Von Krusos Tod habe ich im Sommer 1993 erfahren, am 28. August. Am folgenden Morgen fuhr ich Richtung Potsdam, zum Russischen Friedhof an der Bundesstraße 2, um nach dem Grab seiner Mutter zu suchen, die Artistin in der Roten Armee gewesen war. Seit einiger Zeit wohnte ich nicht weit von dort, mit dem Auto nur wenige Minuten, zu Fuß eine halbe Stunde durch den Wald.
Der Friedhof liegt auf einer Anhöhe zwischen Kiefernbäumen, die wie Säulen zwischen den Gräbern stehen und alles beschatten und beschützen. Trotzdem hat sich der Ort verändert in den letzten Jahren — irgendwann ist auch 1993 lange her. Damals, als es mit Kruso passierte, hatte ich keinen Einfluss auf den Gang der Dinge. Es ist mir wichtig, das noch einmal zu sagen, nur das. Alle Umstände gelten als geklärt, und so schwer es mir auch fällt, damit abzuschließen, sie gehören nicht in diesen Bericht.
Ich hatte keinerlei Anhaltspunkt, also suchte ich das gesamte Gelände ab. Vorn, zur Straße hin, lagen die Offiziere, dahinter die Soldaten, dann das Gräberfeld der Kinder und ganz hinten am Zaun die Grabstellen der Frauen. Viele Grabeinfassungen waren zerbrochen, die Steine verrutscht und mit Kiefernnadeln bedeckt. Im Zentrum des Friedhofs gab es einen Ehrenhain, den eine Art Golem bewachte, ein gusseiserner Rotarmist, vier oder fünf Meter hoch, mit Helm und Maschinengewehr. Seine ganze unerschrockene Gestalt konzentrierte sich auf den Haupteingang, um jeden, der diesen Ort ohne Respekt betreten wollte, mit seinem gusseisernen Blick in die Knie zu zwingen.
Auf den Kindergräbern lag jede Menge Spielzeug, Plastikautos, Gummipuppen und Teddybären, die sich an Grabsteine lehnten, die Beine mit Moos überwachsen. Soldaten, die gemeinsam verunglückt waren, hatte man auch gemeinsam begraben, so viel ging aus den Inschriften hervor — eine Besatzung, bis zuletzt. Oft handelte es sich um Flugzeugabstürze, ein Umriss des Flugzeugtyps (Bomber, MiG, Transporter) war in den Stein eingraviert, oberhalb der Namen. Manche Steine trugen Gesichter, kleine ovale Fotos unter Glas, in Edelstahl eingefasst. Andere hatten nur einen Namen, kein Geburts-, kein Sterbedatum — die erschossenen Deserteure, wie ich später erfuhr. Je weiter ich mich vom Golem entfernte, umso weicher und dicker wurde das Moos über den Gräbern. Es gab viele Soldaten, die sehr jung gestorben waren, vor allem in den Jahren 1958 und 1959, ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Noch seltsamer war die große Zahl von Kindern. In einem der Gräber steckte ein Windrad, in einem anderen ein Gäbelchen aus Plastik. Das Grab der Artistin fand ich in der Nähe einiger Wurzel- und Erdhaufen, wo man Kränze und Blumen kompostierte.
Eine Weile stand ich dort. Ich habe eine genaue Erinnerung an diesen Moment. Der Tag war schon warm. Die Kiefern schälten sich in der Sonne und machten ein Knistergeräusch, kleine hellbraune Rindenstückchen wirbelten zu Boden, durchsichtig wie Haut im Licht, und ich stellte mir vor, wie Sonja ihre Kunststücke vorgeführt hatte, am offenen Grab. Dann ein Salut ins Kieferngewölbe und Kruso-das-Kind, das weder weinen noch Abschied nehmen konnte. Ohne es mir restlos einzugestehen, hatte ich geglaubt (oder befürchtet), Sonjas Namen auf dem Stein zu finden, unter dem Namen ihrer Mutter. Sonja Valentina Krusowitsch, Krusos Schwester.
«Und sollte ich einmal nicht hier sein, für eine Zeit, dann kümmerst du dich, versprich mir das«, hatte Kruso gesagt. Es war, als hätte sein Tod mein Versprechen endgültig in Kraft gesetzt, und vielleicht stieß ich nur deshalb auf das Buch (alles ist Zufall). Ein paar Tage später, bei einem meiner ziellosen Streifzüge durch die Regalreihen der Stadtbibliothek, las ich den Titel: Über die Ostsee in die Freiheit, der meeresgraue Umschlag mit dem Untertitel Dramatische Fluchtgeschichten. Das Buch stand im Regal der» Neuerwerbungen«, nicht weit vom Eingang, im Grunde unübersehbar. Im Anhang gab es ein Interview: Die Gestrandeten von Klintholm. Hafenmeister Erik Jensen erzählt. Ich nahm das Buch und zog mich damit hinter die Zeitungsständer zurück, wo eine Sitzecke aus weichen braunen Sesseln aufgebaut war, in der ein paar Rentner und Arbeitslose ihren Tag verbrachten.
Das Gespräch mit dem Hafenmeister handelte von ostdeutschen Flüchtlingen, die auf Møn gelandet waren. Es handelte von zerbrochenen Jollen und zertrümmerten Faltbooten, ohne Besatzung. Und von den Toten, die es vor Klintholm,»vor seiner Haustür«, wie es hieß, angeschwemmt hatte oder die in den Grundschleppnetzen der dänischen Fischer aus dem Wasser gezogen worden waren über die Jahre. Nirgendwo so viele wie zwischen Rügen und Møn, sagte der Hafenmeister.
«Wir brachten sie hier an Land und übergaben sie dem Gerichtsmedizinischen Institut in Kopenhagen.«
«Könnte ein Angehöriger, der nach einem vermissten DDR-Flüchtling sucht, noch heute dessen Schicksal aufklären?«
«Wenn er die ungefähre Fluchtzeit weiß und eine Personenbeschreibung oder gar ein Foto hat, ist das vielleicht möglich. Die Beschreibungen der Toten liegen beim Retsmedicinsk Institut, Københavns Universitet, Rigshospitalet, Blegdamsvej 9, Kopenhagen.«
Ich tauschte etwas Geld und kaufte mir eine Straßenkarte, in die ich meinen Weg mit Kugelschreiber vorzeichnete. Am 7. September fuhr ich mit der Fähre von Rostock nach Gedser in Dänemark und von dort weiter nach Kopenhagen, zum Rigshospitalet. Allein der Preis für die Überfahrt sprengte mein Budget. Das Land, die Stadt, das alles war neu für mich, und zeitweise hatte ich das Gefühl, mich auf einer Art Expedition zu befinden, einer Entdeckungsreise, eine Prüfung vielleicht, aber auch das gehört nicht in diesen Bericht.
Das Haupthaus des Reichshospitals war ein grauer, vielleicht zwanzigstöckiger Neubau aus Stahl und Glas. Die Frau an der Information hatte mich zuerst nicht verstanden — mein schlechtes Englisch. Ohne weiteres wechselte sie ins Deutsche und erklärte mir das Nötigste, Lage und Besuchszeiten der Gerichtsmedizin. Ihre Freundlichkeit machte mir Mut, aber das Institut hatte bereits geschlossen.
Ich fuhr in eine Straße, die direkt am Haus der Gerichtsmedizin vorbeiführte, den Frederik V's Vej, eine ruhige Gegend. Gleich nebenan gab es einen Park, in dem Fußball gespielt wurde. Das Gelände des Rigshospitalet schien riesig, eine Art Krankenhaus-Manhattan, umgeben von Freiflächen, die den Hudson symbolisierten. Ich drehte eine Runde durch den Park und fotografierte ein Fahrrad, das mit einem großen schwarzen Kasten verbunden war, einer Rikscha ähnlich. Ich spendierte mir einen Becher Kaffee, und irgendwann begann ich ruhiger zu werden. Eine Stunde oder länger saß ich auf einer Bank in der Nähe des Fußballplatzes und machte mir Notizen — die Sprechzeiten, der Name der Straße, des Viertels und so weiter. Mein Vorsatz war, bei allem sehr sorgfältig zu sein, ich wollte nicht, das mir etwas entging. Was man versprochen hat, muss man auch halten — der kindliche Satz. Oder nein, es war doch mehr ein Eltern-Satz, Ziel einer bestimmten Erziehung, die später nur noch ironisch zitiert werden kann, aus irgendwelchen Gründen, über die ich nicht nachzudenken brauchte, denn ich war mir sicher, und mein Ziel war klar. Langsam und gewissenhaft aß ich das letzte Brot aus meinem Proviant und kehrte zum Auto zurück, um es für die Nacht vorzubereiten.
Gut drei Jahre zuvor hatten mir meine Eltern ihren alten Wagen überlassen, einen Shiguli, Baujahr 1971, der sich, wie ich aus Kindertagen wusste, ausgezeichnet zum Übernachten eignete, weil die Lehnen der Vordersitze beim Zurückklappen nahtlos an die Sitzflächen der Rücksitze anschlossen; Kopfstützen oder Schalensitze gab es damals noch nicht, jedenfalls in Autos aus Togliatti; so hatten die Russen ihre Autobauerstadt genannt, nach einem italienischen Kommunisten, Palmiro Togliatti. Außerdem wurde nach italienischer Lizenz gebaut,»Vorbild war der Fiat 124, Auto des Jahres 1966!«— all diese Dinge hatte mein Vater unzählige Male erwähnt, wenn wir im Shiguli unterwegs gewesen waren, so oft, dass sie auch jetzt, da der kostbare Wagen mir gehörte und ich selbst am Steuer saß, in meinem Kopf herumschwirrten, als wären sie ein notwendiger Bestandteil dieses Autos, unverzichtbar wie die Räder oder die Knüppelschaltung. Was ich wirklich mochte, war das braune, wunderbar weiche, zu Streifen abgesteppte Kunstleder, das noch nach Kindheit roch, nach Fahren und Schlafen, langausgestreckt auf dem Rücksitz, die Fußspitzen an der einen, den Kopf an der anderen Tür.
Doch auch darum geht es nicht in meinem Bericht. Ich war erschöpft und hätte sofort in den Schlaf sinken können, wollte aber noch warten, wenigstens bis zum Einbruch der Dunkelheit. Noch einmal drehte ich eine Runde durch das Rigshospitalet. Vor den Bettenhäusern gab es langgezogene Wasserbassins mit kleinen nervösen Springbrunnen. Über dem Eingang zur Gerichtsmedizin stand» Teilum-Bygningen«, auch die Frau an der Auskunft hatte» Teilum «gesagt. Für mich war es das Museum der Ertrunkenen. Schon beim Lesen des Interviews mit dem alten Hafenmeister war mir das Wort durch den Kopf gegangen und hatte mich seitdem nicht mehr verlassen.
Das» Teilum «sah nicht aus wie ein Museum und auch nicht wie ein Leichenschauhaus. Es war ein fünfstöckiger Neubau, die Fassade aus Kiesbeton, ebenso die Pflanzenschalen links und rechts vom Eingang, in denen winzige Ginkgobäumchen um ihr Dasein kämpften. Durch die Glastüren des Vorder- und des Hintereingangs konnte man die Vorhalle und außenliegende Flure einsehen. In den großzügig angelegten Korridoren waren Sitzecken eingerichtet, abgeschirmt von spanischen Wänden und bestückt mit bunten Schalensesseln, hellblau, grün, rot, und unvorstellbar war, dass dort jemals irgendjemand Platz genommen haben sollte. In die Tiefe, wo die Toten liegen mussten, führten zitronengelbe Wendeltreppen.
Als ich meine Stirn von der Scheibe löste und zurücktrat, um das» Teilum «zu fotografieren, dessen verzweifelte Buntheit mir einen schwer benennbaren Respekt einflößte (War es vielleicht doch möglich, mit dem Tod irgendwie moderner, optimistischer umzugehen?), kam ein Mann mit Fahrrad auf mich zu. Ohne abzusteigen, fragte er mich etwas, vermutlich, was ich hier zu suchen hätte. Er trug eine graue Wachschutz-Uniform, die an einen Schlosseranzug erinnerte. Auch er selbst war grau, graue Haare, graues Gesicht. Ich antwortete auf Englisch. Ich erklärte, dass ich ein deutscher Schriftsteller sei, der eine Recherche mache für ein Buch über die Toten,»about the bodies, who came here in former times«, stotterte ich, worauf der Security-Mann sofort von mir abließ und mir alles Gute wünschte. Weit nach vorn gebeugt und mit beachtlichem Tempo nahm er seine Fahrt wieder auf; es musste eine Art Rennrad sein. Plötzlich wurde mir bewusst, dass er schon mehrmals an mir vorbeigezogen war, während ich versucht hatte, das Museum der Ertrunkenen näher zu erkunden.
Ich kroch in den Shiguli und schlief bald ein. Über mir das Rauschen der Bäume von Fælledparken (der Name im Notizbuch). Am nächsten Morgen machte ich mich, so gut es ging, zurecht. Wasser aus der Wasserflasche, Zähneputzen im Schutz des aufgeklappten Kofferraums. Ich wechselte das Hemd und versuchte, es glattzustreichen. Dann ging ich in den Park, aber die Kaffeebude war geschlossen.
Im Auto fand ich noch einen Apfel. Ich überlegte, ob es für mein Vorhaben von Vorteil sein könnte, die Legende vom Schriftsteller beizubehalten, in jedem Fall schien es eindrucksvoller. Ich hatte eine Mappe mit Sonjas Foto und einem Begleittext in englischer Sprache vorbereitet, der klarmachen sollte, weshalb ich den Status eines» Angehörigen «beanspruchen durfte. Und ich hatte Sonjas persönliche Daten zusammengestellt (soweit ich Bescheid wusste darüber), auch den vermutlichen Zeitpunkt ihrer Flucht, ihrer vermutlichen Flucht. Noch einmal schlug ich die Mappe auf, konnte mich aber nicht konzentrieren und pulte nur ein paar Wachsspritzer von Sonjas zerknittertem Gesicht.
«Blas aus, verdammt!«
«Du musst ausblasen, Ed!«
Ich versuchte, mich zu wappnen. In meinem Kopf spukten Zombies und Leichenteile. Ich sah die tote Sonja in einer Kühlbox,»auf dem guten Eis des Königreichs«— vollkommen absurd, ja, und plötzlich kam es mir nicht weniger absurd vor, an diesen Ort gekommen zu sein, naiv und unwissend wie ich war. Aber nicht ohne Grund, immerhin. Ja, ich würde mich kümmern, und natürlich hoffte ich, Sonja nicht zu finden.
Eine Weile irrte ich durch die Flure des Erdgeschosses, Auditorium 1, Auditorium 2, die Türen standen offen, ein süßlicher Geruch hing in der Luft. Die Büros lagen oben. Dort gab es eine Art Wartebereich mit Garderobe und Empfang, in dem zwei Sekretärinnen saßen, eine jüngere und eine ältere.
Ich begann, meine auswendiggelernten Sätze vorzutragen (mein schlechtes Englisch). Noch bevor ich meine Mappe öffnen konnte, griff die Jüngere zum Telefon.
«Doktor Sørensen?«
Dr. Sørensen sprach Deutsch, wofür ich ihm augenblicklich dankbar war. In seinem Haus gäbe es pro Jahr etwa 3000 Obduktionen; natürlich könnten auch ertrunkene Flüchtlinge dabei gewesen sein, aufgelesen an den Küsten von Seeland, Lolland oder Falster, an einige Fälle erinnere er sich dunkel, aber über Unterlagen verfüge leider nur die Polizei … Sørensen trug ein weißes Hemd mit großem spitzen Kragen. Beim Reden legte er den Kopf leicht zur Seite und nickte ein paar Mal, um ein» Es-ist-nun-mal-wie-es-ist «anzudeuten.
Eine Weile war ich auf diffuse Weise erleichtert. Ich war froh, von den Dänen, die alle Deutsch zu sprechen schienen, empfangen und freundlich behandelt worden zu sein, trotz meiner übernächtigten, knittrigen Erscheinung, der Erscheinung eines Dahergelaufenen, immerhin des ersten Ostdeutschen im» Teilum«, der sich für die Leichen seiner Landsleute interessiere, wie Sørensen bemerkte,»Landsleute — könne man das überhaupt noch sagen, heute, wohl eher nicht, Herr Bendler, oder?«
Ich muss zugeben, dass Sørensen mich beeindruckte. Seine agile Art, sein gebräuntes Gesicht — heute würde ich vielleicht anders empfinden, aber damals war Sørensen ein Mensch aus einer anderen Welt, einem anderen (besseren) Leben, Lichtjahre entfernt von dort, wo ich herkam. Beinah schämte ich mich vor ihm für das fleckige Foto, holte es dann aber doch noch heraus aus meiner Mappe und schob es über den Tisch, einer letzten Bitte ähnlich; ich kam mir schäbig dabei vor. Sørensen blickte nur kurz auf das Bild (wie auf ein Missverständnis), berührte es aber nicht, weshalb ich es bald wieder an mich nahm, hastig und verlegen.
Trotzdem muss ich sagen, dass der Umstand meines Erscheinens mit viel Hilfsbereitschaft beantwortet wurde, einschließlich des Angebots einer Führung durch das» Teilum«. Vielleicht, weil es schwerfiel, mich mit leeren Händen fortzuschicken (angesichts des weiten Wegs, den ich zurückgelegt hatte), vielleicht auch, weil ich aus dem Osten kam und mit meiner Demutshaltung den Eindruck erweckte, eigentlich an allem interessiert zu sein.
Man spräche hier über den Tod etwas unbefangener, erklärte Sørensen, während er mich durch die Räume führte. Ich trug jetzt einen weißen Kittel und tappte hinter ihm her.
Eine einzige wirklich genaue Erinnerung ist mir geblieben, sie betrifft das Sektionsbesteck, wahrscheinlich, weil es mir vertraut vorkam — Messer, Löffel, Suppenkellen. Die Organe würden paketweise entnommen, erst Herz und Lunge, dann Magen, Darm und Leber und am Ende Nieren, Blase, Geschlechtsorgane. Alles würde abgespült und einzeln gewogen, und meist entnähme man auch Proben.»Diese Plastiktöpfchen zum Beispiel stehen für die Asservate bereit. «Plötzlich hielt ich eines dieser Becherchen in der Hand. Es enthielt ein weißes Pulver.»Natriumfluorid«, erklärte Sørensen,»das stoppt die Verwesung. «Er griff nach dem Becherchen. Pflichtschuldig zog ich mein Notizbuch hervor, was den Obduzenten dazu verleitete, auf» mein besonderes Interesse «einzugehen, wie er es nannte. Wasserleichen seien Faulleichen und hätten schon einen gewissen Geruch, im Grunde unerträglich. Da sitze man im Auto nach Hause, man stehe im Stau, und plötzlich: der Geruch. Er stecke in der Haut, in den Haaren, einfach überall. Frische Leichen wären einem da schon lieber. Sørensen lachte und entschuldigte sich sofort. Das alles sei schließlich ohne Bedeutung. Die Neugier sei das Wichtigste, eine gewisse, vielleicht übertriebene Neugier, diese Neugier dürfe man niemals verlieren.
Beim Abschied wechselte Dr. Sørensen ein paar Worte mit den Sekretärinnen. Sicher machte ich einen verstörten Eindruck, jedenfalls begleitete mich die ältere zum Ausgang. Vor dem Fahrstuhl trat sie etwas näher an mich heran, dann sagte sie es: Wenn ich trauern wolle, also, falls ich den richtigen Ort dafür suche, den Ort, um Abschied zu nehmen von meiner Freundin (so drückte sie sich aus), dann solle ich auf den städtischen Friedhof gehen, zum Grab der Unbekannten. Dabei drückte sie mir einen Zettel in die Hand: Bispebjerg Kirkegård, Frederiksborgvej 125, Nørrebro.
Ich weiß nicht mehr viel über den Rest des Tages. Halb bewusstlos war ich den Trampelpfaden der Touristen gefolgt und irgendwann im Hafen gelandet. Ich erwachte mit einem Staunen — darüber, wie klein die Kleine Meerjungfrau (Den lille Havfrue) tatsächlich war. In meinem Stadtführer las ich, dass man ihr 1964 den Kopf und 1984 den rechten Arm abgesägt hatte, aber es waren keine Wunden, keine Spuren zu entdecken. Sie sah unfassbar traurig aus — mitleidig und jedes Mitleids würdig. Es war der Moment, in dem ich beschloss, nach Bispebjerg zu gehen, daran erinnere ich mich. Unterwegs versuchte ich, mir die kleine Meerjungfrau ohne Kopf und ohne Arm vorzustellen; sie war nicht zu Gischt geworden, nicht zu einem Geist aus Luft, nein, ihr verwester Körper lag zwischen den Steinen, frisch gestrandet, aber niemand unternahm etwas. Nur ein paar Touristen, die Fotos machten. Dann Polizei, Gerichtsmedizin, Obduktion, Protokoll. Immerhin hatte sie einen Namen, jeder Däne hätte sie erkannt, auch ohne Kopf.
Das Besondere am Bispebjerg Kirkegård war, dass man ihn befahren konnte. Es gab ein großes, gut asphaltiertes Oval, einer Rennstrecke ähnlich, und einige kleinere Seitenstraßen. Alle Wege waren Chausseen, gesäumt von Pappeln oder Tannen. Ich parkte zunächst am Krematorium und orientierte mich an einem Lageplan. Rings um die Rennbahn waren verschiedene Abteilungen angeordnet, ausgeschildert wie Autobahnabfahrten — schwedische, russische, muslimische, katholische Abfahrt und am anderen Ende des Geländes, hinter der Südkurve, das Tyske Grave, die deutschen Toten. Ich stieg in den Shiguli und fuhr bis dahin, etwa drei Kilometer.
Das Tyske Grave war eine Anlage mit drei Steinkreuzen, drei Eichenbäumen und einer großen bronzenen Gedenkplatte. Auf einer Reihe weiterer, kleinerer Tafeln wurden die Toten aufgeführt, alphabetisch geordnet, mit Geburts- und Sterbedatum. Die Liste schloss mit dem Hinweis auf» siebzehn unbekannte deutsche Flüchtlinge«.
Was ich in diesem Moment empfand — ich erinnere mich nicht. Ich weiß, dass es mir schwerfiel, auf dem Friedhof zu schlafen, obwohl ich mich sicher fühlte im Shiguli. Und ich weiß, dass ich um Mitternacht noch einmal aus dem Auto gekrochen und zum Stein gegangen bin. Im Dunkeln sah alles anders aus, wärmer. Ich legte das knittrige Foto ins Gras und wartete ab. Es war still. Kein Wind in den Bäumen, kein Rauschen, nichts geschah. Kein Zeichen. Ich dachte an Kruso, an Sonja und also auch an G. Ich erfüllte ein Versprechen, als hätte ich es mir selbst gegeben.
«Du wirst mich also nicht verlassen, Sonja?«
«Nein, nein, nie und nimmer. Ich werde dir folgen.«
Knapp zwanzig Jahre später sah ich, wie ein Mann auf eine weite leere Wiese zeigte und sagte:»Hier überall liegen die Toten begraben. «Es war ein Film des Norddeutschen Rundfunks über die Ostseefluchten. Ich hatte bis kurz vor Mitternacht gearbeitet und dann den Fernseher eingeschaltet. Ich hatte schon Wein getrunken, eine halbe Flasche. Alles ist Zufall. Ich hatte nur müde werden wollen, bettschwer, wie meine Mutter das nannte, und es gab keine bessere Methode.
Das Auge der Kamera schwenkte langsam (trauernd) über die Wiese und verharrte schließlich (andächtig) im Geäst einer großen alten Buche, die dort Ehrenwache hielt. Wiese und Bäume, sonst nichts. Der Friedhof hieß Bispebjerg Kirkegård, aber der Ort ähnelte nicht im Mindesten jenem, an dem ich zwei Jahrzehnte zuvor gewesen war, einen Abend und eine Nacht, um Abschied zu nehmen, wie es die Sekretärin aus der Gerichtsmedizin vorgeschlagen hatte. Der junge Däne vor der Kamera trug einen halblangen Mantel, sein Haar war blond und reichte ihm bis auf die Schultern. Hinter ihm nichts als Gras und hier und da, in einigem Abstand, kleine bunte Blumeninseln.
Was man versprochen hat. Es lag nicht daran, dass ich am falschen Grab gewesen und vielleicht für dumm verkauft worden war. Es hatte nichts mit meiner Empörung zu tun, nein: Ich war nachlässig gewesen. Ich hatte mich zu schnell und im Grunde mit nichts zufriedengegeben.
In den folgenden Wochen las ich alles, was zum Thema greifbar war. Ich fand nicht allzu viel. Zwei Bücher mit sorgfältigen Recherchen und Analysen, einige Artikel, eine Wanderausstellung. Eine Statistik verzeichnete über 5600 Flüchtlinge, 913 davon erfolgreich, 4522 Festnahmen und mindestens 174 Todesopfer seit 1961, angeschwemmt zwischen Fehmarn, Rügen und Dänemark. Die ergiebigsten Fluchtgeschichten hatte man verfilmt, kein großes Kino, aber gute Dokumentationen für die dritten Fernsehprogramme: Zwei Surfer, die es bei Novembersturm von Hiddensee nach Møn geschafft hatten (mit selbstgefertigten Surfbrettern). Zwei junge Ärzte im Schlauchboot, aufgelesen von einem dänischen Kutter. Ein Mann, der in vierundzwanzig Stunden achtundvierzig Kilometer geschwommen war, von Kühlungsborn nach Fehmarn, mit fünf Tafeln Schokolade als Proviant. Aus Fluchten wurden Fluchtgeschichten und aus Flüchtlingen Helden, Menschen, die alles riskiert und überlebt hatten.»Wir haben es geschafft «oder» Wir haben unser Ziel erreicht«, immer wieder dieser Satz, einer Beschwörung ähnlich.
Auch von zahlreichen missglückten Fluchtversuchen war die Rede, nur über die namenlosen Toten fand ich nichts, nirgendwo. Kein Fundort, kein Datum, kein Grab, allein der vage Hinweis auf eine Bestattung in Kopenhagen. Seltsamerweise tauchte hier und da die Zahl 15 auf, 15 unbekannte Opfer, wie es hieß, gestrandet an den Küsten Dänemarks. Ich fragte mich, wie es zu dieser Zahl gekommen sein konnte. Ungeachtet einer oft erwähnten Dunkelziffer, die vermutlich, wie es hieß, um ein Vielfaches höher liege, mussten diese Toten immerhin als Ostdeutsche identifiziert worden sein. Jemand musste sie gesehen und es festgestellt haben: Sie kommen von da.»Wenn unsere Fischer zwischen Møn und Rügen das Schleppnetz hochholten, lagen manchmal Leichen zwischen den Fischen. Ich kann mich an zwölf Tote erinnern. Wir brachten sie hier an Land und übergaben sie dem Gerichtsmedizinischen Institut in Kopenhagen.«
Sicher war das eine Verkürzung der Dinge, eine Beschränkung auf das Wesentliche, wie sie einem alten Hafenmeister zusteht, ohne Erwähnung der Polizei, der Forensiker, des Staatsanwalts und des ganzen thanatokratischen Apparats: Irgendwo mussten diese Körper hingekommen sein. Es musste Unterlagen geben, Obduktionsberichte und ein auffindbares Grab. Kein Museum vielleicht, aber irgendetwas.
Zuerst schrieb ich an das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Kopenhagen, Retspatologisk Afdeling, das bunte Leichenhaus. Die Antwort kam sofort. Es handele sich» um interessante und unheimliche Ereignisse«, die ich in meinem Brief schildere, nur leider sei man nicht in der Lage, mir zu helfen. Alle Obduktionen geschähen im Auftrag der Polizei, und nur diese habe das Verfügungsrecht über die Obduktionsberichte. Man sei deshalb gezwungen, mich an die Polizei von Südseeland und Lolland-Falster zu verweisen, Parkvej 50, Næstved. Unterzeichnet war der Brief von Professor Hans Petter Hougen, Staatsobduzent, nicht von Sørensen, der vielleicht schon im Ruhestand war. Mit Hilfe einer dänischsprachigen Freundin formulierte ich eine möglichst genaue Anfrage, und wieder kam die Antwort schnell. In seinem Amtsbereich sei keiner der von mir beschriebenen Fälle aktenkundig, erklärte Allan Lappenborg vom Sekretariat der Polizei Südseeland und Lolland-Falster, ein Gebiet, das zwei Drittel der Südküste Dänemarks umfasst. Seinem Bescheid war die Auskunft des Polizeikreisarchivars Kurt Hansen Löi beigefügt, der schrieb:»Ich habe mich bei älteren Kollegen erkundigt, die während des betreffenden Zeitraums hier angestellt waren. Die Polizei hat sich offenbar dieser Angelegenheiten nicht angenommen, und vermutlich wurde auch kein Todesfall gemeldet. Dies bestätigt die Auskunft des Hafenmeisters, dass die Todesfallmeldungen beim Rechtsmedizinischen Institut gelandet sind. Jedenfalls hat das Polizeiarchiv in Vordingborg keine Todesfälle aus DDR-Zeit. «Obwohl die Auskunft des Polizeikreisarchivars mehr als erstaunlich war, beschloss ich, mich nicht noch einmal an Professor Hougen zu wenden. Stattdessen schrieb ich an verschiedene Stellen, im Grunde blind, geleitet allein von der Annahme (der Hoffnung), unter diesen Adressen jemanden zu finden, der Bescheid wusste über den Verbleib der unbekannten Toten eines verschwundenen Landes, wenigstens der fünfzehn, die überall aufgeführt wurden in den Opferlisten.
Ich schrieb an die deutsche Kirche Sankt Petri in Kopenhagen, an den IEDF, die» Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge«, an die Stasi-Unterlagen-Behörde in Rostock und an das Mauermuseum in Berlin (Arbeitsgemeinschaft 13. August, Haus am Checkpoint Charlie), ebenso an die Betreiber verschiedener Webseiten, die auf die toten Flüchtlinge verwiesen, einige nannten die Zahl 15, ohne Datum, ohne Jahr, nur dieses letzte Verschollensein. Unweigerlich hatte ich damit begonnen, mir Gedanken über ihr Dasein zu machen, als ob es das geben könnte. Ich hatte Bilder von Géricault vor Augen, das heißt, ich dachte von den Toten wie von leibhaftigen Personen, als existiere das alles noch in ihren Resten: Sehnsucht und Bedürftigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung.
«Die Toten warten auf uns, Ed, wusstest du das?«
«Aber niemand wird kommen, niemand, niemals.«
Alles in allem war das Ergebnis ernüchternd. Niemand wusste wirklich Bescheid, und die Widersprüche häuften sich. Die Betreiber der Webseiten antworteten nicht auf meine Fragen, die ich mühsam eingetippt hatte in ihre schülerhaften Kästchen für den» Kontakt«. Der deutsche Hauptpastor von Kopenhagen war gerade neu im Amt und versprach, seine Kirchenältesten im Kirchenrat zu befragen.»Wo die Toten beerdigt sind, diesen Faden sollten Sie bei der dänischen Küstenwache aufnehmen«, schrieb der IEDF. Dr. Volker Höffer von der BStU-Außenstelle Rostock bot seine Unterstützung an. Über die fünfzehn unbekannten Toten könne er allerdings nichts Genaueres sagen. Die Zahlenangabe (15) beruhe wahrscheinlich auf Aussagen dänischer Experten des Innenministeriums, Abteilung» Abwehr«. Einen Kontakt dorthin habe er leider nicht mehr. Aus dem Mauermuseum eine Mail von Alexandra Hildebrandt: Auch ihr Haus versuche im Moment, die Namen der Todesopfer, die auf Bispebjerg beerdigt sind, zu erforschen.»Nach meinen Recherchen liegt in unserer Petrikirche nichts über die DDR-Flüchtlinge«, schrieb Wulf D. Wätjen, Mitglied des Kirchenrats von Sankt Petri. Im Auftrag des IEDF meldete sich Dr. Wolfgang Mayer, der mir empfahl, mich mit meinen Fragen an die Deutsche Botschaft in Kopenhagen zu wenden, konsularische Abteilung.
Küstenwache, Konsulat oder Ministerium?
Die Antwort aus der Deutschen Botschaft kam von Olaf Iversen, Mitarbeiter des Auswärtigen Amts:»Die Friedhofsverwaltung in Bispebjerg habe ich heute aufgesucht. Sie konnte mir leider keine Angaben zu den anonymen DDR-Flüchtlingen machen. «Bereits einen Tag nach meiner Anfrage war Iversen im Kontor des Friedhofs gewesen. Und noch einmal meldete sich Kirchenrat Wätjen von Sankt Petri. Auch er hatte im Bispebjerg Kirkegård nachgefragt — eine Dokumentation über die Beisetzungen gebe es nicht, kein Vermerk im Totenregister. Eins schien festzustehen: Nicht nur ich, auch der junge Däne im Film hatte sich geirrt — die unbekannten Toten lagen nicht auf Bispebjerg, weder unter den Bronzetafeln der Kriegsgräberstätte noch in der sanften Wiese nebenan.
Der Botschaftssekretär schlug vor, eine Verbindung zu Jesper Clemmensen herzustellen, einem dänischen Fernsehjournalisten, der über die Ostseefluchten geschrieben und schon einige Filme dazu gemacht hatte. Zwei Stunden später kam sein Bescheid:»Jesper C. hat uns geantwortet, dass er fließend Deutsch spricht und sich freuen würde, wenn Sie ihn direkt ansprechen. «Der ganz und gar ungehemmten Hilfsbereitschaft Iversens hatte ich den entscheidenden Kontakt zu verdanken.
Ich wollte, dass Jesper Clemmensen mich für einen ernsthaften Menschen hielt, nicht für irgendeinen Irren, der einer fixen Idee aufsaß. Diese Gefahr bestand allerdings unentwegt, solange ich ohne Institution oder offiziellen Auftrag im Rücken in aller Welt herumtelefonierte und Mails verschickte, um nach den Toten zu fragen. Auch deshalb erzählte ich nichts von Sonja oder Kruso, ich formulierte es mehr allgemein — ein Anliegen, das sich nahezu von selbst erklärte und mehr als gerechtfertigt erschien. Die Sätze dafür standen bereit, wie in Gedenktafeln gemeißelt: Den Opfern ihre Identität zurückgeben, die Anonymität der Statistiken brechen, ihr trauriges Schicksal dem Vergessen entreißen und so weiter. Das alles war schwerwiegend genug und konnte keine Lüge sein. (Du suchst ja doch nur nach Sonja, und im Grunde suchst du nach G., weil du im Leben nicht und niemals fertig wirst damit — von wegen Versprechen.) (Sehnsucht nach den Toten, so hast du es einmal genannt, nicht wahr?)
Ob Jesper meinen Erklärungen Glauben schenkte, kann ich nicht sagen. Wohl eher nicht, trotzdem (oder gerade deshalb) hatte ich großes Glück mit ihm, es konnte keinen Besseren geben. Er war vor Ort, er kannte» ein paar Leute«, er hatte Verbindungen, und er wusste, wen er anrufen musste. Er wusste, wie man recherchiert. Er sprach von» Quellen«(»meine Quelle hat gesagt«) und» wertvollen Informationen«, wo ich beim besten Willen keinen Fortschritt erkennen konnte. Ich telefoniere nicht besonders gern, aber mit Jesper war es leicht. Zwei Monate vergingen, in denen er die Polizei- und Archivlandschaft seines Landes umpflügte, inklusive Gerichtsmedizin, Staatsobduzentur und Reichsarchiv. Bis zum Nachmittag des 23. September, an dem er mich anrief und sagte, dass er jetzt wisse, wo das» Museum der Ertrunkenen «zu finden sei. Die Frage sei nur, ob man mich einlassen würde, ohne Forschungsauftrag oder Verwandtschaftsnachweis.
«Die Toten warten auf uns, Ed, was sagst du dazu?«, hatte Kruso gesagt.
«Die Leichen rücken sie nicht heraus«, hatte Kruso gesagt.
Am frühen Vormittag landete mein Flugzeug in Kopenhagen. Vom Bahnhof hatte ich nur drei Minuten Fußweg bis ins Hotel. Eine großflächige Aussparung im Bahnhofsvorplatz erlaubte, in einen darunterliegenden Tunnel zu blicken, dessen Gleise Richtung Norden führten. Ein paar Fahrräder lagen im Schotter, jemand hatte sie in den Abgrund gestürzt (über Bord geworfen). Das Gleisbett war von Müll übersät und bot, gemessen an der Umgebung des Platzes, einen irritierend verwahrlosten Anblick. Als verkehrten dort unten in der Tiefe kaum noch Züge, oder als führten diese Schienenstränge in irgendein anderes, unterirdisches Dänemark, in das eigentlich niemand mehr reisen wollte.
Unser Treffen war am Nachmittag, den Termin hatte Jesper mit seiner Quelle vereinbart. Es war kalt, und ein feiner, nahezu unsichtbarer Regen lag in der Luft. Auf dem Rathausplatz machten ein paar Indianer Musik. Dem Häuptling reichte der Federschmuck bis auf die Füße; er trug rote Handschuhe und eine Jacke aus Vlies. Eine Weile versuchte ich, mich treiben zu lassen, aber schließlich fehlte mir die Geduld. Ich bog ab und fand eine Nebenstraße, in der es möglich war, frei auszuschreiten. Bald öffnete sich der Weg auf einen Platz. Wahllos betrat ich ein Restaurant, das sich Café Scandi nannte. Das Lunchbüfett kostete 69 Kronen. Das Scandi war passabel, aber irgendetwas stimmte nicht. Über die Decke wanderten zu Wellen gebogene Metallbänder, in denen sich alles reflektierte, was auf dem Grund des Cafés geschah. Auf den Tischen brannten Windlichter wie Positionsleuchten in schweren weinroten Gläsern. Ich saß am Fenster, ich konnte nach draußen sehen. Der Himmel hing tief, und es war einfach zu dunkel für diese Tageszeit. Mein Positionslicht begann zu flackern, irgendein Wind von irgendwoher, und als ich mich umsah, wusste ich es: In meinem Rücken hatte sich der Schacht eines Speiseaufzugs geöffnet. Ich setzte mich auf die andere Seite des Tisches und behielt die zwei Klappen fest im Auge. Mit Schwung ließ der Kellner sie zuschnappen, bevor er den Aufzug wieder in die Tiefe schickte. Auf einem Schild über dem Schacht las ich das Wort: Persontransportforbudt.
Ich dachte an meinen letzten Tag auf der Insel. Wie ich das schwarze Wasser aus der Heizung des Klausners abgelassen und die Fensterläden verschlossen hatte. Wie ich das Gas der Zapfanlage abgedreht, den Salonstocher vom CO2 genommen und noch einmal gereinigt hatte. Als ich die Tür zur Terrasse hinter mir zuzog, war von drinnen Viola zu hören, Deutschlandfunk. Es war nicht so, als hätte ich jemanden zurückgelassen. Es war schwerwiegender, endgültiger.
Die Adresse unseres Treffpunkts war Polititorvet 14, 1780 Kopenhagen V, das Hauptgebäude von Rigspolitiet, der Polizei des Königreichs Dänemark, auch Politigården genannt, südwestlich vom Zentrum. Da ich den Platz vom entgegengesetzten Ende her betrat, musste ich das gesamte Gebäude umrunden.
Der Politigården war eine Festung, ein vierstöckiges Kastell, errichtet in der Form eines stumpfen Keils, ein antiker Komplex, überwältigend in seiner Größe und Helligkeit. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen, und mein erster Gedanke war: Warum gerade hier? Beinah gleichzeitig erfasste mich eine Art Demut und Feierlichkeit; die Knie wurden mir weich.
Wie in Notwehr wechselte ich die Straßenseite. Über der Straße hingen ein paar rostige Trichterlampen, es gab keine Bäume und seltsamerweise auch kaum Verkehr, und unfassbar blieb, dass sie dort liegen sollten, dort am Grund, in irgendeinem Keller, an den Fundamenten der Macht, auf denen dieses Gebäude errichtet worden war, dieses Raumschiff aus Beton, das alles Irdische verschlucken konnte, wenn es wollte, so viel war klar, auch die Toten, auch den Tod … So oder so ähnlich dachte ich.
«Ich hab seine Nummer«, hatte mir Jesper in seiner letzten Mail geschrieben. Jespers Quelle war Mitarbeiter im kriminaltechnischen Zentrum der dänischen Reichspolizei und dort» ein von drei mit diesen Akten«, wie er betonte,»ein von drei«, die es wissen mussten, die Bescheid wussten über die Dinge,»ein von drei «aus der» Abteilung Verschwunden«. Jespers Übersetzung des Wortes Vermisstenabteilung schien mir in jeder Hinsicht plausibel. Dass es die Abteilung Verschwunden sein würde, wo gesucht werden musste, war nach allem Hin und Her die entscheidende Information gewesen.
Schon am Telefon hatte mir Jesper das Ordnungsprinzip des Archivs erklärt: Nicht nur vermisste Personen würden von der Abteilung Verschwunden erfasst, auch alle anonymen Toten. Selbst wenn man wusste oder, wie der Hafenmeister von Møn, in Kenntnis der Strömungen und Umstände mit großer Sicherheit annehmen konnte, dass die menschlichen Überreste am Strand oder in den Fischernetzen Flüchtlinge aus Ostdeutschland waren, hätte es nie ein gesondertes Verzeichnis gegeben, keine weitere Herkunftsangabe, keine Extrarubrik — die DDR hatte nie existiert in den Gliederungen dieses Archivs, seiner Verwahrbücher, Asservate und Totenlisten. Funddatum und Fundort auf dem Boden des Königreichs, so hießen die Anhaltspunkte, nach denen das Ganze geordnet war. Auf gewisse Weise tauchten sie also noch einmal ab, diese Toten, diesmal im Ozean des Anonymen, Vermissten, Unbekannten — Abteilung Verschwunden.
Nach allem, was ich bis dahin in Erfahrung gebracht und in meinen Kopenhagen-Notizen festgehalten hatte (nach kurzer Suche war das Notizbuch meiner ersten Reise wieder aufgetaucht, und jetzt setzte ich es fort, um einiges gewissenhafter und, wie soll ich es sagen, auf bestimmte Weise auch verantwortungsvoller als damals, vor zwanzig Jahren), war es ein dreifaches Verschwinden.
Erstens: der Aufbruch. Aus Rücksicht hat der Flüchtling niemandem Bescheid gegeben. Er hinterlegt auch nichts, keinen Abschiedsbrief, kein Zeichen, er lässt Ausweis und Portemonnaie zurück, alles, um seine Nächsten zu schützen, das heißt, zu entlasten vom Vorwurf der Mitwisserschaft, der Fluchthilfe womöglich. Es geht darum, Mutter, Vater, Schwester und Bruder zu bewahren vor endlosen Verhören, Schikanen und Gefängnisstrafen. Zum ersten Verschwinden gehört, dass der Flüchtling die Wäschezeichen aus seinen Kleidern entfernt, Malimo, Modedruck etc., Indizien, die seine östliche Herkunft verraten könnten, falls ihn die Grauen Wölfe (die Grenzboote der Volksmarine) aufgreifen sollten, draußen auf dem Meer. Stunden später wird dieser Flüchtling vermisst, er ist ein Vermisster geworden. Nicht selten hat er seine Spur gekonnt verwischt — kein Verdacht, vielleicht bis auf den heutigen Tag. Die sogenannte Dunkelziffer — niemand wird jemals erforschen, wie viele dieser» Vermissten «Flüchtlinge waren.
Dann das zweite Verschwinden. Das Eintauchen ins Meer, der Fluchtversuch. Die hohe See, die Kälte, ein Krampf, nur Wasser und Wellen und niemandem Bescheid gesagt. Kein Trost also und keiner da, nur absolute Einsamkeit,»welche Kränkung, welche verdammte Kränkung ist das?«Dann die Phasen des Ertrinkens (des Erstickens), fünf Stadien werden unterschieden. Phase 1: Der Kampf des Flüchtlings vor dem Untergehen, Panikreaktionen, heftigste Bewegung, der Kopf noch über Wasser (Inspirationsphase). Phase 2: Die Apnoephase. Der Flüchtling taucht ab und hält den Atem an. Phase 3: Anreicherung seines Bluts mit CO2, was ein erneutes Luftschnappen erzwingt, ausgelöst durch maximalen Atemreiz. Phase 4: Wasser wird geschluckt, das sich in den Atemwegen mit Luft und Schleim der Bronchien zu einem weißen, dichten, feinblasigen Brei vermischt (Phase der Dyspnoe). Verschluss der Stimmritze, wenig Bewegung, relative Ruhe. Erst dann, bedingt durch Sauerstoffmangel im Gehirn, beginnen die Erstickungskrämpfe, das heißt: Wiedereinsatz heftigster Bewegungen, Zerreißungen der Atmungsmuskulatur, Kampf ums Überleben — der Flüchtling verliert das Bewusstsein. Phase 5: Exitus. Der Tote auf dem Meeresgrund. Sein Stoffwechsel ist entgleist, sein Kreislauf zusammengebrochen, das Herz steht still.
Zum zweiten Verschwinden gehört auch die Strecke unter Wasser, die der tote Flüchtling zunächst auf allen vieren zurücklegt. Seine Leiche treibt wie ein müder, schnüffelnder Hund über den Meeresboden, mit gesenktem Kopf auf dem Grund — schleifende Stirn, schleifende Knie, schleifende Hände, Abschürfungen bis auf die Knochen, abgeschliffene Knochen. Die Extremitäten hängen herab und wirken wie der Kiel eines Schiffes. Eine Zeitlang ist er dort unten mit den kalten Strömungen unterwegs. Dann Fäulnis, Faulgase, Auftauchen, Auflösen: die Fresstunnel der Aale, nagendes Getier, große und kleinste Lebewesen, ein stetiger Zerfall. Nicht wenige Leichen bleiben und werden Teil der Gezeiten, Teil der Ostsee,»Meer des Friedens«, Endstation. Manche werden angeschwemmt. Entweder am verhassten oder am ersehnten Ufer.
Dann das dritte Verschwinden.
Jesper erwartete mich unter den Arkaden, einer Vorhalle auf der Südseite der Festung. Wir hatten uns kaum begrüßt, als seine Quelle auftauchte und uns eine Treppe hinauf zum Pförtner führte. Die Quelle war schlank, überraschend jung und hatte etwas von einem Laufburschen an sich, obwohl sie ohne Zweifel zu den Ranghöheren gehören musste. Während ich Namen und Adresse in ein Buch eintrug und dafür ein Plastikkärtchen erhielt, befragte Jesper seine Quelle. Sie scherzten, aber es war mehr Verlegenheit, soweit ich das beurteilen konnte, ohne ein Wort zu verstehen. Auch der Pförtner in seinem Kasten aus braun getöntem Sicherheitsglas sagte etwas, was ich nicht begriff, worauf Jesper an mich herantrat und das Kärtchen an der Brusttasche meines Hemds befestigte. Erst jetzt nahm ich ihn wirklich wahr; sein Kopf war frisch rasiert, und etwas rührte mich an diesem Anblick — das Unverstellte seines Schädels, das der Unverstelltheit seines Wesens entsprach (als trüge man Haare nur zur Tarnung oder Täuschung), jedenfalls empfand ich es so in diesem Augenblick. Seinen armeegrünen Parker hielt er bis zum Hals verschlossen, die Kapuze stand ihm hoch im Nacken, wie der Kragen eines Edelmanns aus früheren Tagen. Ich stellte mir vor, die Hand auszustrecken und über seinen Kopf zu streichen: Danke, Jesper.
Mein Kärtchen hatte die Nummer 14, und Jesper erklärte, dass ich es am Ende wieder abgeben und mich im Buch des Pförtners austragen müsse. Er fügte hinzu, dass ich mich nicht wundern und dem Gang der Dinge einfach vertrauen sollte. Erst jetzt begriff ich, dass er nicht mitkommen würde. Für einen Moment fühlte ich mich schwach. Die Quelle berührte mich am Arm, und mein Blick fiel auf das Schild an seiner Brust: ein Name, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, darunter die Bezeichnung Konsulent.
Zu meiner Überraschung führte mich der Konsulent nicht in die Festung, sondern in ein anderes Haus, das schräg gegenüber lag und zum Komplex der Polizeigebäude an diesem Platz gehörte. Es war ein fünfstöckiger, hanseatisch wirkender Ziegelbau. Durch den Tunnel einer Einfahrt gelangten wir in den Innenhof und dort an eine schmale, schneeweiße Tür. Der Hof machte einen seltsam zivilen Eindruck. Ich sah Wäsche auf den Balkonen und eine Lichterkette in einem der Fenster.
Der Konsulent gab einen Code ein und sagte etwas auf Englisch zu mir. Ich formte einen unbestimmt-neugierigen Laut, und die Tür öffnete sich. Hintereinander stiegen wir über eine sehr enge, verwinkelte Treppe in die Tiefe. Dann eine Feuertür, die nicht verschlossen war. Es gab kleine Absätze, Stahlkanten im Boden, auf die man achten musste, schwarz-gelb markiert, wie in einer Fabrik. Unter der Decke verliefen die Rohre einer Klimaanlage; ich hörte das tiefe Brummen des Aggregats, und unweigerlich musste ich an Rebhuhns Maschine denken. Angst.
Der Raum war sehr groß, einer Werkhalle ähnlich. In einiger Entfernung überragte eine kleine Kabine die Regale, die an die Kajüte eines Kutters erinnerte, hell erleuchtet. Eine Weile gingen wir stumm zwischen Regalen entlang, und ich beruhigte mich. Schwarze Schuber, beschriftet mit Jahreszahlen, stabiler Karton. Wie Schubladen hatte jede dieser Kassetten an der Vorderseite einen Metallgriff oder eine graue Schlaufe, in jedem Fach standen zwei oder drei davon übereinander, und erneut spürte ich das Verlangen, meine Hand auszustrecken. Der Konsulent blickte sich um und begann zu rufen.
Vor der Kutterhütte angelangt, bog er ohne weiteres ins Halbdunkel der Halle ab und verschwand. Wie erfunden stand vor mir ein Mann, der sich sogleich mit seinem Namen vorstellte und mich bat, ihm zu folgen. Er trug eine dünne, braune Kittelschürze, in deren Brusttasche ein Brillenetui und ein Spannungsprüfer steckten, ein Werkzeug, das mir aus der Werkzeugsammlung meines Vaters geläufig war.
Keine Ahnung, woher Henri Madsen (Henri oder Hendrik, Madsen oder Mattson, die Anspannung war einfach zu groß, um alles genau zu verstehen) so plötzlich gekommen sein konnte, vielleicht war er die ganze Zeit zwischen den Regalen gewesen, vielleicht hatte er dort gestanden, im Verborgenen, und unsere Ankunft erwartet.
Zuerst eine kleine Holztreppe mit Geländer. Die Kutterkabine war viel geräumiger, als ich angenommen hatte. Unter der Fensterfront stand ein langer Schreibtisch, einer Werkbank ähnlich, genau genommen war es eine Werkbank. Zwei Arbeitslampen und ein Computerbildschirm. Eigenartigerweise lag dort auch Werkzeug, gutes sauberes Werkzeug, verschiedene Zangen, Schraubenschlüssel, eine Bohrmaschine, etwas Draht. Im hinteren Teil schloss sich ein weiterer, kleinerer Raum an, ohne Beleuchtung; seine Koje, dachte ich, unsinnigerweise.
Henri war groß und hatte die Gestalt eines gealterten Schwergewichtsboxers, er musste weit über hundert Kilo wiegen. Er bot mir einen Hocker vor seiner Werkbank an und fragte, aus welcher Gegend ich käme. Da mir das Herz bis zum Hals schlug, bemerkte ich zuerst nicht, dass er akzentfrei Deutsch sprach. Als ich es sagte, nickte er nur.
«1945 ist meine Großmutter mit meiner Mutter, die damals freilich noch ein Kind war, aus Deutschland geflohen. Mit einem der letzten Schiffe, von Ostpreußen über die Ostsee, nach Kopenhagen. Viele Flüchtlinge sind hier gestorben, nach Kriegsende, vor allem die Kinder. Manche liegen auf Kriegsgräberstätten, mit Name und Datum, wo das möglich war, ein Jahr, zwei Jahre, kein Jahr alt. Wo deutsche Soldaten waren, finden Sie diese Gräber, faktisch also überall auf der Welt. Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Herr Bendler, das heißt viel Geld und gute Verträge — davon können Ihre Toten nur träumen, nicht wahr?«
Ich hatte keine Ahnung, was Madsen über mich dachte, wie er mich einschätzte und was er wusste über meine Motive. Er lächelte nicht, sein Gesicht blieb verschlossen. Trotzdem fasste ich sofort Vertrauen, vielleicht wegen des Werkzeugs, weil er ein Mann des Werkzeugs war. Und er hatte ohne jedes Zögern zu sprechen begonnen. Als stünde für ihn schon lange fest, wie die nächsten Stunden verlaufen mussten.
In seiner Familie (im deutschen Zweig, so fuhr Henri fort) gebe es eine entfernte Verwandtschaft mit Friedrich von Hardenberg. Auch seine eigenen Vorfahren wären einmal im Bergbau tätig gewesen, wie Hardenberg, der Dichter.»Unsereins zog es schon immer in die Tiefe«, sagte Henri. Er begann zu erzählen. Ich sah, dass es ihn überraschte (und freute), dass ich wusste, wer Hardenberg gewesen war, und ohne weiteres begann er ein paar Worte aus den Hymnen zu zitieren:»Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel …«
Verse von Novalis zu hören, in der Halle dieses Kellers, aus dem Mund des Archivars der Abteilung Verschwunden, war so wenig von dieser Welt, dass ich momentlang nach dem Holz der Werkbank griff; es war glatt, an den Kanten gerundet oder abgenutzt, vor allem aber: Es war da. Ich sah hinaus, über die Reihen der Regale, deren Enden in einer nicht absehbaren Ferne lagen, und entgegnete, dass meine Eltern gerade dort, wo von Hardenberg seine letzten geologischen Bohrungen vorgenommen hätte, zwischen Zeitz und Gera nämlich, noch heute einen Garten besäßen.
«Ostdeutschland kenne ich leider kaum«, sagte Henri. Er öffnete ein Fach unter der Werkbank und zog ein Blatt heraus. (Es war ein einziger Griff, er hatte alles vorbereitet.) Das Papier war voller Signaturen, in mehreren Spalten, sauber mit Hand untereinandergeschrieben. Er tippte darauf und sah mich an. Sein dichtes, blondes Haar war grau über den Ohren.
«Ehrlich gesagt, hat hier niemand mehr daran geglaubt, dass Sie kommen würden. Ich meine, irgendjemand — kommen würde. Nach all der Zeit.«
«Sie waren nicht leicht zu finden gewesen.«
Langsam schüttelte Henri den Kopf.
«Das ist ein sehr großes Gebäude, Herr Bendler, mitten in Kopenhagen. Und wir waren immer hier. «Er legte die flache Hand auf den Tisch, um den Ort noch einmal zu markieren.
Erneut wurde mir die Irritation bewusst: Vermisstenabteilung des Königreichs Dänemark. Aber niemand in Dänemark hatte diese Toten (meine Toten, hatte Madsen gesagt) je vermisst. Niemand in diesem Land würde je Anspruch erheben auf ihre Körper, von hier aus würde es keine Vermisstenanzeige geben, die zu den Flüchtlingen von damals führen konnte, keine Spur. Für sie gab es nichts als dieses Archiv, Abteilung Verschwunden. Das dritte Verschwinden.
Bevor ich etwas antworten konnte, stand Henri auf und schaltete im hinteren Teil seiner Kajüte das Licht ein.»Hier habe ich damals einen Arbeitsplatz eingerichtet, für Forschungszwecke. Ein Lesegerät und ein Computer, ein Commodore, inzwischen natürlich veraltet. «Er berührte den kleinen stahlgrauen Bildschirm, und wir kehrten zur Werkbank zurück.»Als die Mauer fiel, habe ich zusätzliche Kapazitäten angeregt und eine Benutzerordnung entworfen. Ein kleiner Lesesaal war im Gespräch. «Sein Blick ging in die Halle hinaus.»Bitte entschuldigen Sie, wenn ein paar grammatikalische Dinge … Man wird unsicher im Deutschen, über die Jahre. «Er schob mir ein Blatt über den Tisch, Ordnung für Benutzer.
Ich ergriff die Gelegenheit und überreichte, praktisch im Gegenzug, die Mappe mit dem Foto Sonjas und den von mir zusammengestellten Angaben. Er schlug die Mappe auf und warf einen langen Blick auf das Foto.
«Wie gesagt, Herr Bendler, Sie sind unbefugt.«
Bisher hatte er es nicht gesagt.
«Nötig wären zuerst eine Anzeige und ein Suchauftrag bei den Polizeibehörden Ihres eigenen Landes, im besten Fall bei Ihrer Regierung, die sich dann mit der Regierung Dänemarks und diese wiederum mit meinen Kollegen aus der Forensik in Vanløse in Verbindung setzt. Zudem erfordert ein Antrag auf Einsicht ausführlichere Unterlagen, genauere Angaben zum vermutlichen Zeitpunkt der Flucht, brauchbare Fotos, Details, wenn möglich, und so weiter.«
Langsam klappte er meine Mappe wieder zu und legte zwei Finger darauf.
«Das ist ein sehr langer, sehr komplizierter Weg, Herr Bendler. Und nicht jeder ist dafür gemacht, verstehen Sie, was ich meine?«
Er räusperte sich, und eine Weile blickten wir hinaus auf die Regale, gemeinsam, nebeneinander, wie Offiziere eines verlorenen Schiffes auf ihrer nutzlosen Brücke.
«Was ich sagen will, Sie sind der Erste hier, nach vierundzwanzig Jahren, wer hätte das gedacht? Als hätte sie niemand vermisst, unsere Toten.«
Er fügte hinzu, dass das natürlich nicht der Fall sei, niemals der Fall, im Gegenteil, ganz und gar nicht. Und eigentlich handele es sich um zweiundfünfzig Jahre — seit dem Mauerbau. Allerdings sei er selbst erst dreißig Jahre hier unten.
Madsen hatte sich erhoben.
Mein Besuch war beendet.
Ich wollte ebenfalls aufstehen, doch seine Hand verhinderte es. Mehr noch: Sie lag schwer auf meiner Schulter, zwei, drei lange Sekunden, schwer wie ein Stein.
Er begann eine kleine Rede, für die er offensichtlich stehen musste, sein Kopf berührte beinah die Decke der Kabine:»Dreißig Jahre und nie ein Grund zur Klage, Herr Bendler!«
Satz für Satz rekapitulierte Madsen die wechselhafte Geschichte der Vermisstenabteilung, zu der, wie er sagte, drei vollwertige Mitarbeiter zählten, drei gute, ja, hervorragende Polizeibeamte mit Büros in Vanløse. Einen Archivar gäbe es nicht im Haus. Diesen habe es nie gegeben, nur ihn und seine Stelle als technischer Mitarbeiter. Die Überwachung aller Räume, vor allem der Belüftungs- und Klimaanlage erfordere viel Aufmerksamkeit, weshalb er seine Werkstatt von Anfang an hier unten, bei den Toten, eingerichtet habe, damals jedenfalls sei das der Hauptgrund gewesen. Über die Jahre sei er dann mit den Umständen vertraut geworden, nach und nach. Bei Evakuierungen, Umbauten, der Einführung neuer Lagerregale, der Neuordnung der Akten in Kassetten aus säurefreiem Karton und so weiter habe er, zwangsläufig gewissermaßen, Kenntnis erworben über Aufbau und Inhalt dieser einzigartigen Sammlung, und seitdem, er könne das nicht anders sagen, stehe er in ihrem Bann, und zwar bis zum heutigen Tag.
«Die Anonymen erscheinen verdächtig allein aufgrund ihrer Namenlosigkeit — ist das nicht ungerecht, Herr Bendler? Früher haben die Seefahrer komplizierte Tattoos und Ringe getragen, damit man sie, falls sie angeschwemmt wurden, an ihrem Körperschmuck erkannte. Schon damals wusste man, wie trostlos es ist für einen unbekannten Toten auf dieser Welt. Einer Person ohne Namen vertraut man nicht, im Gegenteil, man findet sie abstoßend und hässlich. Kein Name, das heißt keine Abstammung, keine Familie, weder Mutter noch Vater, und so liegen sie hier in den Regalen wie aus der Kette gefallene Glieder. Sie sind noch da, aber sie haben sich verloren. Dieser Keller hier ist jetzt ihre einzige Heimat, Herr Bendler, der allerletzte Ort. Und gewissermaßen haben sie nur mich, der sie noch kennt, nicht vom Namen, aber von Fotos, Gutachten, ein paar Gegenständen.«
Madsen räusperte sich und machte eine Pause. Die Pause war kein Zufall, eher eine Gedenkminute. Ich empfand weder Verlegenheit noch Nervosität, die Stille tat gut. Von irgendwoher ein leises Donnergrollen, vorbeirollende Lastzüge vielleicht, oben auf der Straße, die den stumpfen Keil der Festung umschloss.
Vor allem um noch besser zu begreifen, was man ihm hier anvertraut habe, ihm, dem Hausmeister, so fuhr Madsen fort, habe er, insgeheim und ganz aus eigenem Antrieb, damit begonnen, sich weiterzubilden, und zwar auf allen Gebieten, Kriminalistik, Forensik, Asservatenkunde. Er habe seine Zeit genutzt, und, nein, nicht dass er sich selbst wichtiger machen wolle, als ein Hausmeister jemals werden könne in dieser Welt, aber inzwischen sei er es wohl, der am genauesten Bescheid wisse über dieses Archiv und seine Bestände.
Madsen tastete nach dem Spannungsprüfer in seinem Kittel (nach seinem Herzen, dachte ich) und warf einen Blick auf die Werkzeuge, als müsse er rasch noch einmal überprüfen, ob von dem, was jetzt nötig sein würde, alles vorhanden war.
«Vierundzwanzig Jahre, zweiundfünfzig Jahre, das ist einfach zu viel Zeit. Keine Benutzerordnung dieser Welt hält das aus, so lange, ich meine — ohne Benutzer. Das ist meine Meinung, Herr Bendler. Aber ich bin nur der Hausmeister hier. Auch ich bin unbefugt, verstehen Sie?«
Ich nickte. Ich verstand, dass er mich als eine Art Abordnung begriff, eine Delegation, ein Mann für alle seine Toten.
«Bitte warten Sie hier. Und bitte, bedienen Sie sich.«
Er wies auf einen Teller mit Biskuit, daneben eine Thermoskanne und zwei Plastiktassen.
In der Tür drehte er sich noch einmal um.
«Bei Novalis sind die Toten die Guten, Herr Bendler!«Dann seine Schritte auf der Treppe.
Draußen begann eine Art Blitzlichtgewitter, ein paar hundert Neonröhren sprangen an. Von meinem Platz auf der Brücke konnte ich sehen, wie Henri die Regale ablief. Etwas war mit seinem Gang; ein leichtes Hinken, oder nur seine Schwere, die ausschwingen musste. Er schob eine Art Servierwagen vor sich her, auf dem zuerst nur das Blatt lag. Der Wagen schepperte ohrenbetäubend über den Estrich, aber je öfter Henri in die Regale griff, umso ruhiger lief das Gefährt durch die Reihen.
Nach einer Weile kam er wieder an der Brücke vorbei. Er sah zu mir herauf und rief:»Biskuit, Herr Bendler, nehmen Sie Biskuit!«Dann bog er nach rechts ab, in den moderneren Teil des Archivs.
Mit einem leisen Raunen glitten vier oder fünf gewaltige, grau lackierte Archivschränke über den Boden. Er berührte sie ganz leicht (offensichtlich gab es eine Tastatur), und sie begannen sich etwas schneller zu bewegen, wie eine Karawane Elefanten aus Stahl. Die Werkbank vibrierte, und es knackte im Commodore. Ohne Eile strich Madsen zwischen diesen Ungetümen entlang, er war ihr Dompteur, mit braunem Kittel und erhobenen Armen, und es war ein Wunder, dass sie ihn nicht zerquetschten, oder doch kein Wunder, wenn man sah, mit welcher Eleganz der große schwere Mann dahinglitt durch die schmalen Gassen; ab und zu war ein leichter, fast kindischer Schwung in seinen Hüften, und am Ende jeder Drehung war es auch ein Streicheln, eine zärtliche Entschlossenheit: ein einziger Griff und ein weiterer Schuber landete auf seinem Wagen.
Alle Überzeugungen, die mich auf meiner Reise begleitet hatten, erloschen in diesem Moment. Ich spürte nichts mehr von jener Treue, die vielleicht doch nur ein Pflichtgefühl war, genährt von einer alten, kaum noch messbaren Schuld, nichts mehr von der Erregung des Versprechens und jenem Willen, es einzulösen, wie auch immer, der Beweis, es wert zu sein, der Freundschaft wert, all das — nichts davon spielte noch eine Rolle. Nur dieser Augenblick von klarer Schönheit, dieser, wie soll ich es nennen, Totentanz. Als wäre ich nur dafür hergekommen, in diese Loge unter der Erde, ein Mann Publikum in dreißig Jahren.
Nicht nur bei Novalis, auch bei Trakl waren die Toten die Guten — in diesem Augenblick begriff ich es. Trakl war nicht nur ein Trauma, er war auch eine Sehnsucht gewesen. Ich fragte mich, ob es mir gelingen würde, ungesehen den Ausgang zu erreichen. Ob der Code auch von innen nötig wäre. Ob ich den Weg nach oben schaffen konnte, ohne die Quelle.
Keine Ahnung, wie das, was folgte, Teil irgendeines Berichts werden kann. Als ich in diesen Tagen noch einmal mein Kopenhagen-Notizbuch zur Hand nahm, hielt ich es für wahrscheinlicher, dass irgendwer dort eingeschrieben hatte, irgendjemand, der an alldem interessiert gewesen war, aber nicht ich. Jemand hatte das notiert, mit hastiger Schrift, über einige Seiten, genau so:
– Fuß in Schuh, faulig. Stumpen, Knochen wie abgebissen, M: Sportschuh fkt. wie Schwimmweste, Rest d. Leiche fehlt
– Frau: keine Lippen, keine Nase, Gesicht nur aus Zähnen, Arme schwarz, voller Algen, M: Algenrasen
– Oberkörper Mann: löchrig, wie erschossen. Aale, sagt M., übl. Tierfraß
– Frau wie Gummipuppe, aufgebl., Fransen, glänzig, M: Fettwachs, Leichenlipid
– Frau mit blankem Schädel, abgeschliff., ringsum Haut, M: Treibspur, Abschürf., Gesicht auf Grund
– Mann im Mantel, weiße Blase vor dem Mund, M: Schaumpilz
– Mann mit Baumwurzel auf Brust, schwarz, wie tätowiert, M: Venennetz schlägt durch
– Person, unbestimmbar, ohne Umriss, M: Schiffsschraube, grobfetz. Zertrümmerung. 20 Seiten Text, Fotos, Gesamtansichten u. Details
– Torso von Mann, M: Kopf und Arm 4 km weiter, Fundstellenfoto, Verstümmelg. durch Bisse, Tierfraß, evtl. streun. Urlauberhunde.
Und so weiter.
So steht es geschrieben. Aber daran erinnere ich mich nicht. Nur an das Gesprochene. Das Gesprochene war wie ein Geräusch, das man im Traum hören kann. Satz für Satz, ohne Worte. Alle träumten dieses Geräusch: Madsen, die Toten und ich. Es lag keine Mitteilung, keine Botschaft darin, es war einfach in allem enthalten. Es war im Halbdunkel der Halle, im Labyrinth der Regale, in den Fotos auf der Werkbank, und nur ab und zu tauchte etwas vom Gesagten daraus auf.
«Stell dir vor, Ed, sie wohnen dort unten. Sie sitzen an Tischen, gehen spazieren, sind frei, sie alle sind frei.«
«All diese Leichen, Ed, es war, als würden sie vorübergleiten in der Finsternis, kostbar, wie lebendig oder heilig jedenfalls.«
Ich zählte vier grüne Lichter. Das waren die Notausgänge, je zwei an beiden Enden der Halle. Jeder Traum musste einen Notausgang haben, sonst war es kein Traum. Andererseits gab es Träume von großer Klarheit, Träume, in denen alles zusammenpasste, unfassbar real.
Zuerst erkannte ich das Hemd. Er hatte es getragen, Jahrgang 89, das Foto zum Saisonbeginn. Dann die Lücke zwischen den Vorderzähnen. Dann seine Haare, blonde Haare, seltsam unversehrt (engelsgleich — das Wort war da, ohne dass ich es selber dachte, und obwohl ich versuchte, es sogleich zu streichen, blieb es haften in meinem Kopf), der Körper hingegen wie geschwärzt und aufgebläht. Trotzdem konnte man noch ahnen, dass der Tote ein dünner, schlaksiger Mann gewesen war. Speiche.
Um sicher zu sein, bat ich Madsen, mir den gesamten Obduktionsbericht und das Gutachten der Polizei zu übersetzen. Er begriff, dass ich auf etwas gestoßen war. Jemand, den ich nicht gesucht, aber gefunden hatte. Seine Mühe lohnte sich.
Es gab ein Stück von Speiches Hemd, auf Pappe geklebt (die Kleiderkarte, sagte Madsen), und ein bleistiftdickes Bündelchen Haar, in Silberfolie. Auf dem Kopfbogen seiner Akte stand eine Nummer, und ich fragte Madsen danach.
«Das ist die Nummer seines Grabs. Seine Nummer im Liniengrab.«
«Was ist das, ein Liniengrab?«
«So nennen wir die Friedhöfe der Anonymen.«
«Was heißt Linie, was ist gemeint damit?«
«Die Toten liegen auf einer Linie. So kann man sie wiederfinden, jederzeit, mithilfe der Koordinaten, die diese Nummer enthält. Sie bezeichnen die genaue Lage des Körpers in der Erde. Wie Sie wissen, gibt es auf den Gräbern der Namenlosen keinen Stein, kein Kreuz, nur Gras, sonst nichts.«
«Die Körper werden nicht verbrannt?«
«Nein. Die Toten warten, gewissermaßen. Ich meine, für den Fall, dass doch noch jemand kommt, der Anspruch erhebt auf ihre Überreste. Ihre Liegezeit ist unbegrenzt, und auch diese Akten hier werden ewig aufbewahrt, kein einziger Fall wird als abgeschlossen betrachtet, solange wir keinen Namen haben. Anfangs liegen die Körper in den Schlafsälen der Gerichtsmedizin, minus zwanzig Grad. Manche ein ganzes Jahr oder länger, das ist schon vorgekommen. Irgendwann werden sie dann abgeholt und dorthin zurückgebracht, wo man sie gefunden hat.«
«Zurückgebracht?«
«Dorthin, wo sie gestrandet sind — die Kommune ist zuständig für sie, so ist das Gesetz. Für ihn war das Stege, der größte Ort auf Møn, das Liniengrab in Stege.«
Befreit aus der Enge des Regals, verströmten die Akten einen eigentümlichen Dunst, der das Bewusstsein trübte. Es war kein Altersgeruch, nicht Leim oder Fäulnis, nein — das Papier roch krank. Ich atmete, ein und aus, im Grunde ging es nur darum auf dieser Welt, es ging darum, regelmäßig zu atmen. Die Toten lagen nicht in Kopenhagen, nicht auf Bispebjerg Kirkegård. In Kopenhagen wurden sie obduziert, und alle Akten und Berichte blieben hier. Sie selbst aber reisten zurück ans Meer, sie wurden am Meer begraben, vorläufig, unsichtbar, auf einer Linie.
Kopenhagen machte den Eindruck einer rundum soliden Stadt, die Häuser am Wasser waren aus Ziegeln gebaut, hartgebrannt, nordisch. Ab und zu ein Rudel kaputter Fahrräder, das sich gegen eine Hauswand drängte, ängstlich ineinander verkeilt, wie eine Tierart, die keinen Unterschlupf gefunden hatte. Die Dämmerung hatte bereits begonnen, erleuchtete Fenster, nach denen man sich augenblicklich sehnte, obwohl ringsum alles fremd war. Ich erkannte die alte Sehnsucht nach der Höhle, dem einsamen Glück, irgendwo verkrochen in diesem Zimmer, an diesem Tisch, im Licht dieser Lampe, unter der man endlich still werden konnte, weit weg von allem und jedem. Nach Speiche hatte ich die Reste meiner Willenskraft auf einen einzigen Punkt konzentriert und Madsen erklärt, dass ich gern wiederkäme — morgen, übermorgen, die nächsten Tage.
Zwei oder drei Stunden lief ich umher, und es war bereits dunkel, als ich ein Café mit dem Namen L'Esquina betrat. Ich bestellte etwas, holte mein Notizbuch heraus und begann, alles festzuhalten, alles, was ich gesehen und gehört hatte an diesem Nachmittag. Am Ende auch den Namen des Cafés und den Namen der Straße (Ryesgade 76) und dass es Hirschköpfe gab an den Wänden, an denen die Speisekarten aufgehängt waren, und so weiter — alles ganz mechanisch. Ich sah mir das Café an, den Tresen und die Leute draußen, weil ich wusste, dass ich mir das alles noch notieren musste. Es fiel mir schwer, den Stift abzusetzen, mein Handgelenk wurde steif, aber ich schrieb, die Finger verkrampften, aber ich schrieb, ich ritzte Zeile für Zeile ins Papier, ganz Kopenhagen, ohne einen einzigen Gedanken.
Im Hinterzimmer des L'Esquina gab es ein kleines Frisörgeschäft, zweifellos war das der Clou des Cafés. Durch eine Glastür, auf die der Schattenriss einer überdimensionalen Schere geklebt war, konnte man der Frisörin bei der Arbeit zusehen. Ich hatte gerade begonnen, ein Sandwich zu essen (das Sandwich in der einen, den Kugelschreiber in der anderen Hand), als die Friseurin ihr Geschäft abschloss. Sie war schon im Mantel und hatte einen Müllsack aus Plastik dabei. Sie ging in die Knie (es sah elegant aus) und versuchte, den Sack mit einem Zugband zu verschließen, aber es gelang ihr nicht. Ich überlegte bereits, ob ich mir das notieren sollte. Als sie an meinem Tisch vorbeikam, sah ich, dass der Sack voller Haare war — dass er überquoll von Haar.
Noch in der Tür überholte ich die Friseurin, aber ich schaffte es nicht mehr in irgendeine Ecke oder wenigstens einen Meter zur Seite. Genau genommen übergab ich mich direkt vor ihren Füßen. Eine junge Friseuse, sie hatte Feierabend, sie war gut gekleidet (und sicher verabredet zu einem Essen, Kino, Konzert oder sonst etwas), und ich stürzte ihr nach und kotzte ihr vor die Füße, ihr und mir und ihrem Sack voller Haar, diesem Wust, diesem wüsten, fleckigen Gewöll, diesem gescheckten, verknäulten und verklumpten Haufen menschlichen Mülls. Sie stieß einen kleinen dänischen Schrei aus, eine Art Schnarren auf ä, und rief etwas ins Café. Während ich kotzte, brüllte ich. Im Geiste brüllte ich sie an, gleichzeitig brüllte ich die Straße an, und ich brüllte in die Nacht von Kopenhagen: Warum bringst du diese Leichen an meinen Tisch? Was soll ich mit all diesen Leichen? Was?
Monate später, bevor ich diesen Bericht zu schreiben begann, sah ich die Toten im Traum. Sie standen am Weg, in ihrer unvollständigen, kaum definierbaren Gestalt (Obduktionsberichte ähneln Bildbeschreibungen, hatte Madsen gesagt), und fragten nach ihrem Namen. Heiße ich Schiffsschraube? Heiße ich Gummipuppe? Oder heiße ich Walter? Oder Monika? Im Traum war es so, als müsse die Antwort jetzt gefunden werden, als verbliebe nur noch sehr wenig Zeit und als wäre das die letzte Gelegenheit, bevor sie wieder zurücktreten würden von diesem Weg, fraglos, spurlos und wie nie gewesen.
Aber ich war abgereist, ich war nicht zurückgekehrt ins Archiv. Auch mein Bericht verrät, wie wenig ich für all das geeignet, wie wenig ich der Aufgabe gewachsen war. Ein Bericht voller nebensächlicher Details, dazu Gefühle und Gedanken, wo es nur um Fakten gehen sollte.
Es gab auch andere Gründe. Ich hatte ihr Gebiet betreten, das Territorium der Toten, zufällig ich, vielleicht lag es daran, und das Schreiben war Abwehr, Schild, Tarnkappe gewesen, ohne Notizbuch hätte ich nichts gesehen. Sie hätten mich nicht erwählt dafür und niemand sonst hätte das, das war mir bewusst. Ich war kein Forscher, kein Historiker, die Wege der Aufarbeitung waren mir nicht vertraut, ich war lediglich einem Versprechen gefolgt, den Gesetzen der Freundschaft, wenn man so will, am Anfang war es nur das gewesen: Krusos Bitte. Und: lediglich. Aber dann hatte ich jene Grenze überschritten, mit dem Wort vom dritten Verschwinden, als ich genau so zu denken begann.
Immerhin kehrte beim Schreiben mein Verstand zurück, und die dumpf lodernde Stelle in meinem Magen beruhigte sich. Ich ging in den Schuppen, der etwas entfernt liegt vom Haus, ich hatte ihn lange nicht betreten. Vor der Tür lag ein fauliger Teppich aus Kiefernnadeln. Nach einer Weile fand ich, was ich gesucht hatte, ein blassgelbes Postpaket, in einem Regal voll mit Kinderspielzeug, Technikschrott, nie benutzten Fitnessgeräten. Über allem hockte eine dumpfe Trauer, muffig und verstockt. Ich öffnete die Kiste. Im Pullover hing ein großer, klebriger Mottenkokon, die Wildlederschuhe waren verschimmelt. Beides hatte ich getragen beim Verlassen der Insel, Schuhe und Pullover, auch später noch. Im Innenfutter der Tasche (alles war kalt und klamm) fand ich Speiches Brille — während meiner Krankentage im Klausner hatte ich sie irgendwann selbst dort verstaut und fortan nicht mehr daran gedacht, keine Sekunde.
Die Sachen aufzubewahren konnte nicht viel mehr als ein Versuch gewesen sein, mich über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass ich ein paar Dinge, die mir nicht gehörten, benutzt und verschlissen hatte. Sollte Speiche sich eines Tages plötzlich melden, würde ich zumindest in der Lage sein … So oder so ähnlich musste der, der ich damals gewesen war, gedacht haben, für eine kleine Weile, bevor er die Kiste vergessen hatte.
Obwohl es sich (gewissermaßen) um das Gegenteil handelte, kam ich mir wie ein Grabräuber vor, als ich mit meinem Karton unter dem Arm den Friedhof betrat. Kaum hatte ich die Kiste abgesetzt, begann hinter mir jemand zu rufen, in russischer Sprache. Ich schaute nicht hin, aber der Mann kam näher. Er trug eine Uniform, den Mantel offen, und ohne Zweifel war er betrunken. In aller Eile montierte ich die Reste meines Schulrussisch zusammen (zwölf Vokabeln vielleicht, manchmal mehr), aber es wurde nicht gebraucht.»Nix trinkt, Faschist!«Der Russe packte meinen Arm und führte mich über den Friedhof, am Golem vorbei über die tiefen, aufgeweichten Wege bis an das Grab, das zu ihm gehörte. Er zeigte darauf.
Sie waren zu dritt, zwei Frauen und er. Die Frauen in Jacken und Tüchern bis über den Kopf, die ältere hatte Filzstiefel an den Füßen. Sie saßen auf einer kleinen Plastikplane. Über die untere Hälfte des Grabs war ein Geschirrtuch gebreitet, auf dem Schokolade, Speck und Zigaretten lagen, am Grabstein lehnte eine Konservenbüchse.»Trinke-trink Kamerad, fünf Minut — nix Faschist!«Eine flache Hand schnitt vor meiner Brust quer durch die Luft, und damit war es entschieden. Der Wodka hieß Parliament. Sie hatten sogar Gläser dabei, mit Goldrand. Den ersten Schluck goss der Russe in die rechte Ecke des Grabs, neben den Stein. Dann zündete er sich zwei Zigaretten an. Eine steckte er ins Grab, wo sie langsam herunterbrannte. Die Frauen redeten mit dem Toten, dabei streichelten sie die Erde und bliesen in die Glut der Zigarette. Ab und zu ein leises, aber hemmungsloses Wimmern, eine Art Weinen, das ein paar Sekunden anhielt, dann wieder Wodka. Der Russe nickte ein. Er sah zufrieden aus. Ich stand auf und verabschiedete mich von den Frauen, ich glaube, ich verbeugte mich sogar, und ging zu meinem Grab zurück. Ich war froh,»nix Faschist «gewesen zu sein, und wahrscheinlich war ich betrunken.
Stück für Stück nahm ich die Sachen aus der Kiste und putzte sie ab, provisorisch jedenfalls. Sie hatten mir gute Dienste geleistet, ja, ich hatte sie damals wirklich gebraucht.»Wirklich gebraucht«, flüsterte ich und empfand plötzlich eine grenzenlose Dankbarkeit, die mich gütig durchströmte. Vielleicht hatte das nichts mehr mit Speiche zu tun. Für einen unwägbaren Moment sah ich mein Leben als Ganzes, eine lange Geschichte, mit diesen Sachen verknüpft, ja, in diesem Augenblick waren sie der genauestmögliche Ausdruck für alles, was bis zu diesem Tag, dieser Stunde, diesem Ort geschehen war: ein paar schimmlige Tramper, ein Batzen Wolle und eine Brille mit nur einem Glas.
«Entschuldigung, bitte Entschuldigung. «Irgendwann hatte meine Rede begonnen. Zuerst entschuldigte ich mich bei Kruso — dafür, dass ich nicht standgehalten hatte. Ich erklärte es ihm. Ich versuchte, nichts auszusparen. Ich versuchte, es zusammenzufassen: Angst und eine irre Abscheu (Abscheu vor den Toten) auf der einen, Trauer und ein irres Mitleid (Mitleid mit den Toten) auf der anderen Seite. Plötzlich konnte ich reden. Da ich betrunken war, sagte ich ein paar Sätze, die ich nicht geplant, ja, die ich noch nie ausgesprochen hatte, Dinge, die nur uns betrafen, Losch und mich, die zwei beiden. Auch Tränen waren nicht geplant gewesen. Schließlich bat ich Kruso um Erlaubnis für die Sache mit Speiche. Ich erklärte, was ich mir vorgenommen hatte (es lag einfach nah, Speiche» ausm Heim«, das Waisenkind, irgendwann war mir klar geworden, dass es für ihn keinen anderen Angehörigen gab, keinen anderen geben würde als mich, seinen Nachfolger im Abwasch des Klausners) und warum es das Andenken Valentina Krusowitschs oder das Andenken Sonjas (ich formulierte es so) nicht beschädigen würde, im Gegenteil. Ich konnte jetzt regelmäßig hier sein und würde mich kümmern, wie versprochen, hier wäre der richtige Platz dafür, Abteilung Gefunden. Dann entschuldigte ich mich bei Speiche selbst, zunächst für den Pullover und die Schuhe. Dann, stellvertretend, für die üble Nachrede, den Spott (Heimkind, Hampelmann, Versager), all die schäbigen Witze über jemanden, der, wie Kruso es ausgedrückt hatte,»auch darüber hinaus nicht geeignet gewesen war«.
Im Verlauf der Herbstwochen hatte sich Wulf D. Wätjen vom Kirchenrat in Kopenhagen noch einmal gemeldet.»Es tut mir immer noch sehr leid, dass ich Ihnen bei Ihrer Recherche nicht mehr helfen konnte …«, so begann seine Mail, und ich muss zugeben, dass ich gerührt war von diesem Satz. In der dänischen Tageszeitung POLITIKEN habe er eine Mitteilung über ein Projekt des Berliner Mauermuseums gelesen. Es gehe um die DDR-Flüchtlinge nach Dänemark. Das Museum habe den Verfasser des soeben erschienenen Buches Flugtrute Østersøen, Jesper Clemmensen, damit beauftragt, Gegenstände, Namen und andere Tatsachen zu erkunden. Ein Kontakt zum Mauermuseum, so Wätjen, brächte mich vielleicht ein Stück weiter. Noch einmal telefonierte ich mit Jesper, der mir erklärte, dass die Berliner zunächst versuchen wollten, die entsprechenden Anträge zu stellen für die Finanzierung des Projekts. Ich drückte das Telefon noch fester an mein Ohr und behauptete, vollkommen sicher zu sein, dass es Geld geben würde dafür, Geld ohne Ende,»wofür sonst, Jesper?«
In diesem Frühjahr wurde der Russische Friedhof renoviert. Die Gräber leuchten jetzt wie neu. Auch die Friedhofstore hat man frisch überstrichen (die beiden Sowjetsterne sind jetzt grau) und einen stabileren Zaun gegen die Wildschweine gebaut, die diese Gegend beherrschen.
Meist hocke ich nur da am Grab, und mir fällt nicht viel ein. Keine Hymnen, kein Psalm. Der Wald hält still oder rauscht mit den alten Sätzen:
«Die Toten warten auf uns, Ed, was sagst du dazu?«
oder
«Denk an das grüne Licht«
oder
«Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg«.
«Ich verspreche es«, murmele ich, und irgendwann kommen Speiche und ich auf den Klausner zu sprechen, die Arbeit im Abwasch, Schöpfkellen, Viola, Koch-Mike und irgendetwas, was nur dort, auf der Insel, zu haben gewesen war, und auch nur damals. Und warum er es trotzdem versuchen musste, warum es keinen anderen Weg für ihn gegeben hatte.
Wenn ich Zeit habe, halte ich auf dem Rückweg bei» Ritas Imbiss«, einer Bretterbude an der B 2, auf halbem Weg nach Hause. Es gibt dort ein Sägewerk und eine stillgelegte Bahnstation namens Nesselgrund. Und es gibt eine Wendeschleife für Lastkraftwagen — eigentlich ist es nur ein sehr großer freier Platz, nichts als Sand, wie am Strand, drei Kilometer vor Potsdam.