hinauf glaubte er kippen zu müssen, rückwärts ins Meer. Er spürte eine angenehme Schwere im Schädel und eine plötzlich verlockende Schwäche, voller blitzender Reste seiner alten, längst überwundenen Fallsucht. Er sah sich um. Auf dem Wasser lag ein Pokal aus Silber, der mit dem Fuß bis ans Ufer reichte. Eine schwarze Säule stützte den Mond.

In weitem Bogen umkreiste Ed den Klausner und betrat vom Hof her den Abwasch. Das Licht in der Küche ließ er ausgeschaltet, zur Orientierung genügte ihm Viola, die ein Konzert von Händel spielte. Er nahm sich eine Zwiebel aus dem Kühlschrank und kratzte die Reste aus der Kartoffelpfanne zu einem kleinen, fettigen Häufchen. Dann setzte er sich auf den Stuhl unter dem Radiokasten. Und so, mit der Pfanne auf dem Schoß, gelehnt an den Kühlschrank, fand er endlich in den Schlaf.



Deutschlandfunk

26. September. Es ist sieben Minuten vor Mitternacht. Wie ein Märchen brachte Viola das Programm des kommenden Tages. Der sanfte Bass des Erzählers, zuerst knarrte er nur ein wenig, aber dann schrammte er hörbar am Grund der Dinge entlang. Jedes Wort schien ihm gleichermaßen wertvoll, jeder Satz war wie mit tauben und zugleich väterlich weichen Lippen gesprochen. Ed lauschte und ließ die Stimme in sich ein. Er träumte von der Zeit, da er ein Kind gewesen war und versucht hatte, mit den Außerirdischen Kontakt aufzunehmen. Damals hatte er das Kofferradio vor sich auf den Schreibtisch gestellt, im Kinderzimmer. Er hatte auf Kurzwelle geschaltet und den Äther abgesucht, millimeterweise mit dem weißen Senderwählrad zwischen den Fingern, so lange, bis ihr Signal ertönte. So weit die Programmvorschau. Deutschlandfunk. Zum Tagesausklang die Nationalhymne. Um null Uhr melden wir uns wieder mit — Nachrichten. Ab und zu verstummte das Funken der Außerirdischen, was Ed als Aufforderung begriff:»Hallo, hallo, hier bin ich, bitte kommen. Ich lebe auf der Erde, in Gera-Langenberg, Charlottenburgweg 24, Deutsche Demokratische Republik, könnt ihr mich hören? Bitte kommen. Over.«

Die Nationalhymne war unsäglich schön, und wie zur Feier rief sie das Verbotene herbei, den alten, sehnsuchtskranken Text von Deutschland über allem, Musik und Text schienen untrennbar zu sein. Er dachte das Wort: untrennbar. Dr. Z. hatte darüber gesprochen in seinem Seminar. Wie der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf einer ehemals englischen Insel gesessen und von dort im hohen Norden (sehnsuchtskrank) auf sein zerrissenes Land geschaut hatte. 0 Uhr. Deutschlandfunk — die Nachrichten. Die Perestroika in der UdSSR kann nach den Worten des Staats- und Parteichefs Gorbatschow nicht länger als Revolution von oben bezeichnet werden. Einfache Lösungen für enorme Probleme zu versprechen hieße, das Volk zu täuschen. Disziplin sei mehr denn je notwendig. Es war nicht leicht, die Druckknöpfe zu lösen, aber irgendwann gelang es Ed, den kleinen hölzernen Kasten des Transistors aus seiner steifen Lederschutzhülle zu befreien. So konnte er besser hineinflüstern in den Empfänger:»Hallo, hallo, wo seid ihr, wann kommt ihr? Over. «Sein Mund berührte die metallene Lautsprecherabdeckung und hinterließ einen feuchten Abdruck. Es kribbelte an den Lippen; die Außerirdischen hatten wieder zu funken begonnen …

Ed verschlief die Nachrichten, den Wetterbericht, die Verkehrslage und einen Großteil der» Rockzeit«, in der Musik von Jimi Hendrix gespielt wurde. Im Halbschlaf hörte er Hey Joe in einem Livemitschnitt — die Gitarren begleitete eine Art Kreischen wie von Krähen, Möwen oder Motorsägen.»Hallo, hallo, wie heißt euer Planet? Falls ihr noch einen Menschen braucht, nachts bin ich immer ganz allein in meinem Zimmer. Over. «Noch vor dem Kontakt hatte er den Außerirdischen das Fenster geöffnet, obwohl schon November war und die kalte Luft in seinen Nacken fuhr, während er abwechselnd Ohr und Mund auf das kühle Blech über dem Lautsprecher presste. Am seltsamsten beim Funken: die eigene Stimme. Ihr Wispern zwischen den Lippen, das Zischeln, das Summen unter der Schädeldecke, das Raunzen zwischen den Augen, und vor allem: das Fremde in ihrem Klang. Als rühre sich tief unten, am Grund seiner eigenen Stimme, ein unbekanntes, allmächtiges Wesen, etwas, das nur durch weiteres unaufhörliches Flüstern am Ausbruch gehindert werden konnte. Es war das Geräusch des Todes — später nannte er es so.

Er verschlief die Ein-Uhr-Nachrichten, den Wetterbericht, eine Meldung des Seewetterdienstes Hamburg und einen Reiseruf des ADAC. Er verschlief die zweite Stunde der Sendung» Rockzeit«, in der Folk gespielt wurde, unter anderem die Sängerin Melanie mit dem Titel» Some people say go away, some people say stay«. Dann eine Art Pausenzeichen, sieben helle Töne, sanft wie die Musik einer Spieluhr, mit der man Kinder in den Schlaf lullt. Er verschlief das ARD-Nachtkonzert und den von einer leisen, wie nachtblinden Stimme gesprochenen Satz Hierzu begrüßen wir alle Hörer und Hörerinnen der uns angeschlossenen Sender.

Die Außerirdischen waren verstummt, weshalb Ed damit begonnen hatte, an der verchromten Teleskopantenne herumzuhantieren. Weil auch das nichts half, stand er auf und tappte mit dem Radio auf der Schulter im Zimmer hin und her:»Hallo, hallo, ich kann euch nicht mehr hören, bitte melden! Over. «Er war auf den Schreibtisch gestiegen, mit ausgestreckten Armen schwenkte er den Apparat durch die Luft. An den Batterien konnte es nicht liegen.»Wo seid ihr? Was ist passiert? Hallo, bitte melden! Over!«

Ed erwachte und trank einen Schluck von dem Kaffeelikör, den er sich mitgenommen hatte an seinen Platz unter dem Radio. Dann verschlief er das Opernkonzert, beginnend mit dem Vorspiel» Morgendämmerung an der Moskwa «von Modest Mussorgski, dann eine Motette Monteverdis für acht Stimmen. Kurz vor fünf Uhr erklangen noch einmal die sieben Töne der wundersamen Spieluhr. Es war das Sendezeichen. Oder die Außerirdischen, dreimal hintereinander. Im Halbschlaf die Presseschau. Ab und zu irische Volksmusik. Die Schneefallgrenze war auf 1500 Meter gesunken. Die Menschen, die wegmachen wollen, glauben der Führung nicht mehr.



Die sieben Samurai

Am 7. Oktober dankte Krombach ab. Es war nur eine kleine, mehr organisatorische Rede, eine Art Abschlussbericht. Den ganzen Nachmittag über hatte der Direktor seine Vorbereitungen getroffen. Er hatte die Küche in Beschlag genommen und war im Hof hin und her geeilt. Trotz Nationalfeiertag transportierte der Kutscher Mäcki Aal aus dem Hafen, ein paar seltene Weine und zwei Kästen Staropramen, das mit dem Schubschiff auf die Insel gekommen war. In jedem Kasten fehlten ein paar Flaschen.

Bis zum Abend stand Mäckis Wagen im Hof. Ed ging hinunter und begrüßte sein Bärenpferd, das ihm vorkam wie abgesandt aus einer lange vergangenen Zeit. Mit den Fingerspitzen betastete er das glatte Fell des Tiers zwischen den Augen, worauf es mit einem Ruck seinen Schädel in die Luft riss. Eine Weile blieb Ed noch stehen und wartete auf eigene Gedanken. Stattdessen begann es zu regnen, und er kehrte ins Haus zurück. Langsam wurde es kalt; die Heizung in seinem Zimmer funktionierte nicht.

Zur vereinbarten Zeit saßen sie nur zu dritt am Tisch. Irgendwann hob Krombach die Hände, und sie begannen mit dem Essen. Rolf und Chris hatten angedeutet, dass sie lieber ins Hitthim wollten, zum alljährlichen» Tanz der Republik«, was Ed mit Rücksicht auf Krombach verschwieg. Der Aal war gut, soweit er das beurteilen konnte. Außerdem gab es Kartoffeln, russischen Kaviar und später einige ihm unbekannte Käsesorten. Kruso schenkte Wein nach, sie tranken schnell und in langen Zügen.

Den letzten Durchgang mit Betriebsurlaubern hätte er kurzerhand abgesagt, storniert sozusagen, wegen akuten Personalausfalls, erklärte Krombach. Der Stammbetrieb des VEB Metallhütten- und Halbzeugwerke in Niederschöneweide habe ihn daraufhin mit sofortiger Wirkung von seiner Position entbunden und eine Untersuchung eingeleitet. Die Direktorin Gastronomie hätte sich geradewegs überschlagen am Telefon.»Kriminell «sei noch die geringste ihrer Anschuldigungen gewesen, darüber hinaus habe sie der Überzeugung Ausdruck gegeben (es herausgeschrien geradezu, erklärte Krombach und strich sich mit den Fingerspitzen über den blanken Schädel), dass er schon immer ein Betrüger gewesen sei, ein Mann der doppelten Buchführung, des Naturalienhandels und der illegalen Unterbringung, kurz, ein Saboteur des Sozialismus, weshalb sie das Ganze gar nicht zu wundern bräuchte, überhaupt nicht zu wundern, niemanden zu wundern und so weiter. Am Ende hätte die Direktorin Gastronomie ihn gefragt, wie er das vor den sieben Werktätigen und ihren Familien, alles in allem 24 Bürgern des Landes, verantworten wolle, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auf diesen Urlaubsplatz gewartet, Jahre oder Jahrzehnte hart dafür gearbeitet und sich ausgezeichnet hätten, oder, und das sei ihre letzte Frage gewesen, ob er vielleicht noch ein paar andere Inseln in seiner Westentasche hätte?

Die Westentasche passte, fand Ed, er war sicher, dass Krombach früher Westen getragen hatte, während seiner Zeit im Palast …

«Andere Inseln!«Krusos Stimme war am Kippen.

«Was hast du geantwortet, Werner?«

«Nichts. Ich bin jetzt einbestellt, nach Berlin. Zudem hat die Direktorin Gastronomie eine Revisionskommission angekündigt, in Begleitung von Ordnungskräften, sicher schon unterwegs. «Er schenkte sich nach und hob sein Glas. Seine Hand zitterte, aber es schien ihm nichts auszumachen. Er schämte sich nicht dafür.

«Also. Ich möchte hier nur sagen, dass ich tatsächlich nicht die geringste Absicht habe, mich vor diesen sieben …«, er holte tief Luft,»sieben Werktätigen zu verantworten, vor diesen«— er suchte ein Wort, das wenigstens für den Augenblick groß genug sein würde, seine Verbitterung aufzunehmen — »diesen sieben VEB-Samurai aus Schweineöde. «Schweineöde war Krombachs Wort für Schöneweide, wenn er getrunken hatte und sich ausließ über den Berliner Stammbetrieb. Er selbst war immer nur Pächter gewesen, Pächter des Traums, den Klausner zu besitzen, die Arche, eines Tages, in einer anderen Zeit, einem späteren Leben.»Und ich sehe auch gar keinen Grund, euch das nicht mitzuteilen, eins zu eins, in dieser Runde — gewissermaßen. «Er machte eine weitläufige Handbewegung, als wären noch alle am Tisch, seine ganze Besatzung, die verschworene Gemeinschaft.»Im Gegensatz zu manch anderem, der hier, wie soll man sagen, sang- und klanglos von Bord gegangen ist, nicht wahr?«

Er stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. Ein kurzes Schweigen trat ein, Krombach atmete schwer, dann musste er rülpsen, und im nächsten Moment begann er zu singen. Zuerst sehr leise, mehr summend.

«Draußen an der Mole, wo der alte Leuchtturm steht …«

Irgendwann sangen sie alle.

Das Tischtuch blendete Ed. Ihm wurde übel vom Anblick der Essensreste. Er kniff die Augen zusammen und sah, dass dem Leiter des Betriebsferienheimes Tränen über die Wangen rollten.

«Draußen an der Mole schauten sie aufs weite Meer, draußen an der Mole warn die Herzen sehnsuchtsschwer, draußen an der Mole …«

Am Ende war Krombach vollständig betrunken. Ebenso Kruso, der wie versteinert auf Koch-Mikes Stuhl hockte, am gegenüberliegenden Ende der Tafel, zwanzig Seemeilen entfernt. Und ebenso Ed, der auf- und abtauchte im Fahrwasser des Geschehens und dem Sinn der Dinge mühsam hinterherlauschen musste, ihre Bedeutung aber nicht mehr zu fassen bekam.



Der Herbst, der Herbst

Es dämmerte noch, als Ed ins Schwarze Loch stieg, um zu heizen, und es war kaum heller geworden, als er wieder heraufkam. Aus der Gaststube trieb ihm ein Floß voller kleiner Feuer entgegen. Er fuhr sich über die Augen, um das Kamel zu vertreiben, das in jedem Moment aufkreuzen musste, aber es war nicht sein Traum. In der Mitte des Personaltischs ruhte ein Kuchen, in dem Haushaltskerzen steckten. Das Gebäck sah aus wie gesprengt, die Kerzen waren viel zu groß. In dem zerbrochenen Kuchen wirkten sie wie Stangen frischen Dynamits, das in jedem Moment explodieren konnte.

«Fünfunddreißig, mein Freund, du brauchst nicht zu zählen. Niemand hier braucht nachzuzählen!«

Ed sah, dass frisch gedeckt war, für alle. Teller, Tassen, Gläser und Besteck für zwölf Personen. Er sah Sonjas Foto, wie eine stille Gabe, ein kleines Grab am Kopfende der Tafel. Es war der von den Eltern liebevoll eingerichtete Frühstücksplatz, in Erwartung des Kindes, das in jedem Moment aus seinem Zimmer in die Stube tappen würde, schlaftrunken und in der seligen Gewissheit, sich im Mittelpunkt einer warmen, grundguten Welt zu befinden. Links und rechts vom Foto lag ein dreizehntes Besteck — Messer und Gabel, umstanden von Kerzen. Ed entdeckte das Leuchten auf Sonjas Stirn: Es war sein Foto. Kruso streckte den Arm nach ihm aus, erreichte ihn aber nicht und fuchtelte stattdessen ungeduldig durch die Luft; das Dynamit begann zu flackern.

«Du musst ausblasen, Ed!«

«Das Geburtstagskind bläst aus. «Er hatte es schnell und ohne Überlegung gesagt. Vielleicht nur, weil es sein Foto war, seine eigene kleine Tote.

«Blas aus, verdammt!«

«Ich meine, das steht mir nicht zu, Losch.«

«Also. Also, Sir Edgar … Das Geburtstagskind ist gerade nicht da, es ist — noch irgendwo dort draußen unterwegs, irgendwo da!«, sein Arm zielte aufs Meer hinaus.»Deshalb kann sie nicht kommen, heute, verstehst du das? Reicht dir das?«Krusos Wangen waren grau, wie in Blei gegossen.

«Genau genommen ist es das neunzehnte Mal, dass sie ihren Geburtstag verpasst. Und genau genommen ist sie heute älter als ihre Mutter geworden, ziemlich seltsam, oder?«

«Entschuldige, Losch.«

Ed hatte einen Gedanken, aber er hatte auch Angst.

«Lass es uns gemeinsam tun, Losch, ich meine, wir beide, als — ihre Brüder.«

Kruso starrte ihn an und stieß etwas auf Russisch hervor, wobei er sich nicht mehr die Mühe machte, zu artikulieren; es war mehr ein Spucken. Ed fragte sich, wie er es angestellt haben konnte, Geschirr und Gläser heil auf den Tisch zu bringen und die Kerzen zu befestigen. Loschs Gesicht war leer, aber dann, als hätte er begriffen, verzogen sich langsam seine Mundwinkel.

«Wir-zwei-beide!«

Ed senkte den Kopf.

«Übrigens ist auch sonst niemand mehr da«, lallte Kruso,»alle weg, Ed, weg, weg, weg! — obwohl es Sekt gibt zum Frühstück, SU-Sekt mit Kirsch-Whisky. «Er goss Schnaps in sein halbvolles Sektglas. Noch immer erwartete Ed, dass Krombach aus seinem Kabuff treten oder Koch-Mike am Tisch erscheinen würde, einen verschwitzten Bestell-Zettel in der Hand — er wünschte es sich.

«Auf Sonja, Solnyschka, Sofija, auf Sonja Valentina Krusowitsch, fünfunddreißig Jahre! Hoch soll sie leben, hoch … — verdammt Ed, kannst du dir vorstellen, dass ich das gesungen habe, ich, Ed, ihr kleiner, winziger Bruder?«

«Auf Sonja«, antwortete Ed und hob sein Glas. Er dachte an G. An den Tag, als sie Matthew gefunden hatte, noch blind und das Fell verklebt.

Die Bewegung ihrer Köpfe zum Tisch, plötzlich heftig, hungrig, die gespitzten Lippen — als versuchten sie beide zur gleichen Zeit das Foto zu küssen. Ed vergaß sich fast dabei; er blies, spuckte, atmete Rauch ein.

«Du bleibst, Brüderchen, nicht? Du-bleibst-mir-mal-schön-hier!«

Krusos Kopf vollführte ein paar trunkene Schlenker, die erklären sollten, warum das unbedingt nötig sein würde.

Zum ersten Mal trug Ed Speiches Pullover. Er schüttelte ihn aus, er betastete ihn und presste sein Gesicht in die Wolle. Sie roch nach Tabak, und für einen Moment spürte er etwas wie Dankbarkeit.

«Wegen Inventur geschlossen«— als er vom Meer zurückkehrte (ein tosendes, brüllendes Meer, vor dessen Anblick man ohnmächtig werden oder wenigstens in die Knie sinken wollte), entdeckte er das Schild an der Tür. In der Gaststube roch es nach Rauch.

«Happy Birthday, Kleine.«

Das Gesicht mit Spritzern von Wachs übersät.

Eine Weile war er unentschlossen. Dann nahm er das Foto und trug es in sein Zimmer zurück. Langsam ging er den Flur entlang und öffnete alle Türen. Es war niemand mehr da.

Kruso lag quer über dem Tresen und schlief. Seine rechte Hand hing ins Spülbecken und umklammerte ein Glas. Ed löste es aus seinen Fingern und legte die aufgeweichte Hand ins Trockene.

Mit dem Ellbogen hatte sein Freund ein paar saubere Gläser umgestoßen, eines war zerbrochen. Mit Tischtüchern deckte Ed den Schläfer zu und schob ihm einen trockenen Lappen unter den Kopf. Für einen Moment lag Krusos Wange in seiner Hand.

Er begann mit den Scherben. Dann räumte er den Personaltisch ab, vorsichtshalber auch den Tresen, ein Handgriff ergab den anderen. Ohne zu zögern, warf er die Reste des Kuchens in den Müll. In der Küche herrschte Chaos. Er ging in den Keller und sah nach dem Feuer. Er redete ein paar Worte in die Glut, dann brachte er die Asche zum Aschekübel. Über den Aschekasten hatte er einen Lappen gelegt, damit der Wind die Asche nicht herausblasen konnte; wieder dachte er dabei an seinen Vater, aber hier trug er selbst die Verantwortung. Er stapelte die schmutzigen Pfannen in den Abwasch und ließ Wasser darüberlaufen. Er wartete, bis er sicher sein konnte, dass gerade keine Touristen auf der Terrasse waren (ab und zu Stimmen, Rufe, ein Rütteln an der Klinke), dann trat er hinaus und löschte die Speisekarte von der Tafel. Plötzlich hatte er den Gedanken an ihr Angebot nicht mehr ertragen. Ohnehin gab es zu viele falsche Hoffnungen auf der Welt.»Doch auch die falschen sind berechtigt, mehr als berechtigt, und deshalb gar nicht falsch, weder richtig noch falsch wahrscheinlich, das musst du zugeben, einfach mal zugeben«, flüsterte Ed und entspannte sich. Sein Selbstgespräch hatte begonnen. Er prüfte die Vorräte im Eisschrank, die Arbeit machte ihn still. Hab mein Bärenpferd schon lange nicht, dachte Ed, dann sah er den Pferdekopf vor sich, und rund um die Kontur des Kopfes begann langsam sein Denken, zögernd und noch ungenau, aber deutlich konnte er spüren, dass er es selbst war, der dachte. Dass er es war.

«Wir haben zwei Luken, Ed. Getränkeluke und Eisverkauf, die sogenannte Eisluke. Das heißt, wir machen alles dicht, Terrasse, Tür, Gaststube, und vorn die Luken auf. Das ist Krieg, Ed, der Klausner im Sturm, auf schwierigem Kurs, mit kleiner Besatzung. «Er deutete auf Ed und sich selbst, nickte dazu, als sei er mit sich und alldem einverstanden, und machte schließlich einen unbestimmten Schlenker, der besagen sollte, dass Hilfe nicht ausgeschlossen, aber auch nicht unbedingt nötig war. Erst am späten Nachmittag war er zu sich gekommen. Er hatte sich gewaschen, rasiert und frisches Küchenzeug übergezogen. Die Pepitahose war zu kurz, sie reichte ihm kaum bis an die Knöchel. Ed saß in der Küche unter dem Radio und hörte ihm zu, eine Zwiebel auf seinem Teller und zwei Scheiben Mischbrot. Er hatte geglaubt, dass Kruso in irgendeiner Form um ihn werben würde, ihn bitten vielleicht. Jetzt begriff er, wie selbstverständlich es für ihn war, dass er blieb, dass sie weitermachten.

«Du weißt, Rick hat die Luken immer Klappen genannt, und ab heute nenne auch ich sie so, was nichts mit ihm zu tun hat. Ich möchte dir vorschlagen, die Luken ab jetzt Klappen zu nennen. Wollen wir das?«

«Wollen wir was?«

«Du hörst mir nicht zu.«

«Doch, doch, du meinst die Luken.«

«Die Luken Klappen nennen, meine ich, und zwar ab sofort.«

«Gut, Losch.«

«Also: Zwei Mann — zwei Klappen, das heißt, wenn alles sehr gut läuft. Öfter aber wird es heißen: Ein Mann — zwei Klappen, hin und her, vor und zurück, verstehst du, Ed? Und der andere hier hinten macht die Munition klar, Bockwürste, Bouletten und so weiter, kleines Kaliber. Dazu immer viel Brot, viel Senf, das beruhigt die Gemüter. Lieferung direkt an die Eisklappe oder, wie gehabt, auf die Essensausgabe. In jedem Fall müssen wir dann ein bisschen laufen, Ed, du oder ich, aber das macht uns nichts aus, nicht wahr? Gleich im Rückraum der Getränkeklappe liegt der Tresen mit Ausschank und Kaffeemaschine. Dort gibt es gar keine Wege, keine Probleme. Da geht einfach immer alles raus, alles, was wir flüssig haben.«

Beinah täglich und oft schon am Vormittag kam jetzt Vosskamp mit ein paar seiner Soldaten auf die Terrasse. Es war keine wirkliche Kontrolle. Er bestellte Kaffee, nahm viel Zucker und rührte lange um. Er stützte einen Arm auf das Abstellbrett vor der Getränkeluke, kommentierte das Wetter und erkundigte sich nach Krombach. Der Fregattenkapitän verhielt sich wie ein alter Nachbar, Offizier eines im Grunde befreundeten Schiffes, das nur gut hundert Meter weiter nördlich lag, gleiche Küste. Für den Direktor erfand Kruso eine Dienstreise zum Stammbetrieb nach Berlin. Wieder einmal bewunderte Ed seinen Gefährten. Wie er es vermochte, sich zu beherrschen, und scheinbar bereitwillig Auskunft gab, trotz Vosskamps Auftritt am Tag der Insel. Vielleicht hatte es mit Krusos Verhaftung zu tun (über die er nicht sprach) oder mit der Anwesenheit des guten Soldaten, der mit den anderen aus Vosskamps Streife auf der Terrasse hockte und die ganze Zeit nervös zu ihnen herüberblickte. Ihr dritter Bruder.

Sie hatten den Klausner zur Festung gemacht, das war unübersehbar. Alle Fenster und Türen waren verriegelt, die Vorhänge verschlossen, alles dicht, bis auf zwei Luken,»zwei Klappen«, flüsterte Ed,»und aus denen wird geschossen.«

Nach einigen Tagen bat der Fregattenkapitän um einen Rundgang. Wie bedauernd ging er durch die leeren Zimmer, ignorierte den Schmutz, der sich über Böden und Tische ausgebreitet hatte, und durchschritt schließlich mit seinen blanken Stiefeln die Küche, wo er Ed die Hand reichte, dem nichts anderes übrigblieb, als sie zu ergreifen. Mit Kruso sprach er auf eine gedämpfte, umgängliche Art, als ginge es um einen Trauerfall, von dem sie beide betroffen waren, wenn auch nicht gleichermaßen.

Am Abend darauf erklärte Kruso seinem Freund Ed, warum sie auf der Hut bleiben mussten und warum es darauf ankommen würde, durchzuhalten, gerade jetzt, da bei den Grenzern offensichtlich Alarmbereitschaft herrsche und Überreaktionen nicht ausgeschlossen werden konnten. Das erste Mal nahm er selbst auf Viola Bezug und ihre Nachrichten vom Festland, von Städten wie Leipzig, Plauen und Dresden.»Durch die Klappen geben wir ein Zeichen.«

Bis in die Nacht saßen sie zusammen am Tresen und dann, in Steppdecken gewickelt, noch einmal auf der Terrasse. Das Wetter hatte umgeschlagen. Nächtelang tönte das Nebelhorn. Das Leuchtfeuer schien schneller zu kreisen, und die Christkiefer bewegte sich mit ihrem steifen Geäst, als wolle sie einer in ihr gefesselten Verzweiflung Ausdruck geben. Bei jedem Geräusch hob Losch die Hand und starrte ins Dunkel. Er begann zu erzählen. Von seiner Schwester und ihrer gemeinsamen Zeit in der Strahlenstation, ihren Spielen, ihren Verstecken. Und wie riesig ihnen das Gebäude vorgekommen sei, wie unendlich lang und verworren die Flure, die keine Fenster hatten, nur Milchglasscheiben, hinter denen Tag und Nacht Licht brannte, und wie geheimnisvoll die Maschinen, die in der Lage waren, ihre Köpfe zu durchleuchten, weshalb er lange geglaubt hatte, sein Pflegevater könne Gedanken lesen.»Ich war sicher, er wolle nur deshalb, dass wir einmal pro Woche zu ihm kämen, ins Labor. Ich hatte Angst vor dem Termin, wegen meiner bösen Gedanken, und versuchte, mich zu verkriechen. Damals entdeckte ich den Turm. Er stand voller Müll, Tausende Röntgenbilder in Holzkisten, eine Armee von Totenschädeln — irgendwann haben sie alles verbrannt. Unsere eigenen Bilder hingen in den Gängen zum Labor, ich glaube, dass er sie besonders mochte. Ich sah darin nicht mehr als Totenköpfe, über denen ein Lineal schwebte wie ein Heiligenschein; die Millimetermarkierungen leuchteten weiß. Wenn ich vor diesen Bildern stand, hatte ich Angst vor mir selbst. Ich meine, Angst vor dem, was in mir steckte, unsichtbar.«

Leise dozierte Kruso über das Asyl, das die Terrasse des Klausners weiterhin darstellen könne. Er sprach über die Rückkehrer und dass es nicht wenige sein würden, sobald sie es erkannt hätten, die Täuschungen der Warenwelt.»Sie können das noch erkennen, Ed. Aber viele, die dort geboren wurden und nie etwas anderes hatten, empfinden ihr Unglück nicht mehr. Die Unterhaltungsbranche, die Autos, Eigenheime, Einbauküchen, warum nicht? Aber für sie ist es ihr Körper, seine natürliche Verlängerung, der Ort ihres Fühlens und Denkens. Ihre Seele steckt fest in einem Armaturenbrett, sie ist Hi-Fi-ertaubt oder verdampft in einem Herd von Bosch. Sie können ihr Unglück nicht mehr empfinden. Sie hören nicht, welcher Zynismus in dem Wort Verbraucher steckt — allein das Wort! Sein animalischer Klang, voller Kuhglocken und Herden, über den Hügel des Wohlstands getrieben, grasend, käuend, Verbrauch, Verdauung und neuer Verbrauch — fressen und scheißen, das ist das Leben des Verbrauchers. Und alles ist dafür eingerichtet, von der Geburt bis zum Tod des Verbrauchers. Der Verbraucherschutz funktioniert wie ein Zaun, er ist die Koppel auf dem Weideland. Die Verbraucherzentrale registriert jede Regung innerhalb der Herde und ermittelt den durchschnittlichen Verbrauch, nicht nach Kilometern, wie bei Motoren, sondern nach Jahren, Jahrzehnten. Wie hoch ist der Verbrauch, zum Beispiel, aufs Leben gesehen? Und wie lange braucht es, bis ein Verbraucher verbraucht ist? Allein das Wort, Ed, dieses kuhäugige Wort, wäre Beweis genug — wenn man noch Ohren hätte.«

Eine Weile schwiegen sie und lauschten dem Nebelhorn, das alle zwanzig Sekunden ertönte,»buh-buh-buh «und Pause.»Eine wichtige Spätsaison steht uns bevor. Ich denke, bald beginnen wir wieder mit den Quartieren. «Es machte Ed traurig, dass er nicht zustimmen konnte, und er vermied es, zu widersprechen. Seine Aufgabe war, an der Seite seines Gefährten zu bleiben, auf ihn zu achten, ihn zu beschützen, wenn nötig, auch vor sich selbst. Zugleich genoss er die Vorstellung, dass niemand anders als sie beide es waren, die diese Stellung hielten: zwei beste Freunde, die ganz allein den Klausner betrieben und damit etwas im Grunde Unmögliches schafften, mit ihrer eigenen Arbeit, Helden ähnlich.

Kruso setzte große Stücke auf den Termin der kommenden Vergabe, obwohl im Augenblick nichts zu vergeben war. Es würde mehr um den Kontakt gehen, die Aufrechterhaltung der» Organisation«, der» Familie «oder dessen, was einmal so genannt worden war. Er trank noch mehr als im Sommer, und rasch verlor seine Rede an Kontur. Mehrmals hintereinander nannte er die beiden Klappen des Klausners die» Herzklappen der Freiheit«.

Ed schälte Zwiebeln, wie in seinen ersten Tagen, Zwiebeln und Kartoffeln. Er hatte die Vorräte im Keller und im Kühlraum inspiziert und ein Verzeichnis angefertigt. Dem Vorbild Koch-Mikes folgend, stellte er eine Einkaufsliste zusammen und entwarf das Notmenü: Rührei, Bouletten, Bockwurst, wahlweise mit Brot oder Bratkartoffeln. Er war jetzt der Proviantmeister des Klausners. Er war Koch, Hilfskoch und Abwäscher zugleich, Mittelpunkt einer vergleichsweise riesigen Küche, was ihn trotz aller Rückschläge mit einem gewissen Stolz erfüllte. Nichts bewies deutlicher, wie weit er gekommen war seit seinem Aufbruch. Bevor Zweifel oder Trauer in den Wortlaut dieser Überlegung einziehen konnte, biss er kräftig in seine Zwiebel: Robinson träumt Freitag, und Freitag erscheint. Kruso hatte nicht falsch gelegen, als er auf ihn gesetzt, ihm vertraut, etwas in ihm gesehen hatte, das er bis dahin nie gewesen war. Er hatte richtig geträumt.

In diesen Tagen wurde viel eingezahlt auf das Konto der unausgesprochenen Voraussetzungen — es musste mehr als ausgeglichen sein. Das Gefühl der Lüge oder das, was für Ed Anlass ständiger Bedrückung gewesen war (ihn niedergedrückt hatte) an der Seite Loschs oder in den Kreisen der Esskaas, all jener also, die sich ausgezeichnet hatten durch Unbotmäßigkeit, war getilgt. Und noch etwas: Er ging nicht fort, er tat nicht, was alle taten.

Unter den Vorräten im Keller gab es einige hundert rostige Büchsen mit Birnen, die aus einem der Vorjahre stammen mussten, das Etikett war abgefault. Ed reinigte die Büchsen und schleppte sie nach oben in die Küche. Er schlug Kruso vor, die Birnen als Kompott zu verkaufen. Auch der Kuchen aus dem Kühlhaus, der für die Betriebsurlauber des letzten Durchgangs bereit lag (die sieben Samurai und ihre Familien), konnte als» Nachtisch «angeboten werden. Mit dem Messer beschrieb er die Größe der Stücke, in die er das Gebäck, das aus einem gummiähnlichen Fruchtgelee bestand, zu schneiden gedachte — kleine spitze Happen,»für dreißig oder vierzig Pfennig das Stück«. Kruso, der unentwegt hin- und herhastete zwischen den Klappen, um bei Speisen und Getränken gleichzeitig zu bedienen, starrte auf das Messer, dann umarmte er Ed.

«U menja brat i sestra!«

Im Laufschritt kehrte er zurück an die Luken. Ja, jetzt waren sie wirklich wie Geschwister.

Zum Termin der traditionellen Vergabe erschienen lediglich fünf Esskaas, die Ed nur flüchtig kannte. Keine Schiffbrüchigen, keine Obdachlosen. Spendenpäckchen hatte niemand dabei, und schnell stellte sich heraus, dass die Esskaas nur trinken und den Sonnenuntergang sehen wollten. Obwohl Ed gut bediente, beschwerten sie sich darüber, dass die Steilküstendrinks vom Spätsommer nicht mehr angeboten wurden. Kruso kehrte an den Tresen zurück und mixte die Drinks. Ed war empört, aber sein Freund gab ihm ein Zeichen. Mit ihren Gläsern in der Hand zog die kleine Gruppe zur Steilküste ab, zum höchsten Punkt, der in Sichtweite der Kaserne lag, was keinem etwas auszumachen schien.

Sie tranken und starrten aufs Meer hinaus. An der Abbruchkante war der Wind so stark, dass er ihnen das Lachen glatt vom Mund abschnitt, weshalb sie wie blöde dastanden mit ihren stummen Grimassen aus Lippen und Zähnen, während die Gläser zu Eis wurden in ihren Händen. Das tiefe Licht der Sonne hob die Kreideklinten Møns wie ein Wunder aus dem Meer. Tatsächlich schien die Insel der Sehnsucht in den letzten Wochen gewachsen zu sein oder näher gerückt. Vielleicht hing es damit zusammen, dass die Sonne inzwischen viel weiter links, viel südlicher unterging als im Sommer und das Licht im Herbst vollkommen anders war. Vor allem ist es die kalte Luft, dachte Ed, sie ist klarer, und der Wind säubert die Aussicht.

Sturmschlieren zogen sich von Westen her über das Wasser, quer über die unentwegt heranrollenden Wellenberge, die, glaubte man den Meeresexperten, den Dornbusch mit Leuchtturm, Kaserne und Klausner langsam, aber sicher verschlucken würden, Stück für Stück. Schon Minuten nach Sonnenuntergang war das Meer nur noch dunkle, ewige Masse. Auf der Säule des Leuchtturms in ihrem Rücken pfiff der Sturm seinen Singsang. Als großes helles Grau und geballt wie die Abgase eines gigantischen Chemiewerks zogen die Wolken — »Bunabuna«, brummte Ed und dachte an die Bunesen und den atemversetzenden Ausstoß ihres riesigen, stählernen Schlachtschiffs vor den Toren der Stadt, aus der er geflohen war.

Er trat einen Schritt vom Kliff zurück, und augenblicklich wurde es still, als gäbe es den Wind nicht mehr und auch sonst nichts mehr auf der Welt. Noch einmal sah er G., wie sie vor dem Kellerloch hockte im Hof und versuchte, die winzige, vom Schuppendach gestürzte Katze hervorzulocken mit einer Schale voll Milch:»Matthew!«Vielleicht war es auch Sonja, die er meinte in Gedanken. Augenblicklich wurde ihm heiß.»Dies ist der Herbst, der — bricht dir noch das Herz …«Seine Auswendigbestände meldeten sich, aber der Name des Autors war ihm entfallen, und auch der Rest des Gedichts lag im Nebel.

Der Herbst, der … Der Herbst? Das Vergessen hatte begonnen.



Gute Nacht

Nachts gefror die Stille in den leeren Zimmern. Draußen rauschten die Bäume oder das Meer oder die Zeit, aber sie waren innen, geschützt, ohne Vergängnis. Kruso trank; er starrte in den dämmrigen Gastraum und fuhr sich über die Hände, als müsse er etwas abstreifen, aber es gelang ihm nicht. Dann hielt er still und spreizte die Finger; es sah aus, als hätte er einen Krampf. Ab und zu wanderte er in die Küche, um ein paar Dinge geradezurücken. Oder er lief in den Abwasch und griff sich die Flasche mit der sagenhaften Creme. Seit ihre Hände nicht mehr an jedem Tag für Stunden im Waschwasser steckten, waren sie wie altes, unter der Sonne gerissenes Leder, einem brüchigen, weißschimmeligen Handschuh ähnlich. Ein Handschuh, den man nicht mehr loswerden konnte, so sehr man sich auch danach sehnte.

Manchmal benahmen sie sich wie fremd.

Eds Versuche, ein Gespräch zu beginnen, klangen hohl und verliefen im Sande. Sich zurückzuziehen war nicht einfach, seit sie allein im Klausner hausten. Plötzlich sagte jeder Rückzug etwas aus. An Abenden, an denen sie lange zusammensaßen, spürte Ed eine Verlegenheit. Aber sie tranken darüber hinweg, und am Ende, wenn Kruso hinter den Tresen trat, um ihre Gläser, das Schneidebrett und das Messer abzuspülen (nichts blieb mehr liegen), waren sie betrunken genug, die Trennung zur Nacht nicht mehr als künstlich oder unnatürlich zu empfinden. Trotzdem wirkte es seltsam, wenn Kruso ihm umständlich eine» Gute Nacht «wünschte und ein» Schlaf schön «hinzufügte, wie es Eltern taten, worauf Ed sofort etwas Identisches erwiderte, weshalb sie in diesem Moment zu Kindern wurden, Kindern in gestreiften Schlafanzügen. Tatsächlich erinnerte ihre Arbeitsbekleidung, die längst zu dünn war für den Herbst und steif von Dreck um die Gelenke schlotterte, an solche Schlafanzüge, Sträflingskleidung oder Schlafanzüge.

Einen Moment standen sie Wange an Wange, unrasiert, schmutzig, halb verwildert. Ed spürte einen feinen Rest Schmerz unter dem Auge — der kleine Riss im Golf von Mexiko. Kruso beugte sich zu ihm hinunter, denn er war das größere Kind, der ältere Bruder. Unbestreitbar gingen sie sehr vorsichtig und behutsam miteinander um, nicht nur in diesem Augenblick. Vielleicht auch, weil sie wussten, dass noch der ganze Herbst und der ganze Winter vor ihnen lagen. Eines Abends hatte Ed seinen Freund im Moment des Abschiednehmens gefragt (sie waren schon oben im Korridor gewesen, vor ihren Zimmern), ob er nicht das Manuskript mit den Gedichten zurückholen solle aus dem Versteck. Kruso schüttelte nur den Kopf und schloss lautlos seine Tür, so dass Ed nicht sicher sein konnte, ob er die Frage überhaupt verstanden hatte — immer blieb etwas offen zwischen ihnen.

In der Nacht spürte Edgar ein Beben. Im Traum glitt der Klausner ins Meer, langsam, bedächtig, mit rundum verschlossenen Luken, wie ein Schlachtschiff, das vom Stapel läuft. Aus dem Dach ragte der Tresen, die Brücke. Ed sah, wie Kruso dort umhersprang, er schwenkte seinen Feldstecher und brüllte Kommandos: Das Schiff nahm Fahrt auf. Jeder Zweifel fiel von ihm ab, reine Freude, unbeschreiblich.

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