Der Lurch

Punkt 15 Uhr kehrte Ed über die Hochufertreppe vom Strand zurück. Beim Aufstieg brach der Schweiß aus allen Poren, sein Körper war von der Sonne überhitzt, es gab keinen Schatten am Ufer. Wie immer schlug er einen kleinen Bogen halb durch den Wald, um möglichst ungesehen an der mit ersten Kaffeegästen besetzten Terrasse vorbeizukommen.

«Wozu, wozu, wozu sonst bist du hier?«, plapperte er leise vor sich hin, während er nackt auf dem schmierigen Boden des Abwaschs hockte und sich das wunderbar kalte Wasser über Schädel und Rücken laufen ließ. Er starrte in die Flucht der Bottiche, sein Umriss spiegelte sich im Stahl des Beckens, in dem das Besteck noch weichen sollte — erst dann sah er die Füße. Füße und Beine, die reglos hervorragten unter dem Becken wie die Gliedmaßen eines Toten. Dem Gefälle des Bodens folgend, floss das Wasser, mit dem Ed sich kühlte, genau dorthin, unaufhaltsam. Erschrocken entschuldigte sich Ed, das heißt, er stotterte etwas zu den Füßen, Krusos Füße, wie er inzwischen zu erkennen glaubte.

Die Abflüsse der Becken endeten handbreit über den Fliesen, das Wasser stürzte in freiem Fall auf die vergitterten Abflusslöcher. Um während der Arbeit nicht in einer fauligen Brühe alten Waschwassers zu waten, war es unvermeidlich, ab und zu den beständig nachwachsenden Morast von Speiseresten aus den Gittern zu pflücken; Kruso nannte es» das Unkraut jäten«, eine Arbeit, die noch unbeliebter war als» der Römer«. Ed verstand nicht, warum Kruso so still lag unter dem Becken. Vielleicht hatte er ihn auch gar nicht bemerkt, und also bestünde noch immer Gelegenheit, nach draußen zu verschwinden, dachte Ed, als es krachte. Im nächsten Augenblick stand der Beine-Mann vor ihm, ebenfalls nackt, ein Buschbewohner, mächtig und glänzend von schlieriger Feuchte. In der rechten Hand hielt er seine Machete, ein großes Küchenmesser. Mit der linken stemmte er das Abflussgitter in die Luft, an dem ein meterlanger Batzen Schleim baumelte. Am Arm floss ein Streifen Blut; ein bestialischer Gestank erfüllte den Raum.

«Er ist schon älter, vier Monate vielleicht, deshalb braucht man etwas Geduld«, erklärte Kruso und betrachtete den Schleimzopf, als wäre er ein lebendiges Wesen, auf das er schon länger Jagd gemacht hatte. Das Wesen verjüngte sich nach unten und endete in einem feinen grauen Rinnsal. Kruso benahm sich, wie sollte Ed es nennen: kriegerisch. Er war ein Krieger, ein urzeitlicher Jäger, von kantiger Gestalt, beeindruckender Größe, stark behaart.

«Du blutest«, sagte Ed, erleichtert, etwas entdeckt zu haben, worüber sich reden ließ.

Kruso warf das Messer, ein feines Patschen, und Wasser spritzte Ed ins Gesicht. Das Jagdgerät trudelte der Aluminiummasse des Bestecks entgegen, das den Boden des Beckens bedeckte, fade schimmernd wie ein Schatz, den kein Mensch dieser Welt zu heben bereit war. Dann streckte er den blutigen Arm über das Becken und sah Ed in die Augen. Es war ein Kundschafterblick, ein Blick aus anderen, früheren Zeiten, als man noch im Zelt unter Indianern wohnte oder als Mitglied einer Bande Überfälle plante, streng geheim, ein Blick des Anvertrauens.

Kein tiefer Schnitt. Während Ed den Arm vorsichtig abwusch, das Blut von der Haut und aus den Haaren strich, tropfte kalter Schleim vom Zopf zwischen seine Zehen, aber er rührte sich nicht. Ed war wie gebannt von der Selbstverständlichkeit, mit der Kruso ihn in Anspruch nahm. Etwas daran tat ihm gut, mehr als er verstehen konnte. Mit ihrer Nacktheit hatte es nichts zu tun und natürlich nichts mit dem Anblick seines Geschlechts. Mehr mit dem, was Kruso ihm offensichtlich zutraute, wozu er ihn gebrauchen konnte.

Das Zopftier musste schwer sein; es zitterte leicht an Krusos erhobenem Arm, Krusos Arm zitterte. Es ähnelte einem Lurch oder seiner riesigen amphibischen Larve, die sich demnächst in eine überdimensionale Kröte verwandelt hätte, um das Gitter zu sprengen mit ihrem schleimigen Buckel und ihnen bei der Arbeit in die Waden zu beißen.

«Der Spaten steht am Eingang zum Keller«, sagte Kruso. Diesmal war seine Stimme zu nah, der Satz war nur ein Rauschen gewesen, so dass Ed sich die Worte noch einmal zurechtlegen und einzeln aufrufen musste.

«Der Spaten«, wiederholte Kruso bereits, mit großen, gebleckten Zähnen, als bemühe er sich, deutlicher zu artikulieren. Aber es klang nicht anders, als hätte er» Kaffee «gesagt oder» Untertasse«. Kruso war kein Wilder, er war das Gegenteil eines Wilden, nackt im Abwasch, mit einem unbekannten Tier am Haken. Kruso war geduldig.

«Am-Eingang-zum-Keller«, wiederholte Ed und zog sich rasch eines der Geschirrtücher um die Hüften.

An einer Stelle am Rande, aber noch innerhalb des Gebiets, das Kruso sein Kräuterbeet genannt hatte, vergruben sie den Lurch. Kruso, gehüllt in einen der alten, rosafarbenen Römer, nannte sie die beste Pilzstelle der Welt,»vier Sorten und acht verschiedene Kräuter«. Dann begann er mit seiner Unterweisung. Wie man den Lurch mit einem Ast vom Gitter schlägt. Wie man das Gitter gegen den Baum wuchtet (es war ein bestimmter Baum, Ed sah es an den Verletzungen der Rinde), so lange, bis die dort verhakten Reste vollständig herausgespritzt und so weiter.

Das erste Mal nahm Ed eine Art Dialekt in Krusos Rede wahr. Er sagte» iss «für» ist «und» morr «für» man«, er sagte» efters«(öfters) und etwas sei» bassiert«. Es war eine Art Schwäbisch, teilweise, im Grunde eine archaische Mischung verschiedener Zungenschläge. Nur selten redete er so, nur, wenn er vergaß, darauf zu achten.

Ed gab sich Mühe. Beim Graben rutschte das Geschirrtuch von seinen Hüften. Er lenkte das Tuch am ausgestreckten Bein zur Seite ins Waldgras und arbeitete ohne Unterbrechung weiter. Er wusste selbst nicht, warum es so sein musste. Er empfand seine Scham, aber in diesem Moment war etwas anderes wichtig. Mit bloßen Füßen war es schmerzhaft und beinah unmöglich, ein Spatenblatt in die sandige Erde zu treiben. Ed versuchte, seine Ferse einzusetzen und mit kleineren Stößen Druck auszuüben, er wusste, wie man einen Spaten benutzte. Auch Kruso, der Wurzeln ausriss und den Sand mit seinen Händen beiseitezog, würde die Schwierigkeit nicht verborgen bleiben. Aber jetzt ging es nur darum, zu tun, was zu tun war. Und sich dabei keine Blöße zu geben. Sein Penis war von der Sonne beschienen, sein Hoden ahmte auf die ihm eigene lächerliche Weise die Bewegung des Grabens nach.

Am Ende hob Kruso den Lurch in die Kuhle. Erst jetzt bemerkte es Ed: eine Unzahl langer, offensichtlich menschlicher Haare, von dem das schleimgraue Wesen wie geädert schien; ähnlich dem Gespinst von Blutbahnen auf der Oberfläche eines frisch entblößten Organs. Es gab blonde Haare, die weiß glänzten in der Nachmittagssonne, aber auch schwarze und rote Haare. Ed zögerte, als sei er dazu angehalten, etwas Lebendiges, Lebiges (wie seine Mutter es nannte) zu begraben, aber Kruso sagte» Spaten«, und Ed zog die sandige Erde über den Lurch.

Es folgte ein Moment des Schweigens, in dem das Rauschen der Brandung anschwoll. Erst langsam, dann blitzschnell, ohrenbetäubend — ein graues Düsenflugzeug jagte im Tiefflug über den Dornbusch.»Hier schließt sich der Kreislauf der Freiheit«, rief Kruso, als wolle er eine Grabrede beginnen, seine Stimme im Rauschen.»Wir führen den Stoffwechsel von Mensch und Natur zurück auf die Wurzeln früherer Gemeinschaft. «In seinem rosa Römer ähnelte er dem Urklausner auf dem Foto in der Frühstücksecke, nur Katze und Esel fehlten. Aber Ed war da, immerhin, der sich bückte, um rasch und möglichst unauffällig seinen Schurz vom Boden zu pflücken.

Während sie zurückkehrten zum Klausner, redete Kruso über ein Großsteingrab am Dornbusch und von Feuerstellen, dreitausend Jahre alt, aber noch immer zu erkennen, oben auf dem Swantiberg, der heilige Berg, Thron eines Königs … Kruso sagte» Kehnig«. Ohne Mühe passte er seine Schritte dem Maß des Römers an, sein Gehen hatte die Würde eines Tribuns, während Ed sich gezwungen sah, sein Geschirrtuch immer wieder neu in Position zu schieben — es gab einfach keinen Halt auf seinen Hüften.

«Das Schwarze Loch«, erklärte Kruso und stieg über eine am Giebel des Klausners gelegene Außentreppe in die Tiefe. Zuerst verlor Ed ihn aus den Augen, dann flammte eine Glühbirne auf, deren Porzellanfassung zwischen zwei gusseisernen Schwerkraft-Öfen angebracht war. Das Glas der Lampe war mit Kohlenstaub bedeckt, ihr Lichtkegel beleuchtete einen Haufen zerbrochener Briketts.»Es gibt keinen Lichtschalter an der Tür, man muss zuerst durchs Dunkle, bis hierher, vor den Ofen. «Ein kleines Gelächter ertönte, aber vielleicht täuschte sich Ed. Das Dröhnen der MIG summte noch in seinen Ohren; ihn fröstelte.

Den Öfen gegenüber stand eine Reihe verschieden großer, halb zerbrochener Schränke.»Unsere Asservaten«, rief Kruso,»und hier, das Archiv!«Er drückte Ed ein Paar Pepitahosen vor die Brust, dünn und mit einem Stoffband als Gürtel, wie sie auch der stumme Rolf und Koch-Mike trugen. Ed hätte die Hosen nicht vor Kruso anprobieren wollen, aber jetzt tat er es. Wenn er irgendeine Fähigkeit besaß, dann diese: Er konnte spüren, was von ihm erwartet wurde; er konnte empfinden, wie die Welt der anderen beschaffen war. Er hatte dabei Momente genauester Ahnung, er konnte verstehen, und er konnte sich danach verhalten, wenn er wollte. Vielleicht war das eine Art Ersatz — dafür, dass ihm ein bestimmter Wesenszug fehlte, etwas, das Menschen einander näherbrachte, das sie miteinander verband.

Das erste Paar war viel zu groß, und auch beim zweiten und dritten Versuch sah Ed aus wie ein Zwerg in den Hosen eines Clowns. Anprobe und Einkleiden hießen die Schritte. Freitag bekam sein Ziegenfell. Nachdem die passende Hose gefunden war, legte ihm Kruso eine lange, weiße Kochjacke über die Schultern. Ed spürte Krusos Blick, das Wohlgefallen.

«Ich möchte dich um etwas bitten.«

Die Sachen rochen verstockt und hatten rußige Ränder. Ed war nicht sicher, ob er sie tragen wollte, zugleich empfand er die Auszeichnung — für treue Dienste, oder wie sollte man es nennen? Er hatte eine Gänsehaut unter der Jacke.

«Es ist sehr wichtig für unsere Aufgabe hier. Es geht um die Frage, ob du einen der Öfen übernehmen könntest. Das frühe Anheizen, sechs Uhr, unser Hausmeister versäumt es zu oft. Du weißt, wie schwierig es ist mit kaltem Wasser im Abwasch, im Grunde unmöglich …«

Während Kruso die Öfen und die Ausstattung des Schwarzen Lochs erklärte, sah Ed den Hausmeister des Germanistischen Instituts in seiner Gartenlaube, der Boden voller Flaschen, und er sah den Hausmeister des» Hotels am Bahnhof«, der in seinem Keller saß und Zahlen einbrannte in Klötzchen, und er sah Ebeling, den Hausmeister des Klausners (bisher war er ihm nicht begegnet), betrunken in seinem Bett, in einem Haus auf der Insel, das er gemeinsam mit seiner Mutter bewohnte. Und für einen Moment sah Ed sich selbst; wie beim Sportunterricht waren alle Hausmeister der Welt der Größe nach angetreten, und er war der Letzte in dieser Reihe, und über seinem Kopf stand»6-Uhr-morgens«.

Im Verlauf der kommenden Tage wurde der Keller seine Höhle, sein Versteck, voller Ruhe und Abgeschiedenheit. In einer Ecke, in der altes Gaststubenmobiliar aufgestapelt war, hatte er einen winzigen Tisch und einen Barhocker gefunden. Er hatte die Sachen ins Freie getragen, den Schimmel heruntergeschrubbt und alles für zwei Tage in die Sonne gestellt. Der Tisch passte gut unter sein Fenster, ein Nachteil war sein Kummergeruch (Moder und Kohle). Dem Hocker sägte Ed die Beine ab; die Tischplatte lag trotzdem noch zu niedrig.

War angeheizt (das Holz musste gut brennen, bevor er die feuchte Kohle auflegen konnte), machte Ed seine Runde. Einer der Schränke war voller kleiner Seifenstücke, Hotelseife, in einem ehemals weißen Papier mit der feinen kupferfarbenen Aufschrift» Palasthotel«. Dann der Stahlschrank mit Ordnern und Kassenbüchern. Hinter dem Stahlschrank, der halb verrostet, aber unverrückbar war, gab es eine Nische. Durch einen armdicken Spalt sah man Gerümpel, vorzeitliche Turngeräte, vermodertes Sackleinen und eine Zinkwanne.»Alexander Ettenburg nannte diese Wanne seine Verbrennungsanstalt, sein Krematorium«, hatte Kruso erklärt, als wäre auch das für Eds Arbeit von Bedeutung.»Früher gehörte dazu eine Aschenurne. Der Urklausner hat alles vorbereitet. Er war ein Mensch der Natur, seiner Zeit weit voraus. Er hat allen Orten hier ihre Namen gegeben, die Swantewitschlucht, der Flaggenberg, der Zeppelinstein. Am Ende wünschte sich der Alte nichts mehr, als auf der Insel begraben zu werden, aber sie haben seine Asche ins Meer geschüttet. Die Inselleute wollen keine Fremden in ihrer Erde, und das ist bis heute so, von Ausnahmen abgesehen. Größen wie Hauptmann oder namenlose Wasserleichen.«

Am Ende seines Rundgangs zündete Ed die Kellerkerze an. In einer von Plastikplanen verhangenen Ecke gab es einen kleinen, quadratischen Schacht, in den eine hölzerne Treppe führte. Ed stellte die Kerze auf den Grund und begann, die Schnecken von den Wänden abzulesen. Er staunte über die Kraft, mit der sie sich festsaugten auf dem glatten, von Schimmel geschwärzten Beton. An jedem Morgen waren dort neue braune und schwarze Exemplare, es gab keine Erklärung dafür. Er machte so lange, bis ihm die Hand überquoll, dann stieg er nach oben und warf den Batzen ins Feuer.

Ed hatte entdeckt, dass der Schacht ursprünglich eine Dusche gewesen war, und seine Zeit im Keller genutzt für ihre Urbarmachung — er hatte uralten Schlamm aus dem Abfluss gekratzt und den Kalk aus dem Duschkopf geklopft. Anfangs war das Wasser rostig und faulig, doch nach einer Weile wurde es besser. Die Armaturen quietschten und knirschten erbärmlich, aber sie funktionierten. Eine Weile stand man knietief im Wasser, dann schaltete ein Füllstandsmesser die Pumpe ein. Wenn er geheizt hatte und das Wasser im Kessel ausreichend erwärmt war, konnte er duschen: ein Luxus ohnegleichen. Nach der Zwiebel seine zweite ganz eigene Sache.

Im Feuer leuchteten die Schnecken. Sie richteten sich noch einmal auf, in ihrer ganzen Gestalt, wie neugeboren, ehe sie schlagartig schrumpften, mit einem kleinen Pfiff, als würde Luft entweichen.»Weiß Gott, wo sie immer wieder herkommen«, flüsterte Ed in den Ofen. Eine kleine Weile das Pfeifen aus der Glut, dann begann er Briketts aufzulegen, sorgsam, Stück für Stück.



Viola

28. JUNI

Rimbaud hat mir heute ein Buch gezeigt und daraus vorgelesen, es heißt» Das Theater der Grausamkeit«, ein Westbuch. Jede Woche liegt ein anderer Titel im Nest, manchmal sogar mehrere. Hat er sicher vom Buchdealer. Ich darf das Nest jetzt auch allein benutzen, wenn dafür Zeit ist. Alle hier sind eine Gemeinschaft.

Täglich um zwölf Uhr aß Ed seine Zwiebel. Gemeinsam mit seinem Schweigen ergab das Zwiebelritual (als hätte diese Koordinate noch gefehlt) das Bild eines gemäßigten Sonderlings, von dem nicht viel zu befürchten war und, ja, dessen Aufnahme keine schlechte Entscheidung gewesen sein konnte. Auf gewisse Weise begründete die Zwiebel seine Stellung im Klausner. Bald wurde Ed als eine Art Ruhepol angesehen zwischen den galoppierenden und rezitierenden Vertretern im Service, dem cholerischen Eisverkäufer mit seinem Eiskübelgehämmer und Rick am Tresen, der mit Geschichten und Weisheiten eine Art lebensphilosophischen Ausschank betrieb. Bei Ed am Becken hingegen herrschte Konzentration und Besonnenheit. Schon von daher lag seine Nähe zu Kruso auf der Hand, ein Freitag an der Seite Robinsons, und niemand musste sich besonders wundern darüber, dass beide immer öfter zusammen anzutreffen waren. Dabei ging es in der Regel nur um die täglichen Unterweisungen Eds, des neuen Abwäschers und Heizers. Ed bestaunte die Veränderungen, und wieder einmal wunderte er sich darüber, dass er es selbst war, dem all das geschah. Ab und zu tauchte jenes verschämte Glück auf, das sich weigerte, direkt mit ihm in Verbindung zu treten, und manchmal, ganz unvermittelt, stand ihm G. plötzlich vor Augen — er hatte keinen Einfluss darauf.

Warum tat es so gut, wenig zu reden?

Er hatte das nicht vorgehabt, aber dann begriff Ed, dass das Schweigen innerster Bestandteil seiner Flucht war, inzwischen nannte er es so. Er musste einfach für sich bleiben, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht allein sein durfte … Im Geiste hatte er es versehentlich umgekehrt formuliert und doch genau so gemeint: Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält. Später war er den Strand entlanggegangen und hatte den Satz aufs Meer hinaus gesprochen, wie eine Bitte, aber die Wellen waren zu hoch, das Meer zu laut, und der Wind schob ihm die Worte in den Mund zurück.

Seine Zurückhaltung half ihm, Anzeichen von Schwäche oder Unerfahrenheit zu vermeiden. Er sagte» Hallo «oder» Ja «und» Genau«. Bei allem konnte man» Genau «verwenden.»Genau «war die bestmögliche Antwort, wenn sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte oder versuchen wollte, ihn zu verspotten, was anfangs öfter und dann immer seltener vorkam. Alles, was Ed widerfuhr, wurde von» Genau «schlicht verdoppelt und in der Verdopplung seines Gewichts enthoben, seiner Größe beraubt. Alles konnte auf diese Weise rasch akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Er brauchte keine Verteidigung, keinen Graben. Alles, was auf ihn zukam in dieser Fremde, war nicht mehr als genau das.»Genau «war die kürzeste und beste Beschreibung der Insel. Die Insel» Genau «lag mitten in seinem Schweigen, uneinnehmbar.

Vom Abwasch aus hatte Ed es irgendwann entdeckt — ein Radio, das von Koch-Mike» meine Viola «genannt wurde. Es handelte sich um ein Röhrenradio der Marke Violetta, ein dunkler Holzkasten auf einem unerreichbar hohen Bord über den Gefrierschränken, direkt unter der Küchendecke; offensichtlich konnte es nicht mehr abgeschaltet werden. Das Bord war aus rohen Stahlwinkeln gefertigt und schien stabiler als die Grundmauern des Klausners. Die Bespannung des Lautsprecherkastens war verkrustet von uraltem Fett, aus dem grünflackernd die kleine Linse des magischen Auges blinkte. Wie ein Lidstrich im Make-up einer Greisin glänzte darüber das Silber ihres Namenszugs; Viola zwinkerte Ed zu. Sie zwinkerte in seinem Rücken, während er sich über das Becken beugte. Oft verschwand sie auch vollkommen im Nebel. In den sich überlagernden Echos der Küche wurde ihre Stimme auf irritierende Weise ortlos und schien direkt dem gespenstischen Gewaber zu entspringen, das von den Kochstellen aufstieg. Viola, so erzählte Koch-Mike, stamme noch von seinem Vorgänger, der beim Nachtbaden ertrunken war, im Sommer 1985. Der Sender wäre noch eingestellt und das Radio eingeschaltet gewesen, als er und Rolf wenig später die Küche des Klausners übernommen hätten. Mehr gab es aus Koch-Mikes Sicht darüber nicht zu sagen.

Ed beschäftigte der Gedanke, dass das Radio seinen Besitzer überlebt hatte — ohne zu verstummen. Auf gewisse Weise konnte es als die Stimme des alten, ertrunkenen Kochs angesehen werden, die sich seit Jahren ohne Unterlass über die Töpfe des Klausners ergoss und seine Speisen überzog mit ihrer endlosen Sendung. Für einen unsinnigen Moment erschien ihm das als Akt des Widerstands, Hinweis auf ein vor langer Zeit begangenes Unrecht vielleicht, wie eine Hand immer wieder aus dem Grab herausschnellt, phantasierte Ed, während ihm der scharfe Dunst des Spülmittels zu Kopf stieg und er Teller für Teller durch das Steinbecken fürs Grobe schleuste. Er bemühte sich, seinen Rhythmus zu halten, er wollte nicht langsamer sein als Kruso.

Die Drehregler fehlten, und die elfenbeinfarbenen Tasten, die an eine Art Überbiss erinnerten, waren zertrümmert. Derart verstümmelt, empfing Viola nur noch Deutschlandfunk, diesen aber mit einer Unnachgiebigkeit, wie sie Kriegsversehrten nachgesagt wird, die trotz schwerer Verletzung weiter und weiter kämpfen. Was Viola dabei aus den Sendungen machte mit ihrem schwankenden Empfang, ihrem schlagartigen Verstummen oder störrischen Brummton, ihrem Kratzen, Gurgeln und Husten (vor allem ihre Bronchialgeräusche waren schlimm), gerann zu einer Art Grundton des Klausners. Ihre endlose Sendung war wie das Atmen des Hauses, schwankend, aber beständig, dem Rauschen der Brandung vergleichbar und im Grunde unbeachtet …»Dudelt nur so, dudelt so«, wie es Koch-Mike sagte.

Im Abwasch hörten sie nicht viel von Viola, oft nur ein sanftes Brausen mit Obertönen. Das Zeitzeichen war das deutlichste Geräusch. Zwölf Uhr. Beim letzten Ton zog Ed seine Hände aus dem Wasser. Er drückte die Schwenktür zur Küche einen Spalt auf und bat um seine Zwiebel. Irgendwann ging der stumme Rolf dazu über, ihm einen Teller vorzubereiten und auf die Ablage rechts hinter der Schwenktür zu stellen, so dass er nur noch zuzugreifen brauchte: eine große, glänzende, in Hälften vorgeschnittene Zwiebel und eine Scheibe Mischbrot. Ed verharrte dann für einen Moment, den Rücken gegen einen Flügel der Tür gestemmt, und bevor er seinen Dank in den Raum brüllte (sein Blick suchte Rolf oder Koch-Mike im Küchennebel), erreichten ihn ein paar Sätze Violas. Ed fühlte sich hingezogen zur Monotonie ihrer halbstündlich wiederkehrenden Erzählungen, deren Inhalte tagelang kaum variierten. Am Ende das Wetter, Wasserstände, Windgeschwindigkeiten. Es gab Suchmeldungen und Reiserufe, und auch eine Sturmwarnung brauchte keine besondere Betonung.»Bundeswirtschaftsminister Haussmann hat seine Warnung wiederholt, die Arbeitszeit weiter zu verkürzen. Die Bevölkerung in der Bundesrepublik soll von Tiefflügen entlastet werden. Hören Sie nun die Meldungen im Einzelnen.«

Um Kruso zu zeigen, dass die Zwiebel zu keiner Unterbrechung seiner Arbeit führte, aß Ed sie direkt am Becken, wie einen Apfel, von dem er ab und zu einen Biss nahm. Anfangs hatte sich Ed vor jedem Biss die Hand gespült, aber jetzt, da er allmählich eins wurde mit dem Abwasch und seinen toxischen Essenzen, machte er sich nicht mehr diese Mühe.

Außer Viola, den Kühlaggregaten, der Kaffeemaschine und einem Kartoffelschälgerät, das nur von dem selten anwesenden Hausmeister bedient werden konnte, existierte keine Technik im Klausner, abgesehen von Krombachs grauem Telefon. Immerhin gab es Fenster, die man einen Spaltbreit aufklappen konnte, und, wenn möglich, weit geöffnete Türen. Der Wind wehte vom Meer her zum Vordereingang herein, spülte Gaststube und Küche und fuhr durch die Hintertür des Abwaschs wieder hinaus. Auf diese Weise waren Ed und Kruso stundenlang eingehüllt in ein warmes, fettiges Strömen, ein Dunstgemisch aus Tabak, Rauch, Menschengeruch und alkoholischen Dämpfen, dumpf und atemversetzend.»Geräuchert, wir werden geräuchert«, fluchte Kruso,»wenn die Wilden kommen, wittern sie uns zuerst. Wir müssen Vorsorge treffen, uns gut reinigen am Abend. Waschen, pflegen, Creme. Und immer wachsam sein. Die Höhle erweitern, die Verstecke verbreitern. Es ist schlimmer, ein Unheil zu erwarten, als es zu ertragen, Ed!«Der Hallraum des Abwaschs verzerrte seine Rede, weshalb Ed sie vielleicht falsch verstand. Es klang nicht, als würde Kruso scherzen, im Grunde scherzte er nie, schon gar nicht, wenn er auf die sagenhafte Geschichte seines Namensvetters zu sprechen kam.

Vor Feierabend schleuderte ihm der Eisverkäufer seine leeren Kübel zwischen die Beine.

«Picobello amigo!«

«Genau.«

«Das will ich meinen genau

«Genau.«

«Werd bloß nicht frech, Zwiebel.«

Die Kübel stanken. Auf ihrem Grund klebte das kalte näselnde Sprechen Renés. Ed scheuerte es heraus. Renés Hauptstadthochmut (auch er stammte aus Berlin) wirkte dumm und einschüchternd zugleich. Es lag am Tonfall, etwas, das unangreifbar schien und im Thüringischen oder Sächsischen nicht enthalten war. Sein weißes Hemd wie frisch gebügelt; er hat immer den guten Geruch, dachte Ed. René trug echte Jeans und einen braunen Stielkamm in der Gesäßtasche. Es war ein Plastikkamm mit breitem, leicht geschwungenem Griff. Manchmal, mitten im Gespräch oder auch am Frühstückstisch, zog er ihn heraus und kämmte sein welliges Haar.

Ed trocknete die Kübel sorgfältig aus und stellte sie zurück unter die Luke des Eisverkaufs. Dann schlich er auf sein Zimmer. Er hatte bald herausgefunden, dass es einen Durchgang gab, der vom Speisesaal aus direkt auf die Treppe nach oben führte; man musste nicht erst das ganze Gebäude umkreisen. In der Tiefe des kleinen Korridors zwischen Speisesaal und Treppe war die zweite Tür kaum sichtbar, obwohl sie meist offen stand und wie ein Geräuschkanal Küche, Gaststube und Speisesaal mit der oberen Etage verband.

Die Außenbahn entsprach einer alten Vorschrift, die Krombach weitergab, wenn er neue Belegschaft einstellte. Das Ganze ging zurück auf Beschwerden höhergestellter Betriebsurlauber, die sich entsetzt gezeigt hatten über die unhygienischen, unansehnlichen Gestalten, die plötzlich neben ihren Tischen aufgetaucht waren, um ihr wohlverträumtes, kerzenbeschienenes Feriendasein mit einer Wolke aus Schweiß, Rauch und Alkohol zu besudeln. Krombach war nur Pächter und wollte keinen Ärger mit dem sogenannten Stammbetrieb; überhaupt achtete der Direktor darauf, dass seine Mannschaft nicht zu eng in Kontakt kam mit den Betriebsurlaubern, jenen anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse.

Die gute Einsamkeit, von der ab und zu die Rede war, mit möglichst ruhiger Stimme und Worten, die verbargen, dass man eigentlich nicht wusste, ob sie wirklich existierte, erlebte Ed am Abend, allein in seinem Zimmer. Er lauschte den zerfetzten Melodien, die es von Viola heraufspülte. Er döste ins Rauschen der Brandung oder starrte ins Dunkel über dem Wasser und sah das Bärenpferd. Er war vollkommen ruhig. Er konnte dem Tier unverwandt ins Auge sehen.

Es war, als hätte er an diesen ersten Nachmittagen im Hof des Klausners zu denken begonnen, mit einem Pferd vor Augen und einer Zwiebel in der Hand. Gedanken, von denen er wusste, dass sie ihren Anfang tatsächlich bei ihm selbst genommen hatten. Ein Denken jenseits seiner Merkkraft und irgendwo weit hinten, tief unter den Beständen. Die feuchten, samtweichen Nüstern, die Atemgeräusche, die Stille im Blick. Er war vierundzwanzig Jahre alt. Er hatte G. verloren. Das erste Mal im Leben konnte er fühlen, wie sein Denken begann. Wenn er sich mit der Innenfläche seiner Hand übers Gesicht fuhr, roch er die Gerichte der Tageskarte. Seine Haut war fettig und glänzte.



Am Enddorn

Etwas Wind kam auf. Kleine schlappe Ostseewellen, rasch aufeinander, ein kurzatmiges Meer. Über seinem Kopf blitzten die Uferschwalben kreuz und quer, als wollten sie ihn vertreiben. Ed lag am Strand, auf dem Rücken, versunken in den Anblick der faustgroßen Höhlen, von denen die Steilküste im Norden übersät war. Sie waren weit oben, direkt unter der Kliffkante, in zehn, zwölf oder fünfzehn Etagen übereinander, und erinnerten Ed an die in Fels gemeißelten Wohnstätten von Wüstenindianern, wie er sie in einem Western oder Abenteuerfilm gesehen hatte. In Abständen tauchten die Vögel in ihre Höhlen, dann schossen sie wieder heraus.

«Eine riesige Kuckucksuhr, Alterchen«, flüsterte Ed,»hörst du, wie es tickt im Lehm? Mit ihren aufgesperrten Schnäbeln fangen sie die Mücken wie Sekunden. Im Flug verdauen sie die Zeit zu einem einzigen Brei, und dann, zu Hause, kotzen sie alles wieder aus und stopfen damit die Mäuler ihrer winzigen Bälger — nur mit Zeitbrei gestopft, lernt man das Fliegen, alter Racker, wusstest du das?«

Das Spintisieren machte Ed Vergnügen, auch wenn sein Fuchs außer Hörweite lag. Immerhin war es sein erster freier Tag, der erste Ruhetag des Klausners seit seiner Ankunft, und er hatte sich vorgenommen, die Nordhälfte der Insel zu umrunden.

Die Ruhetage: Es hatte dazu keinerlei Unterweisung oder Erklärung gegeben, und wozu auch? Niemand dachte dabei an ihn, niemand wollte etwas von ihm. Für Ed waren sie ein Etappenziel, leiser Triumph.»So weit bist du gekommen«, flüsterte er in den Schwalbenhimmel und machte sich auf den Weg.

Wie ein gestrandeter Wal, der hilflos sein Maul vorschob in die Brandung und verzweifelt versuchte, ins Wasser zurückzukehren, hob sich das Hochland des Dornbuschs aus dem Meer — ein großes, langsam zerbröckelndes Tier. Unentwegt operierte die Sturmflut riesige Blöcke aus seinem Eiszeitleib heraus, Sandstein, Schiefer und Uppsalagranit, an dem sich seine frühere Heimat und die zehntausend Jahre seit seiner Ankunft ablesen ließen. Sein skandinavischer Leib franste aus, und nach und nach schaffte der Kadaver die Rückkehr ins Meer. Mergel und Ton spülte die Strömung im Nordosten wieder an, weshalb sich die Insel zu runden begann. Der sogenannte Bessin, dessen Gestalt noch immer Anlass bot, den Umriss des Eilands mit einem Seepferdchen zu vergleichen (und es auf diese Weise noch tiefer ins Herz zu schließen), hatte sich in den letzten Jahrzehnten aufgebläht, dem Seepferdchen wuchsen zusätzliche Mäuler, sein Kopf begann monströse Ausmaße anzunehmen.

Schon nach einem halben Kilometer ging es nicht mehr weiter. Ein Stück der Steilküste war frisch abgebrochen und ins Meer gerutscht. Das Bündel mit seinen Sachen über Kopf, stakte Ed langsam um die Lawine herum. Der Grund war steinig, er konnte sich kaum aufrecht halten. Das Wasser reichte ihm bis über den Bauch. Einmal war ihm, als hätte er jemanden lachen gehört, aber mehr vom Wasser her. Es schien keine Urlauber zu geben auf diesem Teil der Insel. Ein einziger Mann, jünger als Ed vielleicht, der sich sonnte. Er war nackt und lag wie versteckt in einer der kleinen Buchten. Als Ed sich noch einmal nach ihm umsah, band er bereits das Koppel über die Jacke. Er zog sein Maschinengewehr aus einer Nische und winkte Ed.

Feiner, mit Algen gepolsterter Kies bedeckte den Strand. Die größeren Steine lagen am Wasser, Totenköpfe, mit Algen behaart und von Wellen gestriegelt, sorgsam und endlos. Es gab großflächige Abbrüche, riesige Schollen und tiefe Risse in der Küste. Es gab kleine, frische Gletscherzungen aus feinstem Ton, in die man knietief einsinken konnte. Beim ersten Schritt waren sie wie Gummi unter dem Fuß, dann, plötzlich, gaben sie nach und umschlossen den Knöchel — tiefer, klebriger Ton. War man einmal eingesunken, gab es nichts Angenehmeres, als darin herumzustapfen und zu spüren, wie sich der feine Schlamm zwischen die Zehen presste … Stellenweise waren Lehm und Ton zu glänzenden Terrassen angeschwemmt, kleine, spiegelglatte Tableaus, wie aufgespannt und unberührbar. Es gab riesige Hühnergötter und Mohnblüten, über den Lehm verstreut. Das Wasser am Ufer war türkis, weiter draußen grau, die Sonne stieg, und der Horizont wurde langsam schärfer. Es war ein unangenehmes Gefühl, wenn Ed entdeckte, dass jemand von der Kliffkante auf ihn heruntersah, fünfzig, sechzig Meter über ihm. Dann senkte er den Blick und versuchte, schneller zu gehen, was schwierig war zwischen den Steinen.

Wo das Hochufer abflachte, stieß er auf die Reste des Bunkers, von dem Kruso öfter sprach. Zwischen zwei aus ihrer Verankerung gerissenen Betonplatten gab es einen Spalt in die Tiefe, aus dem die Brandung orakelte; es roch nach Kot. Hinter dem Bunker begannen die Sandburgen der Urlauber, aufwendig ausgebaut und mit Hilfe kleiner schwarzer Steine beschriftet — Datum der Anreise, Datum der Abreise, irgendein Name, Köhler, Müller, Schmidt. Einige waren mit Treibholz überdacht und einige beflaggt. Sie erinnerten Ed an Unterstände oder Kommandozentralen; im nächsten Moment glichen sie bewohnbaren Geburtstagstorten, ausstaffiert mit allerhand Kleinzeug, Büchsen, Latschen, angespültem Müll. Die Wachen vor den Eingängen dieser Torten trugen Schürzen, Grillschürzen vermutete Ed, ansonsten waren sie nackt. Überhaupt schienen alle Menschen nackt zu sein im Norden der Insel, weshalb Ed Richtung Osten abbog. Plötzlich entdeckte er seinen Hochstand in der Ferne. Obwohl nicht mehr als drei Wochen vergangen waren, berührte es ihn, die Stelle wiederzusehen, wo er seine erste Nacht verbracht hatte — »wo ich gelandet bin«, flüsterte Ed vor sich hin.

Das Vogelschutzgebiet war von dichtem Unterholz bewachsen, aber es gab eine Art Pfad in die Landzunge hinein. Er drang vor, wich vom Weg ab und betrat eine vollständige Abwesenheit. Irgendein Geräusch — ohne weiteres machte Ed einen Schritt zur Seite und duckte sich. Er war nicht erschrocken, er hatte keine Angst. Er registrierte, wie sich beim Hinhocken frisches Grün in den Blick schob. Das Grün bewegte sich und sagte» Gras«, so sanft, als streichle es dabei die innere Wölbung seines Schädels.

«Dass das die Wildnis ist und das unser Verkrochensein in der Wildnis — das werdet ihr da draußen nie begreifen«, murmelte Ed. Wieder hatte er ein gutes kleines Scheit auf das Lagerfeuer seines Selbstgesprächs gelegt. Er dachte: Orte, wo nie jemand ist, nur ich. Geduckt lauschte er dem harten Pochen seines Herzschlags und spürte die alte Sehnsucht nach dem Versteck. Und er begriff, dass diese Sehnsucht gewachsen und inzwischen noch viel größer war als in der Kindheit.

Als Ed sich erhob, stürzte ein Schwarm Vögel in die Luft, und für einen Augenblick war er nicht von dieser Welt.

Im Hof des» Enddorn«, eines der wenigen Gebäude, aus denen die Ortschaft Grieben bestand, bestellte Ed sich Kaffee und Kuchen. Er saß draußen im Schatten eines Weidenbaums, auf einem der wackligen, unregelmäßig im Garten verstreuten Stühle. Als wäre auf irgendeine Weise zu erkennen, dass er jetzt selbst eine Saisonkraft war, wurde er freundlicher und vor allem schneller bedient als die Tagestouristen an seinem Tisch. Und selbst die Tagestouristen zeigten Respekt. Sein Kännchen war randvoll, so dass es fast drei Tassen ergab. Einmal trat der Wirt vor die Tür und rief der Kellnerin etwas zu, dann grüßte er ihn kurz — der Wirt! Für eine Sekunde wurde Ed das Fehlen der unausgesprochenen Voraussetzung bewusst. Trotzdem gab es keinen Zweifel: Er gehörte jetzt zur Insel, man sah es ihm an. Er war ein Esskaa am Ruhetag.

Zur Straße hin hatte der Enddorn, der ein kleineres Schiff als der Klausner war, eine barackenähnliche Verlängerung. Als sich die Tür einmal öffnete, wehte ein Schwall verbrauchter Luft zwischen die Tische. Ed erkannte ein eisernes Bettgestell, der Fußboden voller Schlafsäcke und Planen. Erst im nächsten Moment bemerkte Ed, dass es Kruso gewesen war, der den Anbau des Enddorn verlassen hatte. Er trug ein leuchtend weißes Hemd, das schwarze Haar lag ihm offen über den Schultern und glänzte indianisch. Ed wollte ihn rufen, er sprang auf, hob den Arm, brachte aber kein Wort heraus.

Krusos aufrechter Gang, nicht athletisch, aber doch mit Kraft, als triebe ihn eine Unwucht voran, irgendein Schlag vielleicht, der sein Zentrum getroffen und verschoben hatte, dachte Ed, und nun versuchte er es auszugleichen mit einem raschen Voranschieben der Beine, die Hüfte steif, die Füße knapp über dem Boden … Plötzlich schmerzte es Ed, dass er einfach davonging, ohne sich umzusehen. Das war absurd, und er musste sich eingestehen, dass es mehr war. Kruso berührte etwas in ihm, das er entbehrte, vermisste, ein alter Mangel, nagend, eine Sehnsucht nach — er wusste es nicht, es hatte keinen Namen. Anfangs war es ihm unangenehm gewesen, wie Krusowitsch ihn in Dienst nahm, direkt, unverstellt und offen, wobei vieles rätselhaft blieb in seiner Rede. Aber schließlich lag es bei Ed, zu begreifen, wie die Dinge auf der Insel lagen, nach und nach. Trotz der erbärmlichen Zustände im Abwasch, die Rimbaud mit der Situation von Galeerensklaven verglich, genoss er die Arbeit an Krusos Seite; er genoss seine Nähe, so unnahbar ihm der Mann auch vorkam. Die Arbeit war etwas, das sie gemeinsam vollbrachten, es lag eine Art Vertrautheit darin, die durch nichts ersetzt werden konnte. Kruso hatte ihm Aufgaben gegeben, er hatte Klarheit in Eds Tage gebracht und das unabweisbare Gefühl, dass es auch für ihn eine Möglichkeit gab, sich über sein diffuses, verfahrenes Dasein zu erheben.

Die Kellnerin des Enddorn wollte kein Trinkgeld. Stattdessen erkundigte sie sich, ob er plane, am Abend an den Kellnerstrand zu gehen.

«Ja, vielleicht«, entgegnete Ed, der das Wort Kellnerstrand zum ersten Mal vernahm. Die Kellnerin war fast zwei Köpfe größer als er und kräftig gebaut; ihr rundes Gesicht erstaunte Ed, als hätte er schon lange in kein Gesicht mehr geblickt. Als er sich erhob, trat sie plötzlich einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Wange an seine — »Wir bezahlen einander nicht, nur damit du Bescheid weißt, fürs nächste Mal«, flüsterten ihre Lippen und berührten sein Ohr. Es war keine Umarmung, aber deutlich hatte Ed ihre weiche Haut gespürt und ihre Wärme.

Vor dem Hügel, der wie ein Schädel aus der Landschaft ragte, waren ein paar Pferde versteinert. Mit ihrem Hinterteil zum Wind warteten sie darauf, dass die Erdmutter einfuhr, um sie zu befruchten. Der Bodden leuchtete in der Nachmittagssonne, und der Hafen lag still. Keine Touristen. Nur ein Junge vor der Tafel mit den Zeiten der Fähre. Eine Weile sprach er die Ankünfte und Abfahrten der Schiffe vor sich hin, dann drehte er sich zum Kai und brüllte sie aufs Wasser hinaus. Er tat das mit einer Art Verzweiflung und Inbrunst, als wäre es den Schiffen ohne ihn nicht möglich, Kurs auf den Hafen zu nehmen. Als könnten die Schiffe die Insel vergessen. Der Junge trug eine Matrosenjacke und eine Art Schiebermütze und bewegte sich seltsam. Er lief jetzt so dicht an der Hafenkante entlang, dass Ed sich abwenden musste.

Im Schaukasten des Gerhart-Hauptmann-Hauses hing ein Hauptmanngedicht. Daneben ein Aquarell von Ivo Hauptmann. Die Brandung war stärker als am Vormittag. Ein paar Schmetterlinge torkelten über die Steine, als fiele es ihnen schwer, einen Landeplatz zu finden.»Wo steckst du, Alterchen?«, brummte Ed vor sich hin, während er nach der Quelle mit dem Delta Ausschau hielt. Er befürchtete, seinen Freund nicht mehr wiederzufinden.

Zwischen den Algen klebten Nester winzigen Getiers. Elfenbeinfarbene Spinnen und Pseudowespen. Ed sah Horden von Sandflöhen ziehen, wie weiße Kakerlaken, schimmernd von Feuchte. Feine Sandstürme fegten heran, man konnte sie von weit her kommen sehen. Sie flogen wie Tücher aus Seide in der Sonne, knapp über dem Strand.

Die Höhle war unversehrt. Sein Fuchs schien noch immer auf irgendeine Weise wachsam zu sein. Sein Fell wirkte intakt, nur hatte es an Glanz verloren, und am Kopf war es angegraut, jedenfalls an den Schläfen, falls man das sagen konnte bei einem Fuchs. Alles in allem war das Tier etwas geschrumpft, der Rumpf etwas eingesunken,»aber sonst ganz unverändert«, murmelte Ed in den Küstenspalt hinein.

«Was hattest du geglaubt?«, entgegnete der Fuchs.»Die frische Salzluft, der kühle Lehm ringsum und das Alleinsein in Freiheit, die Stille, und vor allem das Rauschen ist es, das mir guttut, reiner Balsam ist das Rauschen, du weißt, was ich meine. Nur die elende Feuchte, sie geht auf die Knochen, dazu die Abwässer, der Ausfluss des Klausners, die Seuche sickert hier täglich vorbei …«

«Ach Alterchen«, murmelte Ed.

Der Fuchs verstummte. Während Ed dem Delta folgte, fühlte er eine kleine, überraschende Zufriedenheit. Er hielt sein Haar im Nacken und trank aus der Quelle. Laugengeschmack. Die Wiederholung gab ihm Sicherheit; das Gefühl, einen Ort in Besitz zu nehmen, sein erster eigener Ort.

«Du schaffst das, Alterchen«, flüsterte Ed,»eins nach dem anderen, nur so funktioniert es, verstehst du?«

Nachts in seinem Zimmer hörte er die Schreie von Möwen, die erst landeinwärts und dann wieder aufs Meer hinaus flogen — das Geschrei hatte keinen bestimmten Rhythmus, die Vögel klangen wie nervöse Hunde, die aus irgendeinem Grund angeschlagen hatten und sich nur langsam wieder beruhigen konnten. Ed trat ans Fenster. Der ganze Luftraum war erfüllt von Hundehecheln. Er zog seinen Hermes-Kalender hervor, um seine fünf Zeilen Tagebuch zu schreiben, aber unentwegt summten in seinem Schädel die Bestände, und eigene Worte fielen ihm nicht mehr ein. Er legte sich in sein Bett und lauschte auf die nach immer größeren Räumen greifende Stille. Noch bevor das mitternächtliche Rumoren des Klausners begann, war er verschwunden in seinen Traum.



Die Schiffbrüchigen I

Im Flur brannte kein Licht. Hinter der Abbiegung zu Krusos Zimmer begann der gute Geruch Monikas, genau so, wie Ed sich den Duft von Apfelsinen vorstellte. Bis dahin war er der kleinen Unsichtbaren nur ein einziges Mal begegnet. Aber auch Apfelsinen hatte er schließlich nur ein einziges Mal in seinem Leben gegessen, in seiner Kindheit, im Jahr 1971, als einige Wochen lang plötzlich Südfrüchte im Angebot gewesen waren, wegen des Machtwechsels — »aufgrund des Umschwungs«, wie es sein Vater ihm damals erklärte. Seitdem hatte es keinen weiteren Umschwung gegeben, und inzwischen war einfach zu viel Zeit vergangen, um sich an den Geruch von Apfelsinen tatsächlich zu erinnern.

Monikas Tür am Ende des Flurs war die einzige mit einer Klingel. Ihr Klingelknopf leuchtete orange, und das Lichtfädchen im Knopf zitterte leicht, es schien lebendig zu sein, nur eingeschlossen (und um Hilfe flehend), weshalb es Ed schwerfiel, seinen Blick abzuwenden. Er holte tief Luft und sog das Aroma des Umschwungs ein. Er versuchte sich vorzustellen, wie René und Monika zusammengekommen sein konnten und was sie verband. Sex? Worum sonst sollte es sich handeln? René war ein Tier im Bett. Was ihn selbstbewusst, laut und bösartig machte.

«Komm doch rein!«Die Tür war nur angelehnt.

Kruso stand am offenen Fenster und beugte sich über ein sperriges Metallgestänge, eine Art Stativ, zusammengeschweißt aus rostigem Riffelstahl. Oben war ein abgegriffenes Fernglas befestigt. Ed blieb stehen, aber Kruso winkte ihn heran.

An diesem Abend sah Ed Alexander Krusowitschs Zimmer das erste Mal. Es war nicht viel größer als sein eigenes, aber es lag nach vorn, zur Terrasse. Von hier aus war es möglich, das gesamte Gelände gut zu überblicken: die ersten Stufen der Hochufertreppe, die halbe Swantewitschlucht mit dem Pfad zur Kaserne hinüber und über allem das Meer, das sich aufwölbte am Horizont,»flach wie ein Hundegaumen«, dachte Ed oder flüsterten seine Bestände. Das Gestell mit dem Feldstecher stand direkt hinter den Gardinen, die bis zum Boden reichten und sich leicht bewegten im Wind. Es waren dieselben groben, an Fischernetze erinnernden Gardinen, die auch in der Gaststube und im Speisesaal hingen, und tatsächlich schien ein Meeresgeruch von ihnen auszugehen, ein Geruch von Fisch und Algen.

«Erkennst du die Stelle?«Vorsichtig trat Kruso zur Seite und schob Ed vor das Stativ. Ed sah Algen, ein Stück Strand, ein paar Wellen, weich und geräuschlos. Dann entdeckte er das Delta und die Mulde, aus der er getrunken hatte bei seiner Ankunft.

«Gut, gut, jetzt hast du es. «Kruso lachte, aber nur kurz, das Lachen blieb stecken, weshalb es vielleicht nur ein Seufzen gewesen war. Um ihn in diesem Moment nicht anblicken zu müssen (Ed war verwirrt, und was hätte er sagen sollen?), starrte er weiter durch das Glas.»Beweg dich ein wenig«, sagte Kruso leise und berührte Ed am Scheitel, zart, aber mit festen Fingerspitzen, wie es Friseure tun, die wortlos eine bestimmte Haltung des Kopfes herbeiführen möchten. Gleichzeitig drehte er das Fernglas langsam nach rechts. Wurzeln, Waldgras, Kiefern, dann tauchte Stacheldraht auf, ein doppelter Stacheldrahtzaun, verschwommen, dann schärfer. Ed sah ein graues Stahlgerüst, einen Turm aus Stahl, auf der Plattform eine Kabine, daneben ein Suchscheinwerfer, Antennen und ein Radar. Ein Soldat, der seine Ellbogen auf das Geländer der Plattform stützte und seinerseits mit einem Fernglas aufs Meer hinaus starrte. Er trug Felduniform. Rechts vom Turm stand eine Doppellafette, abgedeckt mit einer Plane. Zu Füßen des Turms war der Umriss eines frisch geteerten Bunkers zu erkennen, dahinter zwei Baracken und eine Garage, vor der ein Multicar und ein Motorrad parkten. Daneben drei Hundezwinger, in einer Reihe. Direkt über seiner Nase justierte Kruso jetzt die Einstellung der Linsen. Fragend drehte er den Kopf ein wenig, aber Kruso brachte ihn wieder in Position. Ed spürte seinen Atem im Nacken. Ein Mann betrat den sauber geharkten Sandstreifen zwischen den Stacheldrahtzäunen, sofort stürzten zwei Hunde auf ihn zu, von ihrem Gekläff hörte man nichts, nur das Rauschen der Brandung, die Brandung rauschte mit gefletschten Zähnen.

«Dort — ist jemand …«, flüsterte Ed und wich zurück. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, und er spürte das alte Brennen unter den Augenlidern. Im Halbdunkel des Zimmers war nichts genauer zu erkennen. Zwischen den beiden Fenstern stand eine Kommode, auf der kreuz und quer ein paar aufgeschlagene Bücher lagen, dazwischen Zeichnungen, Karten, beschriebenes Papier. Ein Kommandostand. Ohne Eile beugte sich Kruso über das Stativ.

«Das ist Vosskamp. Nach dem Abendbrot spielt der Fregattenkapitän mit den Meldehunden. Er ist der Inselkommandant. Bewacher unseres Schicksals, wenn man so will, aber auch, wenn wir nicht wollen. Und dort kommt der Hauptfeldwebel. Mit einer Flasche. Gut zu wissen, gut für unseren Abend, Ed. «Kruso tätschelte das abgegriffene Fernglas, als beruhige das die Hunde. Unauffällig wischte Ed sich ein paar Tränen aus dem Gesicht, der Feldstecher strengte seine Augen an.

«Was drei Beine hat, steht«, sagte Kruso, er war stolz auf sein Stativ. Er deutete auf die beiden geriffelten Rädchen zwischen den Gläsern, die verschiedenfarbige Markierungen trugen.»Das sind die Schärfen, die ich brauche. Weiß für die Beobachtungskompanie mit ihrem B-Turm und dem Radar, rot für die Swantewitschlucht, blau für die Patrouillenboote und alles, was sonst da draußen vorüberzieht. Erkenne die Bewegung, erkenne, was kommt, und erkenne, was verschwindet. Erkenne die Leuchtsignale in der Nacht. Wachsamkeit, Wendigkeit, vor allem aber Verborgenheit, das sind die drei Dinge, darauf kommt es an, Ed.«

Inzwischen füllte sich die Terrasse, obwohl der Klausner geschlossen hatte. Kruso öffnete die Gardine für einen Spalt und achtete darauf, das Stativ dabei nicht anzustoßen. Unter den rohen Enden der Riffelstahlstangen war die Fußbodenfarbe abgeschabt. Wie unter Zwang registrierte Ed dieses Detail, zugleich wollte er gar nichts sehen, nichts wissen. Als könne ihn allein die Tatsache, dass er sah, was er sah, zum Verräter machen. Ich erfülle die unausgesprochene Voraussetzung nicht, der Satz und sein Pochen in seinem Schädel. Das alles lag außerhalb seiner Welt, Lichtjahre entfernt. Andererseits: Was war seine Welt? Der Klausner hatte ihn aufgenommen, er hatte Arbeit gefunden und eine Unterkunft. Und er fühlte sich geborgen in Krusos Nähe; die Fremdheit seiner Angelegenheiten musste ihn nicht belasten, im Gegenteil, damit hatte er nichts zu tun.

Eine Weile beobachteten sie die Gäste, die Kruso unsere Obdachlosen, meist aber auch nur die Schiffbrüchigen nannte. Anders als Krombach gebrauchte er das Wort auf eine verborgen zärtliche, respektvolle Weise, sein Blick war aufmerksam (indianisch), und seine ganze Erscheinung drückte Zuneigung und Fürsorge aus. Kruso deutete auf diesen oder jenen Tisch, auf die Tische ohne Überdachung und die Krippen mit ihren vollbesetzten Holzbänken und erklärte Ed, was er dort sah: Aussteiger, Abenteurer, Antragsteller, er sah Liebende, Abtrünnige, gescheitert auf irgendeine Weise und» Flüchtlinge in spe«, die er als seine Sorgenkinder bezeichnete. Er hatte Kategorien, aus denen sich, wie Ed es verstand, eine bestimmte Rangfolge ergab, Stufen der Dringlichkeit.

«Sie alle gehören nicht mehr wirklich zum Land, sie haben das Land unter ihren Füßen verloren, verstehst du das, Ed?«

Einige der Schiffbrüchigen nannte er beim Namen; entweder war er ihnen bereits begegnet, am Kellnerstrand, an den Lagerfeuern oder anderen Treffs der Esskaas, oder man hatte ihm von den Neuankömmlingen berichtet. Ab und zu unterbrach er sich, als wäre es an Ed, irgendeinen Vorschlag zu machen, nach irgendeinem Namen zu fragen.

Die ganze Zeit über standen sie so, verborgen am Fenster, hinter der Fischgardine. Es spielte keine Rolle, dass ihre Oberarme einige Male leicht aneinanderrieben. Ed spürte Krusos Härchen auf seiner Haut, unmerklich genug, dass es als Nichtberührung gelten konnte, während Kruso immer wieder hinunter in den Garten zeigte und sich fragte, wer» unsere Hilfe«, wie er sagte, am dringendsten benötigen würde. Er hielt seinen Arm dabei sehr lange ausgestreckt, als ginge es um eine Markierung, er zeigte nicht, er zielte.

«Die Schiffbrüchigen sind wie Kinder«, erklärte Kruso.»An jedem Abend nach Abfahrt des letzten Dampfers bevölkern sie den Strand, als wäre dort etwas, das sie am Ende des Tages in die Arme nimmt und in den Schlaf singt. Bis kurz vor Sonnenuntergang glauben sie daran, wie Grillen an den ewigen Sommer. Um diese Zeit beginnen die Strandvögte mit ihren Kontrollen. Nach Einbruch der Dämmerung kommen die Freiwilligen hinzu, Inselleute, die für Geld oder irgendetwas die Dünen ablaufen und die Strandkörbe kontrollieren. Sie leuchten sogar in die verschlossenen Körbe hinein mit ihren Stabtaschenlampen, als könnte jemand durchs Gatter gekrochen sein. Sicher, manche von ihnen sind schmal, wirklich sehr schmal …«Kruso lächelte und holte tief Luft.

Ed begriff den Sinn seines Besuches; es handelte sich um eine weitere Unterweisung, ähnlich wie im Abwasch oder beim Begräbnis des Lurchs, diesmal aber war es eine entscheidende Unterweisung, ein Schritt, der nicht mehr rückgängig zu machen sein würde.

«Bis zur ersten Streife«, fuhr Kruso fort,»die Ernst macht mit Grenzverletzern — so jedenfalls nennen sie es, aus ihrer Sicht ist es die Grenze, die verletzt wird — , ist dann noch etwas Zeit. Ein paar Neunmalkluge ziehen in den Wald, aber niemand kann sich dort sehr lange halten. Die Bunker am Strand werden regelmäßig kontrolliert. Die erfahreneren Schwarzschläfer graben sich ein, im Sand unter der Steilküste, mit einem Taschentuch über dem Gesicht und einem Schilfrohr zum Atmen im Mund. Solltest du dort einmal spazieren gehen in der Nacht, kann es nichts schaden, daran zu denken … Sicher, ein paar finden Anschluss am Kellnerstrand, aber ein Großteil des Haufens, die allermeisten möchte ich sagen, kommen zu uns, über den Plattenweg oder den Capriweg das Hochufer entlang, bis hierher, auf den Dornbusch.«

Ed wusste, dass man die Insel gern als das Capri des Nordens bezeichnete, aber das Wort Capriweg hörte er das erste Mal. Schweigend machte Kruso eine Handbewegung, die alles einschloss: die Wege, das Hochufer, das Meer und sie selbst am Fenster, in Krusos Zimmer, hinter der Gardine.

«Sie wissen nicht weiter. Zuerst die große Sehnsucht, die hier noch größer wird, und dann sitzen sie da und können weder vor noch zurück.«

«Vielleicht nicht nur deshalb«, erwiderte Ed,»manche sind nur neugierig gewesen, wollten die Insel einmal gesehen haben, Reisende eben, in einem sehr kleinen Land.«

«Sie sind Pilger über die längsten Strecken der Erde, Ed.«

«Und dann — sitzen sie hier?«

«Wo sonst? Es ist eine Aussichtsterrasse, man schaut weit hinaus, bei guter Sicht bis ins Jenseits. Niemand kann dir das Sehen verbieten, niemand kann dir die Sehnsucht verbieten, schon gar nicht bei Sonnenuntergang.«

Ed lauschte der Stimme Krusos, die inzwischen zu einem kaum noch vernehmlichen Flüstern geronnen war. Ein tiefrot schimmernder Widerschein füllte das Zimmer, und sie traten ein wenig zurück von der Gardine. Es war seltsam, wie der stattliche Glutball zuletzt eher einer zerdrückten Münze glich, einer glühenden Münze, langsam zerfließend, einbezahlt für diese Nacht, tuckerte es Ed durch den Kopf, aber am Ende hatte er es verstanden: Einem unausgesprochenen Stillhalteabkommen folgend, war die Freiluftterrasse des Klausners eine Art Reservat, ein allerletztes Rückzugsgebiet am äußersten Rand des Landes — bezahlt mit Stralsunder. Stralsunder Helles war jenes wässrige Gesöff, das die Kuriere aus der Kaserne im Schutz der Dunkelheit in ihren Essgeschirren aus Aluminium und manchmal auch in ihren Stahlhelmen durch die Dünen schleppten. Einige Male hatte Ed die Soldaten selbst gesehen, wie sie zu zweit oder zu dritt in voller Montur über die Stufen zum Gastraum huschten und Rick über einen Abstieg hinter dem Tresen in den Keller folgten. Er hatte kein konkretes Bild von ihnen im Kopf, nur eine Art Wärmebild, das die Demut und Freundlichkeit ihrer Erscheinung erfasste. Sie kamen lautlos und blieben dabei wie durchsichtig, jedenfalls ohne festen Umriss, sie waren Meister der Tarnung. Auffallend war ihr Bemühen, sich trotz Koppel, Stiefeln und einem Maschinengewehr über der Schulter nachlässig wie Urlauber zu bewegen, als könnten sie sich schlendernd ihrer martialischen Erscheinung entziehen. Kruso nannte sie» die Inselkrieger «und betonte die guten Beziehungen des Tresenehepaars zu Einzelnen der Soldaten,»eine Art Adoptivverhältnis, was aber nichts ändert. Bis zum Eintreffen der Mitternachtsstreife müssen alle hier verschwunden sein, einfach unsichtbar. Seit der Flucht im letzten Jahr gibt es keinen Pardon. Das ist es, worum wir uns kümmern, Ed.«

Die Sonne war verschwunden. Auf der Terrasse wurden die schmiedeeisernen Laternen eingeschaltet. Ein tiefschwarzer Balken lag über dem Horizont wie ein fiktiver, an seinen Rändern glühender Erdteil. Oder ein Brikett, das gut durchgebrannt ist, dachte Ed, der Ofen könnte jetzt zugedreht werden

Kruso berührte ihn an der Schulter.

«Du weißt«, sagte Kruso,»es ist deine erste Vergabe. Das heißt, du wählst selbst aus.«

«Ich wähle aus?«

«Du wählst dir deinen eigenen Schiffbrüchigen aus.«



Trakl vorgetragen

Alles hat sein Maß, dachte Ed. Ein Maß, bis zu dem es erlaubt war, über die Dinge hinwegzusehen, ein Maß, das nicht überschritten werden durfte.

Zwei Stufen, dann der Mittelgang zwischen den Tischen und Krippen die Terrasse hinunter. Mit drei Gläsern und einer gut gekühlten Flasche Weißwein trat Kruso ins Freie, und Ed folgte ihm. Sein Mund war trocken. Er hatte Durst.

Kruso schlenderte zu einem der vollbesetzten Tische. Die Begrüßung war überaus herzlich. Als hätte man sie bereits erwartet oder früher schon einmal getroffen. Bereitwillig wurde ihnen Platz gemacht. Überhaupt schienen alle auf irgendeine Weise zusammenzugehören, zu einer Familie, die ihre tiefe Verwandtschaft vor allem darin bewiesen sah, dass man hier war, es bis hierher geschafft hatte. Als sei damit die entscheidende Grenze schon überschritten, auf eine geographisch nicht zu begründende Weise. Kerzen wurden angezündet und Flaschen entkorkt, eine alles beglänzende Vorfreude begann um sich zu greifen, irgendwann hatte sie auch Ed erfasst.

Manche der Esskaas, die im Laufe des Abends eintrafen auf der Terrasse, kamen von weiter her, wie Ed den Gesprächen entnehmen konnte. Sie traten auf wie Abgesandte, Vertreter der drei Inselorte und ihrer Gastwirtschaften namens Hitthim, Dornbusch, Inselbar, Wieseneck, Haus am Hügel, Heiderose, Norderende, Süderende, Enddorn und so weiter, aber auch Rettungsschwimmer, Vogelberinger oder Hilfskräfte des Inselkinos trafen ein, Esskaas aller Art. Keiner aus dieser weit verstreuten Kaste versäumte es, an ihren Tisch zu treten.

In jedem Fall schien es üblich, die Wangen aneinanderzulegen, der kindliche Gruß. Niemand, der die Bewegung nur andeutete oder den Kopf dabei zur Seite drehte, weshalb die Esskaas (vor allem bei unterschiedlicher Größe) gezwungen waren, den Hals zu strecken, sich lang zu machen, wie bei einem Kuss, zu dem es dann, in letzter Sekunde, doch nicht kam. Ed sah, wie Kruso die Nähe nutzte, etwas mitzuteilen, flüsternd, nicht viel mehr als ein Wort, einen Satz. Manchmal fiel dabei ein Blick auf Ed. Ed begann einen gewissen Stolz zu empfinden, aber auf Dauer entmutigte ihn die Musterung. Einige der Esskaas stellten Getränke oder ein Päckchen mit Speisen auf ihren Tisch, begleitet von Grüßen und guten Wünschen. Nach Krusos nahezu unsichtbaren Anweisungen lief das Päckchen dann über die Tische, wo es begierig und dankbar geöffnet und sein Inhalt augenblicklich verschlungen wurde. Sie haben Hunger, warum haben sie solchen Hunger, grübelte Ed, sicher, es ist die Luft hier oben, und wahrscheinlich fehlt es ihnen auch an Geld, wahrscheinlich fehlt es einfach an allem, er selbst hatte kaum noch Reserven, vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig Mark, aber Geld spielte jetzt gar keine Rolle. Er hatte ein Zimmer, einen Unterschlupf auf der Insel gefunden — das Wunder wirkte noch immer, und was sollte schon geschehen, man musste darauf trinken.

Sein Blick ging aufs Meer hinaus, er versuchte, bei einem der Lichter zu bleiben, die sich in Zeitlupe vorüberschoben … Er schaffte es nicht. Er atmete die Süße der sonnenwarmen Körper an seiner Seite, aber was sollte das werden? Die Schiffbrüchigen saßen eng aneinandergeschmiegt, die Tische waren dicht besetzt, die bloßen Arme, bloßen Beine und die von zu viel Wind und Wasser wie angespannte Haut im Gesicht und der Salzgeschmack auf den Lippen, eine Maske, die angenehm war, dazu das Haar in festen Strähnen, die dem Nacken schmeichelten. Man berührte sich, zwangsläufig, es war die natürliche … Ja, irgendetwas in diesem Sinn, aber Ed war Berührung nicht mehr gewöhnt (seitdem), er versuchte, es sich vorzustellen, er hielt die Luft an dabei, füllte sein Glas, atmete weiter. Es wurde mehr Wein und mehr Bier herangetragen; Getränke und Speisen, alles gehörte allen, wenn man es bis hierher geschafft hatte, auf die Terrasse über dem Meer, in den Garten des Klausners, an den Tisch der Auserwählten.

Manche griffen, halb im Scherz und halb herausfordernd, nach der Flasche, die Kruso auf den Tisch gestellt hatte; Ed erkannte jetzt das Etikett. Es war» Lindenblatt«, ein ungarischer Wein, der im Klausner ausschließlich der Besatzung vorbehalten blieb, die vollständig anwesend war, aber verstreut, an verschiedenen Tischen. Die Kellner hatten ihre schwarzen Anzüge abgelegt (schließlich war Ruhetag), in Zivil wirkten sie kleiner, wie geschrumpft und unvertraut oder wie jemand, den man früher, vor längerer Zeit einmal gekannt hatte. Es gab einen lauten, obszönen Tisch, rechts vom Eingang, an dem der Eisverkäufer Wortführer war. Leider saß dort auch die kleine Monika. Sie sah traurig aus und wurde allmählich unsichtbar. Auf Rimbauds Tisch links von ihnen gingen Bücher von Hand zu Hand, so vorsichtig, als könnten sie bei falscher Berührung zerbrechen. Man schlug ein Buch nicht wirklich auf, man spähte nur hinein beim Blättern oder fühlte zwischen die Seiten mit den Fingern, die vorher sauber und trocken gewischt wurden an den Hemden. Es gab einen, der am Einband roch, mit geschlossenen Augen. Die Leser wirkten etwas lächerlich, und Ed wollte sie auch gar nicht sehen, er sah nur Bestände, die ihm drohten; irgendwo in einer Ecke seines vernebelten Schädels lauerte die Auswendigkraft mit ihrer Unersättlichkeit. Zwei schnelle Gläser später aber fühlte er sich schon zu ihnen hingezogen, zu den Lesern, denn die Leser leuchteten. Rimbaud trug etwas vor, mit tiefer Stimme, Cavallo assistierte, dann stritten beide, aber wieder einmal schien ihr Streit ein reines Vergnügen. Rimbaud sprach in Bonmots, fast in Versen, die Sätze abgehackt, ein seltsames Stakkato, wie gestochen, fehlerfrei, obwohl er sehr viel und ununterbrochen trank. Sein Schnauzbart vibrierte, er drehte verächtlich den Kopf, sprach zur Seite, spuckte in den Sand und zeigte seine Zähne. Für einen Moment glich er dem Mann im Buch, jenem Foto, das er Kruso im Abwasch über das Becken gehalten hatte; die ovalen Gläser seiner Brille blitzten. Cavallo, der viel zurückhaltender auftrat, sagte:»Ach, vielleicht bist du, sagen wir in fünfzehn Jahren …«Der Rest ging unter im Lärm. Ed gefiel Cavallos vorn leicht abgeplattete Nase, er war groß und unter den drei Kellnern des Klausners derjenige, mit dem er bisher am wenigsten in Berührung gekommen war. Cavallo habe eine Dissertation verfasst, die» mehr als abgelehnt «worden sei,»falsches Thema, falscher Inhalt, wahrscheinlich alles falsch«, hatte Kruso kommentiert und den lateinischen Namen erklärt:»Eine seltsame Leidenschaft für alte Pferde, ich meine, für das Altertum, der Mann liebt das Altertum und besonders die alten Pferde im alten Rom, kurz gesagt. «Ed fand, Cavallo selbst glich einem Römer mit seinem scharf geschnittenen Profil, der hohen Stirn, dem braunen, leicht gewellten Haar und seiner ganzen Unnahbarkeit; für Cavallo war Ed Luft.

Im Vergleich zu Rimbaud trat Kruso eher scheu auf, beinah verlegen. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und lehnte sich zurück, soweit das möglich war auf den desolaten Biergartenstühlen, deren weißer Anstrich der Terrasse etwas Koloniales gab. Ed beobachtete, dass Kruso niemals zwinkerte. Stattdessen schloss er die Augen für eine Sekunde, als lausche er einer Melodie. Wenn er sie wieder öffnete, blieb sein linkes Augenlid für einen Moment auf halbem Wege stehen, ehe es ebenfalls in seine Ausgangsposition zurückkehrte. Ein magisches Detail, das zum Gesamtbild seiner Überlegenheit gehörte. Ohne Zweifel hatte er das Kommando.

Ed trank schnell. Was sollte werden? Über einen Schiffbrüchigen konnte man sich hinwegsaufen, er konnte sich und den Schiffbrüchigen ertränken. Die Schiffbrüchigen wirkten unschuldig (rochen unschuldig), sie waren wie Strandgut, sauber geschliffenes, gebräuntes Holz. Ed dachte an Vosskamp mit den Meldehunden und verstand, was Kruso gemeint hatte in seiner Rede am Fernglas,»… als wüssten sie, dass ihnen die Insel und das Meer wohlgesinnt und wie bereit sind für eine Überfahrt, wohin auch immer …«Vielleicht war er bereits betrunken. Aber ihre Anmut erkannte er und darin auch ihre Demut, eine alles umfassende Bereitschaft, die beschämend, fast anstößig wirkte. Ed verstand, dass er weder zu ihnen, den Schiffbrüchigen, noch zur ehrenwerten Gilde der Esskaas gehörte. Aber jetzt konnte er das beenden, ohne Zweifel war dieser Abend wie geschaffen dafür — mit seiner Hilfe, dachte Ed und sah zu Kruso hinüber, der Weißwein ausschenkte und leise sprach, den Kopf gesenkt … Sätze, die kein Mensch versteht, gurgelte es in Eds Kehle, unhörbar.

Ja, er hatte Zweifel. Das alles war zu phantastisch, halbseiden, und er war viel zu nervös. Er konnte die Insel, weiß Gott, auch wieder verlassen. Oder? Die Terrasse auf dem Hochufer verschmolz zu einer Art Oberdeck. Langsam löste sich das Schiff aus der Küste, langsam fuhr es hinaus, die Reise begann … Es gab vier Frauen und zwei Männer an ihrem Tisch. Ed wurde angeschaut. Schön. Er schaute zurück. Die Frau mit den kurzen Haaren und den ungeschützten Oberarmen, die Frau mit den schmalen, feingliedrigen Händen flach auf dem Tisch (als wolle sie ihn streicheln oder beruhigen), dann die Frau gegenüber, mit dem Fuß — zwischen seinen Beinen? Nein, unmöglich. Dann der Mann mit dem Jesusgesicht und dem überlangen Haar. Dann der andere Mann, Petrus vielleicht, aber jetzt sah er aus wie Dr. Z. Dann die weiter entfernten Frauen, jüngere und ältere Frauen, jüngere und ältere Männer, behängt mit selbstgefertigtem Schmuck, Holzperlenketten und Makramee. Ed sah Armbänder, Stirnbänder, aus Stroh oder Wildleder geflochten, er sah Hühnergötter. Einige der Frauen trugen weite Kleider aus Batik und einige die Nachthemden ihrer Urgroßmütter, wie es seit einiger Zeit Mode war; dünne, knielange Baumwollkleidchen mit Plauener Spitze über den atmenden Brüsten, dilettantisch gefärbt, lila, weinrot oder blau … Jemand sprach mit ihm, Kruso, erst jetzt bemerkte es Ed.

«Schau sie dir an, Ed. Den einen oder die eine …«

Ed senkte den Kopf; er wollte weg.

«Ich weiß es, Ed. In ein, zwei Stunden fällt es ihnen ein, dann fühlen sie sich stark genug. Und immer wieder gibt es den, der zu allem bereit ist. Ob ihn der Suchscheinwerfer findet oder nicht, egal. Er wird es nicht schaffen, nur sehr, sehr viel Salzwasser schlucken, irgendwo da draußen, fernab, und dann das Ende, und niemand da, der letzte Augenblick und vollkommen allein — welche Kränkung, Ed, welche verdammte Kränkung ist das, von allen und allem verlassen?«

Ed war betrunken. Er spürte die Verlassenheit. Die Gespräche machten eine Melodie, ein Auf-und-ab-Geräusch, sauber eingepasst ins Meeresrauschen. Vielleicht konnte man sich auch einfach zurücklehnen, versinken, im Dämmern verschwinden. Aus der halb geöffneten Eisluke tönte Musik, ein blecherner Klang, der direkt aus den von Ed geschrubbten und verhassten Eiskübeln zu kommen schien, irgendein Lied von betörender Schwermut, eine Kassette von Koch-Mike vielleicht, es war sein Stern-Recorder, und es war einfach zu laut auf der Terrasse, um irgendetwas zu verstehen. Jemand fuhr mit seinem Spielzeug über den Tisch und brummte dabei, erster Gang, zweiter Gang, dritter, dachte Ed, aber es war wieder nur Kruso an seinem Ohr, der ihm ein Glas zuschob, mit einer endlosen Bewegung, so langsam wie das Schiff, am Horizont, das lang-sa-me, lang-sa-me Licht, summte Ed, im Rhythmus der Musik. Die Geste mit dem Glas war vollkommen lächerlich, aber niemand lachte, jetzt meinten es alle ernst, sie meinten etwas ernst mit dem Glas und ernst mit ihm und schauten ihn an.

«Was denkst du, Ed? Wie ist deine Wahl?«, flüsterte Kruso, so leise, dass es sicher niemand hören konnte am Tisch, und auch Ed konnte es nicht hören.

Er griff nach dem Glas, hob es an, als wolle er die Schwere seines Inhalts prüfen, dann schob er es zurück. Dabei brummte er etwas, und aus dem Automobil wurde eine kleine rote ratternde Straßenbahn, ohne Gangschaltung, ohne Bremse, nur mit Kurbel für die Stromzufuhr, und er war der Fahrer, er war betrunken — aber er war der Fahrer! Auf der langen Geraden vor der Wendeschleife begann er die Frage zu stellen. Erst leise, dann laut.

«Wo ist die …, die …, die, die, die …?«

Er fragte nach der Bremse, aber er hatte das Wort vergessen, und also musste er brüllen.

«Wo ist dieses Ratschratsch, mehrmals kräftig zu ziehendes Ratschratsch, verdammt!«

Sein rechter Arm ruderte durch die Luft, und der linke wollte den Strom wegkurbeln, weg und ratschratsch, ratschratsch … Ed sprang auf, das Glas fiel zu Boden, das Herz blieb ihm stehen.

Dann war Stille.

Endhaltestelle.

Aussteigen.

Wieder viele Leute.

Ed sah jetzt klar.

Fast wäre er zu spät gekommen. Dr. Z. war da, und das Seminar hatte gerade begonnen. Ohne ein einziges Mal zu stocken, sagte er Georg Trakls Gedicht Die Verfluchten auf, dann das Gedicht Psalm. Zweite Fassung. Dann das Gedicht Sonja, das er schon immer sehr gemocht, und dann Unterwegs, wieder ein langes Gedicht, aber die Aufmerksamkeit ringsum bewies, dass es richtig war, es an dieser Stelle seines Vortrags einzubinden. Sicher, man konnte hier und da ein paar Zeilen überspringen, ungern, aber schließlich wollte er auch noch O das Wohnen und Die blaue Nacht

Während seines Vortrags stand Ed wie versteinert. Er sprach sehr laut. Er zitterte. Es kamen jetzt noch mehr Leute heran, wahrscheinlich aus den angrenzenden Seminarräumen, alle starrten ihn an. Mitten in O das Wohnen nahm ihn Dr. Z, der jetzt Kruso war, am Arm. Er zog Ed weg vom Tisch und beförderte ihn über die Terrasse, dann durch den halbdunklen Klausner bis in den Abwasch. Ohne weiteres drückte er seinen Kopf ins Becken fürs Grobe. Ed schreckte zurück, wich aus, aber Kruso hatte die Kraft, sein Griff war unerbittlich. Ed dachte» schlucken «und» von allen und allem verlassen«. Das Wasser war wie Eis auf seinem Schädel.

Dann war es vorbei.

Kruso umarmte Ed und sagte etwas wie» Danke, mein Freund «und» Ich wusste es«. Er schob ihn durch die Schwenktür in die Küche, drückte ihn auf einen Schemel unter dem Radio und begann, nach irgendeinem Medikament zu suchen. Ed fror. Viola spielte Haydn, ein Konzert, und Kruso redete mit Ed. Ed begriff, dass es Kruso um die Gedichte ging, eine Kritik an seinem Vortrag vielleicht, aber er verstand nicht, ob er damit hätte aufhören oder weitermachen sollen.»Beim letzten Ton des Zeitzeichens war es 23 Uhr«, sagte Viola, und einen Moment lang herrschte vollkommene Stille.

Im Zimmer schlug ihnen die Hitze des Tages entgegen. Ed sank auf sein Bett und schloss die Augen. Kruso hatte darauf bestanden, ihn auch» nach Hause «zu bringen, aber jetzt ging er seltsamerweise nicht fort. Er stand da im Dunkel und bewegte sich nicht, dann setzte er sich an sein Bett und zog einen Brustbeutel aus Wildleder unter seinem Hemd hervor. Vorsichtig fingerte er etwas heraus, es dauerte eine Weile, dann drückte er es Ed in die Hand. Es war ein Foto, in einer Folie. Ed wollte sich das Geschenk vor Augen halten, aber Kruso legte blitzschnell seine Hand darüber, und so, Hand auf Hand, verharrten sie eine Weile.

«Es ist nur, damit du jetzt schlafen kannst. Ich borge es dir. Es bleibt hier. Es passt auf dich auf, es kümmert sich um dich. Schau es dir morgen an.«

Die kleine Plastikschutzhülle zwischen ihren vom Abwasch ausgezehrten Händen wurde warm und klebrig, oder vielleicht war sie schon warm gewesen, in Krusos Beutel, an Krusos Brust.

«Ich glaube, du hast noch — zu tun da draußen«, flüsterte Ed.

«Also, nur, damit du schlafen kannst«, wiederholte Kruso und legte das Bild auf den Nachtschrank.

Lindenblatt: Bevor Ed in den Schlaf sank, sah er, wie Kruso mit dem ausgestreckten Zeigefinger mehrmals über das feuchte Etikett der Flasche strich, wo eine ungarische Landschaft abgebildet war, etwas Puszta, etwas Gebüsch, zwei Ritter auf Wacht.

Es war eine zärtliche Geste. Wohin der Finger zeigte, während er sich am Tau der Flasche kühlte — das weiß ich nicht, dachte Ed, ich weiß es wirklich nicht, ich habe einfach keine Ahnung. Von Bedeutung ist nur, dass man die Zeichen versteht, und was dann.



Der Gral

Als er vom Strand zurückkam, lag ein mit Maschine beschriebenes Blatt Papier am Fußende seines Bettes — die Kündigung, schoss es Ed durch den Kopf, finito.

Es war einer der alten Klausner-Kopfbögen aus den dreißiger oder vierziger Jahren, wie sie sich stapelten im Schwarzen Loch, im sogenannten Archiv.»Bergwaldhotel Zum Klausner — Der Glanzpunkt der Insel «las Ed, darunter waren mit verschlungenem Anstrich einige Serviceleistungen aufgeführt, wie» Hausdiener am Dampfer «oder» Tägliches Postboot«. Unter maßlos stilisierten Windflüchtern standen drei Worte in Großbuchstaben: ALEXANDER DIMITRIJEWITSCH KRUSOWITSCH.

Es berührte Ed eigenartig, den Namen vollständig vor Augen zu haben, als handele es sich dabei um eine andere, von Kruso geheimgehaltene Person. Wie seinen Namen vergaß man schließlich auch, dass er» Kind eines Russen «war, wie Kutscher Mäcki ab und zu betonte.»Bist wohl auch so ein Russe?«, war Mäckis Frage gewesen, nachdem er ihn einige Tage hintereinander hatte Zwiebeln schälen sehen. Es war der Beginn ihres ersten und einzigen Gesprächs gewesen. Einer plötzlichen, schnapsseligen Mitteilsamkeit folgend, lamentierte Mäcki über den» deutschen Russen«(»wat dat nich allet jiebt«), auch über den» unglücklichen Russen «und seine, wie er sagte,»schwimmende Schwester«(»die schwemmt un schwemmt, segg ik dir«), ein endloses Kauderwelsch. Wobei er schon bald nicht mehr zu Ed hinsprach, sondern zu seinem Bärenpferd, das ihn ruhig und verständnisvoll ansah.»Holl din Muul, Hottebass.«

Ohne Freizeile und ohne Überschrift begann unter dem Namen das Gedicht — oder das, was Ed für Krusos Gedicht halten musste. Jeder der Verse war wie hingestreut, nach links oder rechts versetzt, und die Schrift an den Oberkanten der Großbuchstaben rot eingefärbt. Ed starrte auf das Rot, und das Summen in seinem Schädel schwoll an. Er wollte keine Gedichte mehr lesen. Von dieser Droge hatte er sich losgerissen, so konnte es Ed inzwischen sagen nach guten klaren einundzwanzig Tagen als Abwäscher auf Hiddensee.

Er überflog die erste Zeile, und augenblicklich wusste er es: Er hatte Trakl vorgetragen. Am Abend der Vergabe hatte er Trakl zum Vortrag gebracht, er hatte sich lächerlich gemacht. Langsam sackte Ed auf den Hocker vor seinem Tisch, der noch immer den Kummergeruch des Schwarzen Lochs verströmte. Bis zu dieser Sekunde hatte die Erregung sein Gedächtnis suspendiert. Mit einem Schlag stand ihm alles vor Augen. Die Rede Krusos, sein Trinken, die Erscheinung Dr. Z.s: Er hatte versagt. Er hatte Trakl vorgetragen. Er hatte sich damit den Schiffbrüchigen entzogen, ihrer süßen, hilfsbedürftigen Gestalt, ihrem Sonnen- und Treibholzgeruch. Ed fasste nach seinem Geschlecht und presste es; es war ein Eklat.

Seit dem 1. Mai vor über einem Jahr hatte er niemanden berührt, er hatte nicht einmal daran gedacht, es war verboten. Es entehrte den versehrten Körper, es verletzte die Verletzte, es berührte ihre Wunden, genau dort drang er ein, und er wusste natürlich, welcher Irrsinn das war, aber es war unmöglich, einfach unmöglich …

Es dämmerte bereits, als Kruso sein Zimmer betrat, verhalten, aber ohne tatsächlich zu zögern. Sein Klopfen bedeutete das Öffnen der Tür, als benötige er die Zustimmung nicht wirklich, und Ed empfand es auch nicht so. Er hockte an seinem stinkenden Tisch, steif auf die niedrige Platte gestützt, wo auch das Foto lag, daneben der kleine Hermes-Kalender (bereit für den Tagebucheintrag) und das Gedicht, beleuchtet vom Kegel der Lampe. Eine fließende Bewegung von zwei, drei Schritten, und Kruso saß auf seinem Bett.

«Du hast gearbeitet.«

«Nur etwas gelesen.«

«Du hast gearbeitet, und ich — habe wieder einmal nichts Richtiges getan.«

«Das würde ich nicht sagen«, entgegnete Ed und legte seine Hand neben das Gedicht. Kruso schwieg, was Ed in Verlegenheit brachte. Er starrte auf die Windflüchter im Briefkopf und ihren übertrieben dargestellten Versuch, einem Sturm auszuweichen, der stark vom Zeilenanfang her zu wehen schien.

Im Gedicht war von einem General die Rede, der fortging, der seine Familie verlassen musste, mitten in einem Festessen, wahrscheinlich ein Leichenschmaus. Dabei schlug seine Gürtelschnalle gegen ein halbleeres Glas; das Gedicht versuchte, die Bewegung des von der Tafel sich erhebenden Generals nachzuahmen. In der Sprache Krusos war das Glas ein Pokal, eine Art Gral, wenn Ed es richtig verstand, und die Gürtelschnalle ein stählernes Koppel. Die Berührung des Koppels brachte den Gral zum Vibrieren und erfüllte ihn mit einer Abschiedsmusik. Jeder Vers war getragen von dieser Musik und damit auf gewisse Weise ihr lupenreiner Ausdruck. Ansonsten aber kam Ed das Gedicht künstlich und veraltet vor, er war irritiert von seinem hochtrabenden Stil, der altertümelnden Wortwahl, er war befremdet und vom ersten Moment an davon abgestoßen gewesen. Das Formvollendete hatte etwas Groteskes, Lächerliches, es war irgendwie großartig, aber verfehlt. Gegen Ende ging es um die beiden zurückbleibenden Kinder des Generals, Bruder und Schwester, ohne Zweifel eine innige Verbindung. Zuletzt schwebte das Bild der Schwester wie eine Ikone über der Szene. Sicher, das Gedicht erinnerte an die Unerbittlichkeit der Macht (und so würde es gelesen werden — systemkritisch, gefährlich, verboten), gleichzeitig aber war es erfüllt von einer seltsamen Melancholie, die nach Eds Empfinden das Gegenteil ausdrückte: eine Sehnsucht nach dem General.

«Ich beneide dich, Edgar, um deine Ruhe hier, während ich …«

Kruso lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, als wolle er bequemer auf das Ende seines Satzes warten. Sein großer, schlanker Körper, seine klaren, indianischen Züge. Aus dem Augenwinkel beobachtete Ed Krusos Gesicht, jedenfalls versuchte er es. Sein Denken und seine Gefühle waren auf eine Weise okkupiert von Krusos Nähe, dass es ihm nicht gelang, ihn tatsächlich wahrzunehmen. Der König des Klausners (und vielleicht der ganzen Insel) hatte ihm ein eigenes, mit Maschine geschriebenes Gedicht aufs Bett gelegt.

Kruso atmete tief und begann, sich auf eine umständliche, bis zur Unglaubwürdigkeit gesteigerte Weise dafür zu entschuldigen, nicht ebenfalls auf seinem Zimmer ausgeharrt zu haben. Vor allem, um» den Band endlich fertig zu machen«. Stattdessen hätte er sich» wieder einmal nur sinnlos herumgetrieben«. Daraufhin setzte seine Schilderung des nächtlichen Lebens auf der Insel ein, simple Anekdoten von verbotenen Lagerfeuern, schlechten Gitarren, Sex in den Dünen mit minderjährigen Urlaubertöchtern (»zu gut behütet, du weißt, was ich meine«) und diversen Liebeskonkurrenzen zwischen Esskaas und Touristen — eine seltsam plumpe Prosa, die sich nicht in Zusammenhang bringen ließ mit der zwar altertümlichen, aber feinen, beinahe aristokratischen Sprache des Gedichts, das vor Ed auf dem Tisch lag.

Das» bunte Inselleben «war der Ausdruck, den Kruso verwendete, in einem Ton mühsam gezügelter Verachtung. Von der» angedickten, ältlichen Jugendlichkeit der Aushilfskräfte und Saisonarbeiter «und ihrem» dümmlichen Glücksgerede vom Meer «kam er auf ihre» Blauäugigkeit und Unfähigkeit, einen einzigen Schritt weiter zu denken«. Sein Blick wurde starr und ging zur Tür, als würde er im nächsten Moment hinausstürzen wollen in die Nacht, an den Strand, um einige» dieser Naivlinge«, wie er sie nannte, zur Rede zu stellen.

Verwirrt nahm Ed das Gedicht zur Hand und begann mit ein paar kleinen vorsichtigen Fragen, das Papier und die Maschine betreffend. Normale Fragen unter Männern, die es gewöhnt waren, eine Schreibmaschine zu benutzen. Kruso erwachte aus seiner Tirade und entschuldigte sich für das Farbband, das er nur notgedrungen verwende (»Farbbänder sind Mangelware, du weißt …«), deshalb trügen bestimmte Buchstaben» blutige Mützen«. Ed beschrieb Kruso eine — zugegeben aufwendige — Technik, mit der es möglich war, die schmalen Farbbänder der Reiseschreibmaschinen auf eine größere Breite zu bügeln. Kruso nickte. Gegenseitig zählten sie sich ein paar Zeitschriften auf, die» für solche Texte«, so hatte es Ed formuliert, in Frage kämen, Blätter des sogenannten Samisdats, die in den größeren Städten seit Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen.

«Ich will damit noch warten. Erst den Band fertig machen«, sagte Kruso. Schließlich wurde klar, dass er bis dahin nie ernsthaft erwogen hatte, etwas drucken zu lassen, und, ja, dass Ed tatsächlich der Erste war, dem er etwas davon preisgab.

«Es ist, also, was mir zuerst aufgefallen ist …«

Ed war berührt von dem Vertrauen, das Kruso in ihn setzte, und er wusste noch nicht, in welche Richtung seine Bemerkung eigentlich gehen sollte. Ein paar Phrasen aus den Seminaren wischten vorüber, das Geschwafel von der besonderen Musikalität, der einzigartige Klang des Grals und so weiter.

«Ich würde es gern lesen«, unterbrach ihn Kruso.

Er fasste das Blatt mit beiden Händen, vorsichtig und aufmerksam, als wäre es von einem noch unbestimmten Gewicht. Sein Rücken streckte sich, sein Nacken wurde breit, genauso, als würde er daran gehen, eine seiner Klausner-Arbeiten zu verrichten, mit jener scheinbar ungestörten Konzentration, die eine Wertschätzung der Dinge ausdrückte und geeignet schien, einem haltlosen Abwäscher wie Ed die Welt als konkrete Aufgabe begreiflich zu machen.

Leise und monoton, ein wenig schleppend und dabei bestimmte Silben auf übertriebene Weise akzentuierend, trug er Zeile für Zeile vor. Er sprach das Gedicht mit jenem seltsamen Akzent, wie ihn Ed zuletzt beim Begräbnis des Lurchs wahrgenommen hatte. Am Ende jeder Zeile gab es eine längere, eigentlich zu lange Pause, in der nicht mehr als das Geräusch der fernen Brandung zu hören war, so klar, dass Ed einzelne ans Ufer schlagende Wellen unterscheiden konnte, und auch Kruso lauschte der Brandung am Ende der Zeile. Dann setzte er wieder ein, aber ohne wirklich anzuheben — wie sich herausstellte, war alles in der Schwebe geblieben, gehalten von der Spannung seines breiten, behaarten Oberkörpers und fixiert von der leicht vorgestellten Spitze seines Kinns.

Drei Strophen später saß Ed wie gefesselt im Bannstrahl des Vortrags. Dieselbe vorbildliche Kraft, die von Krusos Person ausging, wenn er die Abflüsse spülte oder Treibholz vor der Brust zum Holzplatz schleppte, ergriff und verwandelte das Gedicht, und am Ende war es das einzig mögliche — ja, das Gedicht stimmte. Es stimmte vollkommen überein mit Krusos Person, das heißt, es war mit seinen Worten gesagt, es hatte den eigenen Ton. Es war das einzig mögliche Gedicht.

Eds Befremden war wie weggeweht, seine Vorbehalte lächerlich, ein Gefühl der Erlösung. Augenblicklich verspürte er den Wunsch, etwas von sich selbst zurückzugeben. Er begann zu sprechen, stockte aber sogleich und verstummte, während Kruso in sich zusammengesunken neben ihm hockte; sein rechtes Augenlid hing halb herunter. Ed setzte noch einmal an, hilflos griff er nach seinem Notizbuch, das schon aufgrund seiner Größe lachhaft wirkte, hilflos nahm er die Hülle mit dem Foto zur Hand, und endlich entschlüpfte seiner Sprachlosigkeit die Frage.

«Auf dem Bild, ist das deine Schwester?«

Krusos Augenlid kehrte in seine Ausgangsposition zurück. Er fixierte das Foto. Das Foto: Im allerersten Moment hatte Ed geglaubt, er schaue in die Augen von G. Aber es handelte sich lediglich um eine Ähnlichkeit des Blicks und der Haltung, mit der das magere Mädchen in seinem grotesk aufgeputzten Kleid den Fotografen angesehen hatte, den blondgelockten Kopf leicht zur Seite geneigt und das Lächeln wie festgezurrt in den Mundwinkeln. Die Plastikhülle war stumpf und das Gesicht darunter wie im Nebel. Ed erkannte die waagerechten Augenbrauen, das Flächige der Wangen, Krusos Wangen …

«Wie kommst du darauf?«

«Wegen des Gedichts, ich dachte, es geht um sie … Um sie und um dich vielleicht, ich meine … Es ist wirklich großartig, Losch.«

Das erste Mal hatte er Kruso mit seinem Kosenamen angesprochen, es geschah einfach so.

Da Kruso nicht antwortete, stotterte Ed etwas wie» Das aber zum Beispiel weiß ich noch nicht …«und lachte gequält. Kruso hob den Kopf und schaute an ihm vorbei in die Nacht, fast stießen ihre Beine aneinander. Die ganze Zeit saß Ed auf dem Hocker vor seinem Tisch, einen halben Meter über seinem kostbaren Gast. Er redete direkt zur Wand, er redete mit den zerquetschten Insekten.

Wind kam auf, und ein schwaches Donnerrollen wie von weit entfernten Geschützen kroch über das Kliff. Mit einem Ruck erhob sich Kruso, und ehe Ed es begriff, packte er ihn an den Schultern und bog ihn rücklings über den Tisch aus dem geöffneten Fenster — ja, er hatte versagt, vollkommen versagt, und also gab es keine andere Möglichkeit …

Tatsächlich war Kruso aufgestanden und hatte sich zum Fenster gebeugt, fast beugte er sich über Ed hinweg, der sich weit zur Seite lehnen musste, damit Kruso nicht auf ihm lag.

Der Geruch seiner Achselhöhlen; süßlich, wie vergoren. Wie alte sonnengetrocknete Kiefernrinde.

«Ein Patrouillenboot.«

Krusos Gesicht war starr und fast weiß im Licht der Lampe.

«Es liegt sehr hoch im Wasser.«

Als bedeute diese Tatsache irgendetwas, griff Kruso nach dem Gedicht und ging zur Tür.

«Danke für gestern, Ed, ich meine — für deinen Vortrag. Ich wollte dich fragen, ob du mir das Buch leihen könntest?«

Als hätte jemand im Traum gesprochen.

«Ich habe das Buch — leider nicht hier.«

«Ich wäre wirklich sehr froh, wenn du mir etwas davon aufschreiben könntest, das heißt — ich möchte dich darum bitten. Vielleicht diese drei, vier Gedichte von gestern?«

Damit verschwand Kruso aus seinem Zimmer, fast ohne Bewegung. Die letzten Worte hatten seine Gestalt gelöscht.

«Ist gut, Losch«, flüsterte Ed.

Es war kurz vor Mitternacht. Das Rumoren im Flur hatte begonnen. Ed hielt das Foto in der Hand.



Kamikaze

7. JULI

Mit meiner Arbeit läuft alles gut, abgesehen von René. Rimbaud hat uns neue Bücher ins Nest gelegt. Und Cavallo hat mit mir über Rom gesprochen! Als wäre er selbst schon da gewesen. Dank Losch muss ich nicht mehr zu den Vergaben. Er hat mir einen der Inselkrieger vorgestellt, er kam gerade aus dem Schwarzen Loch, den Stahlhelm voll Bier. Kruso nennt ihn den» guten Soldaten«. Es war der Nackte vom Strand. Hab ihn sofort erkannt, aber natürlich nichts gesagt. Rick behauptet, er hätte einen grünen Mond gesehen, vom Tresen aus. Ich helfe ihm jetzt öfter mit den Fässern im Keller. Er ist der Einzige, der den Salonstocher bedienen kann. Ich bin gern dort unten. Um 8 Uhr kontrolliere ich die Temperatur im Kessel (80 Grad sind ideal), und gegen 11 lege ich noch einmal nach. Gestern riesige Wellen.

Da Ed nicht regelmäßig schrieb, konnte er manche Einträge über mehrere Tage laufen lassen. Sicher, das Ganze glich eher einem Protokoll, aber das war es, was ihm guttat daran. Ein Protokoll seiner Ankunft und wie er nach und nach Teil der Besatzung geworden war. Und jetzt? Wie er einen Freund gewann. Gewinnen würde.

Unter dem Arm das übergroße Notizbuch und eine frische Seife, gewickelt in sein Handtuch, balancierte Ed über die Steine, den Strand entlang. Seit ein paar Tagen besuchte er seinen Fuchs an jedem freien Abend. Sicher, das war … Eine Welle schwappte kühl über seinen rechten Fuß und schnitt den Gedanken ab. Ed musste lächeln. Vielleicht das erste Mal, seitdem er auf der Insel … Oder überhaupt das erste Mal seitdem. Er hatte eine Verfassung erreicht, in der jene Einteilung der Welt, die auf Unterscheidungen wie» belebt/unbelebt «oder» sprechend/stumm «gebaut war, ihren Sinn verlor. Wie nur durch Nähe etwas ein Wesen wird. Wie durch einen Spiegel tritt der neue Freund ins Zimmer. Ed wusste nicht genau, was er mit diesem Satz anfangen sollte, das Denken fiel schwer so nah am Meer. Man verlor seine Grenzen, man gab gern auf. Aufgeben, anvertrauen, dachte Ed — man öffnet sich und wird ein Teil davon.

Wie auch immer, es war sein Fuchs.

Vor dem Fuchsbau angekommen, wusch er sich zuerst das Klausnerfett von der Haut. An einer Stelle, wo es Sand gab zwischen den Steinen, trat er ans Wasser, der kühle Saum legte sich um seine Füße: der beste Moment. Dann stand er bis an die Knie in den Wellen, die träge die Bucht heraufrollten. Er seifte sich ein, tauchte unter und schwamm ein Stück hinaus. Seine Sachen hatte er ins Geäst eines entwurzelten Baums gehängt, der die Steilküste heruntergebrochen war. Die ganze Bucht war von diesen Skeletten übersät. Mit ihren seltsamen Verrenkungen verliehen sie dem Strand die Atmosphäre eines verlassenen Schlachtfelds. Ein paar waren schon ins Wasser vorgerückt, kahl und leuchtend wie Wüstengebein. Manche trieben noch aus, ihre Wurzeln hingen in der Luft, trotzdem schafften sie es, irgendwie weiterzumachen mit ihrem pflanzlichen Dasein, nicht im Ganzen, aber in einigen ihrer Zweige. Ed bestaunte diesen Kampf.

«Guten Abend, Alterchen!«

Noch während er im Sand lag und sich trocknen ließ von der Sonne, begann ihr Gespräch. Zuerst ging es um einfache Dinge, zerbrochene Teller, seltsame Gäste, die ekstatischen Auftritte Rimbauds im Abwasch. Dann um Krusos Reden, Krusos Gedicht. Dann um René. Sein Fuchs mahnte ihn zur Vorsicht. Dumm, aber gefährlich. Ed stimmte zu. Er schlug sein Notizbuch auf und lehnte es gegen einen Stein.

«Also, Alterchen. Wo steckst du?«

Ein feuchtes Summen flog ihm ins Gesicht. Ed taumelte zurück, spuckte aus, ein goldgrünes Insekt, das er blitzschnell in den Sand stampfte. Ohne zu zögern, trat er erneut an die Höhle heran. Mit ein paar schnellen Handbewegungen befreite er das Fell seines Gefährten. Inzwischen war es vollkommen eingegraut und der Körper wie abgeflacht, als wollte der Leib im Lehm verschwinden. Die Augen im flusigen Fell waren leer, aber die Ohren noch immer gespitzt und das Hören wie gerahmt von einem Kranz aus feinen weißen Fransen.

«Also, Alterchen, alter Racker«, wiederholte Ed mit zusammengekniffenen Lippen. Dann sprach er sehr schnell, fast überschlug er sich:»Du weißt, zuerst kommt die Straßenbahn, aber ich möchte nicht immer mit der Straßenbahn beginnen, schließlich war ich nicht dabei, werde nie dabei gewesen sein, nicht an der Haltestelle, aber jemand sagt, sie hätten gerufen, schon lange, Achtung, Vorsicht, Achtung, irgendetwas, was soll man schon rufen, quer über die Gleise, und jemand anderes, der sagt, sie hätte da gelegen, unter dem Waggon, bis zum Bauch, du verstehst, bis zum Bauch, die nackten Beine schauen raus, so warm schon Anfang Mai, aber ganz unverletzt, nicht mal ihr kurzer Rock war hochgerutscht, die nackten Beine, aber ein anderer sagt, jemand hat ihn runtergezogen, alter Racker, den Rock wieder runtergezogen, und dann lag sie einfach so da, als repariere sie den Wagen …«

Das war genug. Die Bestände dröhnten, Trakl trat auf, seine bäurische Gestalt, sein großes, infantiles Gesicht. Ed sackte zurück in den Sand, griff nach dem Notizbuch und schrieb. Zeile für Zeile hämmerte aus dem rauschenden Kompendium in seinem Schädel, Metaphern, die sich verkeilten zu Barrikaden, spanische Reiter und Verse, die wie eine Armee von Besatzern durch die Wüste seines Traumas marschierten, ein einziger Krieg. Nachts im Zimmer schrieb er das Gekritzel ins Reine, mit der Hand auf kariertes Papier. Am Morgen, noch vor dem Heizen, schob er Kruso die Blätter unter die Tür.

Es war eine Art Kamikaze. Es hatte etwas Würdeloses, und er schämte sich dafür. Vorsichtig schichtete er Briketts ins Feuer. Es ist das Einzige, worum er mich gebeten hat, dachte Ed, das Einzige, was ich für ihn tun kann. Er lauschte auf das Knacken der Scheite, zischend verdampfte die Feuchte.

Kruso kam gegen zehn und ging spätestens eine halbe Stunde vor Mitternacht. Er trug keine Uhr, aber es war immer diese Zeit. Nichts konnte ihn dazu verleiten, länger zu bleiben. Er nahm sein Gedicht und wünschte Ed gute Nacht.

«Dein Tisch ist zu niedrig.«

«Ich glaube, der Hocker ist zu hoch.«

«Schlaf gut, Ed.«

«Gute Nacht, Losch.«

Wange an Wange. Der übliche Gruß.

Als Dreijähriger hatte Ed geglaubt, küssen bedeute, die Wangen aneinanderzulegen. Vielleicht war das überhaupt seine erste Erinnerung: Der Tabakgeruch seines Vaters. Die schwarz-gelbe Strickjacke, die riesig war. Er hatte seine Wange an die seines Vaters gepresst, er war vom Arm seines Vaters über die Schulter bis an diese Wange herangerobbt. Sie war das Ziel, Ort der innigsten Zärtlichkeit.



Eine Art kleine Laube

Lautlos wie ein Phantom schwebte Kruso vor ihm her, und Ed hatte Mühe, Schritt zu halten. Ihr Weg führte durch sumpfiges Gelände in ein übermannshohes, silbern glänzendes Dickicht hinein, das als Vogelschutzgebiet ausgeschildert war. Ed erschreckten die mit hektisch schlagenden Flügeln aufstürzenden Tiere; überdeutlich vernahm er das Geräusch — als zerbrächen ihre fragilen Skelette im Geäst. Gern hätte er den Vögeln empfohlen, etwas langsamer zu fliegen, da doch niemand unterwegs sei, der ihnen irgendetwas Böses wolle,»wirklich niemand«, flüsterte Ed, worauf Kruso sich das erste Mal nach ihm umsah.

Nach allem, was geschehen war, wäre es undenkbar gewesen, Loschs Einladung (Losch, er dachte jetzt Losch) in seine Sommerhütte, die er ab und zu als» eine Art kleine Laube «oder auch als» unseren Außenposten «bezeichnete, nicht zu folgen. Ed sah darin einen weiteren Vertrauensbeweis und Lohn für die Mühe, die er sich machte vor der Höhle seines Fuchses.

Kruso trug ein schwarzes Shirt, dessen Ärmel abgeschnitten waren, auf dem Rücken einen Jägerrucksack. Ed trug ein kurzärmeliges kariertes Hemd und das erste Mal seine helle Leinenhose. Die Hose war eigentlich zu weit und flatterte wild um seine Beine. Sie erinnerte ihn an die Hosen der Matrosen auf der» Bounty«, an die Hosen Wolf Larsens und van Weydens zum Beispiel.

Tatsächlich stießen sie immer wieder auf Vogelkadaver im Unterholz und allerlei Federzeug, das wie versprengt und weit verstreut in den Zweigen hing. Es war leicht zu erkennen, dass die Tiere ihr Leben im Kampf verloren hatten. Sie fanden einen Schnabel, ohne Kopf, und abgebissene Vogelfüße, die abseits und wie verloren auf dem Boden standen, als warteten sie darauf, dass es mit ihnen weitergehe.»Reinecke, die kleine Bestie. Er schnappt sie sich mitten im Schlaf, wenn der Kopf noch unterm Flügel steckt«, erklärte Kruso.»Aber seit ein paar Wochen ist er verschwunden, Nachwuchs vielleicht, frische kleine Wilderer. «Mit einer einzigen Bewegung seines Messers kappte Kruso den Fuß des Kadavers, zog den Vogelring vom Bein und hielt ihn ins Licht.»Das ist gute Ware, Ed, allerbeste Ware!«

Aus dem Sandweg wurde ein Dschungel. Es gab Brennnesseln bis ins Gesicht, Sanddorn überwölbte den Pfad, dann Holunder und Schilf. Das Schilf sah sanft aus, aber es stach und schnitt gern in die Arme. Kommentarlos überwand Kruso eine Absperrung aus Stacheldraht. Wie auf Kommando setzte er seinen Rucksack ab, kippte in den Liegestütz und robbte in ein dichtes Gebüsch.

Das Gebüsch war innen hohl und mit Röhricht ausgepolstert, das einen fauligen Geruch verströmte. Für einen Moment standen Ed die Erdhöhlen seiner Kindheit vor Augen, die Höhlen der Charlottenburg, in denen sie Feuer gemacht hatten mit gestohlenen Streichhölzern und fast erstickt waren am Rauch.»Der Außenposten ist eigentlich nur für einen einzigen Mann gedacht«, erklärte Kruso. Sie hatten beide die vom Dunst des Klausners imprägnierte Haut. Geräuchert, dachte Ed, wir werden geräuchert … Er dachte in den Worten Krusos, und er dachte auch in seinem Ton, falls das möglich war. Tatsächlich lagen sie sehr eng. Wegen der Dornen im Gezweig ringsum war es kaum möglich, voneinander abzurücken.

Durch eine Lücke im Gestrüpp konnten sie einen weiten Abschnitt des Strands überblicken. Kruso starrte lange auf die spiegelglatte Fläche des Wassers; die ganze Zeit über hatte er sich nahezu militärisch verhalten, weshalb Ed es lieber vermied, ihr Schweigen zu brechen. In Krusos Gefolgschaft kam ihm die Frage Warum? ohnehin nicht in den Sinn. Niemand, der wirklich zur Insel gehörte, brauchte ein Warum.

Aus einer Kiste, die im Röhricht versteckt war, hob Kruso einen kleinen, mit Metallklammern verriegelten Speisekübel. Er griff hinein und reichte ihm zwei Scheiben Brot, ein Stück Schnitzel und — eine Zwiebel. Für eine Sekunde schaute er Ed in die Augen, dann drückte er ihm zwei Blättchen eines Krauts ins Brot. Alles war kühl und erstaunlich frisch. Während sie aßen, empfand Ed eine große Zufriedenheit und Ruhe. Losch bog ein paar Zweige zur Seite und demonstrierte ihm stolz eine kleine Petroleumlampe. Dann streckte er seinen Arm ins Gestrüpp und zog ein Kästchen hervor, das neben Federn und Bernsteinbröckchen einige selbstgefertigte Ohrringe enthielt — und eine Nagelschere.

«Mit links, das konnte ich noch nie, so oft ich es auch versuche, es klappt einfach nicht. «Zögernd ergriff Ed die Hand, die Losch ihm entgegenstreckte, dann Finger für Finger.

«Früher hat das meine Mutter gemacht, später auch meine Schwester.«

Die breiten, von Waschwasser gebleichten Monde fielen zwischen die Binsen. Ed dachte an G., wieder waren es die kleinen schmuddeligen Pflaster um ihre Fingernägel und die Fingerkuppen, die daraus hervorschauten wie winzige, vom Leben geblendete Wesen, so kostbar, dass er sie küssen wollte.

Eine Stunde oder länger beobachteten sie das Meer, ohne ein Wort. Ed begriff es als Test, als Probe. Und, ja, er hatte die Ruhe, absolut. Er war geeignet, in jeder Hinsicht. Halb fragte er sich, weshalb Losch seine Nagelschere in diesem abgelegenen Gebüsch aufbewahrte. Sicher besitzt er mehrere Scheren, dachte Ed, an jedem Außenposten liegt eine bereit. Langsam senkte sich die Dämmerung über ihre kleine Laube.

Die Billardmänner mit den Heliomaticbrillen hatten das Fell des Kamels inzwischen so weit überdehnt, dass man das Ende des Spielfelds nicht mehr erkennen konnte; irgendwo musste der Kopf des Tiers sein, wahrscheinlich unter dem Feld. Auf irgendeine Weise hatte sich das Kamel zurückverwandelt in die Wüste, aus der es gekommen war. Ein Wind raunte über die Dünung. Ed hörte den Ton und erwachte.

Sehr leise, aber direkt an seinem Ohr, hatte Losch zu sprechen begonnen, weshalb Ed im allerersten Moment einer Täuschung erlag — für einen winzigen Augenblick hatte er geglaubt, Krusos Stimme käme aus ihm selbst.

«Vor Zeiten, als das Kloster aufgehoben wurde«, flüsterte Kruso,»ist es vielen der Mönche unmöglich gewesen, sich von der Insel loszusagen. Dabei ging es ihnen nicht um Glauben oder Konfession, viele konvertierten sogar. Es ging ihnen um die Freiheit, die den Dingen hier schon immer anhing, die in der Luft lag, das alte Geheimnis der Insel. Die Freiheit zieht uns an, Ed, und sie nimmt sich ihre Helfer. Im Grunde hatten diese Mönche also keine Wahl, ein Paradox, aber so ist es mit der Freiheit. Sie sind von Haus zu Haus gezogen, als Bettelmönche, angewiesen auf Almosen und ein Dach über dem Kopf. Zuerst geht es immer nur darum: eine Suppe, eine Stelle zum Schlafen, etwas Wasser zum Waschen vielleicht. Diese Mönche waren bereit, ihren Platz im Orden preiszugeben, sie waren Aussteiger, Schiffbrüchige, Obdachlose — sie waren bereit, das alles hinter sich zu lassen, nur um hier zu sein, verstehst du?«

«Als Kind hatte ich einen Baum der Wahrheit«, erwiderte Ed und drehte seinen Kopf etwas zur Seite. Im Eifer der Rede hatte Krusos Zunge Eds Ohrmuschel berührt, versehentlich.

«Dieses Gebüsch, ich meine, deine Sommerhütte, der Außenposten hier, erinnert mich daran, vielleicht auch nur wegen der Blätter, wegen des Rauschens der Blätter. «Ed stockte einen Moment, seine Ohrmuschel wurde kalt.

«Es war ein Baum mit Hochstand, mitten auf einer Lichtung. Jahre zuvor hatte es gebrannt im Wald, und so war die Lichtung entstanden. Wenn man sich weit aus dem Fenster unserer Wohnung beugte, konnte man das Feuer sehen, dann tagelang Rauch, aus dem schließlich der einsame Baum auftauchte; wie durch ein Wunder hat er überlebt. Der Wald liegt auf der anderen Seite des Elstertals, an einem Berg über dem Fluss. In den Ferien waren mein Freund Hagen — nein, er hieß wirklich so, es war einfach sein Name — Hagen also, er kam irgendwann in unsere Klasse, er musste ein Schuljahr wiederholen, ich weiß nicht mehr, weshalb, in diesem Jahr jedenfalls wurde er mein bester Freund. Damals hatte ich immer einen besten Freund, das heißt, sonst keinen. Erst Torsten Schnöckel, dann Thomas Schmalz, dann Hagen Jenktner und dann Steffen Eismann …«

Ed wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, vor Kruso über diese Dinge zu sprechen. Er dachte daran, wie lange er schon keinen besten Freund mehr gehabt hatte, niemand, der ihm seine Hilfe angeboten hätte, bei dem er hätte unterkriechen können, nachdem es passiert war.

«In den Sommerferien also stromerten wir öfter im Wald herum, und irgendwann stießen wir auf diese Lichtung mit dem Baum. Und natürlich kletterten wir hinauf, und oben, beim Herumlungern und Ausschauhalten, geschah etwas mit uns, vielleicht wegen der Verlorenheit dieser abgebrannten Gegend oder weil der Baum im Feuer unsterblich geworden war und das Rauschen seiner Blätter irgendetwas mit uns machen konnte, wer weiß. Ringsum war also alles verkohlt, und plötzlich jedenfalls begannen wir damit, uns die Wahrheit zu erzählen. Keine Ahnung, wer angefangen hat. Ich gestand Hagen meine Liebe zu Heike — seit der ersten Klasse betete ich Heike Burgold an, aber nie hatte ich gewagt, es irgendjemandem zu sagen, erst recht nicht ihr selbst. Sie erfuhr nie etwas davon, auch später nicht, eben nie. Im Gegenzug erzählte mir Hagen von seinen Fantasien — einfach so, ich meine, ich war dreizehn und er vierzehn Jahre alt, und er sprach über Sex, ohne zu lachen. Ich habe meine besten Freunde immer für stärker gehalten als mich selbst, ich war immer bereit, von ihnen zu lernen, aber das überstieg alles. Hagen hatte einen Schauspieler-Kalender in seinem Kinderzimmer, mit echten Farbfotografien. Eines der Bilder zeigte Claudia Cardinale in Spiel mir das Lied vom Tod. Hagen beschrieb mir ihr Aussehen, ganz genau, ihre Haare, ihre Nase, ihre Ohren, den Ansatz ihrer Brüste, aber vor allem ihre Lippen, die leicht geöffnet waren, ihre unglaublich weißen Zähne, und dann fasste er sich an, aber mehr so, als müsse er sich einfach festhalten irgendwo, während er etwas sagte wie …«

Kruso presste Ed eine Hand auf den Mund und stieß ihm dabei schmerzhaft gegen die Nase. Zwei Soldaten kamen den Strand herauf. Einer griff in ein Sanddorngebüsch und zog einen Telefonhörer aus dem Geäst. Im ersten Moment glaubte Ed, der Soldat telefoniere mit dem Busch.

«Keine besonderen Vorkommnisse«, flüsterte Kruso. Die Soldaten setzten sich und rauchten. Die Mündungen der Waffen ragten über ihre Schultern hinaus, fein umrissen vom letzten Licht des Tages.

Nach einer kleinen Weile begann Kruso sich zu bewegen, vorsichtig. Dass er dabei eine Flasche aus dem Jägerrucksack zog — so viel hatte Ed noch gesehen oder gespürt im Dunkel. Das Aufspringen aber, das Ausholen, das Blitzende im Geäst — wie konnte er das gesehen haben?

Wie angeschossen wirbelten die Soldaten herum, einer riss die Waffe von der Schulter.

«Halt-wer-da!«

Sein Rufen war mehr ein Krächzen gewesen, ein jämmerlicher Laut des Erschreckens.

«Stehenbleiben-oder-ich-schieße!«

«Ich-schieße!«

Jetzt war es ein Wutschrei. Wut über den Knall einer Glasgranate, Wut über den Schreck, über die Angst vielleicht. Mit schnellen Schritten marschierte der Soldat gegen ihr Gebüsch, die Waffe im Anschlag, bevor der zweite ihn einholen konnte und herumriss.

«Ein Neuer, ein Glatter, ein verdammter Frischling«, hauchte Kruso, noch außer Atem, doch seine Stimme klang ruhig, als kommentiere er ein Experiment.

«Heiko, Mensch Heiko!«, wiederholte der zweite Soldat in einem fort, dabei streichelte er das Maschinengewehr seines Kameraden, das jetzt direkt auf ihn selbst gerichtet war. Beginnend am Lauf, tastete er sich über die linke bis zur rechten Hand und bog dabei die Waffe langsam zur Seite. Mit einer sorgsamen, fast zärtlichen Bewegung löste er schließlich den Finger vom Abzug.

«Mensch, Heiko.«

Das Meer war jetzt eine leise rauschende Leinwand. Etwas Mond-Beleuchtung umriss das Geschehen, alles ohne Musik, allein mit dem verhaltenen Anrollen der See. Sporadisch zuckte der schrille Laut eines Vogels durch die Nacht.

«So leicht sind sie aus der Fassung zu bringen«, flüsterte Kruso,»so verdammt leicht. Das ganze System besteht nur aus Menschen, Ed. Ich meine, die da drüben, das sind wir, in früherer Zeit, wir selbst vor der Freiheit, verstehst du?«

Ein Alptraum, dachte Ed. Er hatte Kopfschmerzen und fühlte einen metallischen Geschmack im Mund. Der Soldat, der Heiko genannt worden war, stand immer noch da, wie versteinert auf halbem Weg zu ihrem Gebüsch. Der andere schob ihm die Waffe über die Schulter und packte ihn mit beiden Händen am Kragen. Heiko. Dann stiefelte er mit raschen Schritten die steinige Küste hinunter. Nach ein paar Sekunden erwachte der Soldat aus seiner Starre und begann zu traben, in einem unbeholfenen, wie gefesselt wirkenden Schritt, sein Stahlhelm schlug gegen das Koppel. Eine Weile hörten sie noch den stumpfen, metallischen Ton.



Die Karte der Wahrheit

9. JULI

Treibjagd mit Kruso und anderen Esskaas, ohne Waffen, nur Töpfe und Knüppel. Danach gab es Zander für alle, gebraten am Strand, in Knoblauch und Sanddornsoße. Der Fisch lebte noch. Man muss ihm in die Augen fassen, damit er nicht beißt, sagt Koch-Mike. Rimbaud und das Tresenehepaar haben Kampflieder gesungen, durchs Gebirge, durch die Steppe zog … Rick mit seinen Geschichten. Er sagt, Leute wie Hauptmann hätten sich an der Insel vergangen. Karola hat Cavallos Sonnenbrand mit Quark verarztet. Sie ist die Medizinfrau hier, eine hübsche Kräuterhexe. Jeden Tag bringt sie uns frischen Tee in den Abwasch, und gestern stand sie plötzlich hinter mir. Dann das Eis und ihre Fingerspitzen, neben der Wirbelsäule, rauf und runter — eine Art Eiswürfelmassage, gut gegen meine Rückenschmerzen, das war Wahnsinn! Seit es so heiß ist, haben wir noch mehr Kakerlaken im Haus. Schaffe jetzt jeden Morgen vier, fünf Stück, manchmal sogar mehr.

Am Kellnerstrand trafen sie andere Esskaas, Tille, Spurtefix, die hochgewachsene Sylke mit ihrer dicht von Sommersprossen bedeckten Haut, Antilopé, die Freundin Rimbauds, oder Santiago aus der Inselbar, mit dem Kruso gut befreundet zu sein schien. In der Regel trat man sich nackt gegenüber. Schon beim Begräbnis des Lurchs hatte Ed es gespürt: eine nahezu geschwisterliche Nähe, die aus dieser natürlichen, ohne besonderen Anlass auftretenden Nacktheit erwuchs. Etwas, das Ed nie erfahren hatte, eine spezielle Vertrautheit, die Menschen auf diese Weise miteinander erreichten, eine Form zwangloser Verbundenheit — eine kollegiale Intimität, falls es das gab. Als sei die Nacktheit in Wahrheit ein Siegel, eine Art Lohn, dachte Ed, für die gemeinsam überwundene Scham, keine Schamlosigkeit jedenfalls. Die Scham blieb dabei unversehrt, im Innersten des Bündnisses, und so konnte auch der Gruß der Esskaas (die Wangen aneinanderlegen) viel besser verstanden werden. Es war das Erste, was Ed wirklich begriff über die Inselkaste und den Zusammenhalt ihrer weit über die Insel verstreuten Kreise.

Am Ende ihres Streifzugs hatte Kruso vorgeschlagen, einen Abstecher auf den Schwedenhagen zu machen,»zu mir nach Hause«, wie er sagte, in verächtlichem Tonfall. Bis dahin hatte Ed nicht daran gedacht, dass es auch für Kruso noch ein anderes Zuhause als den Klausner geben musste.

Von der Panzerplattenstraße zweigte ein Feldweg Richtung Bodden ab. Auf einer der Moränen lag ein helles, zweistöckiges Gebäude, von Pappeln nahezu verdeckt. Der Hügel, das Haus und die Bäume, von fern Zypressen ähnlich, erinnerten Ed an Landschaften des Südens in Gemäldegalerien.

Institut für Strahlungsquellen — das Schild hing schief hinter dem Maschendrahtzaun neben der Einfahrt, es hatte kaum noch Farbe, nur die Buchstaben waren haften geblieben, oder jemand hatte sich die Mühe gemacht, sie nachzuzeichnen. Kruso ging am Tor vorbei. Nach ein paar Metern kippte er auf seine halb militärische Art in den Liegestütz und schob sich unter dem Zaun hindurch. Sie kamen vor ein hohes, schmales Backsteingebäude, dessen untere Hälfte wie zum Schutz von einem grasbewachsenen Erdhügel ummantelt war. Mit seiner Stahltür und dem Totenkopfschild erinnerte es an ein altes Trafohaus, nur die Kabel fehlten.

«Das ist der Turm«, erklärte Kruso.

Fenster gab es nicht, aber überall im Raum hingen Decken, die irgendetwas verhüllten und den süßlich-trockenen Geruch alter Wolle verbreiteten. Krusos Schritte auf einer stählernen Leiter, dann herrschte Stille. Ed atmete Staub, und seine Schleimhäute schwollen an. Langsam tastete er sich durch das Woll-Labyrinth, fand aber den Aufstieg nicht.»Nicht so einfach!«, brüllte Kruso von oben, er schien sehr zufrieden darüber.

Der im Turm verborgene Raum erinnerte an ein Jugendzimmer. Die Glühbirne, die ohne Schirm an einem Kabel von der Decke hing, beleuchtete matt ein Puzzle aus Fotos, Texten und Zeichnungen, dazwischen ein Che-Guevara-Poster und der verstaubte Prospekt eines metallicbraunen Volvo-Kombi. Alle Bilder waren mit kleinen schwarzen Flecken übersät, als litten sie an einer Krankheit; Ed hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Kruso zog ein paar Steine aus der Wand, und frische Salzluft strömte in den Raum. Gleichzeitig bewegte sich etwas in der gegenüberliegenden Ecke, wo sich ein Bett und ein Schrank befanden. Wahrscheinlich eine Katze, dachte Ed. Überall auf dem Boden waren Schlafsäcke und Kleidungsstücke verstreut.

Rechts von der schießschartenähnlichen Öffnung nach draußen hing eine große kindliche Zeichnung. Das grobe Papier, vielleicht die Rückseite einer Tapete, war gewellt und mit kleinen, in die Fugen getriebenen Nägeln befestigt. Kruso zog das Kabel mit der Lampe vor die Zeichnung und verankerte es an einem von der Decke hängenden Draht.

Die Zeichnung bestand aus drei übereinanderliegenden Farbflächen. Matte, ausdruckslose Wasserfarben, die Ed augenblicklich an die trostlosen Tuschekästen seiner Schulzeit erinnerten, an die immer schon halb versteinerten Farben, die mühsam aufgerührt werden mussten, so lange, bis man die Nerven verlor und den Pinsel (man hatte immer nur wenige Pinsel, ja, oft nur einen einzigen, mit dem sich wirklich arbeiten ließ) breitstieß an den runden bunten Steinen, die sich Palette nannten, womit das künstlerische Werkzeug in der Regel unbrauchbar geworden war. Die ganze Kindheit lang ein Kampf mit schlechtem Material, überalterter Substanz, ein Kampf voller Murren und Fluchen und doch in vollkommener Unschuld. Niemals in dieser frühen Zeit wäre Ed auf den Gedanken gekommen, nicht selbst das Schlechte zu sein, nicht selbst das Ungenügen. An wem sonst sollte das ganze Unglück liegen?

«Das ist die einzig wahre Karte unserer Welt, Ed, die Karte der Wahrheit, wie du es vielleicht sagen würdest.«

Kruso schaute ihn an. Er machte eine bedeutungsvolle Pause und gab Ed, der die ganze Zeit regungslos im Zimmer gestanden hatte, die Gelegenheit, das Papier näher zu betrachten. Es war voller Wasserflecken und Ränder, vielleicht ein stilisierter Sonnenuntergang, dachte Ed, eine Art Hiddensee-Expressionismus. Über der schwarzen Fläche gab es eine rote und darüber noch eine gelbe, gelb-rot-schwarz, und erst jetzt erkannte Ed das Bild der auf den Kopf gestellten Fahne. Ein feines Knacken — Kruso hielt eine Flasche in den Händen. Sehr langsam und auf eine fast feierliche Weise schraubte er den Deckel vom Hals. Ed erkannte die billige Marke, die man wegen des blauen Etiketts den» blauen Würger «nannte.

Unabhängig von den drei Farben gab es Linien, sehr feine Linien, die stellenweise mit den Wasserrändern genauestens übereinstimmten, und bald entdeckte Ed die Landesgrenzen: die Umrisse Rügens, Usedoms, den Darß und sehr fein, fast unsichtbar, die schmächtige Gestalt ihrer eigenen Insel, das Seepferdchen mit dem Flattermaul. Den verquollenen Schädel nach Osten gedreht, hielt das Tierchen sich aufrecht — halb im Schwarz und halb im Rot. Jetzt war es leicht, oben im Gelb die Umrisse der Königreiche Dänemark und Schweden auszumachen. Das Rot zwischen den Ufern des Südens und denen des Nordens war mit einem feinen Strichwerk kaum noch erkennbarer geometrischer Verbindungen überzogen, durchbrochene und durchgehende Linien, die sich wild überkreuzten. Das Ganze glich einem Strickplan oder Schnittmuster, wie Ed es einmal als Kind auf dem Stubentisch seiner Tante gesehen hatte. Zunächst war das ganz unfassbar gewesen — wie konnte seine Tante etwas zu tun haben mit Zeichnungen dieser Art, vielfach verschlüsselt und Geheimplänen ähnlich …

Kruso räusperte sich. Ed musste tief Luft holen, um seinen Blick von der Karte zu lösen. Er spürte die Flasche am Oberarm, sie war kühl, und er wollte sie ergreifen, als befolge er eine Mechanik unter Trinkgenossen, aber Kruso hielt sie fest und sah ihm in die Augen.

«Höre mir jetzt bitte gut zu, Ed.«

Mit jenem heiligernsten Ausdruck, der alle seine Unterweisungen begleitete, drückte er Ed die Flasche auf die Brust und deutete auf das Bett an der Wand. Der» Würger «löschte das Staubgefühl in Eds Mund, und aus irgendeinem Grund konnte er jetzt, vom Bett aus, auch die Linien in der Fahne viel besser erkennen.

Kruso blickte zur Karte, dann zu Ed. Dann trat er noch einmal auf ihn zu und nahm ihm die Flasche wieder aus der Hand.

«Auf dieser Insel«, Kruso deutete auf Hiddensee, nickte ein paar Mal und schüttelte zugleich den Kopf, was eine Art Kreisen seines Schädels bewirkte,»ich meine, in diesem Land«, er kreuzte den geschwärzten Bereich seiner Zeichnung mit dem Boden der Flasche, die dabei ein helles, fröhliches Glucksen hören ließ,»gibt es keine einzige reale Karte. In diesem Land, mein Lieber, werden nicht nur Flüsse, Straßen und Berge verschoben, so lange, bis niemand mehr weiß, wo genau er eigentlich zu Hause ist, nein, auch die Küsten wandern, vor und zurück, sie wandern wie Wellen …«

«Kein Vorwurf!«, bellte Kruso mit erhobener Flasche.»Ich hatte sie alle schon hier, Geodäten, Vermesser, sogar Kartographen — durch die Bank Geheimnisträger, hier, bei den Schiffbrüchigen und Ausgestoßenen … Ich kenne ihre Berichte, Ed, haarsträubende Berichte. «Er trank einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

«Es ist der Abstand, der niemals stimmt, die gefälschte Größe des Meeres, gefälschte Weite, falscher Horizont. Von Küste zu Küste«, Kruso tippte mit dem Hals der Flasche erst in den schwarzen und dann in den gelben Bereich und übersprang dabei die rotgefärbte Ausdehnung des Meeres,»ist es niemals so weit! Wenn sie stimmten, diese Karten, lieber Ed, hättest du Møn in deinem Leben niemals gesehen aus deinem schönen Giebelzimmer, den stillen Fels aus Jenseitskreide, das unschuldsweiße Schimmern, wenn du aufrecht sitzt in deinem Bett am Morgen und dich fragst, was du hier sollst, was dir hier eigentlich geschieht, warum du gerade hier gelandet bist …«

«Kein Warum«, protestierte Ed, aber jetzt reichte ihm Kruso die Flasche, mit einem Ausdruck reiner Güte.

«Diese Karte, mein Lieber, ist wahr, so wahr wie das Amen in der Kirche, amen.«

Ed trank und gab die Flasche zurück.

«Møn, Møns Klint, Gedser …«Kruso verlor sich in der Aufzählung von Orten, die nur als winzige Kreuzchen oder Zahlen eingezeichnet waren.

«Aber was ist mit den Linien?«Ed versuchte, die Kränkung zu überspringen. Am Kellnerstrand hatte er schon viele der eigenartigsten Geschichten gehört. Ein Mann aus der Kreisstadt Plauen hatte eine wirkliche Fahne mit dem Wappen aus Hammer, Zirkel und Ehrenkranz vor seiner Haustür platziert, weshalb er von der Insel abgeholt und verhaftet worden war, für Jahre, wie es hieß … Aber was war ein Schuhabtreter gegen die Karte der Wahrheit?

«Was bedeuten diese Linien, Losch? Dieses Schnittmuster im Rot zwischen den Küsten?«, wiederholte Ed.

«Das sind die Wege der Toten.«

Krusos Antwort, wie von weit her. Er war in seine Zeichnung versunken.

«Das sind ihre Wege über das Meer.«

Kruso presste seine Hand auf das Papier, an einer Stelle, die schon abgegriffen und eingerissen war, als wolle er dort eine Wunde verdecken.

«Zuerst schwimmen sie noch. Oder rudern ein bisschen. Oder sie hocken in winzigen Tauchmaschinen, oder sie hängen an Motoren, die sie durch die Brandung ziehen. Aber sie schaffen es nicht. Irgendwo da draußen läuft Wasser in den Vergaser, oder sie erfrieren, oder die Kraft reicht nicht aus … Manche werden drüben angespült. Manche mit den Fischen aus dem Wasser gezogen. Die Fischer funken die Toten übers Meer und palavern darüber in ihren Kneipen — wieder einer, der es versucht hat, na prost, und so weiter …«

Von unten kamen Geräusche. Kruso löste sich aus seiner Starre und nahm einen langen Schluck aus dem» Würger«.

«Die Fischer kennen die Strömungen hier. Sie wissen Bescheid. Sie wissen, wie lange ein Toter unterwegs sein kann.«

Langsam fuhr Kruso eine der durchbrochenen Linien entlang.»Sie wissen, wie lange er unter Wasser bleibt und wann das Meer ihn wieder hervorholt und wie er dann aussieht und wie er dich ansieht mit seinen verfaulten Augen …«Er schien jetzt nervös und beugte seinen Kopf zur Schießscharte hin.

«Aber niemand, ich wiederhole, niemand dort drüben weiß, wer die Toten sind. Es heißt, sie liegen dann auf Eis, auf dem guten kalten Eis des Königreichs und warten, dass jemand kommt, sie zu erlösen. Aber niemand wird kommen, niemand, niemals.«

Es war lauter geworden im Hof, und Kruso begann, die Steine in die Wand zurückzuschieben.

«Woher weißt du das alles?«

«Die Toten flüstern es mir. Die Toten warten auf uns, Ed, was sagst du dazu?«

«Ich hatte keine Ahnung, ich meine …«

«Was ich damit sagen wollte, Ed: Es ist der falsche Weg. Ganz der falsche. Oder anders ausgedrückt: Die Karten lügen einfach nicht genug! Angefangen mit diesem vermaledeiten, hoffnungsfrohen Hellblau in den Schulatlanten, dieses verdammte, trügerische Hellblau, jeder Kinderschädel wird weich davon. Warum druckt man die Meere nicht schwarz, wie die Augen der Toten, oder rot wie Blut?«Er deutete auf seine eigene Karte.

«Warum Schweden, zum Beispiel, nicht komplett verschweigen? Eine geschickte Aufteilung der Seiten könnte dafür schon reichen. Und Dänemark, Skandinavien, die ganze übrige, sinnlose Welt? Sicher, Møn ist ein Problem, aber nur, weil wir Møn sehen, verstehst du das Ed?«

Offensichtlich war Kruso betrunken. Ohne genauer zu zielen, warf er Ed den» Würger «in den Schoß, die Glasgranate.

«Vergiss das Ed, hörst du, vergisses, gisses … Nur eins vergiss nie: Es gibt sie, die Freiheit. Sie ist nämlich hier, auf der Insel. Denn es gibt diese Insel, oder?«

Kruso starrte Ed mit grimmiger Entschlossenheit ins Gesicht, und Ed nickte gehorsam.

«Und auch du hast ihren Lockruf vernommen, oder? Ja, sie ruft, verdammt, sie ruft wie eine verdammte Sirene … Und jeder hört etwas. Erlösung vom Beruf. Vom Mann. Vom Zwang. Vom Staat. Von der Vergangenheit, nicht wahr, Ed? Es klingt wie ein Versprechen, und alle kommen, und hier beginnt sie, unsere Aufgabe, der Ernst unserer Sache. Das heißt: Drei Tage, und sie sind eingeweiht. Wir schaffen drei oder vier Tage für alle, für jeden, und wir schaffen damit eine große Gemeinde, die Gemeinschaft der Eingeweihten. Und das ist erst der Anfang. Drei Tage hier, und sie können aufs Festland zurück, niemand muss fliehen, Ed! Niemand ertrinken. Denn dann haben sie es: im Kopf, im Herzen, wo auch immer …«Kruso ruderte mit dem Arm durch die Luft und deutete, halb zur Karte gewendet, auf verschiedene Stellen seines Körpers.

«Das Maß der Freiheit.«

Ed zuckte zusammen. Der letzte Satz war nicht von Kruso gekommen. Neben ihm auf dem Bett saß die Katze und blickte ihn an. Ihr Schädel war riesig und rund, und ihre Tatzen waren so breit wie Kinderfüße.

Es war dunkel geworden, und es regnete in Strömen. Am Zaun des Instituts wartete Santiago. Flüsternd beschimpfte ihn Kruso. Ed stand abseits. Der Zustand seines Freundes machte ihm Sorgen. Etwas kehrte sich um, zum ersten Mal fühlte er die Verantwortung.

Die ganze Zeit hatte er es sagen wollen: Du kommst in Teufels Küche, Losch.

Und du, was willst du einmal machen mit deinem Leben, Ed? Wozu wärest du bereit?

Erst jetzt bemerkte er die Schiffbrüchigen, die unterhalb der Böschung hockten, reglos, durchnässt, wie Hasen vor dem Sprung. Es war eine kleine Gruppe, zwei Männer, zwei Frauen, die allen Anweisungen Krusos Folge leisteten, fraglos und dankbar. Einer nach dem anderen kroch unter dem Zaun hindurch und verschwand in der Finsternis.

«Ich nehm ihm das nicht übel«, erklärte Santiago.

«Was?«, fragte Ed.

«Sie sind beide hier aufgewachsen, er und seine ertrunkene Schwester. «Santiago berührte den nassen Drahtzaun wie eine Kostbarkeit.»Hier sind sie groß geworden, hier auf dem Rommstedt-Hügel.«



Schwarze Quartiere

Krusos Organisation — oder wie sollte man es nennen? Rettungsschwimmer, Hausmeister, Kellner, Tresenleute, Vogelberinger, Beiköche, Abwäscher, Küchengehilfen — alle schienen untereinander in Verbindung zu stehen. Der Entschluss, auf der Insel zu leben (wenigstens zu übersommern, wie Cavallo es ausdrückte), genügte, um voneinander das Wichtigste zu wissen, und wirkte wie ein unsichtbares Band: Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.

Ihre Unterstützung für Krusowitsch bedeutete zuerst nicht mehr als eine ihrer munteren Selbstverständlichkeiten — wie das Nacktbaden am Kellnerstrand, das Feuer um Mitternacht (obwohl verboten) oder die Discotheken im Dornbusch, bei denen man für 2,75 Mark (nicht viel mehr als ein Stundenlohn) eine Nacht lang zwischen zwei gegenüberliegenden Tresen hin und her steppen konnte. Die Tresen waren nach den Männern hinter der Bar benannt. Am sogenannten süßen Ende des Dornbuschs (dem Heinztresen) wurden ununterbrochen grüne, braune und rote Liköre ausgeschenkt, am sauren Ende des Saals (dem Heinertresen) flossen Wein, Wodka und» Würger«, dazu» Stralsunder «und gelegentlich auch ein selbstfabriziertes Sanddorngebräu» auf Würgerbasis«, wie es hieß. Allein diese von den Esskaas an fünf Abenden in der Woche zelebrierte» Opposition der Tresen«(ein Wort Rimbauds) enthielt einen Begriff von politischer Bedeutung. Der Heinztresen war süß, der Heinertresen sauer, so viel war sicher, und zwischen Heinz- und Heinertresen spielte das Leben. Heinz oder Heiner: Niemand hätte darin einen unlösbaren Widerspruch entdeckt, auf ihrer Insel existierte kein Antagonismus, erst recht kein unversöhnlicher: Von süß zu sauer, von sauer zu süß, so wogte der Abend, weit über den Saal des Dornbuschs hinaus, über die Wiesen und Dünen bis an den Strand, über das Meer bis an den Horizont, die Grenze, unsichtbar in der Finsternis.

Zehn Prozent Land, neunzig Prozent Himmel: Dass sie hier waren, auf der Insel, genügte. Erst recht für ihren Stolz. Die Insel adelte ihr Dasein. Diese Schönheit, die einfach unbeschreiblich war und wirkte. Die Magie ihrer Schöpfung. Das Festland bildete dafür nicht mehr als eine Art Hintergrund, der langsam verwischte und erstarb im immerwährenden Rauschen des Meeres; was war schon der Staat? Jeder Sonnenuntergang tilgte sein starres Abbild, jede Welle wusch den trostlosen Umriss dieses abgenutzten Faustkeils von der Oberfläche ihres Bewusstseins. Sie waren die Reiter des Seepferdchens mit dem Flattermaul, sie tanzten dem Faustkeil auf der Nase herum, unterwegs zwischen sauer und süß.

Mit Sicherheit lag den Esskaas nicht besonders daran, Schiffbrüchige oder Obdachlose, wie Kruso sie nannte, auf das Gebiet irgendeiner neuen Freiheit zu führen. Aber sie spürten Krusos Willen, seine Kraft. Eine Atmosphäre der Fremdheit ging von ihm aus, die begeisternd wirkte. Vor allem seine Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit waren es, die den Unterschied machten. Was er sagte, war vollkommen frei von Zynismus oder Ironie, und was er vorschlug, verkörperte geradezu das Gegenteil jener alten Inselgewohnheit, die Dinge mehr oder weniger spielerisch anzugehen. Insgeheim (und ohne dass sie es hätten zugeben wollen) entbehrte ihre Inselexistenz dieser Substanz, sie entbehrte einer Aufgabe, einer Idee, etwas über das tägliche Süß-Sauer hinaus.

Dabei trat Kruso nie als Anführer auf, aber er organisierte Aktionen, plante, sammelte, stellte Verbindungen her zwischen den über die Insel verstreuten Kreisen der Esskaas und hielt sie aufrecht. In erster Linie zählten dazu jene Kreise, die sich ohne weiteres zu einzelnen Gastwirtschaften rechnen ließen, wie die Gruppe rund um die Inselbar, von denen einige im Wollnerhaus schliefen, neben dem Inselmuseum. Zu ihnen pflegte Kruso die allerbesten Kontakte, darunter Männer wie Santiago, Tille, Peter, Indianer, Spurtefix oder Frauen wie Janina, Sylke und Antilopé. Dann gab es auch solche Esskaas, die sich selbst zu verschiedenen Feuern zählten, an denen nachts gegrillt, getrunken und regelmäßig die» Freie Republik Hiddensee «ausgerufen wurde, darunter das Enddorn-Feuer zum Beispiel mit A. ‌K., Ines, Torsten, Christine und Jule. Darüber hinaus eine Gruppe älterer Esskaas mit Ausreiseantrag, ab und zu bildeten sie einen eigenen Kreis am Heinertresen. Sie hatten sich abgelöst und waren tief, vielleicht schon zu tief versunken in den Zustand des Wartens, wobei Ed nicht selten den Eindruck gewann, dass sie das Warten selbst vergessen hatten, als ob ihr Leben ohnehin längst außerhalb läge, nicht nur außerhalb des Landes, auch außerhalb der Zeit, deren zählbarer Verlauf von der Insel und ihrer Magie außer Kraft gesetzt war. Als hätte sich ihr Wartezustand zu einer Art paradiesischem Jenseits verdichtet. Eine Form der Selbstimmunisierung, urteilte Kruso, die auch darauf abziele, die freiheitseinflößende Wirkung der Insel wenigstens in Teilen abzuwehren, was er keinesfalls verurteilen wolle, wie er betonte, im Gegenteil. Unter diesen Umständen kam es vor, dass die Bewilligung eines Ausreiseantrags diesen oder jenen zunächst traf wie ein Schlag. Auf der Insel waren sie weit abgetrieben, und plötzlich hieß es, aufzutauchen und zurückzurudern in den offiziellen Ablauf der Zeit — oft blieben dafür nur wenige Tage.

Aufgeschlossener zeigten sich die Kreise der blutjungen Esskaas, die mit ihrem achtzehnten Geburtstag beschlossen hatten, ihr Leben auf der Insel zu verbringen und nirgendwo sonst, darunter die Punks. Weil man sie nicht vorzeigen konnte, schafften sie es nie in den Service und landeten fast immer im Abwasch, wo sie Außerordentliches vollbrachten. Tatsächlich galten die Punks als die besten Abwäscher der Insel. Legendär waren ihr Fleiß und ihre Zuverlässigkeit.»Arbeiten wie die Teufel«, erklärte Kruso. Ata im Norderende oder Dirty im Hitthim waren Namen, die man kannte und schätzte. Zudem existierte eine Allianz zwischen Punks und Langhaarigen, die ihre Position verbesserte und einen gewissen Schutz darstellte, wenn es darauf ankam.»Wie Leute aussehen ist mir egal, wenn sie arbeiten«, verkündete die Chefin der Inselbar.

«Hiddensee ist auch ein Schwulenparadies«, bemerkte Kruso leise, dabei standen sie am Heinztresen, der genau genommen der Heinz-und-Uli-Tresen war, das süße Ende des Dornbuschs, wo Losch und neuerdings auch Ed ihre Getränke gegen geringes Entgelt bezogen. Ohne Zweifel hielten Heinz und Uli sie für ein Paar, was Kruso nicht besonders zu stören schien. Der Dornbusch (und nicht nur die Schwulen dort) waren Hauptrivale des Klausners beim jährlich stattfindenden Fußballturnier, das niemand anders als Kruso organisierte. Das Turnier galt als Höhepunkt beim» Tag der Insel«, einem inselweiten Fest der Esskaas, unterstützt auch von Einheimischen und Kneipenbetreibern wie Willi Schmietendorf, dem Chef des Dornbuschs, der dem Sieger ein Fass Bier spendierte, während Krombach die Sache ganz seinem obersten Abwäscher Alexander Krusowitsch überließ.

Durch Kruso entstand ein Netz von Kontakten und Aktionen, das den Esskaas behagte, weil es ihre Besonderheit unterstrich und ihnen ein Bewusstsein ihrer Einzigartigkeit verschaffte, jener sonderbaren, schwer zu begreifenden Form legaler Illegalität in einem Land, das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten. Rimbaud hatte im Falle der Esskaas den Begriff der inneren Emigration angewandt, wobei ein jeder täglich hart arbeiten müsse für sein Bleiberecht.

Den Allermeisten unter den Esskaas waren Rimbauds Reden fremd geblieben, aber Kruso zollten sie Respekt. Er war der Mann mit der goldenen Rüstung, in dessen Gefolgschaft sie ihm Deckung gaben und ein paar Dinge, die er von ihnen erbat oder verlangte, darunter nichts, was ihnen wirklich schwergefallen wäre. Von seiner Philosophie der Freiheit gewannen dabei die wenigsten einen Begriff. Sie fühlten sich nicht im Widerstand, und wohl kaum einer hätte sich als Teilhaber einer Konspiration gesehen. Ihr Interesse galt der Unternehmung (dem Ruch des Verbotenen) und vor allem den bacchantischen Festen der Vergabe, dem grenzenlosen Ausschank auf der Terrasse des Klausners und nicht zuletzt den unbekannten Gästen, die sich dort einfanden, Nacht für Nacht — ihrer Fremde, ihrer Lieblichkeit und ihrem guten Geruch, seltsam verstärkt durch die eigenartige Bezeichnung, die Kruso ihnen verliehen hatte: Schiffbrüchige.

Anfangs war es nur um die Nächte gegangen, um die Unterbringung der Schiffbrüchigen über wenigstens drei oder vier Tage in sogenannten schwarzen Quartieren. Ein ehrgeiziges Ziel, da sich ihre Zahl stetig vermehrte, eine landesweit unvergleichliche Pilgerschaft, die, angezogen vom Lockruf der Insel, orientierungslos und leichtsinnig über die Moränen zog und die Strände ablief auf der Suche nach einem Schlafplatz, ohne Quartierschein, ohne Erlaubnis zum Aufenthalt — in einem Grenzgebiet.

Irgendwann kam die» ewige Suppe «hinzu.»Sie brauchen einfach etwas Warmes im Bauch, wenigstens einmal am Tag«, lautete Krusos schlichte Begründung. Die» guten Stücke«, die Ed im Abwasch täglich von den Tellern pflückte, wurden kurz und klein geschnitten und wanderten, vermengt mit den freiheitsspendenden Kräutern und Pilzen des» geweihten Beets«, gedüngt vom Schleim der Abflüsse (»der Lurch ist nahrhaft und voller Vitamine«), in einen gusseisernen Kessel, für den bei Koch-Mike immer eine Feuerstelle reserviert war. Ed hatte öfter gesehen, wie zwei Schiffbrüchige den Kessel mit der Suppe, oder was davon übrig war, an der Rampe abgaben, wo Kruso ihn entgegennahm, kurze Anweisungen erteilte und ihn dann, ohne abzuwaschen, auf den Herd zurückstellte. Die ewige Flamme, die ewige Suppe. Für Kruso bedeutete das eine Art biologischer Kreislauf, ein geschlossenes System der Versorgung — und Erleuchtung. Und das alles sei, wie er sagte,»nur der Anfang«.

Auf dem Weg zur Freiheit, den er Ed fortan immer öfter auch im Einzelnen erklärte, waren die drei oder vier Tage Inselaufenthalt Essenz und allererste Bedingung. Dazu kam das Programm der Betreuung. Im Wesentlichen beschränkte es sich auf drei Elemente: die Suppe, die Waschung und die Arbeit, die — natürlich freiwillig — am Strand stattfand oder an den Krippen-Tischen der Klausnerterrasse, vor allem an den Vormittagen.

Mit der Waschung konnte Ed zunächst nicht mehr als eine dunkle Erinnerung verbinden, ein Brennen in den Augen und ein Römer, der nachts über den Hof gegeistert war. Bei der Arbeit handelte es sich in der Regel um die Herstellung von Schmuck, der sich unter den Urlaubern verblüffend leicht verkaufte. Im Kern ging es um Ohrringe (zwanzig Mark das Paar), ihr Ausgangsmaterial waren die Ringe toter Zugvögel, aufgelesen im Vogelschutzgebiet.»Manchmal findet man einen wirklich alten Vogel. Ich meine Kadaver, die noch die alten Ringe tragen, Helgolandringe, oder Ringe von Radolfzell oder Rossittener Ringe, unglaublich wertvolle Stücke …«Eine weitaus größere Zahl von Ringen aber bezog Kruso direkt aus der Beringungszentrale der Insel, die Ed auf einem ihrer Streifzüge kennengelernt hatte. Die Beringer dort begrüßten sie wie alte Handelspartner. Von ihnen bezog Kruso nicht nur den rostfreien Grundstoff für seine geheime Manufaktur, er entlieh auch seltene Werkzeuge, feine, auf irgendeine Weise besondere Zangen, die an das Instrumentarium eines Zahnarzts erinnerten. Und als ginge es eigentlich darum bei ihrem Besuch, ließ er sich die Vogelarbeit ausführlich erklären, bis hin zur Anfertigung der sogenannten Beringungsberichte. Lange diskutierte er mit den Beringern über Vogelarten, von denen Ed nicht einmal den Namen kannte.»Hunderttausend Ringe im Jahr, einfach unvorstellbar«, rief er dabei zu Ed, dem übel wurde vom hundertfachen Flügelschlagen in den Käfigen ringsum.»Zu viele Ringe, deshalb forschen sie nicht mehr«, erklärte Kruso beim Verlassen der Vogelzentrale.»Hormone, die den Wandertrieb auslösen — das war einmal ihr Thema gewesen, kannst du dir das vorstellen, Ed? Nur eine Sekunde? Darüber müssten wir wirklich etwas wissen. Stattdessen schreiben sie heute Berichte. Zu jedem Vogel einen Bericht!«Einer anderen Quelle entstammte der Draht, der durchs Ohr gezogen werden musste,»Dentaldraht«, flüsterte Kruso, in einem Ton, als spräche er vom Goldschatz Hiddensees.

Der Gewinn dieser kleinen, aber einträglichen Manufaktur floss ausschließlich in die» Kasse der Esskaas «und diente vor allem der Finanzierung von Getränken an den Abenden der Vergabe; die Kasse unterstand der Obhut Krusos. Die regelmäßig stattfindende Verteilung der Pilger auf die Notquartiere, unbestreitbarer Höhe- und Knotenpunkt der Organisation, glich einem Fest, zu dem es an nichts fehlen sollte. Die Vorstellung, dass er ausgerechnet an einem dieser feierlichen Abende Trakl vorgetragen hatte, peinigte Ed. Er hatte sich der Organisation entzogen. Sicher, er arbeitete gut, er bewältigte das tägliche Inferno aus Töpfen und Geschirr, erfüllte jedoch weder die ausgesprochene noch die unausgesprochene Voraussetzung für ein vollwertiges Mitglied des Klausners.

Trotzdem hatte Kruso ihn erwählt.

Die Unterbringung aller Schiffbrüchigen war ohne Zweifel eine schwierige, im Grunde unlösbare Aufgabe. Kruso, der als Quartiermeister auftrat, unterteilte in feste Quartiere und Freiluftquartiere, das waren spezielle, sogenannte» eingeweihte Plätze «zu Füßen der Moränen. An erster Stelle aber standen die Zimmer der Esskaas — eine nicht unbeträchtliche Zahl von Schlafgelegenheiten, über die gesamte Insel verstreut. Das übrige System der Notunterkünfte und ihr weitverzweigter Verteiler war von einer Vielgestalt, die Ed immer wieder erstaunte. Es war Ausdruck seines strategischen Talents, einer bis ins Militärische hineinreichenden Veranlagung, die es Kruso erlaubte, seine Verstecke als ein System von Stützpunkten anzusehen und davon ausgehend seine Logistik zu entwickeln. Während ihrer Streifzüge wurde Ed von Kruso eingeweiht in die schwarzen Quartiere und ihre Details:

– Die Schafställe der ehemaligen LPG» Völkerfreundschaft«, zuletzt VEG Ummanz, zu Füßen des Dornbuschs; Kapazität 10–12 Schiffbrüchige.

– Der Eselstall des Regisseurs Walter Felsenstein, unterhalb seiner Villa, ein kleines, aber äußerst stabiles Gebäude mit Überboden und Schlafgelegenheit für drei Personen, oberhalb des Esels.

– Der Turm (Krusos Jugendzimmer auf dem Gelände des Strahleninstituts); Kapazität 5–7 Schiffbrüchige.

– Die Kutter der Fischer Schluck, Schlieker, Kollwitz, Krüger, Gau und Augstein, die Frachtschiffe Johanna und Hoffnung in den Häfen von Kloster und Vitte; Kapazität insgesamt 10–15 Schiffbrüchige.

– Die große Bretterscheune der Familie Weidner in Grieben, die geteilt war in verschiedene Koben, für Fahrräder, Karren und einen unbenutzten Pferdewagen, der als Pritsche dienen konnte; Kapazität bis zu 8 Schiffbrüchige.

– Die geheime Ziegelbaracke hinter dem ehemaligen Gutshof, oberhalb des Schwedenufers, umschlossen von einem restlos verkommenen Waldstück voller Müll; ein schmaler Anstieg hinter dem Hafen führte über Treppen dort hinauf, man musste diesen Weg verlassen und ein Stück durchs dichte Unterholz. Zuerst stieß man auf das rostige Skelett einer ehemals riesigen Dresch- oder holzverarbeitenden Maschine, dann, linker Hand, die Unterkunft; diese Steinbaracke galt als Zentrale der Esskaas, sie diene, wie Kruso sich ausdrückte, diversen Zwecken, über die er nicht mehr als ein paar Andeutungen fallen ließ; Kapazität 10 Schiffbrüchige, zur Not auch mehr.

– Das Bett des Dichters Gerhart Hauptmann; man kletterte an der Rückseite des Grundstücks über den Zaun in den Garten und lief geduckt den kleinen Abhang hinunter bis zum Haus, wo ein bestimmtes Fenster immer nur angelehnt war. Dafür sorgte der Esskaa, der im Museum die Aufsicht führte, verantwortlich auch dafür, das Bett des Schriftstellers in seinen musealen, besichtigungsfähigen Zustand zurückzuversetzen; Kapazität 2 (schmale) Schiffbrüchige.

– Das winzige Ziegelhäuschen am Weg hinter dem Hauptmannhaus; es gehörte zur Biologischen Station und war so winzig, dass man die Nacht nur stehend verbringen konnte,»gut für zwei Schläfer, aneinandergelehnt«, und» alles halb so wild«, wie Kruso abwiegelte, als er Eds ungläubigen Blick wahrnahm.

– Das Zeltkino im Kinowäldchen, falls der Filmvorführer nicht schon selbst Schwarzschläfer unterbrachte.

– Der Geräteschuppen am Sportplatz von Vitte, nur zweihundert Meter vom» Karusel«, dem ehemaligen Rundhaus Asta Nielsens, entfernt. Kapazität 4 Schiffbrüchige.

– Die Steinhöhle am Weg zwischen Kloster und Vitte, ein harter, unwegsamer, aber äußerst sicherer Unterschlupf, tief zwischen den zu Bergen aufgetürmten Blöcken aus Granit hinter der sogenannten Promenade, einer mit Steinen befestigten und mit Teer übergossenen Düne. Kapazität 3 Schiffbrüchige.

– Die Holzhütte des Totengräbers, eine unter Schiffbrüchigen beliebte Unterkunft. Auf die Tür war ein Schild genagelt mit der Aufschrift» Amtszimmer«. Neben der Tür stand eine umgestürzte Schubkarre ohne Rad und ein Hackstock, in einer Kiste lag Maurerwerkzeug, eine frisch geölte Kelle, ein Bello, ein Spitz- und ein Flachmeißel,»… das alte Gerät / Der Väter. / Dieses erschüttert die Brust des Fremdlings …«, hatte es plötzlich getönt aus Eds Beständen. Bis an den Granitfels Gerhart Hauptmanns heran zogen sich die schmalen Gräber mit den verwitterten, windschiefen Steinen. An ihnen war das Gras vom letzten Mähen hängengeblieben, so dass sie nun aussahen wie behaart, wie eine kleine Herde kranker Tiere. Im Vorübergehen berührte Kruso einen der behaarten Steine. Erst später, als Ed noch einmal zurückkehrte zum Friedhof, gelang es ihm, die halbe Inschrift zu entziffern:»… seit Anno 1800 STATTHALTER DIESER INSEL ruht hier und lebt in seelgen Sphären. «Der Totengräber von Kloster war einer der wenigen Esskaas mit einem Ganzjahresvertrag. Seine Hütte lag am äußersten Rand des Geländes, nicht weit vom Grab des unbekannten Seemanns, das überwuchert war von braunen Koniferen. Dazu ein winziger heller Stein mit Stahlbuchstaben, hinter dem Kruso den Schlüssel für die Hütte versteckt hielt.»Für Schiffbrüchige kann es keine schlechte Sache sein, Ed, wenn sie an diesem Ort wenigstens einmal niederknien, und sei es nur, um den Schlüssel hervorzuziehen. «Kapazität 3–4 Schiffbrüchige.

– Das alte Trafohaus am Wald zwischen Leuchtturm und Klausner; es glich der Station eines Wärters oder Zöllners am Eingang zum Hinterland des Dornbuschs, wo ein von alten Weiden und Schilf umstandener Quellgrund lag, zu dem Ed sich sofort hingezogen fühlte. An der Rückseite des Trafos war Holz gestapelt, darunter lag das Versteck für den Schlüssel, mit dem sich, nach einigem Hin und Her, das wuchtige Vorhängeschloss öffnen ließ. Im Trafo zu schlafen sei viel zu gefährlich, erklärte Kruso, daher fungierte er als eine Art Archiv, Aufbewahrungsort für Zeltplanen, Decken und Schlafsäcke, wie sie für die Übernachtung im Freien dringend nötig waren. Einer der dafür eingeweihten Plätze lag ganz in der Nähe.»Hier zu übernachten ist ein Traum, du solltest es wenigsten einmal versuchen«, raunte Kruso, als wären sie bereits von Finsternis umgeben. Tatsächlich mutete die Lage dieses Schlafplatzes geradezu phantastisch an — einerseits dem Leuchtturm direkt gegenüber, andererseits mit Blick auf den Bodden und die Lichter von Rügen. Wie versteckt lag man in einer Senke, die von der Kaserne her nicht einzusehen war.

– Die sogenannte Lampenwerkstatt; eine von hohem Schilf umstandene Klinkerbaracke auf dem Gehöft des Leuchtturmwärters, das unter riesigen, immerfort rauschenden Kastanien lag, nah der Steilküste und nur zweihundert Meter unterhalb des Leuchtturms. Zuerst ein Jägerzaun, leicht zu überwinden, dann eine Tür, die sich an den Angeln aushebeln ließ. In der Werkstatt lagerten die Ersatzlampen des Leuchtturmwärters, Glühbirnen so groß wie Kindsköpfe mit fingerstarken Kohlefäden und daneben eine Reihe ausrangierter Reflektoren,»in denen man sich als Schiffbrüchiger lieber nicht spiegeln sollte«, es sei denn,»die Insel wäre bereits tief genug eingedrungen …«»Urlaub vom Unglück«, flüsterte Ed vor sich hin, aber Kruso hatte ihn verstanden.»Nein, kein Urlaub. «Sein rechtes Augenlid begann zu zucken, seine Stimme wurde hart.»Das ist Hiddensee, Ed, verstehst du, hidden — versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt, jenem Moment … Ein großes Pochen wird das sein, ein einziger donnernder Herzschlag. «Kruso legte seine Hand auf eine der großen NARVA-Lampen. Kein Wunder, wenn sie zu leuchten beginnt, dachte Ed; Kapazität 4 Schiffbrüchige.

Als Ed am folgenden Tag in sein Zimmer zurückkam, lag unter jedem Bein seines Tisches ein blanker, frischer Ziegelstein. Die Höhe war gut, das Holz kühlte seine Unterarme. Er nahm seinen Hermes-Kalender und schrieb.



Die Route der Ruhetage

«Das musst du nicht tun«, hatte die Stimme geflüstert,»nur, wenn du willst. «Erst im Innehalten empfand Ed die geschmeidige Bewegung, die ihn bis dahin so gut umhüllt hatte wie sein eigener Schlaf. Die erste Sonne fiel ins Zimmer, die flüchtigen Schatten der auf und ab stürzenden Schwalben an der Wand, auf dem Bett, überall.

«Ich bin C.«

Ed lauschte.

Er spürte Haut, die hervorstehenden Knochen eines Schulterblatts, ein Mund, nicht weit von seinem Ohr. Er roch das Fremde, es roch gut, und er umklammerte es.

Das musst du nicht tun.

Während Ed, einem imaginären und nicht von ihm selbst verfassten Ablauf folgend, erneut in sie eindrang, wurde ihm klar, dass er es diesmal nicht träumte.

Ed hörte Kiefernrauschen, Brandung, weit unten, unter ihnen. Im letzten Fortsatz seiner Wirbelsäule vibrierte die Begierde.

«Aber wenn, ich meine, falls du geschlafen hast, dann …«

«Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

Das war seine Stimme, zweifellos. Seine Stimme, sein Herz, das raste, sein Atem, sein Schweiß. Das Mädchen lag an seiner Seite, ihr Kopf vor seiner Brust, das Gesicht unsichtbar. Sie hatte einen Leberfleck, oben, direkt auf der Muschel ihres Ohrs, wie ein Krümel.

«Hast du mich nicht bemerkt, an Krusos Tisch?«, flüsterte sie, mit jener Ehrfurcht, die unter den Schiffbrüchigen üblich war, wenn sie Krusos Namen gebrauchten.

«Krusos Tisch?«

«Du musst dich nicht verstellen. Ich bin wirklich sehr froh, ausgewählt worden zu sein.«

«Ausgewählt?«

«Es gibt Leute, die sich schon auf dem Dampfer erkundigen danach, alle reden darüber. «Sie versicherte ihm, dass sie das für unvorsichtig halte. Dabei bewegte sie sich ein wenig, und Ed spürte ihren Beckenknochen am Oberschenkel.

Aber ich bin Loschs Freund, wollte Ed einwenden; er hatte es noch nie gesagt. Langsam drehte er sich etwas zur Seite, und jetzt erkannte er sie. Sie war das Mädchen, das an ihrem Tisch geschlafen hatte, den Kopf auf den Armen, kurzes, strähniges Haar. Unglaublich, dass sie schlief im Trubel der Vergabe. Nur deshalb hatte Ed einige Male zu ihr hingeschaut.

«Ich glaube nicht, dass wir am selben Tisch gesessen haben.«

«Tut mir leid, ich war einfach eingeschlafen. Eine Nacht am Strand, eine im Wald, ich war wohl vollkommen am Ende.«

«Wenn du geschlafen hast, wie kommt es dann …«Ed verstummte. Sein Geschlecht auf ihrem warmen Bauch. Er wollte für immer so bleiben. Sein Leben lang. Das Mädchen lächelte ihn an, und Ed sah, dass sie froh war, untergekommen zu sein.

Das musst du nicht tun.

Nur dieser eine, vollständige und in Wirklichkeit gesprochene Satz. Ein Angebot. Fair und freundschaftlich.

In der Regel wurde Krusos Route über die Insel von den Ruhetagen der Gastwirtschaften bestimmt. Er traf Kellner, Hausmeister und Tresenleute, mit denen er dann in einer Ecke des leeren Schankraums hockte, oft auch in der Küche, während Ed vorn an der Bar auf ihn wartete und die Stille genoss. Er musste nie etwas bezahlen bei diesen Gelegenheiten und wurde, trotz Schließtag, ohne weiteres bedient. Einige der Esskaas kannte Ed bereits von den Abenden der Vergabe, an denen er zuletzt wieder teilgenommen hatte, aber nur um Kruso zu unterstützen. Er half im Ausschank und in der Verteilung des Proviants, und er sah nach der ewigen Suppe, die ab und zu umgerührt werden musste. Im Laufe des Abends konnte jeder der Schiffbrüchigen mit einem gut gefüllten Teller rechnen.

Als gäbe es ein freundliches Tabu wurde sein Trakl-Debakel niemals erwähnt, obwohl die Esskaas nicht selten versuchten, ein Gespräch anzuknüpfen. Insgeheim bewunderte Ed ihre Lebensfestigkeit, ihr aufgeräumtes Gemüt und ihre offenen Gesichter. Sie atmen anders, dachte Ed, sie holen länger Luft, und sie atmen länger aus, als hätte das Meer ihre Lungen geweitet und ihr Denken befreit. Jede ihrer Bewegungen vermittelte den Eindruck, mit etwas Wesentlichem beschäftigt zu sein; ihr Leben selbst war wesentlich, unabhängig, voller eigener Interessen, und obwohl Ed mehr als einmal den Wunsch verspürt hatte, Teil dieser Sphäre zu werden, blieben ihm die vom Widerschein des Meeres und der ganzen Inselhelligkeit leuchtenden Augen so fremd und fern, dass es ihm nie wirklich gelang, den Faden eines Gesprächs aufzunehmen. Ein gewisses Hindernis war auch, dass niemand fragte, wo einer herkam und was er früher getan hatte, auf dem Festland. Wenn Ed erzählte, dass er (eigentlich) Student sei, erlosch das Meeresleuchten in den Augen. Als ob man schon immer Kellner oder Abwäscher gewesen war und auch nichts anderes gewollt hatte im Leben. Kaum einer, der über den Grund seines Hierseins sprach; vielleicht war das keine Regel, nur einfach nicht interessant genug.

Am liebsten saß Ed auf der Veranda des Hafenhotels. In der hintersten Ecke dieses Vorbaus, der lediglich aus ein paar klapprigen Fensterrahmen zusammengesetzt schien, stand ein großes heruntergekommenes Ledersofa, wie übriggeblieben aus einer lange vergangenen Zeit. Selbst beinah unsichtbar, hatte er von dort einen guten Blick auf das Hafengelände, die einfahrenden Dampfer, die Urlauberströme und den verrückten Jungen, der auf und ab lief am Kai und lauthals herumkommandierte, als wüsste er genau, worum es ging in dieser Saison.

Es gab nichts Besseres, als dort zu sitzen, allein, und über die leeren sauberen Tische nach draußen zu träumen. Es gab nichts Schöneres, als sich zurückzulehnen, den Arm über die Lehne des Sofas zu strecken und mit der geöffneten, vom Abwasch rissigen Hand über das kühle glatte Leder zu streichen. Nichts war angenehmer, als ein Glas ganz langsam an den Mund zu führen, hineinzuatmen, den eigenen Atem im Gesicht zu spüren.

Er stellte sich vor, wie sie irgendwann in seinem Zimmer gestanden haben musste. Wie sie sich lautlos entkleidet und einen Moment gezögert hatte, frierend vielleicht. Ihr schlanker Körper, die Unsicherheit, das Tasten. Das Fenster offen, wie immer. Vom Meer kein Licht, nur das Auf und Ab im Rauschen, das einen Vorschlag unterbreitete, einen geheimen Plan für alle kommenden Nächte.

Sogar Eds Leibgericht (Bratkartoffeln mit Spiegelei) galt inzwischen als bekannt unter den Esskaas. Im Fahrwasser Krusos hatte er es zu einem gewissen Inselruhm gebracht — Edgar Bendler, der Gefährte Krusos. Es machte ihm nichts aus, dass Losch ihn nicht an seiner Seite beließ bei den Gesprächen, den Vorbereitungen zum Tag der Insel zum Beispiel, der für den ersten August geplant war und Sorgen zu bereiten schien. Die Freundlichkeit, mit der Ed bedient wurde, war gezeichnet von dieser sanften Degradierung, Ed spürte das. Man betrachtete ihn als ein Werkzeug Krusos (immerhin, Respekt dafür), aber doch auf eine Weise lächerlich in seiner Anhänglichkeit und schwächlich in seiner gesamten Erscheinung — Ed, die Zwiebel, der Schweiger, der stumm in seiner Ecke hockte, zu keinem vernünftigen Gespräch in der Lage war und unverwandt zum Fenster hinausstarrte, als geschähe dort etwas anderes als das stupide Hin und Her der Tagestouristen, von denen Hunderte die Klinke zum Gastraum niederdrückten, mehr oder weniger fest und fassungslos über ihr Unglück, gerade an einem Ruhetag des Hafenrestaurants auf der Insel gelandet zu sein — nein, Ed kam das, was er bei sich Krusos Vorsicht nannte, entgegen. Wenn es denn Vorsicht war und nicht einfach Güte und der Versuch, einen Freund, durch dessen Schädel Verse marschierten wie im Krieg, aus all dem herauszuhalten, was zum täglichen Geschäft eines STATTHALTERS DIESER INSEL gehörte, kurz gesagt, ihn aufzusparen, für anderes, das Eigentliche …

Es geschah, dass Ed sich solchen Phantasien hingab. Bin ich nicht wie das Kind in seinem Versteck, dachte Ed, eingeschlossen und ganz leise, aber mit jedem Herunterdrücken der Klinke schlägt das Herz etwas höher, mit jedem Herunterdrücken kommt das Kind sich verbotener vor.

Aus der Küche kamen Stimmen, dann das Geräusch eines metallenen Gegenstands, der über den Steinboden schlitterte. Ed lauschte, wie er immer lauschte, unbewusst, absichtslos und nicht bereit, seine Abwesenheitskapsel aufzugeben. Noch einmal stand ihm C.s Gesicht vor Augen, die schmalen, hochgezogenen Brauen, die hellglänzende Stirn und ihr aufmerksamer, neugieriger Blick, als sie Ed in den Mund genommen und dabei nicht aufgehört hatte, ihn anzusehen.

Kruso!

Kruso brüllte. Allein bei ihrer Treibjagd am Strand hatte Ed ihn so gehört, derart außer sich. Es krachte, etwas brach sich Bahn, und die Schwenktür zur Küche sprang auf. Jemand wurde gestoßen, stürzte, ging auf die Knie und weinte, schluchzte in sich hinein — es war René, der Eisverkäufer. Hinter ihm standen zwei Esskaas des Hitthim, mit weit ausgebreiteten Armen, als ginge es darum, einem Tier, das zum Schlachtplatz getrieben wurde, den Rückweg in den Stall abzuschneiden. Nach einer Weile hob René das Gesicht, und Ed sah, dass er lachte, dass er sich kaum halten konnte vor Lachen.

«Alles wegen dieser Schlampe, der ganze …«

Einer der Esskaas trat René in den Rücken, und er verschluckte das Wort. Es war kein allzu kräftiger Tritt gewesen, aber Ed fuhr zusammen, wodurch René auf ihn aufmerksam wurde. Er kehrte um, fletschte die Zähne und tappte wie ein Hund auf ihn zu. Ed erstarrte. Langsam zog er die Hand, mit der er soeben noch versucht hatte, seine Begierde zu ertasten, vom Leder des Sofas zurück.

«Das Hündchen, das Hündchen ist auch da!«

René begann, ein Geräusch zu machen, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Ed begriffen hatte, dass es ein Kläffen war. Dann schnellte er plötzlich in die Höhe und flüchtete nach draußen.»Das Hündchen, das Hündchen …«Noch einmal hörte Ed das Gekläff, dann verschloss der Tresenmann die Tür, und alle verschwanden wieder.

«Entschuldige Ed. Hast du deine Bratkartoffeln schon gegessen?«Langsam legte Losch seine große warme Hand auf Eds Kopf, als wollte er ihn streicheln, aber es war nur die Geste, die zu seiner Frage gehörte, und augenblicklich hatte Ed vergessen, wofür sein Freund sich bei ihm entschuldigte.

Zuerst hatte sich Kruso zwischen die Beete gekniet und seine Hand (vorsichtig) auf einen der Maulwurfshügel gelegt. Dann begann seine Unterweisung. Ed hockte neben ihm und spürte ein leises Ziehen in den Lenden. Er sah, wie Kruso ein paar Mal über die Erde hinstrich, erst zärtlich, wie bei einer Brust, die man wie abwesend berührt, ohne Denken, nur der unvorstellbaren Glätte und Weichheit wegen, dann noch sanfter, wie beim letzten Glätten einer mühevoll errichteten Sandburg aus Kindertagen, dann aber fast ansatzlos eindrang und mit Kraft hineinbohrte in den Haufen.

«Die Löcher, es geht um die Löcher. Zuerst legst du die Löcher frei. Dann setzt du die Flaschen ein, die Hälse auf Nordwest.«

Erst jetzt bemerkte Ed, dass die Sonne orange wie ein fremder Mond am Himmel stand, obwohl es kaum Abend war. Die kleine Narbe über seinem Auge summte, er hörte die Hufschläge seines Bärenpferds von sehr weit her, den aufjaulenden Diesel eines Patrouillenbootes draußen auf dem Meer, und er konnte einzelne Sätze verstehen, die an den Tischen hinter den Mauern der reetgedeckten Häuser gesprochen wurden. Als wäre er zum ersten Mal Teil dieser Welt. Die Dinge ringsum leuchteten in ihren irrsinnigen Farben, und irgendwann, übertölpelt von Schönheit, legte Ed das Ohr auf die Erde und hörte den Ton …

Alles hatte sich verändert über Nacht.

Vom Hitthim her hatten sie die leeren Flaschen in großen stockfleckigen Jägerrucksäcken herangeschleppt. Ihr Geruch erinnerte Ed an frühere Manövertage, an den mit altem Schweiß verklebten Gummi seiner Gasmaske, wenn er vergessen hatte, sie nach der Übung zum Trocknen auszulegen.

Jeder Schritt war ein feines Klirren gewesen. Rucksack an Rucksack, in dieser Zwillingsgestalt fühlte Ed ein gewisses Recht, das Grüßen der Einheimischen am Weg auch auf sich selbst zu beziehen, und manchmal nickte er zurück, obwohl er schon wusste, dass er nicht wirklich gemeint war — noch nicht, dachte Ed, und für einen Moment spürte er den Funkenflug einer unfassbaren Brüderlichkeit.

Eds Euphorie übertrug sich auf sein Beisammensein mit Kruso, weshalb es ihm erlaubt schien, seinem Freund zunächst nichts von C. zu erzählen. Auch, um seine sensible Position bei den Vergaben nicht zu gefährden. Und insgeheim konnte er hoffen, dass der Fehler in der Verteilung der Schiffbrüchigen (worum sonst sollte es sich handeln) noch ein, zwei weitere Nächte unentdeckt bleiben würde, oder wenigstens noch eine — eine einzige Nacht, dachte Ed. O, köstlicher Schiffbruch!

Ja, er war stolz auf Kruso, und er fürchtete ihn zugleich, und es war so, dass beides zusammengehörte. Krusos Unbedingtheit machte ihm Angst, sein Widerstandsphantasma, die» Organisation«— eine Verrücktheit ohnegleichen, dazu seine Düsternis, seine fanatische Entschlossenheit. Aber viel schwerer wog die Offenheit, mit der Losch ihn angenommen hatte, seine lodernde Ehrlichkeit und der Respekt, den er Ed entgegenbrachte, gerade dort, wo seine größte Schwäche, sein eigener Irrsinn wurzelte — mein eigenes Unglück, flog es Ed durch den Kopf, und fast machte ihn dieser Gedanke froh. Genau in jenem Moment, in dem es für alle offen zu Tage getreten war, hatte Losch zu ihm gestanden, auf eine leise, fast zärtliche Art. Ed hatte keine Ahnung, wer Kruso war, aber manchmal schien er ihm so vertraut wie seine eigene Seele.

Im Wieseneck stand ein dritter Rucksack für sie bereit, den Losch sich ohne weiteres vor den Bauch hob. Und vor der Inselbar glänzte ein zweirädriger Blechkarren in der Sonne, mit Flaschen gefüllt. Es war ausschließlich» Blauer Würger«, jene Marke, mit der Ed im Turm, vor der» Karte der Wahrheit«, Bekanntschaft geschlossen hatte. Das Fenster zum Gastraum lag nur knietief über dem Boden, man blickte direkt hinter den Tresen. Kruso trat heran, und ein Mann beugte sich heraus. Wange an Wange, so standen sie für eine Weile, dann ergriff der Mann Krusos Hand und drückte sie an seine Brust. Ed beeilte sich, die Deichsel des Karrens zu ergreifen; er schob das Gefährt durch ein Loch im Sandweg, die Ladung klirrte — ein Aufschrei.

«Santiago«, erklärte Kruso, während sie weiter ortsauswärts zogen.

«Ich weiß«, antwortete Ed.

Das Graben, die kühle, frische Erde. Schon von der Berührung wurde Ed steif. Dass er überhaupt so empfinden konnte … Es gab Reste, winzige Gerinnsel, weshalb Kruso ab und zu eine Flasche zum Mund hob, bevor er sie eingrub.»Es ist ihr Ohr, ihr empfindliches Ohr, das treibt sie in den Wahnsinn. Es ist das einzige Mittel, die einzige Sprache, die sie verstehen.«

Die in der Sonne funkelnden Flaschenhälse sahen aus wie frisch gepflanzt, der ganze Garten wirkte jetzt festlich, wie geschmückt, glänzend von gläsernen Schwänzen.

Ein feines, unablässiges Pfeifen.

Nach einer Weile hörte es Ed. Wie ein wild gewordenes Kind sprang Kruso zwischen den Hügeln umher und korrigierte die Hälse der Flaschen, während der Wind stärker wurde und das Pfeifen hohler und bedrohlicher machte, ähnlich dem Horn eines Schiffes im Nebel. Wenn der Wind etwas drehte, kam ein phantastischer Gesang zustande, eine Sirenenmusik. Wie hypnotisiert, mit den Händen in der feuchten Erde, die Finger leicht gekrümmt und in einer kleinen, unendlich tastenden Bewegung begriffen, starrte Ed auf seinen noch immer hektisch hin und her springenden Gefährten, der wild gestikulierend sein Instrument justierte, und plötzlich, einem Wunder gleich: lachte. Kruso lachte und sprang, sprang und lachte.

«Abfahrt, ihr Biester, Ausfahrt, ahoi!«

«Ausfahrt, Abfahrt«, echote Ed und riss die Hände in die Luft.

Die Erdorgel zur Austreibung der Maulwürfe sei eine Idee seines Großvaters gewesen, der als Wissenschaftler noch viel größere Erfindungen gemacht … Es war das erste Mal, dass Kruso seine Familie erwähnte. Schon damals hätte man ausschließlich» Blauen Würger «verwendet, die Form der Flaschen sei dafür wie geschaffen, auch das hätte sein Großvater herausgefunden — »sich einen einpfeifen, wie man so sagt, verstehst du, Ed?«

Eine kleine weißhaarige Alte tastete sich die Umzäunung entlang. Mit der Linken umklammerte sie die Latten des Zauns, dabei hielt sie ihren Kopf leicht erhoben, als suche sie die Sonne — oder den Mond, dachte Ed.

«Dat piept«, nuschelte die Alte,»dat piept däm Mullwurm in'n Dötz.«

Losch ging rasch auf sie zu und ließ sich von ihr streicheln. Sein Brustbeutel lag dabei schief auf ihrem Kopf, wie ein kleiner Wildlederhut. Er nannte sie Mete, Mutter Mete. Während er die Alte durch den Garten führte, gab er ihm Zeichen, und Ed sammelte ein paar übriggebliebene Würger ein. Mutter Mete trug eine riesige hellbraune Plastikbrille und, obwohl es sehr warm war, eine Strickjacke. Kruso flüsterte ihr etwas zu, und sie nickte.

Am Ende hatten sie es auf über fünfzig Flaschen gebracht, vergraben in der Erde des Gartens, der neben dem Pfarrhaus von Kloster lag und nur aus ein paar Beeten, Obstbäumen und einer Hütte bestand, der hölzerne Boden mit Schlafsäcken bedeckt. Als sie abzogen mit ihrem scheppernden Karren, hob Mutter Mete noch einmal den Kopf und winkte ins Nichts.

«Dat piept, min Jong, dat piept.«

Im Hafen, auf einem kleinen, halb vertrockneten Rasenstück, das als Parkplatz diente, legte Kruso den Karren um und zog ihn in eine Reihe. Genau genommen war es keine Reihe, sondern ein wildes Kreuz und Quer von nahezu dreißig oder vierzig dieser verbeulten Blechvehikel, die Aufschriften trugen an ihren Unterseiten. Jede Karre hatte einen Namen, deren Abfolge Ed automatisch rhythmisierte (eine seiner Mnemotechniken, Teil jener nicht abstellbaren Mechanik zur Anhäufung von Beständen), so dass ihm der ganze Namenstext aus schwarzer, blauer oder roter Lackschrift augenblicklich als Gedicht vor Augen stand:

Dornbusch, Hauptmann, Wieseneck

Enddorn, Weidner, Witt

Schluck, Mann, Schlieker

Putbrese, Blume, Gau

Kollwitz, Meding, NVA

Holstein, Kasten, Striesow

Pflugbeil, Rommstedt, Felsenstein

Wenige Umstellungen genügten, und unter einigen der allein nach metrischen Gesichtspunkten zusammengefügten Zeilen schimmerte die Semantik hervor: Mann-Schluck-NVA oder Blume-Kasten-Kollwitz und so weiter. Kruso betrachtete den rostigen Haufen umgestürzter Karren, als überschaue er ein Reich. Am Kai stand der verrückte Junge und brüllte verzweifelt aufs Meer hinaus. Das letzte Schiff war abgefahren.

«Ich möchte gern bleiben, auch den Winter über«, sagte Ed.

«Dazu gehört viel«, antwortete Kruso.

«Ich glaube, ich kann es schaffen.«

«Das kannst du, Ed.«

Losch nahm ihn in den Arm, mitten im Hafen, und Ed ließ es bereitwillig geschehen, wie er alles geschehen ließ. Selbst wenn sie in diesem Moment nackt gewesen wären (warum dachte er so?), hätte ihm das nichts ausgemacht.

«Ich wusste es, Ed. Ich wusste es.«

Er hatte das Zimmer gefegt, auch unter dem Bett, und eine neue Kerze auf seinen Hühnergott gestellt. Er wollte nicht lesen, auch nichts denken. Er saß am offenen Fenster und starrte ins Rauschen. Seine rechte Hand umklammerte den Hocker. Auf diese Weise erlebte er es das erste Mal. Er musste mehrmals tief Luft holen, und für einen Moment hatte er Tränen in den Augen. Um Mitternacht Viola.»Zum Tagesausklang hören Sie die Nationalhymne. «Die Geräusche auf der Treppe waren verklungen, seine Tür verschlossen geblieben.

Irgendwann hörte er das Pfeifen. Sein Blick fiel auf das Foto auf seinem Tisch, auf das wie verschliffene Gesicht, und lange konnte er sich nicht davon lösen. Ein Pfeifen und Jaulen, bis auf den Dornbusch hinauf. Der Wind blies den Würger, die Maulwürfe gingen von Bord, und die Insel nahm Kurs durch den Nebel seiner ungestillten, grenzenlosen Begierde.



Drei Bären

17. JULI

Sollte jetzt fragen, ob die Vergabe C.s an mich nur ein Versehen war. Muss mich auch zusammenreißen. Chris hat mir im Abwasch geholfen, einfach so, und Cavallo hat mir ein Buch ins Nest gelegt (Carlo Emilio Gadda), er nennt mich jetzt Edgardo. Losch bereitet den Tag der Insel vor. Er will ein großes Fest, das alle zusammenführt, Esskaas, Insulaner, Schiffbrüchige, klingt fast wie eine Demonstration. Die Hitze ist erdrückend, die Insel wie ein Totenschiff, kein Wind, keine Wellen und noch mehr Kakerlaken. Mit 2 Schuhen 8 Stück heute Morgen, gestern 9.

Ed trat ein paar Schritte zurück und sah eine Weile den Strand hinunter.

Niemand.

Er wollte nicht überrascht werden, und auf keinen Fall wollte er auf die Höhle aufmerksam machen. Er legte das Handtuch, in dem sein Notizbuch versteckt war, in den Sand und trat erneut an die Steilwand heran, aber mehr so, als interessierten ihn die Schichtungen im Lehm, der Schriftzug der Eiszeit.

«Es war — ganz unvergleichlich, verstehst du?«

«Das große Los, ohne gezogen zu haben.«

«Ja, ja. «Die Sonne brannte im Nacken.

«Vielleicht ist das die Lösung?«

«Heute Morgen konnte ich G. sehen, ich meine, wirklich sehen, ohne … Ohne die schlimmen Bilder, nur so, beim Frühstück, beim Schach, auf dem Heimweg. Wie sie geht, sich umdreht und auf mich zurennt, in vollem Tempo. Sie hatte diese Art, mich anzuspringen, du weißt, es gefiel ihr einfach, und ich habe mich jedes Mal erschreckt. Ich konnte ihr Lachen hören.«

Erst das Summen, dann die Straßenbahn.

Ed schlug das Notizbuch auf; auf dem Papier war so viel Licht, dass er die Augen schließen musste.

Kruso kam am Abend. Im Stillen formulierte Ed die Frage, so neutral wie möglich. Die Begierde verdrehte ihm die Worte im Kopf, statt Zufall Zufick, es war schäbig.

«Ich glaube, ich habe … mich nie richtig bedankt dafür. «Er hielt das Foto in der Hand.

Stumm schüttelte Kruso den Kopf. Er schenkte Wein aus, er hatte» Lindenblatt «mitgebracht und Gläser, die Flasche schon halb leer. Ed dachte daran, das neue Gedicht zu übergeben, aber es war noch nicht ins Reine geschrieben.

«Warum sprichst du nie von deiner Schwester, Losch?«

«Warum ich?«

Die Antwort war seltsam genug.

Nach einer kleinen Weile stemmte sich Kruso in die Höhe und ging.

«Losch …«

Auf seine militärische Art machte Kruso kehrt an der Tür und trat einen Schritt zurück in das halbdunkle Zimmer. Für einen Augenblick stand er einfach nur da, ein paar eng gefaltete Blätter in der Hand. Ed erkannte das karierte Papier.

Drei Strophen, dann hatte Ed es begriffen: Das war nicht Trakl, das war Kruso. Krusos Ton, der aus Trakl etwas Eigenes machte, eigene Worte, eigene Gedanken, eine ungeheuerliche Transformation.

Über» Sonjas weiße Brauen «kam sein Freund nicht hinaus. Das Blatt in seinen Händen hatte zu zittern begonnen und noch vor dem» Schnee, der ihre Wangen feuchtet «brach er in Tränen aus, ungehemmt. Er weinte, er heulte wie ein Tier.

«Losch!«

Kruso stand immer noch aufrecht, heftig schüttelte er den Kopf, ein Zopfgummi löste sich, und sein langes Haar fiel ihm ins Gesicht. Mitten in Eds Zimmer stand der große Kruso, der arme Kruso, und rang nach Luft. Mit nichts als Stimme hatte sein Gefährte jene Auswendigwelt, die Eds Schädel besetzt hielt wie ein Tinnitus, in bodenlose Traurigkeit verwandelt, hartgebrannte Bestände in ureigene, abgrundtiefe Trauer.

«Danke, danke jedenfalls dafür. «Er hielt das Blatt vor sich hin.

Ed versuchte, einen Arm um ihn zu legen, aber der Mann war so groß und unfassbar, dass er abließ und wie ein hilfloser Knabe vor ihm stehen blieb.

«Wir haben nicht immer hier gelebt«, hob Kruso an. Er beruhigte sich langsam, sprach aber so leise, dass Ed sich vorbeugen musste, um der Stimme etwas näher zu sein, die alles bedeuten konnte.

«Als wir an diesen Ort gebracht wurden, war ich sechs Jahre alt. Meine Schwester war zehn. Eine Schwester meiner Mutter hatte einen deutschen Physiker geheiratet, einen wichtigen Mann. Sie hatten sich in Moskau kennengelernt, noch während des Krieges, du hast sein Institut gesehen, das Institut für Strahlungsquellen …«

Kruso löste sich aus seiner Starre, und gemeinsam setzten sie sich auf Eds Bett.»Als mein Vater uns dort abgab, wussten wir noch nicht, dass das für immer sein sollte, ich meine, dass es auf eine Stiefeltern-Geschichte hinauslaufen würde … Rommstedt, mein Onkel, hat alles und alle durchleuchtet in seinem Institut, auch mich und meine Schwester, uns am liebsten, glaube ich. Wir waren einfach schön klein und passten gut zwischen seine Apparaturen. Wenn er mit uns forschen konnte, war er sehr glücklich, fast zärtlich. Er strich uns dauernd über den Kopf, aber nur, damit wir ruhighielten. Ich hatte immer das Gefühl, er löscht mit seiner Hand meine Gedanken.

Die Zeit vor Hiddensee liegt weit entfernt, wie ein vergessener Kontinent in einem anderen, früheren Jahrhundert, in dem ich zufällig schon einmal auf der Welt war, in einer vollkommen anderen Welt. Oft saß ich vor dem Kamin. Zuerst sehe ich immer diesen Kamin, im Arbeitszimmer meines Vaters, wo ein Kamelfell lag, das war mein Lieblingsplatz. Auf diesem Kamel bin ich geritten, damals am Aralsee, hat mein Vater öfter zu seinen Gästen gesagt, die dann zu mir hinsahen und mir zunickten, und also bin auch ich geritten. Ich war ein großer Tataren-General, so groß wie er, auf einem Kamel, in der Steppe. Dauernd kamen Leute ins Büro, die Deutsch gesprochen haben, manche warfen mir mitten im Satz einen misstrauischen Blick zu, als könnte ich ihre kruden, unbegreiflichen Geheimnisse verraten. Ich ritt und starrte in den Kamin, denn dort waren das Land und die Weite; ich war fünf Jahre alt, und die ganze Steppe lag vor mir, verstehst du, Ed?«Er hielt das Blatt mit dem Trakl-Gedicht vor sich hin, als wäre dort seine Geschichte aufgeschrieben.

«Der Kamin war hellblau überstrichen — das war die Steppe. Innen war er schwarz, das war die Nacht, durch die wir uns hindurchkämpfen mussten, ich und meine Truppen. Andauernd Finsternis und dauernd feindliches Feuer. Woran ich mich genau erinnere: Am Sims war ein Stück Hellblau abgeschlagen, und die Bruchstelle glitzerte wie Eis, Eis und Schnee, immer war es kalt in der Steppe. Hinter mir auf dem Kamel saß meine Schwester, sie heißt …, also gut, du weißt es bereits, sie heißt Sonja. «Das Gedicht in seinen Händen wollte erneut zu zittern beginnen, aber er spannte das Blatt, und es wurde ganz glatt.

«Während wir durch die Steppe ritten, stürzte mein Vater, der General — ich weiß nicht, ob er damals schon oder überhaupt jemals wirklich diesen Dienstrang hatte, für uns alle war er der General, er trug diese breiten Schulterstücke, du weißt, die russischen Schulterstücke sind fast so breit wie die Schultern — es kam also vor, dass er mitten im Gespräch ans Fenster stürzte und etwas hinausbrüllte auf den Appellplatz, zu den Soldaten. An jedem Tag wurde exerziert, am längsten am Sonntag, und meist missfiel ihm irgendetwas daran. Ich glaube, dass es wirklich schwierig war. Sie mussten Figuren marschieren, nach Linien, die man auf dem Asphalt aufgezeichnet hatte, Kreise und Quadrate, es sah aus wie ein Tanz. Sehen konnte man eigentlich nicht viel davon, weil sie den Schornstein des Heizhauses direkt vor dem Fenster seines Büros aufgemauert hatten, mit Absicht vielleicht. Aber er spürte es. Zweihundert Stiefel, im Takt. Das ganze Haus vibrierte, das Parkett, auf dem ich saß, vibrierte. Wenn etwas nicht stimmte, habe ich es zuerst an ihm gesehen, an seinem Gesicht, wie es sich langsam verspannte. Einen Moment hat er es ausgehalten, aber dann war Schluss. Eigentlich habe ich ihn sonst nie so gesehen, er ist kein Choleriker, vielleicht war es für ihn nur so, als ob jemand falsch spielt auf der Geige, mitten in einer großen Sinfonie.

Das Geräusch der Stiefel jedenfalls — es war immer da, wie Meeresrauschen. Und die Gesänge. Die Soldaten der Wachmannschaft hatten ihr Quartier auf der anderen Seite des Platzes, praktisch direkt hinter unserem Haus. Das ganze Viertel war von kleinen hölzernen Wachtürmen und einer Mauer umgeben, mit Stacheldraht überspannt, kreuz und quer; es hieß das Russenstädtchen Nr. 7. Als Kind habe ich oft über diese Zahl nachgedacht und mir die sechs anderen Russenstädtchen vorgestellt. Sie waren ganz genau wie unseres, mit großen Villen, Exerzierplatz, Schießplatz, Wohnhäusern, Kartoffellager, Kohlenlager, Gefängnis und Spielplatz, und mit einem Jungen wie mir auf einem Kamel vor dem Kamin, sieben tapfere Kamin-Budjonnys in sieben deutschen Russenstädtchen, das war schon fast eine Armee, und natürlich war ich ihr Anführer …«Als betrachte er eine Zeichnung, sah Kruso auf das Gedicht. Nach einer Weile legte er es beiseite.

«Es hieß, in unserem Haus hätte früher ein preußischer Prinz gelebt, ich glaube, nur deshalb hatte mein Vater genau dieses gewollt für seine Kommandantur. Er war nicht der oberste Kommandant, aber der Stellvertreter, man nannte ihn den Zampolit, ich weiß bis heute nicht, was das bedeutet. Manchmal sprach er von Prinz Oskar, schon der Name klang ausgedacht, aber er, der große Zampolit, konnte ernsthaft behaupten, er hätte diesen Oskar gern einmal getroffen,»den letzten Mohikaner unter den Hohenzollern«, wie er öfter ausrief, was mir schon als Kind ziemlich eigenartig vorkam, vielleicht auch, weil ich diese Worte nicht verstand. Immerhin hatte er einiges Wissen in Geschichte und erwähnte auch andere Namen, die in unserem Städtchen Nr. 7 gelebt hatten, Hindenburg, Oppen und Oskar waren immer darunter. Ich glaube, er hätte Oskar gern gezeigt, dass aus seinem Obstgarten ein schöner großer Appellplatz geworden war, oder wie schön hellblau und russischgrün sie jetzt alles übertüncht hatten, oder dass auf seinen persönlichen Befehl eine Sauna eingebaut worden war, in Oskars Keller, oder auch unseren Schweinestall — damals besaßen wir noch unser eigenes Schwein, es lebte in einem Verschlag auf dem Balkon … Ich glaube, am Ende hing alles nur damit zusammen, dass mein Vater die Deutschen nicht wirklich hasste; er konnte sie verstehen, ich meine verstehen.

Da meine Eltern beide deutschsprachig waren, ich glaube, die Einzigen weit und breit in der Roten Armee, kümmerten sie sich oft um die Verhandlungen mit den Behörden, wahrscheinlich bestand darin die eigentliche Aufgabe des Generals. Ich denke, das waren wirklich Geheimdienstleute in seinem Büro, die nach sechs oder acht Jahren Russisch in der Schule keinen einzigen vernünftigen Satz bilden konnten. Meinen Vater hat das aufgebracht, obwohl er gern glänzte mit seinem Deutsch. Seine Mutter war Wolgadeutsche, wie meine Mutter, sein Vater Russe. Wenn es Probleme gab, wenn etwas schwierig wurde, kamen sie zu ihm. Er musste vermitteln, erklären, sich auch entschuldigen. Im Namen des Kommandeurs oder im Namen der Armee oder gleich im Namen aller Sowjetrepubliken, je nach Schwere des Ganzen. Dauernd passierte etwas, ein Toter im Wald, ein Deserteur, oder jemand war versehentlich erschossen worden, totgeschlagen, vergewaltigt, ausgeraubt oder überrollt von einem Panzer, dauernd ging es um diese Dinge — sicher, das konnte ich kaum begreifen als Kind, aber alles, was dort gesprochen wurde, im Büro des Generals, habe ich sofort in meinen Kamin eingebaut, in die Weite der Steppe, und mir von daher später einiges wieder hervorgeholt und zusammengereimt. Im Kamin ist noch alles vorhanden, Ed, die ganze Geschichte, Kamin der Wahrheit, wie du es vielleicht nennen würdest.

Manche versuchten den Bruderkuss zu umgehen, aber mein Vater ließ das nicht zu. Ich sah, wie er seine Lippen auf ihre Wangen presste, und irgendwie hatten sie damit schon verloren. All den Mut, den sie zusammengekratzt hatten, um Russenstädtchen Nr. 7 zu betreten, saugte er ihnen im Nu wieder aus. Am Ende blieb die Strafverfolgung innerhalb der Armee. War der Besuch verschwunden, konnte alles sehr schnell gehen. Saß der Schuldige bei uns im Städtchen, ließ ihn mein Vater sofort holen. Draußen das Meer aus marschierenden Stiefeln und mein Vater drinnen, der sagt ›Drei Jahre Sachalin‹ oder ›Zehn Jahre Omsk‹. Ich hab das nie gesehen, die Strafen wurden in Oskars Gartensaal ausgesprochen, das war das Zimmer nebenan. Aber so ähnlich wird es gewesen sein.«

In einem Zug leerte Kruso sein Glas.

«Ein Ritt durch die Steppe, mit allen Problemen, nur ein wirklicher General konnte das überstehen. Ein General wie dieser, der sich mein Vater nannte und sich wahrscheinlich noch heute so nennt, obwohl …«Kruso verstummte.»Er konnte ganz ruhig bleiben, nur manchmal … Manchmal hatte ich Angst, nicht eigentlich vor ihm, mehr vor dem schwarzen Schlund, der hinauf in den Schornstein führte. Wenn ich mich etwas nach vorn beugte, konnte ich ihn sehen. Der General brüllte, und ich beugte mich ein wenig in den Kamin und noch ein wenig, bis ich die Zugluft spürte im Gesicht und das schwarze Riesenmaul sich auftat mit seinem sauren Geruch. Manchmal träumte ich von einer Zukunft, in der ich dort thronen würde, vor dem Kamin, mit einem selbstverfassten Buch; vierhundert Seiten voller Befehle, und ich lese sie vor, eher leise und gelassen, wie einen Roman, und der Raum ist voller Budjonnys, voller guter, entschlossener Reiter.«

Kruso stand auf und schüttete den letzten Wein in Eds Glas. Ed fühlte eine reine, warme Dankbarkeit.

«Ich glaube, sein Wolgadeutsch machte meinen Vater einigermaßen unentbehrlich, und so wurden wir nie zurückversetzt, wie es eigentlich bei Offizieren nach drei oder vier Jahren üblich war. Alle gingen, wir blieben. Eine deutsche Anomalie im großen Körper der Roten Armee, irgendwie außerhalb der Nomenklatura. Meine Mutter wäre sehr gern zurückgegangen. Sie sehnte sich nach ihrer Familie und ihrem Zirkus, sie hat sich nie zu Hause gefühlt im Russenstädtchen Nr. 7. «Kruso schluckte, beruhigte sich aber und faltete das Trakl-Gedicht langsam zusammen, als sei dieser Teil der Geschichte endgültig erzählt.

«Meine Eltern haben immer beides mit uns gesprochen, Deutsch und Russisch, manchmal sogar Kasachisch. Irgendwie ging es nach Räumen. In der Küche zum Beispiel wurde Russisch gesprochen, weshalb ich noch heute denke, Koch-Mike müsste Russe sein, aber dann ist dort Viola mit ihrem endlosen Deutschlandsender …«

Er verstummte und schien nachzudenken.

«Es wäre gut, wenn wir Viola bei Gelegenheit den Saft abdrehen könnten. Sie bringt einfach zu viel Unruhe, zu viel Unsinn ins Haus. Das ganze Festlandgeplapper, das nichts, absolut gar nichts mit uns hier oben zu tun hat, mit uns und unserem Leben …«

«Das wäre schade«, entgegnete Ed vorsichtig.»Immerhin ist Violetta, ich meine Viola, die älteste Bewohnerin des Klausners, und sie trägt den Namen einer Frau, die … Ich meine, du weißt, wie in Schuld und Sühne

Zwei Sekunden starrte Kruso in Eds Richtung, als gäbe es ihn nicht. Dann fuhr er fort in seinem Bericht.

«Als mein Vater meine Mutter kennenlernte, war sie Artistin in einem Zirkus in Karaganda, dort gab es viele Russlanddeutsche, ehemalige Wolgadeutsche. Es war ein stationärer Zirkus, mitten in der Stadt, mit einem großen Gebäude, sie hat uns Fotos gezeigt. Ein Foto mit ihr in einem hellen, glitzernden Kostüm, ganz jung sah sie aus, wie ein Kind, ein Zirkuskind. Meine Mutter war sehr beliebt in der Armee. Vor allen Regimentern ist sie aufgetreten, Mascha, Manjetschka, das Maskottchen, die Seiltänzerin, eine Kunst, die jeder Soldat der siegreichen Sowjetarmee wenigstens einmal in seinem Leben gesehen haben musste und so weiter, du weißt, die Russen lieben den Zirkus. Ein paar Sachen hat sie mir beigebracht, winzige Zaubertricks, obwohl ich dafür viel zu klein war und ungeschickt. Sonja hingegen hatte vieles ganz schnell drauf.

Nach meiner Geburt ist meine Mutter sehr krank geworden und eine Weile nicht mehr aufgetreten. Sie wollte nicht mehr auf Tournee, sie wollte überhaupt nicht mehr, so hat es mir Sonja später erzählt. Dann hat sie doch wieder angefangen. Ich bin sicher, dass der General, ich meine, der Mann, der sich vor uns als Vater aufspielte, sie dazu überredet hat. Es war einfach gut für ihn, für sein eigenes Ansehen in der Truppe. Da es nicht in allen Regimentern die hohen Hallen gab, fanden ihre Auftritte öfter im Freien statt, auf Appellplätzen, die mit Sand bedeckt oder mit den schmalen Bettmatratzen der Soldaten ausgelegt waren. Zur Sicherheit haben sie Tarnnetze gespannt, zwischen die Masten der Appellplatzlaternen, die immer brannten, immer und überall. Wie bei Festlichkeiten oder Vorbeimärschen saßen die Offiziere auf der Tribüne, die Soldaten hatte man ringsum antreten lassen, Kompanie für Kompanie …«Krusos Stimme hatte sich verändert; er sprach jetzt von seiner Mama.

«Sie nutzten die Auftritte Mamas, um Auszeichnungen an Offiziere und Soldaten zu vergeben, manchmal auch für Strafen. Der Offizier schlug dem Soldaten mit der flachen Hand ins Gesicht, links, rechts, mehr war es eigentlich nicht. Einmal, ich weiß nicht mehr wo, wurde plötzlich auch Mama nach vorn gerufen. Sie schien ganz überrascht und natürlich auch ängstlich und tippelte mit ihren weißen Ballettschuhen über die Matratzen der Soldaten, die einen ziemlich üblen Geruch verströmten. Sie sah aus wie von einem anderen Stern. Man verlieh ihr das Bestenabzeichen der Sowjetarmee, eine Soldatenauszeichnung. Unser Vatergeneral hat ihr das Abzeichen selbst angesteckt, ich weiß noch, wie schwer es ihm fiel, die Nadel durch das silbern geschuppte Kostüm zu stechen, und dass ich Angst um sie hatte dabei. Jedenfalls schaffte er es irgendwie und hat seine militärische Ehrenbezeigung gemacht, salutiert vor seiner eigenen kleinen Frau im silbernen Turndress, sie dann aber doch noch geküsst, worauf ihm seine Uniformmütze schief auf dem Kopf saß, die ganze Vorstellung lang. Die schiefe Mütze, sein verlegenes Lächeln und die tausend Soldaten ringsum, die Freude in ihren kindlichen Gesichtern, ich glaube, dafür hat sie das alles gemacht …

Ich saß ja immer ganz vorn, in der ersten Reihe. Vom Kommandeur bekam ich Konfekt, Mischka-Schokolade in blau-weißem Papier. Auf dem Papier war ein kleines Bild, drei Bärenkinder und ihre Bärenmutter. Manchmal gab es auch Eis. Oft wurde mir schlecht vom Knoblauchgestank der Uniformen. Vielleicht war es auch meine Angst. Es war nicht so leicht zu verstehen für mich, warum sie immer wieder dort hinaufsteigen musste, auf dieses Hochseil, warum sie sich dauernd in diese Gefahr begab, vor meinen Augen. Auf keinen Fall durfte ich denken, dass Mama herunterfallen könnte, denn dann würde sie herunterfallen, das war sicher.

Die beste Variante war, zu denken, dass sie nie herunterfallen würde, und zwar ununterbrochen, nur diesen Gedanken, sonst nichts, aber das war sehr anstrengend, und ich schaffte es nie lange genug. Von irgendwoher sickerte immer das Böse herein, der böse, verbotene Gedanke, der vernichtet werden musste mit großen Geschützen und verbündeten Monstern, wofür ich mir eine ganze Armee ausdachte und Waffen, die es gar nicht geben konnte, so groß, aber immer fand das Böse ein Schlupfloch in meinem Kopf.

Die zweitbeste Variante war, sich abzulenken. Das Papier vom Konfekt glattzustreichen, ewig, mit dem Fingernagel. Ich versuchte, einfach nicht mehr so ganz genau auf Mama zu achten, aber das funktionierte nicht. Es klappte nur, wenn ich meinen Kontakt zu ihr praktisch vollständig abbrach, alle Gefühle und mich selbst ganz zurückzog, also nur noch mein Fingernagel und das Mischkapapier und sonst nichts auf der Welt.

Als ich sechs war, stürzte sie ab, einen Tag nach meinem Geburtstag. Ich hörte etwas Dumpfes. Das war der Aufschlag. Ein dumpfer Aufprall, wie von einem Sack. Plötzlich lag sie vor mir auf dem Boden. Ein Bein war so zur Seite gedreht, als gehöre es nicht mehr zu ihr oder als hätte es jemand an ihren Körper so herangeschoben. Eines ihrer Zauberkunststücke. Der Kopf steckte zwischen zwei Matratzen, als wollte sie weg, wegkriechen, verschwinden …

Natürlich habe ich gar nichts begriffen. Es war Zirkus. Und mir blieb auch nichts anderes übrig, als zu lachen; ich lachte. Ich steckte mitten in der zweitbesten Variante, ohne jeden wirklichen Kontakt zu Mama, verstehst du, Ed?«

Wie lange glattgestrichenes Schokoladenpapier verwahrte Kruso das sorgsam gefaltete Blatt mit dem Trakl-Gedicht in seiner Hosentasche, und als befände er sich noch immer in der zweitbesten Variante, schaute er lange einfach zum Fenster hinaus.

«Ein paar Offiziere stürzten auf sie zu und beugten sich über sie. Irgendwann sagte einer zu mir, ich solle aufstehen. Wstan, moj maltschik, er sagte es ganz leise. Meine Hand war nass und in meinem Schoß eine klebrige Pfütze, das geschmolzene Eis. Es war der dritte Juni 1967. Ich war sechs Jahre alt. Sechs Jahre und einen Tag.

Ab Anfang der siebziger Jahre wurden die Toten der sowjetischen Armee nach Hause geflogen. Meine Mutter war eine der Letzten, die hierblieb. Ich bin sicher, dass ihr das nicht recht gewesen wäre, schließlich wollte sie immer heim. Im offenen Sarg wurde sie durch das Städtchen getragen, die Ulica Centralnaja hinauf und hinunter bis zum Blechtor, zweimal an unserem Haus vorbei und dann zum Denkmal der im Krieg gefallenen Geheimdienstleute. Vorn marschierte ein Sergeant mit Mamas Bestenabzeichen, es lag auf einem kleinen Kissen. Er marschierte im Stechschritt, so hart, dass die Absätze auf der Straße knallten, ansonsten war es vollkommen still. Ich stand auf der Treppe vor der Tür, weiter durfte ich nicht. Trotzdem habe ich gesehen, dass sie ein rotes Kostüm trug. Die Erwachsenen werden in Rot begraben, die Kinder in Weiß, so hat es mir meine Schwester erklärt, sie war die ganze Zeit an meiner Seite.

Vor dem Friedhofstor küssten sie Mama und dann noch einmal am Grab, so machte man das. Am Grab gab es Ehrenbezeigungen, wie für einen hohen Offizier, was garantiert gegen die Vorschriften war. Vom Friedhofstor an spielte ein kleines Orchester» Treue Kameraden«. Gesungen wurde nichts. Mein Vater ließ Ehrensalven schießen, Salven ohne Ende. Die Leute liebten sie eben, und ich liebte sie auch, konnte sie aber nicht küssen. Ich glaube, es gab niemanden, der mir das übelnahm, außer ich selbst, ich schämte mich. Statt zu lachen, versuchte ich zu weinen, aber es klappte nicht, ich kam einfach nicht heraus aus Variante zwei. Meine Schwester hat kleine Zauberkunststücke vorgeführt, alles, was sie von Mama gelernt hatte, ohne zu zittern, neben dem Grab. Von da an wusste ich, dass sie es war, an die ich mich halten musste, für den Rest meines Lebens — nicht, dass ich etwas wie Rest meines Lebens hätte denken können, aber gefühlt habe ich es, eindeutig gefühlt. Überhaupt hatten wir keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte, ohne Mama.

Dann kamen die Folgen. Der General hatte sich wohl zu viele Feinde gemacht. Man fand heraus, dass es für die Auftritte der Hochseilartistin, wie es hieß, keine offizielle Genehmigung gegeben hatte, niemals, nirgendwo. Außerdem hätte sich der Zirkus schädlich auf Moral und Kampfbereitschaft ausgewirkt. Das wars. Mein Vater wurde nach Russland versetzt, aber weil man ihn brauchte, oder aus was weiß ich für Gründen, war er bald wieder da, ziemlich seltsam. Was er genau tut und wo, weiß kein Mensch, wir haben schon lange nichts mehr von ihm gehört. Aber das ist egal, Ed, vollkommen egal. Wenn ich heute an Mama denke, sehe ich immer das Bild mit den drei Bären. Sie spielen auf einem Baumstamm. Einer schon weit oben, der mutige, der ich sein wollte. Darunter der ängstliche, der nicht vorankommt, und ganz unten der dritte, der abseitssteht und nichts macht, nur so in den Wald hinein träumt. Und im Vordergrund die Bärenmutter, die das Maul aufreißt und brüllt wie ein Wolf. Warum brüllt sie nur so, hab ich mich immer gefragt.«



Lippen

Ed drehte den Kopf zur Seite, weil es so noch besser war. Das Mädchen hatte ihn nicht bemerkt. Wie tot lag er im Wasser, mit ausgestreckten Armen, angeschwemmt. Er spürte die Steine am Leib, den Sand, die Reste zermahlener Ziegel. Das Meer umschloss ihn, glatt und träge, das Meer, das ihn wiegte; es war der Moment, alles abzugeben.

Das Mädchen spielte mit den Wellen, sie warf sich ins Wasser, nicht übermütig, eher mit Bedacht, erhob sich träge und taumelte zurück, aber nur um erneut Anlauf zu nehmen. Als sie genug davon hatte, hockte sie sich an den Wellenrand, nur wenige Meter von Ed entfernt. Vielleicht hatte sie ihn, das lauernde Tier, das Treibholz in der lauen Brandung, nicht bemerkt. Ed sah, dass sie es genoss, wie das Wasser ihre Fesseln umspielte; die Gischt flutschte ihr zwischen die Beine und machte ihren Badeanzug nass. Sie steckte ihre Hände vor sich in den Sand und drehte sie langsam hin und her. Dann hielt sie still. Sie starrte hinaus auf den Horizont, als gäbe es dort etwas, aber weder Møn noch ein Schiff waren zu sehen. Ed begriff, dass sie in diesem Moment ihr Wasser ließ. Für einen Augenblick erkannte er die feine, dampfende Rinne im Sand, und er sah, wie vom Gang der Wellen alles gelöscht und fortgewischt wurde. Noch einmal tauchte er sein Gesicht ins Wasser; er wartete, aber das Mädchen ging nicht fort.

Irgendwann blieb Ed nichts anderes übrig. Er drehte sich zur Seite, damit das Mädchen seine Erektion nicht sehen konnte. Als müsse er sich mühsam an das, was man Schritte und Gehen nannte, erinnern, stakte er den Strand hinauf. Während seines Aufenthalts war er schmaler geworden; sein Körper schien durch die Arbeit auf der Insel wie gestrafft, schmal, sehnig, und wie fast alle Esskaas hatte auch er eine gleichmäßig gebräunte Haut, die bronzen glänzte, wenn er aus dem öligen Dunst des Abwaschs ins Freie trat. Er trug jetzt kein Stirnband mehr. Sein halblanges Haar band er nach dem Vorbild Loschs zu einem kurzen Zopf im Nacken. Er hatte das früher nie getan, weil er nicht wie ein Mädchen aussehen wollte. Er benutzte das Haargummi, das sein Freund in seinem Zimmer verloren hatte.

Die Mittagspause war noch nicht vorüber, aber auch Kruso stand bereits an seinem Becken. Er zog seine Hände aus dem Wasser und griff sich eines der Tücher.

«Es tut mir leid, Ed, das hätte nicht passieren dürfen. Die Esskaas, die den Verteiler betreuen … Oft sind sie einfach schon zu betrunken.«

Einen Augenblick dauerte es, bis Ed begriffen hatte, dass von C. die Rede war.

«Manchmal wird es einfach zu viel. Ich kann nicht mehr alles kontrollieren, und immer wieder gibt es Probleme, gerade im Zusammenspiel von freier und zentraler Vergabe …«

«Ist sie noch auf der Insel?«

«Wer?«

«C., die Schiffbrüchige.«

Kruso ließ Ed nicht aus den Augen.

«Ich wusste es, Ed, ich …«

Er machte einen Schritt, vielleicht wollte er seinen Zögling umarmen, aber Ed hatte sich rasch dem Becken fürs Grobe zugewandt und nach einer Pfanne gegriffen.

«Es geht nicht darum, ich meine …«

«Worum dann, Ed?«

«Nichts.«

«Es geht nur darum. Um unsere Sache, Ed, die wir hier«— er machte eine weit ausholende Armbewegung — »alle verfechten.«

Ed nickte. Für einen Moment erstaunte ihn die Vereinnahmung. Dazu die plötzliche Wiederkehr des Wortes von der zentralen Vergabe an diesem von den Wohnungsämtern weit entfernten Ort … Aber zuerst musste er atmen, Luft schöpfen. Er sog die Dämpfe des Abwaschs ein, die schillernde Brühe, in dem seine Hände kreisten, ein Absud voller Fasern und Klumpen, ein zergehender Brei organischer Reste; ohne Zweifel stand er kurz davor, die Besinnung zu verlieren: C. war noch da.

Leise betrat sie das Zimmer und kroch ohne weiteres in sein Bett. Sie roch frisch gewaschen, ihr Haar war nass.

«Ich will dich nicht stören.«

«Du störst mich nicht. «Er hätte sich gern sofort zu ihr gelegt.

«Wo hast du geduscht?«

«Weißt du das nicht?«

Ed zwang sich, noch eine Weile am Tisch zu bleiben. Er las ein paar Zeilen, streckte die Arme zum Fenster, atmete tief und versuchte festzustellen, ob das Licht am Horizont sich bewegte. Eine klare, salzige Luft war mit C. hereingeweht.

Er stand auf, ging durchs Zimmer, kehrte zurück und rückte einen der Ziegelsteine unter seinem Tisch zurecht. Eine köstliche Vorfreude, die ihn überspülte. Noch einmal setzte er sich auf seinen Platz und schrieb einen Satz in sein Notizbuch. Es war ein schmutziger Satz, wie er ihn noch nie geschrieben hatte, nicht einmal in seiner Pubertät, in denen Worte wie» ficken «und» vögeln «kaum fassbar geworden und jenseits geblieben waren, bei den Ausdrücken einer dunkleren, derberen Welt. Wenn, dann hatten sie von» bumsen «gesprochen, jener warme, weiche, wahrscheinlich thüringische Ausdruck dafür.»Und? Hat er sie gebumst?«, die Frage hatte etwas Zärtliches, Kindliches, während ficken hart, umstandslos und messerscharf vonstattengehen musste. Ed erinnerte sich an Diskussionen, in denen sie über den Unterschied von» Nutte «und» Hure «gestritten hatten, gerade vierzehn Jahre alt. Eine starke Fraktion behauptete, dass es Nutten von Haus aus immer um Bezahlung ginge. Ungeklärt blieb, ob es dann, zum Beispiel, noch möglich wäre, eine Nutte auch Hure zu nennen? Eigentlich nicht, meinte sein Freund Hagen. Nach seiner Theorie konnte angenommen werden, dass es Huren ihrerseits immer umsonst machten. Ed hatte Zweifel. Jedenfalls musste es Huren geben, irgendwo auf der Welt, obwohl das nicht besonders glaubhaft schien — Frauen, die es einfach so machten, mit jedem und für nichts; es grenzte an ein Wunder. Damals hatte Ed jede einzelne Frau aus seiner Umgebung in Augenschein genommen. Die Mütter seiner Freunde, Nachbarinnen, Lehrerinnen, die Verkäuferinnen in der Kaufhalle. Welche Anzeichen sprachen dafür, und vor allem, welche Signale wären nötig, um sie dazu zu bringen, es mit einem zu machen? Denn das war doch von allen Rätseln das größte, und im Grunde war es das noch immer.

«Was schreibst du?«, flüsterte C.

«Nichts. Ich muss nur rasch etwas zu Ende bringen. «Ihm wurde bewusst, dass er vor ihr den Intellektuellen spielte, und plötzlich war er verlegen.

«Wo hast du deine Sachen?«

«Im Wald, unter einer Plane.«

«Hier ist Platz genug dafür.«

«Wir haben alle unsere Sachen dort, sie bleiben da, solange wir es schaffen, uns auf der Insel zu halten.«

Ed wurde klar, wie wenig er wirklich wusste von Krusos großem Plan.

«Geht es dir gut, ich meine, wie findest du es — hier?«

«Sehr gut«, sagte sie leise. Sie lächelte müde und drehte sich zur Wand. Die schattigen Linien ihrer Schulterblätter, Oberarm und Hüfte, das alles schien Ed von unbeschreiblicher Kostbarkeit. Lautlos entledigte er sich seiner Sachen und schmiegte sich an.

«Und spürst du sie, die Freiheit?«

In den folgenden Tagen weitete Kruso den Bereich seines Anvertrauens aus. Standen sie allein im Abwasch, kam es vor, dass sein Murmeln anschwoll, woraufhin Ed vorsichtiger wurde in seinen Bewegungen, um weniger Geräusche zu machen, was beinah unmöglich war in ihrem Chaos. Krusos tiefe, monotone Stimme schien ganz bei den Worten zu bleiben, es war, als spräche er nur für sich und vor sich hin, ins Becken, in die fettige Brühe, und nicht eigentlich zu Ed. Die Teller, die Bürste, die Töpfe, der Römer, die ganze Umgebung veränderte sich — der Abwasch wurde Ausdruck, Ausdruck von etwas anderem, das sorgsam behandelt werden musste. Lange war Ed unsicher, ob Kruso überhaupt irgendeine Reaktion von ihm erwartete, ob es überhaupt ankam auf seine Anwesenheit oder vielleicht das Geschirr im Becken oder das Waschwasser wichtiger waren.

Eine Antwort erhielt Ed nur indirekt. Dass Kruso seine Gedichte vor ihm in den Abwasch sprach, verstand die Besatzung des Klausners als Zeichen. Edgar, le nouveau plongeur (Rimbaud), war endgültig aufgenommen. Rimbaud bezog Ed jetzt sofort als Zuhörer ein, wenn er mit neuen Büchern und Ideen in den Abwasch stürmte. Oft begann er mit einem möglichst simplen, eingängigen Zitat, dass er als» Weisheit des Tages «auf die Schiefertafel mit den aktuellen Speisen geschrieben hatte. Immer wieder gab es Gäste, vor allem Tagestouristen, die in ihrer kopflosen Hektik oder in völliger Verkennung die Weisheit bestellten.»Bitte zweimal Panta Rhei«, oder» Wir hätten gern Gott ist tot …«Noch ehe sich aufklären ließ, dass diese Bestellung nur das Ergebnis eines — wahrscheinlich urlaubsbedingten — Kurzschlusses gewesen sein konnte, für den man sich lachend entschuldigen wollte (obwohl die Verwandtschaft zu einem Gericht, das zu Hause in Sachsen» Tote Oma «hieß, nicht von der Hand zu weisen war), wurde Rimbaud herbeigerufen, der mit ganzem Ernst und jedenfalls ohne jede Herablassung zu einer kleinen Rede über» Panta Rhei «oder» Gott ist tot «anhob, sich nebenher dafür entschuldigte, dass» Panta Rhei «oder» Gott ist tot «noch nicht als Speisen im Angebot seien, nein, noch nicht, später vielleicht, ja, im Kommunismus, sicher, nur Utopien würden, wie man wisse, selten Wirklichkeit — so beschloss Rimbaud seinen kleinen Exkurs und empfahl Kohlrouladen.

Nicht selten schwenkte er beim Reden einen Kassenbon über den Scheiteln der verblüfften Gäste, als enthielte dieser seine wichtigsten Notizen, aber er schaute nie auf den Zettel, er dirigierte damit nur Satzbogen für Satzbogen in die Luft über den Tischen, und wahrscheinlicher war, dass er zum Sprechen lediglich etwas Papier zwischen den Fingerspitzen brauchte, eine alte Gewohnheit aus seiner Zeit als Universitätsdozent für Philosophie in Leipzig an der Pleiße.

«Ruhm, wann kommst du?«

Ohne wirklich auf Antwort zu warten, spießte Rimbaud den Bon auf den Nagel neben der Kasse und blies es noch einmal leise unter seinem Schnauzbart hervor, aber nicht mehr als Frage, mehr als kleine Melodie:

«Ruhm, wann kommst du, kommst du, kommst du …«

Seit dem letzten Besuch des Buchdealers in der Bienenhütte, legte er ihnen Bücher des Autors Antonin Artaud ins Nest,»Liebling dieser Saison«, raunte Kruso in den Dampf des frischen, fast kochenden Wassers, das mit breitem Strahl ins Becken strömte. Die Bücher trugen Titel wie Schluß mit dem Gottesgericht oder Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft. Ed musste zugeben, dass ihn Rimbauds Lesungen Artauds ratlos machten, und er begriff, wie wenig er doch eigentlich wusste von den Dingen der Poesie, trotz seiner Bestände.»Da, wo es nach Scheiße riecht, / riecht es nach Leben. «Das leuchtete eigentlich ein. Nur hatte Ed es bis dahin nicht für denkbar gehalten, dass etwas wie» Streben nach Fäkalität «möglich war — als Gedicht.»Es gibt im Leben / etwas besonders Verführerisches für / den Menschen / und dieses Etwas ist, mit Recht / DIE KACKA. «Auf Französisch klang es sicher ganz anders. Egal wie man darüber dachte, man konnte immer etwas lernen von Rimbaud.

Noch stärker als die Texte beeindruckten Ed allerdings die Fotografien des Autors im Anhang (von einem Fotografen namens Georges Pastier) — er hatte noch nie einen Mann ohne Lippen gesehen. Artaud war ein Mann ohne Lippen. Sein Kinn stand vor, seine Nase stand vor, und statt eines Mundes gab es nur eine Mulde, durch die sich langhin und beinah bis an die Ohren eine Falte zog, mehr ein Strich eigentlich, der die Möglichkeit eines Mundes skizzierte. Besaß der Autor Antonin Artaud Lippen, so mussten sie innen liegen, das heißt, er hatte mit innenliegenden Lippen gesprochen. Eine vergleichbare Physiognomie, wenn auch nicht in dieser allerletzten Gestalt, war Ed bisher nur von Fotos des berühmten und bei den Esskaas, die Bücher lasen, hochgeschätzten Autors Heiner Müller in Erinnerung, der — Rimbaud zitierte es allenthalben — gesagt haben sollte:»Artaud, die Sprache der Qual!«Was Ed wiederum sofort einleuchtete. Und eigentlich wäre es das Privileg Rimbauds gewesen, an dieser Stelle die Verwandtschaft zu begründen und auf den Zusammenhang von Lippen und Literatur zu verweisen, stattdessen zitierte er noch einmal Müller:»Artauds Texte, auf den Trümmern Europas gelesen, werden sie klassisch sein.«

Ob, zum Beispiel, eine Literatur der Schmallippigen und Lippenlosen dann überhaupt noch Sinn machen würde? — Eds Frage verärgerte Rimbaud. Und Ed gab ihm recht. Sein Einwand war primitiv und Ausdruck reinen Übermuts. Ja, Ed war in Stimmung, in primitiver Hochstimmung sogar, denn er war der Mann, der C. gehabt hatte. Und C. hatte Lippen, Lippen ohne Ende.

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