Erster Teil
Fantine

Erstes Buch
Ein Gerechter

Myriel

Im Jahre 1815 war Charles-François-Bienvenu Myriel Bischof von Digne. Er zählte damals etwa fünfundsiebzig Jahre und hatte sein Amt seit 1806 inne.

Obwohl dieser Umstand nicht eigentlich zu unserer Erzählung gehört, ist es vielleicht nicht überflüssig, und wäre es auch nur um der Genauigkeit willen, hier gewisse Bemerkungen und Gerüchte zu erwähnen, die im Umlauf waren, als er in seiner Diözese eintraf. Was von Menschen gesagt wird, gilt ja in ihrem Leben, mag es wahr oder falsch sein, ebensoviel wie ihre Handlungen. Nun, Myriel war der Sohn eines Rates beim Parlamentsgericht zu Aix, entstammte also dem Beamtenadel. Man erzählte, sein Vater habe ihm sein Amt vererben wollen und habe ihn darum schon mit achtzehn oder zwanzig Jahren verheiratet, wie dies wohl bei den Beamtenfamilien der Brauch ist. Trotz dieser Heirat hatte Charles Myriel, wie behauptet wurde, viel von sich reden gemacht. Er war von gefälligem Äußern, wenn auch von kleiner Statur, elegant, geschmeidig, geistvoll; der erste Teil seines Lebens war zur Gänze weltlichen Dingen und galanten Abenteuern gewidmet.

Da brach die Revolution aus, die Ereignisse überstürzten sich, die Beamtenfamilien wurden blutig verfolgt, verjagt, außer Landes getrieben. Charles Myriel wanderte schon zu Beginn der Revolution nach Italien aus. Seine Frau erlag dort einem Lungenleiden, an dem sie schon seit Jahren krankte. Kinder hatten sie nicht.

Was ging damals in Myriel vor? War es der Zusammenbruch der alten französischen Gesellschaft, der Sturz seiner eigenen Familie, waren es die tragischen Ereignisse des Jahres 93, die den Ausgewanderten in der Fremde noch schrecklicher und ungeheuerlicher erscheinen mußten, war es dies, was ihn der Welt entfremdete und zur Einsamkeit trieb? Oder hatte ihn inmitten seiner Zerstreuungen und Vergnügungen, die sein Leben ausfüllten, plötzlich einer jener geheimnisvollen Schicksalsschläge getroffen, die zuweilen selbst den Mann ins Herz treffen, den allgemeine Katastrophen nicht zu erschüttern vermochten – wenn sie auch sein Glück und seine Existenz vernichteten? Niemand hätte diese Frage zu beantworten gewußt; bekannt war nur, daß er, aus Italien zurückkehrend, Priester war.

1804 war er Pfarrer von Brignolles. Er war bereits alt und führte ein sehr zurückgezogenes Leben.

Zur Zeit der Kaiserkrönung führte ihn ein unbedeutendes Amtsgeschäft seiner Pfarrei – es ist darüber nichts Näheres bekannt – nach Paris. Unter anderen einflußreichen Persönlichkeiten mußte er auch den Kardinal Fesch aufsuchen. Eines Tages also, als der Kaiser seinen Onkel besuchte, wartete der würdige Pfarrherr zufällig gerade im Vorzimmer, und so traf es sich, daß er unvermittelt Seiner Majestät gegenüberstand. Napoléon sah, daß der Alte ihn mit einer gewissen Neugierde anstarrte, wandte sich um und fragte brüsk:

»Wer ist der gute Mann, der mich so ansieht?«

»Sire«, erwiderte Myriel, »Sie sehen einen guten Mann und ich einen großen. So kommen wir beide auf unsere Rechnung.«

Am selben Abend fragte der Kaiser den Kardinal nach dem Namen dieses Pfarrers, und einige Zeit später war Myriel nicht wenig verwundert, zu hören, daß er zum Bischof von Digne ernannt worden sei.

Was an allen diesen Geschichten strenge Wahrheit war, konnte niemand angeben, denn nur wenige Familien hatten vor der Revolution mit den Myriels in Verbindung gestanden.

So mußte Myriel das Schicksal aller teilen, die in einer Kleinstadt neu angekommen sind, wo viel gesprochen und wenig gedacht wird. Er mußte es über sich ergehen lassen, obwohl er Bischof war, ja gerade weil er Bischof war. Aber schließlich war alles Gerede, das sich mit ihm beschäftigte, eben nur auf vage Vermutungen gestützt – Geschwätz, leere Worte; Palaver, wie man in der energischen Sprache des Südens sagt.

Wie dem auch sei, nach neun Jahren, die er in Digne zugebracht hatte, war all das Geschwätz, das in kleinen Städten zuerst die kleinen Leute beschäftigt, verstummt, und niemand wagte es mehr aufzurühren.

Myriel war in Begleitung eines alten Fräuleins, Mademoiselle Baptistine, seiner Schwester, die zehn Jahre jünger war als er, nach Digne gekommen. Seine ganze Dienerschaft bestand aus einer Magd, desselben Alters wie Fräulein Baptistine, Frau Magloire, die seinerzeit Wirtschafterin des Pfarrers Myriel gewesen war und jetzt das Doppelamt der Kammerfrau Fräulein Baptistines und der Haushälterin von Monsignore versah.

Mademoiselle Baptistine war eine hochgewachsene, blasse, hagere, sanfte Person; sie war die Verkörperung alles dessen, was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurcht Anspruch zu haben, muß eine Frau Mutter sein. Hübsch war sie nie gewesen; aber ihr Leben, das nur aus einer langen Reihe wohltätiger Werke bestand, hatte ihr schließlich eine gewisse Reinheit und Klarheit des Wesens verliehen, die man die Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn sie in ihrer Jugend mager gewesen war, so konnte man jetzt, in ihrem reiferen Alter, fast von Durchsichtigkeit sprechen. Sie war eher eine Seele als ein jungfräulicher Körper; gerade noch genug Leib, daß man ihr ein Geschlecht beilegen konnte – ein Minimum an Materie, das in Glanz gehüllt schien. Ihre großen Augen hatte sie immer zu Boden gerichtet, als suche ihre Seele einen Vorwand, noch auf Erden zu verweilen.

Frau Magloire war eine kleine Alte, blaß, beleibt, stets geschäftig, immer außer Atem, und das, einmal weil sie zu jeglicher Zeit beschäftigt war, dann aber auch infolge ihres Asthmas.

Als Herr Myriel eintraf, wurde er im bischöflichen Palais mit allen Ehren untergebracht, die von den kaiserlichen Dekreten festgesetzt waren; denn die Staatsweisheit wies den Bischöfen den Rang gleich nach den Marschällen zu. Der Bürgermeister und der Präsident machten ihm sofort ihre Aufwartung, er aber, seinerseits, besuchte zuerst den General und den Präfekten.


Myriel wird Bischof Bienvenu

Das bischöfliche Palais in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein geräumiges, schönes Gebäude, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie an der Universität Paris, Abbé von Simore, seit 1712 Bischof von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Eindruck eines richtigen Herrensitzes. Alles darin war groß angelegt, die Gemächer des Bischofs, die Zimmer, der Festsaal mit den Wandelgängen, die ihn, zu altflorentinischen Arkaden ausgestaltet, umliefen, und die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesaal, einem prächtigen Raum, der im Erdgeschoß lag und zu den Gärten hinausführte, hatte Monsignore Puget am 29. Juli 1714 die hochwürdigen Herren Charles Brûlard de Genlis, den Erzbischof Prinz d’Embrun, Antoine de Mesgrigny, Bischof von Grasse, Philippe de Vendôme, Großprior von Frankreich, Abbé von Saint-Honoré de Lérins, François de Berton de Grillon, Bischof von Vence, César de Sabran de Forcalquier, Bischof von Glancève, Jean Soanen, Hofprediger und Bischof von Senez, bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben hochwürdigen Herren schmückten den Saal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldenen Buchstaben auf einer Marmortafel eingegraben.

Das Hospital war ein enges, niedriges Gebäude, einstöckig, mit einem kleinen Gärtchen.

Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Dann ließ er den Direktor zu sich bitten.

»Herr Direktor«, sagte er, »mit wieviel Kranken ist Ihr Spital augenblicklich belegt?«

»Wir haben sechsundzwanzig Patienten, Monsignore.«

»Soviel habe ich auch gezählt.«

»Wir haben die Betten recht eng aneinanderrücken müssen«, meinte der Direktor.

»Ich habe es bemerkt.«

»Die Krankensäle sind nur kleine Zimmer und schwer zu lüften.«

»Das scheint mir auch so.«

»Selten fällt ein Sonnenstrahl in den Garten, und dann ist zu wenig Platz da, die Kranken darin unterzubringen.«

»Das habe ich mir auch gesagt.«

»Wenn Epidemien ausbrechen – wir hatten heuer den Typhus und vor zwei Jahren das Fieber –, zählen wir manchmal bis zu hundert Kranke und wissen nicht, wo wir sie unterbringen sollen.«

»Dieser Gedanke ist mir auch gekommen.«

»Was wollen Sie, Monsignore? Man muß sich darein schicken.«

Dieses Gespräch fand in dem Speisesaal im Erdgeschoß statt.

Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich unvermittelt an den Direktor.

»Wieviel Betten könnte man wohl in diesem Saal unterbringen?«

»Im Speisesaal des bischöflichen Palais?« fragte der Direktor verblüfft.

Der Bischof überschaute den Saal und schien die Maße zu überschlagen.

»Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterstellen«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche; dann wieder laut:

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Direktor. Hier liegt offenbar ein Irrtum vor. Sie sind sechsundzwanzig Leute in fünf oder sechs kleinen Zimmern, wir sind unser drei und haben Platz für sechzig; das kann nur ein Irrtum sein, finde ich. Also: Sie haben mein Haus und ich das Ihre, so wird es sein. Geben Sie mir mein Haus zurück, dieses hier gehört Ihnen.«

Am nächsten Tag wurden die sechsundzwanzig armen Kranken im bischöflichen Palais untergebracht, und der Bischof bezog das Hospital.

Da die Revolution seine Familie ruiniert hatte, besaß Myriel kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Rente von fünfhundert Franken, die, solange sie bei ihrem Bruder wohnte, für ihre persönlichen Ausgaben ausreichten. Myriel empfing vom Staat als Bischof ein Gehalt von fünfzehntausend Franken. An dem Tage, als er das Hospital bezog, setzte er fest, wie diese Summe ein für allemal aufgeteilt werden sollte. Wir geben hier eine von ihm eigenhändig geschriebene Aufstellung wieder.

Ausgaben meines Haushaltes:

für das kleine Seminar 1 500 Livres

für die Missionskongregation 100 ”

für die Lazaristen von Montdidier 100 ”

für das Seminar der auswärtigen Missionen in Paris 200 ”

für die Kongregation des Heiligen Geistes 150 ”

für die Kirchen im Heiligen Lande 100 ”

für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen 300 ”

für die gleiche Gesellschaft in Arles 50 ”

Hilfswerk für die Verbesserung der Gefängnisse 400 ”

Hilfswerk für entlassene Sträflinge 500 ”

für die Befreiung von Familienvätern aus dem Schuldgefängnis 1 000 ”

Unterstützungsfonds für schlechtbezahlte Schullehrer der Diözese 2 000 ”

für die Getreidespeicher des Departements Hautes Alpes 100 ”

Kongregation zu Digne, Manosque und Sisteron zur Erteilung unentgeltlichen Unterrichts an mittellose Mädchen 1 500 ”

für die Armen 6 000 ”

persönliche Aufwendungen 1 000 ”

Summa 15 000 Livres

Solange Myriel Bischof von Digne war, änderte er nichts an dieser Bestimmung. Das nannte er seinen Haushalt führen.

Fräulein Baptistine unterwarf sich dieser Anordnung vorbehaltlos. Für diese fromme Frau war Myriel zugleich Bruder und Bischof, ein Freund, den die Natur ihr bestimmt hatte, und ein Vorgesetzter, dem die Kirche sie unterstellte. Sie liebte und verehrte ihn. Wenn er sprach, unterwarf sie sich; was er tat, war wohlgetan. Nur die Haushälterin, Frau Magloire, murrte ein wenig. Hatte doch der Bischof, wie der Leser wohl bemerkt hat, nur tausend Livres sich selbst vorbehalten, was – mit Fräulein Baptistines Rente – fünfzehnhundert Franken jährlich ausmachte. Damit sollten die beiden alten Frauen und der Greis ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Und wenn ein Landpfarrer nach Digne kam, fand der Bischof noch Mittel und Wege, ihn zu bewirten, dank der Haushaltungskunst Frau Magloires und der geschickten Wirtschaftsführung Fräulein Baptistines.

Eines Tages, er war damals schon fast drei Monate in Digne, sagte der Bischof:

»Mit dieser Summe bin ich denn doch ein wenig beengt.«

»Das denke ich wohl auch!« rief Frau Magloire. »Monsignore haben ja nicht einmal die Rente in Anspruch genommen, die Ihnen das Departement für die Kosten einer Equipage und Reisespesen schuldet. Früher pflegten die Bischöfe dieses Geld zu beheben.«

»Allerdings«, sagte der Bischof, »Sie haben recht, Frau Magloire.«

Und er forderte seine Rente an.

Der Generalrat prüfte einige Zeit später seine Ansprüche und bewilligte ihm eine jährliche Zuwendung von dreitausend Franken unter dem Titel: Gebühren des Herrn Bischofs für Kosten einer Equipage, Postfahrten und Aufwendungen bei Reisen in der Diözese.

Bei der Bürgerschaft gab es großes Geschrei, und ein Senator des Kaiserreichs, der ehemals Mitglied des Rats der Fünfhundert gewesen war, am 18. Brumaire für Napoléon gestimmt und dafür in der Nähe von Digne ein prächtiges Gut geschenkt bekommen hatte, schrieb dem Kultusminister, Bigot de Préameneu, einen sehr entrüsteten, vertraulichen Brief, dem wir folgendes wörtlich entnehmen:

»Kosten einer Equipage? Wozu eine Equipage in einer Stadt mit viertausend Einwohnern? Reisen in der Diözese? Wozu sollen die dienen? Und seit wann reist man in diesem Gebirgsland mit der Postkutsche? Es gibt ja gar keine befahrbaren Straßen hier! Hier reist man zu Pferd. Sogar die Durancebrücke bei Château-Arnoux trägt kaum ein Ochsenfuhrwerk! Aber so sind diese Geistlichen – habsüchtig und geizig. Der hier hat sich zuerst als Apostel aufgespielt. Jetzt macht er es wie die anderen, braucht eine Equipage und eine Postkutsche! Will Luxus haben wie die Bischöfe von Anno dazumal. Ach, dieses ganze Pfaffenpack! Herr Graf, es wird uns nicht besser gehen, solange der Kaiser uns diese Kerle nicht vom Halse schafft. Nieder mit dem Papst!« (Man stand damals schlecht mit Rom.) »Ich für meinen Teil brauche nur den Kaiser und sonst nichts« usw. usw.

Dagegen war Frau Magloire sehr erfreut.

»Gut«, sagte sie zu Fräulein Baptistine, »zuerst hat Monsignore für die andern gesorgt, jetzt denkt er auch an sich. Für Wohltätigkeit ist genug geschehen. Diese dreitausend Livres bleiben für uns. Endlich!«

Am selben Abend stellte der Bischof einen neuen Haushaltungskalkül auf und übergab ihn seiner Schwester.

Kosten der Equipage und Reisespesen:

für Bouillon dem Spital 1 500 Livres

für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen in Aix 250 ”

für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen in Draguignan 250 ”

für Findelkinder 500 ”

für Waisenkinder 500 ”

Summa 3 000 Livres

Das war Myriels Budget.

Was die Nebeneinkünfte des Episkopats betraf, Aufgebote, Dispensen, Taufgelder, Predigtgebühren, Einweihungen von Kirchen und Kapellen, Hochzeiten usw., so trieb der Bischof sie von den Reichen um so strenger ein, als er sie insgesamt den Armen zuwandte.

Nach einiger Zeit flossen ihm auch reichliche Hilfsgelder zu. Besitzende und Bedürftige klopften an seine Tür, um milde Gaben zu spenden oder zu empfangen. Binnen Jahresfrist war der Bischof der Schatzmeister der öffentlichen Wohltätigkeit, der Bankier des Elends. Beträchtliche Summen flossen durch seine Hände, aber nichts konnte ihn veranlassen, auch nur im geringsten seine Lebenshaltung zu verändern und dem Notwendigsten Überflüssiges hinzuzufügen.

Weit entfernt davon! Immer war – da in der menschlichen Gesellschaft mehr Elend als Brüderlichkeit herrscht – alles bereits vergeben, bevor es eingegangen; es war mit dem Gelde wie mit einem Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt. Soviel Myriel auch bekam, nie hatte er etwas. Oft beraubte er sich selbst.

Es ist Sitte, daß die Bischöfe ihre Taufnamen an die Spitze ihrer Sendschreiben und Hirtenbriefe setzen; mit einem Instinkt der Dankbarkeit wählten die armen Leute von Digne unter allen Vornamen ihres Bischofs den, der ihnen am sinnvollsten schien, und nannten ihn Monsignore Bienvenu – Bischof Willkommen. Ihm gefiel diese Benennung.

»Ich habe diesen Namen gern«, sagte er. »Bienvenu klingt besser als Monsignore.«

Wir wollen nicht behaupten, daß das Bild, das wir hier entworfen haben, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat; darum müssen wir uns darauf beschränken, zu versichern, daß es wahrheitsgetreu ist.


Ein guter Bischof hat es nicht leicht

Obwohl der Bischof seine Equipage in Almosen verwandelt hatte, war er oft amtlich auf Reisen. Und die Diözese von Digne ist ein Distrikt, in dem man nicht bequem reist. Es gibt dort wenig Ebene und viel Gebirge, überdies fast keine Straßen, wie schon erwähnt wurde; und dabei umfaßt sie zweiunddreißig Pfarreien, einundvierzig Vikariate und zweihundertfünfundachtzig Filialkirchen. Sie alle im Auge zu behalten, ist keine Kleinigkeit. Aber der Bischof brachte es zustande. Er ging zu Fuß, wenn sein Ziel in der näheren Nachbarschaft lag, fuhr in einem Bauernwägelchen, wenn er auf dem flachen Lande zu tun hatte, ritt auf einem Maultier ins Gebirge. Oft begleiteten ihn die beiden Frauen. Wenn die Reise zu anstrengend war, blieb er allein.

Eines Tages ritt er auf einem Esel in Senez, einer alten Bischofsstadt, ein. Das Geld war besonders knapp, und so hatte er sich kein anderes Transportmittel leisten können. Der Bürgermeister empfing ihn am Tor des Bischofspalais und maß ihn, wie er so von seinem Esel abstieg, mit empörten Blicken. Einige Bürgersleute blieben stehen und lachten.

»Herr Bürgermeister«, sagte der Bischof, »und Sie, meine Herren Bürger, ich verstehe schon, warum Sie empört sind; Sie finden es unverschämt, daß ein armer Geistlicher sich des Reittiers Jesu Christi bedient. Aber seien Sie versichert, ich tat es aus Not, nicht aus Eitelkeit.«

Auch auf seinen Amtsreisen war er immer geduldig und nachsichtig, seine Predigten klangen eher wie Plaudereien. Bei den Haaren herbeigezogene Argumente konnte er nicht ausstehen.

Im Gespräch war er freundlich und heiter. Lachen konnte er wie ein Schuljunge.

Frau Magloire liebte es, ihn »hoher Herr« anzureden. Eines Tages wollte er ein Buch von einem Regal holen, konnte es aber nicht erreichen, da er von kleiner Statur war. »Frau Magloire«, rief er, »bringen Sie mir einen Stuhl! Der hohe Herr reicht nicht bis zu dem Brett da oben.«

Eine entfernte Verwandte, die Gräfin von Lô, ließ sich selten eine Gelegenheit entgehen, vor ihm von den »Hoffnungen« ihrer drei Söhne zu sprechen. Sie hatte mehrere Verwandte, die schon an der Schwelle des Grabes standen und deren Erbe ihren Söhnen zufallen sollte. Der jüngste der drei sollte von seiner Großtante hunderttausend Livres Rente bekommen; der zweite sollte sogar den Herzogstitel seines Onkels erben; der älteste schließlich sollte in die Pairschaft seines Großvaters eintreten. Der Bischof pflegte den unschuldigen und verzeihlichen Prahlereien einer liebenden Mutter schweigsam zuzuhören. Einmal allerdings war er versonnener als je, während Madame de Lô sich wieder in weitschweifigen Erörterungen all ihrer Hoffnungen erging. Ungeduldig unterbrach sie sich:

»Großer Gott, Vetter, woran denken Sie nur?«

»Mir fällt da«, sagte der Bischof, »ein sonderbarer Ausspruch ein, den ich, wenn ich mich recht erinnere, in den Schriften des heiligen Augustinus gefunden habe: ›Setzet eure Hoffnung in Ihn, der ohne Nachfolger ist.‹«

Bei passender Gelegenheit verstand er es, harmlos zu spotten, aber fast nie war sein Scherz ohne ernsten Sinn. Während der Fastenzeit kam einst ein junger Vikar nach Digne und predigte in der Kathedrale. Er war sehr beredt. Seine Predigt galt der Mildtätigkeit. Er forderte die Reichen auf, den Notleidenden zu Hilfe zu kommen, denn nur so könnten sie der Hölle entgehen, die er ihnen ebenso schauerlich schilderte, wie er das Paradies lieblich und erstrebenswert darstellte. Unter seinen Zuhörern war ein reicher Kaufmann, der sich bereits zur Ruhe gesetzt hatte, ein gewisser Géborand, ein Wucherer, der mit seiner Tuchweberei zwei Millionen verdient hatte. Zeit seines Lebens hatte Géborand keinem Unglücklichen ein Almosen gegeben. Seit jener Predigt aber wurde beobachtet, daß er jeden Sonntag für die alten Bettlerinnen am Tor der Kathedrale einen Sou spendete. Und dabei waren es sechs, die sich in diesen Betrag zu teilen hatten! Der Bischof sah ihn eines Tages, wie er solchermaßen Wohltätigkeit übte, und sagte lächelnd zu seiner Schwester:

»Sieh doch den Herrn Géborand, wie er für einen Sou Paradies kauft.«

Wenn es galt, Spenden einzutreiben, ließ er sich auch durch eine abschlägige Antwort nicht zurückschrecken und fand oft kluge Einwände. Einmal sammelte er in einem Salon für die Armen. Auch der Marquis de Champtercier war zugegen, ein reicher alter Geizhals, der es fertigbrachte, zugleich Ultraroyalist und Ultravoltairianer zu sein. Auch das gibt es. Der Bischof berührte seinen Arm und sagte:

»Herr Marquis, Sie müssen mir etwas geben.«

Der Marquis wandte sich um und erwiderte trocken:

»Monsignore, ich habe meine Armen.«

»Gut, geben Sie sie mir.«

Da er in der Provence geboren war, verstand er die Dialekte des Südens gut. Das gefiel den Leuten und trug nicht wenig dazu bei, daß seine Worte bei ihnen galten. Er war in der Hütte und auf der Alm zu Hause. Die erhabensten Dinge vermochte er in die gewöhnlichsten Worte zu kleiden. Er sprach alle Dialekte und drang ein in alle Herzen.

Niemals urteilte er voreilig und ohne die Umstände zu prüfen. Gern sagte er: »Wir wollen sehen, welchen Weg die Sünde genommen hat.«

Sich selbst nannte er scherzhaft einen Exsünder; niemals gab er sich streng oder zog nach Art der Tugendbolde seine Stirn in düstere Falten; offen bekannte er sich zu seinen Fehlern und hielt sich an einen Lehrsatz, den man ungefähr so zusammenfassen konnte:

»Der Mensch ist von Fleisch, darum trägt er seine Last und seine Versuchung immer bei sich. Sie lauert, und er gibt ihr nach.«

Gab es ein allgemeines Entrüstungsgeschrei, so sagte er wohl auch: »Oh, das muß ja eine Sünde sein, die von vielen Leuten begangen wird, daß alle Heuchler so heftig protestieren und ihr Alibi nachweisen.«

Gegen die Frauen und gegen die Armen, auf denen das Unrecht der Gesellschaft am schwersten lastet, war er stets nachsichtig. »Die Sünden der Frauen, der Kinder, der Bedienten, der Schwachen, der Elenden und der Unwissenden«, sagte er, »sind immer die Schuld der Männer, der Eltern, der Brotgeber, der Starken, Reichen und Wissenden.«

Oder: »Man muß die Unwissenden belehren, so gut man kann; die Gesellschaft lädt eine große Schuld auf sich, indem sie den Unterricht nicht unentgeltlich erteilt; sie ist verantwortlich für die Finsternis des Geistes, in der sie die Menschheit verharren läßt. Wenn die Seele in Dunkelheit schmachtet, ist sie der Sünde zugänglich. Nicht der ist schuldig, der die Sünde begeht, sondern der die Finsternis erzeugt hat.«

Eines Tages hörte er in einem Salon von einem Kriminalprozeß sprechen, der damals in Vorbereitung war. Ein Unglücklicher hatte aus Liebe zu einer Frau und dem Kinde, das sie von ihm hatte, falsches Geld gemacht, weil er keinen anderen Ausweg sah, dem Elend zu entgehen. Falschmünzerei wurde zu jener Zeit noch mit dem Tode bestraft. Man hatte die Frau bei ihrem ersten Versuch, das Falschgeld an den Mann zu bringen, verhaftet. Man hielt sie gefangen, aber Beweise konnte man nur gegen sie nicht erbringen. So lag es an ihr, ob sie ihren Liebhaber belasten und durch ein Geständnis dem Tode überliefern wollte oder nicht. Sie leugnete. Man drang in sie. Aber sie beharrte auf ihrer Aussage. Da hatte der königliche Prokurator einen guten Einfall. Er konstruierte eine Untreue des Mannes und verstand es, Bruchstücke aus Briefen von ihm so geschickt zusammenzustellen, daß die Unglückliche glauben mußte, sie habe eine Nebenbuhlerin und würde von jenem Manne betrogen. In der Tat ließ sie sich von ihrer Eifersucht verführen, ihren Liebhaber zu verraten, alles zu gestehen und sogar Beweise zu liefern. Der Mann war verloren. Er sollte demnächst zusammen mit seiner Mitschuldigen in Aix abgeurteilt werden. Man unterhielt sich darüber, und alle rühmten die Geschicklichkeit des Beamten. Indem er die Eifersucht erregt hatte, war es ihm gelungen, den Zorn zu seinem Verbündeten zu machen und die Wahrheit zu erfahren. Er hatte die Rachsucht in den Dienst der Justiz gestellt. Schweigend hörte der Bischof dies alles an. Endlich fragte er:

»Welches Gericht urteilt über diesen Mann und diese Frau?«

»Die Assisen.«

»Und welches über den Herrn Prokurator?«

Ein tragischer Fall ereignete sich in Digne. Ein Mann wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Es war ein Unglücklicher, der nicht wirklich gebildet, aber auch nicht ganz unwissend war; auf Jahrmärkten hatte er sich als Clown zur Schau gestellt, war aber auch als öffentlicher Schreiber tätig gewesen. Der Prozeß erregte in der Stadt großes Aufsehen. Am Vorabend der Hinrichtung erkrankte der Gefängnisgeistliche. Da aber ein Priester den Delinquenten auf seinem letzten Gange begleiten mußte, sandte man nach dem Pfarrer. Es wurde berichtet, er habe sich mit der Begründung geweigert, die Sache gehe ihn nichts an. »Mit Possenreißern habe ich nichts zu tun«, hatte er gesagt, »übrigens bin ich auch krank, und dies ist nicht meines Amtes.«

Diese Antwort wurde dem Bischof hinterbracht, und dieser sagte:

»Der Herr Pfarrer hat recht. Dies ist nicht sein Amt, sondern meines.«

Unverzüglich begab er sich in das Gefängnis, stieg in die Zelle des Possenreißers hinab, redete ihn mit Namen an und bot ihm die Hand. Den ganzen Tag blieb er bei ihm, vergaß zu essen und zu schlafen, betete für die Seele des Verurteilten und ermahnte ihn, an sein Heil zu denken. Er sagte ihm die besten Wahrheiten – nämlich die einfachsten. Er war Vater, Bruder, Freund; Bischof nur, um zu segnen. Er belehrte ihn, gab ihm die Sicherheit wieder und tröstete ihn. Dieser Mensch war im Begriff, verzweifelt zu sterben. Für ihn war der Tod ein Abgrund, ein gähnender Schlund, vor dem er entsetzt zurückbebte. Er war nicht so roh, daß er stumpf geblieben wäre. Seine Verurteilung hatte ihn schwer erschüttert und ihn einen Blick tun lassen in jene geheimnisvolle Tiefe, die wir das Leben nennen und die sich zumeist unserer Erkenntnis entzieht. Er suchte um sich zu blicken und sah nur Finsternis. Der Bischof ließ ihn das Licht erkennen.

Als der Delinquent am nächsten Tage abgeholt wurde, war der Bischof bei ihm. Er wich nicht von seiner Seite und zeigte sich der Menge in seinem violetten Kleid, mit dem Bischofskreuze am Halse, neben dem gefesselten Verbrecher. Mit ihm bestieg er den Karren und das Schafott. Der Unglückliche, der noch am Vorabend niedergeschmettert und verzweifelt gewesen war, hatte Fassung gewonnen. Vielleicht empfand er, daß seine Seele Gnade gefunden hatte. Der Bischof umarmte ihn und flüsterte ihm, als das Fallbeil stürzte, noch zu:

»Wen der Mensch tötet, den erweckt Gott zu neuem Leben; wen die Brüder von sich stoßen, den nimmt der Vater auf. Geh ein in das ewige Leben, der Vater erwartet dich!«

Als er vom Schafott herabstieg, war etwas in seinen Augen, wovor die Menge scheu zurückwich. Man wußte nicht, was erstaunlicher war, seine Blässe oder der heitere Frieden, den sein Antlitz ausstrahlte.

Gerade das Erhabene wird selten verstanden; viele Leute hielten das Betragen des Bischofs für Affektation. Das war die Meinung der Salons. Das Volk allerdings, das fromme Handlungen nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte den Bischof.

Ihn hatte der Anblick der Guillotine aufs tiefste erschüttert, und lange konnte er sich davon nicht erholen.

In der Tat hat das Schafott, wenn es hoch aufgerichtet vor uns steht, eine unheimliche, die Phantasie erregende Wirkung. Man mag über die Todesstrafe keine eigene Meinung haben, sich des Urteils enthalten, sie bejahen oder verneinen, solange man die Guillotine nicht mit eigenen Augen gesehen hat; ist man ihr aber gegenübergestanden, so muß man sich entscheiden und Partei nehmen. Der eine wird sie bewundern wie de Maistre, der andere sie verabscheuen wie Beccaria. Die Guillotine ist das verwirklichte Gesetz, die materialisierte Rache; sie ist nicht neutral und gestattet uns nicht, neutral zu bleiben. Bei ihrem Anblick können wir uns nicht dem geheimnisvollen Schauer entziehen. Rings um das Fallbeil haben die sozialen Probleme ihre Fragezeichen wirksam vor unser Auge gerückt. Das Schafott ist eine Vision. Es ist nicht ein Gerüst, eine Maschine, ein toter Mechanismus aus Holz, Eisen und Seil. Es ist ein Lebewesen, scheint es, ein Lebewesen, das irgendeinem dunklen Trieb folgt. Es ist, als ob es sähe, höre, begreife, als ob diesem Eisen, diesem Holz, diesen Seilen ein Wille innewohne. Unserer beängstigten Phantasie erscheint es als furchtbarstes Wesen, das wissentlich handelt. Denn es ist der Komplize des Henkers, es frißt Fleisch und säuft Blut. Es ist ein Ungeheuer, das der Richter und der Zimmermann heraufbeschworen haben und das mit dem Tode, den es gibt, sein scheußliches Leben bestreitet.

So war der Eindruck tief und schrecklich gewesen; am Tage nach der Hinrichtung und noch viele Tage später war der Bischof bedrückt. Die fast erzwungene Heiterkeit, die ihn in dem schrecklichen Augenblick beherrscht hatte, war wieder verschwunden; das Schreckgespenst der Justiz lastete auf ihm. Er, der sonst mit so strahlender Zufriedenheit auf alle seine Handlungen zu blicken pflegte, schien sich Vorwürfe zu machen. Zuweilen sprach er mit sich selbst, murmelte düster vor sich hin. Seine Schwester hörte ihn eines Abends sagen:

»Ich dachte nicht, daß es so gräßlich wäre. Es ist ein Unrecht, nur an das göttliche Gesetz zu denken und das Menschengesetz zu vernachlässigen. Den Tod festzusetzen, ist Gottes Sache. Nur ihm kommt es zu. Mit welchem Recht maßen die Menschen sich an, eine Strafe zu verhängen, die sie selbst nicht kennen?«


Cravatte

Hier fügt sich eine Begebenheit ein, die wir nicht unerwähnt lassen dürfen, denn sie gehört zu jenen, die den Charakter des Bischofs von Digne am deutlichsten erkennen lassen.

Nachdem die Bande des Gaspard Bès auseinandergetrieben worden war, der die Täler um Ollioules unsicher gemacht hatte, floh einer seiner Unterführer, ein gewisser Cravatte, ins Gebirge. Er verbarg sich mit einigen versprengten Banditen geraume Zeit in der Grafschaft Nizza, entkam nach Piemont und tauchte plötzlich wieder in Frankreich, bei Barcelonnette, auf. Zuerst sah man ihn in Jauziers, dann in Tuiles. Er verbarg sich in den Höhlen des Joug de l’Aigle, stieg von dort durch die Schluchten der Ubaye und Ubayette zu den Hügeln und Dörfern herab. Schließlich kam er nach Embrun, drang des Nachts in die Kathedrale ein und plünderte die Sakristei. Seine Raubzüge versetzten das ganze Land in Schrecken. Die Gendarmen waren ihm auf den Fersen, aber vergeblich. Immer wieder entkam er; zuweilen leistete er sogar bewaffneten Widerstand. Er war tollkühn und elend.

Inmitten dieser Schrecken traf der Bischof ein. Er befand sich gerade auf einer Amtsreise nach Chastelar. Der Bürgermeister besuchte ihn und empfahl ihm, umzukehren. Cravatte hielt das Bergland bis zur Arche und darüber hinaus in Atem; selbst mit einer Eskorte zu reisen sei gefahrvoll. Es bedeute, nutzlos drei oder vier Gendarmen in Gefahr zu bringen.

»Allerdings«, sagte der Bischof, »ich wünsche auch ohne Eskorte zu reisen.«

»Aber was fällt Ihnen ein!« rief der Bürgermeister.

»Doch, ich lehne es ab, mit Gendarmen zu reisen, und ich breche in einer Stunde auf.«

»Sie brechen auf?«

»Allerdings.«

»Und allein?«

»Allein.«

»Monsignore, das werden Sie nicht tun.«

»Ich habe da«, erwiderte der Bischof, »oben in den Bergen eine kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Die Leute dort sind mir gute Freunde. Sanfte, rechtschaffene Hirten. Von dreißig Ziegen, die sie hüten, gehört ihnen eine, und sie flechten sehr hübsche Wollschnüre und spielen auf kleinen Flöten mit sechs Klappen Lieder aus den Bergen. Ich muß ihnen von Zeit zu Zeit etwas von Gott erzählen. Was sollten sie von einem Bischof denken, der sich fürchtet, was sollen sie von mir halten, wenn ich nicht komme?«

»Aber, Monsignore, die Räuber – –?«

»Halt«, sagte der Bischof, »die darf ich auch nicht vergessen. Sie haben recht. Ich könnte ihnen begegnen. Die haben es besonders nötig, daß ich ihnen von Gott spreche.«

»Monsignore, das sind Banditen! Eine Horde Wölfe!«

»Herr Bürgermeister, vielleicht hat Jesus mich über sie zum Hirten eingesetzt. Wer begreift die Vorsehung?«

»Monsignore, sie werden Sie ausrauben.«

»Ich habe ja nichts.«

»Dann werden sie Sie totschlagen.«

»Einen alten Priester, der landein zieht und Gebete murmelt? Wozu?«

»Mein Gott, wenn Sie ihnen begegnen!«

»Ich werde sie um ein Almosen für meine Armen bitten.«

Man mußte ihn gewähren lassen. Nur in Begleitung eines Knaben, der sich ihm als Führer angeboten hatte, machte er sich auf den Weg. Seine Unbeugsamkeit erregte im ganzen Lande großes Aufsehen und gab Anlaß zu schlimmen Befürchtungen.

Weder seine Schwester noch Frau Magloire nahm er mit. Auf einem Maultier ritt er über das Gebirge, begegnete niemand und kam wohlbehalten bei seinen Freunden, den Hirten, an. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, predigte, erledigte seine Amtsgeschäfte, gab ihnen nützliche Lehren. Als er abreisen sollte, beschloß er, ein feierliches Tedeum abzuhalten. Er sprach darüber mit dem Pfarrer. Es ergab sich, daß kein bischöfliches Ornat aufzutreiben war. Man konnte ihm ein einfaches Meßgewand, wie es die Landpfarrer benützen, mit verbliebenen Damastverbrämungen und falschen Goldtressen anbieten.

»Nun, Herr Pfarrer«, sagte der Bischof, »kündigen wir unser Tedeum an. Alles wird sich finden.«

»Man fragte ringsum in den Kirchen an, aber alle diese dürftigen Landpfarreien zusammen konnten nicht genug Paramente in ihren Sakristeien aufbringen, um einen Domkantor anständig zu bekleiden.

Während man sich noch den Kopf zerbrach, wie diesem Mangel abzuhelfen wäre, wurde von zwei unbekannten Reitern, die sich sofort wieder davonmachten, eine mächtige Truhe in das Pfarrhaus gebracht und für den Herrn Bischof abgegeben. Man öffnete sie und fand darin einen Chorrock aus goldgewirktem Tuch, eine diamantenbesetzte Mitra, das Kreuz eines Erzbischofs, einen prunkvollen Krummstab, kurz, alle die bischöflichen Gewänder, die einen Monat vorher aus der Schatzkammer von Notre Dame zu Embrun geraubt worden waren. In der Truhe lag ein Zettel, auf dem geschrieben stand:

»Dies sendet Cravatte dem Bischof Bienvenu.«

»Habe ich nicht gesagt, daß sich alles finden wird!« rief der Bischof. Und lächelnd fügte er hinzu: »Wer sich mit dem Pfarrerrock begnügt, dem sendet Gott das Ornat eines Erzbischofs.«


Neues Licht

Einige Zeit später tat der Bischof etwas, worüber die ganze Stadt noch mehr in Erstaunen geriet als über die Reise durch das Gebiet der Banditen.

In der Umgebung von Digne führte ein Mann ein einsames Leben. Dieser Mensch, um das Furchtbare kurz herauszusagen, war ein ehemaliges Mitglied des Konvents. Er hieß G. Von dem Konventsmitglied G. sprach man in der kleinen Welt, die Digne hieß, nur mit Abscheu. Ein Mitglied des Konvents! – Wer hielte das für möglich?! Das hatte es zur Zeit gegeben, als jeder den andern duzte und Bürger nannte. Dieser Mensch war fast ein Ungeheuer. Er hatte nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber viel hatte nicht gefehlt! Fast ein Königsmörder! Es war schrecklich. Warum hatte man ihn nicht nach der Rückkehr der angestammten Familie vor das Profosengericht gestellt? Man hätte ihn ja nicht aufs Schafott bringen müssen, um jeden Preis, man hätte Milde walten lassen können, gut, aber eine anständige Verbannung auf Lebensdauer war doch das mindeste, was man verlangen durfte. Man hätte schließlich ein Exempel statuieren sollen! Überdies war dieser Mensch noch dazu ein Atheist, wie sich das ja bei seinesgleichen von selbst versteht.

Gänsegeschnatter über einen Geier.

War übrigens dieser G. ein Geier? Ja, wenigstens nach der Wildheit zu schließen, mit der er sich in der Einsamkeit vergrub. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, war er ja von den Verbannungsdekreten nicht betroffen und durfte sich in Frankreich aufhalten.

Er wohnte drei viertel Stunden von der Stadt entfernt, abseits von jeder menschlichen Siedlung, fern von allen Wegen, in einem versteckten Winkel eines einsamen Tales. Dort hatte er, wie es hieß, ein Stück Acker, eine Höhle – einen Zufluchtsort. Keine Nachbarn; nicht einmal, daß jemand dort vorüberkam. Seit er in jenem Tal wohnte, war das Gras über den Pfad gewachsen. Man sprach von jenem Ort wie vom Hause des Henkers.

Der Bischof jedoch dachte an den Mann, sah von Zeit zu Zeit hinab in jenes Tal und ließ seinen Blick auf der Baumgruppe verweilen, die am fernen Horizont das Haus des alten Konventsmitgliedes bezeichnete. Dort ist eine Seele, dachte er, die einsam ist.

Ich schulde ihm einen Besuch, empfand er.

Doch wollen wir es offen einbekennen, dieser Gedanke schien ihm, so natürlich er auch im ersten Augenblick war, nach kurzer Überlegung seltsam und unmöglich, ja widerwärtig. Im Grunde genommen teilte er die allgemeine Meinung, und das Konventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich dessen klar bewußt war, ein Gefühl ein, das an der Grenze des Hasses liegt.

Indessen, darf die Räude des Schafes den Hirten zurückscheuchen? Nein. Aber welch ein Schaf war das nun!

Der gute Bischof befand sich in einer schwierigen Lage. Manchmal machte er sich auf den Weg, um dorthin zu gehen, kam aber unverrichteterdinge wieder zurück.

Eines Tages hieß es in der Stadt, ein junger Hirt, der dem alten G. diente, sei um einen Arzt gekommen; der alte Schuft sterbe, er sei bereits gelähmt und werde die Nacht nicht überleben.

Gott sei Dank, meinten manche.

Der Bischof nahm seinen Stock, schlüpfte in den Mantel, denn seine Soutane war bereits allzu schäbig, oder auch, um sich nicht dem kalten Abendwind auszusetzen, und machte sich auf den Weg.

Die Sonne berührte bereits den Horizont, als der Bischof den fluchbeladenen Ort erreichte. Nicht ohne Herzklopfen sah er sich endlich der Hütte gegenüberstehen. Er überquerte einen Graben, stieg über eine Hecke, gelangte durch einen Vorgarten an einen Platz, von dem aus er zwischen hohem Gesträuch die Behausung erkannte. Es war eine niedrige, einfache, saubere Hütte mit einer vergitterten Fassade. Vor der Tür saß in einem Rollstuhl, wie ihn die Landleute gebrauchen, ein Mann mit weißen Haaren, der der Sonne zulächelte. Neben ihm stand ein junger Bursche, wohl jener Hirt, und reichte ihm eine Schale Milch.

Während der Blick des Bischofs auf ihm ruhte, wandte sich der Greis an den Knaben.

»Danke«, sagte er, »ich brauche nichts mehr.« Sein freundlicher Blick hatte sich von der Sonne gelöst und ruhte jetzt auf dem Burschen.

Der Bischof trat näher. Das Geräusch seiner Schritte veranlaßte den Greis, sich umzuwenden, und sein Gesicht zeigte alle Verwunderung, die man nach einem langen Leben noch zu empfinden vermag.

»Seit ich hier bin«, sagte er, »ist dies das erstemal, daß man zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

»Ich heiße Bienvenu Myriel.«

»Bienvenu Myriel. Diesen Namen habe ich gehört. Sind Sie der, den das Volk Bischof Bienvenu nennt?«

»Derselbe.«

Der Greis lächelte leise.

»Demnach sind Sie mein Bischof?«

»In gewissem Sinne …«

»Treten Sie ein, mein Herr.«

Das Konventsmitglied bot dem Bischof die Hand, aber der nahm sie nicht. Er sagte nur:

»Ich freue mich zu sehn, daß man mich falsch unterrichtet hat. Sie scheinen mir nicht krank zu sein.«

»Ich werde bald ganz gesund sein«, erwiderte der Greis. Und nach einer Pause: »In drei Stunden sterbe ich. Ich verstehe mich ein wenig auf Medizin. Ich weiß, wie der Tod sich vorbereitet. Gestern waren nur die Füße kalt, heute ist die Kälte bis zu den Knien hinaufgestiegen; jetzt fühle ich, wie sie langsam zum Leib hinansteigt. Sobald sie das Herz erreicht, wird es mit mir aus sein. Schönes Wetter heute, ja? Ich habe mich herausfahren lassen, um einen letzten Blick auf all diese Dinge zu werfen. Sprechen Sie ruhig, es strengt mich nicht an. Sie taten recht, einen Mann zu besuchen, der stirbt. Es ist gut, in diesem Augenblick nicht allein zu sein. Man hat so seine besonderen Wünsche. Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt, aber ich weiß, daß meine Kraft kaum noch drei Stunden vorhält. Dann ist Nacht. Nun, was tut’s? Sterben ist eine einfache Sache. Man braucht dazu keine Morgensonne. Ich werde im Licht der Sterne sterben.«

Der Greis wandte sich dem Hirten zu.

»Geh schlafen, du. Du hast gestern nacht gewacht, du bist müde.«

Der Junge trat in die Hütte. Der Alte folgte ihm mit den Augen und sagte leise:

»Während er schläft, werde ich sterben. Gute Nachbarschaft für zwei Arten Schlaf.«

Der Bischof war nicht so tief gerührt, wie man es hätte vielleicht erwarten sollen. Das war eine Art zu sterben, in der nichts von Gott zu fühlen war. Und um alles zu sagen – denn auch die kleinen Widersprüche in großen Herzen dürfen nicht unerwähnt bleiben – , er, der lachte, wenn man ihn »hoher Herr« ansprach, empfand es doch ein wenig peinlich, daß er hier nicht »Monsignore« angesprochen wurde; fast fühlte er sich versucht, sein Gegenüber »Bürger« anzureden. Er hatte eine Anwandlung, mit dem Mann in jener groben Vertraulichkeit zu sprechen, die bei Priestern und Ärzten so gewöhnlich ist, ihm aber sonst fremd war. Dieser Mann, dieses Konventsmitglied, dieser Volksvertreter war ein Mächtiger der Erde gewesen, und vielleicht zum erstenmal in seinem Leben fühlte der Bischof eine Neigung, hart zu sein.

Der Alte dagegen ließ seinen Blick bescheiden und herzlich auf dem Fremden ruhen, und es war, als ob die Demut dessen in ihm fühlbar würde, der sich anschickt, in Staub zu zerfallen.

Der Bischof konnte sonst Neugierde nicht vertragen, sie galt ihm beinahe als Beleidigung; doch konnte er sich diesmal nicht versagen, das Konventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit zu betrachten, die ihren Ursprung nicht in der Sympathie hatte und die er sich sonst, jedem anderen Menschen gegenüber, wohl selbst verargt hätte. Aber ein Konventsmitglied stand für ihn gewissermaßen außerhalb des Gesetzes, sogar außerhalb des Gebots der Liebe. Der alte G. mit seiner Ruhe, seiner fast aufrechten Haltung und kräftigen Stimme war einer jener imposanten Achtzigjährigen, die den Physiologen in Erstaunen setzen. Die Revolution hat viele Menschen hervorgebracht, die das Format ihrer großen Zeit hatten. Man spürte, daß dieser Greis seinen Mann gestanden hatte. Noch an der Schwelle des Todes hatte er seine männliche Kraft bewahrt. Sein klarer Blick, seine feste Sprache, sein kräftiges Achselzucken konnte den Tod in Verlegenheit setzen. Asrael, der Todesengel der Mohammedaner, wäre vor seiner Schwelle umgekehrt und hätte geglaubt, er stehe vor einer falschen Tür. G. schien zu sterben, weil er selbst einverstanden war. Auch sein Todeskampf hatte etwas Freiwilliges, Selbstgewolltes. Nur die Beine waren unbeweglich. Sie waren tot und kalt, während der Kopf noch in voller Kraft lebte, sie waren bereits ergriffen vom Reich der Schatten, während das Haupt noch in das Licht ragte. In diesem Augenblick glich G. jenem König aus dem orientalischen Märchen, dessen Oberkörper Fleisch, dessen Unterkörper aber Marmor ist.

Eine Steinbank war da, der Bischof setzte sich. Unvermittelt begann er zu sprechen.

»Ich beglückwünsche Sie«, sagte er nicht ohne Vorwurf, »denn Sie haben wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt.«

Das Konventsmitglied schien den bitteren Beigeschmack des Wortes »wenigstens« nicht zu beachten. G. lächelte nicht mehr, als er sagte:

»Beglückwünschen Sie mich nicht zu voreilig, mein Herr: ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt.«

Das war hart gegen hart gesprochen.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Bischof.

»Daß der Mensch einen Tyrannen hat, die Unwissenheit. Gegen ihn habe ich gestimmt. Dieser Tyrann hat das Königtum, die verfälschte Autorität, ersonnen. Aber die Wissenschaft ist die wahre Autorität. Nur von ihr darf der Mensch sich führen lassen.«

»Und von seinem Gewissen«, fügte der Bischof hinzu.

»Das ist dasselbe. Das Gewissen ist jener Teil der Wissenschaft, der uns angeboren ist.«

Etwas erstaunt hörte der Bischof Bienvenu diese Sprache, die ihm neu war.

»Was Ludwig XVI. betrifft«, fuhr das Konventsmitglied fort, »so habe ich gegen seinen Tod gestimmt. Ich halte es nicht für mein Recht, Menschen zu töten, aber es ist meine Pflicht, das Übel auszurotten. Ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt, für das Ende der Prostitution der Frauen, der Sklaverei der Männer, der Unwissenheit der Kinder. Das war mein Ziel, als ich für die Republik stimmte, für Brüderlichkeit, Eintracht, Aufstieg! Ich wollte mitwirken am Sturz der Vorurteile und Irrtümer. Ihre Vernichtung soll uns das Licht bringen. Wir haben die alte Weltordnung gestürzt, dieses Gefäß allen Elends, und so ist aus ihr eine Freudenurne geworden.«

»Die Freude war gemischt«, meinte der Bischof.

»Sie mögen sagen, sie war getrübt; und heute, nach jener verhängnisvollen Wiederkehr des Vergangenen, ist sie vollends verschwunden. Ach, das Werk ist unvollendet, ich gebe es wohl zu. Wir haben das alte Regime zerstört, aber die Ideen, auf denen es fußte, konnten wir nicht unterdrücken. Es genügte nicht, den Mißbrauch abzuschaffen. Eine neue Gesittung mußte entwickelt werden. Die Mühle ist nicht mehr, aber noch immer weht derselbe Wind.«

»Sie haben zerstört. Das mag nützlich sein, aber ich mißtraue einer Zerstörung, die aus dem Zorn entsteht.«

»Auch das Recht kennt den Zorn, mein Herr; der Zorn beleidigten Rechtsgefühls ist ein Element des Fortschritts. Man mag sagen, was man will, die französische Revolution ist seit dem Erscheinen Christi der gewaltigste Schritt, den das Menschengeschlecht vorwärts getan hat. Sie hat alles soziale Unrecht ausgeglichen. Sie hat die Geister besänftigt. Sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt. Sie hat der ganzen Erde den Stempel ihrer Zivilisation aufgedrückt. Sie war gütig. Sie ist die Heiligung des Menschenbegriffs.«

»Und dreiundneunzig?«

Mit erhabener Feierlichkeit richtete sich das Konventsmitglied in seinem Stuhle auf und rief, so laut ein Sterbender zu sprechen vermag:

»Ach, da wären Sie also! 1793! Darauf habe ich gewartet! Oh, fünfzehn Jahrhunderte lang hat diese Wolke sich zusammengeballt, dann ist sie geborsten, und nun klagt ihr den Blitz an.«

Vielleicht fühlte der Bischof, ohne sich selbst dessen ganz bewußt zu werden, daß etwas in ihm unsicher wurde. Aber er bewahrte Haltung.

»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Gerechtigkeit ist. Der Blitz darf sich nicht irren. Wie steht es mit Ludwig XVII.?«

Das Konventsmitglied streckte die Hand aus und ergriff den Arm des Bischofs.

»Ludwig XVII.? Nun, wen beklagen Sie? Das unschuldige Kind? Gut, ich beklage es mit Ihnen. Das Königskind? Das wäre zu erwägen. Für mich ist der Bruder des Cartouche, dieses unschuldige Kind, das auf dem Grèveplatz an den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, nur weil es eben der Bruder jenes Cartouche war, nicht minder beklagenswert als der Enkel jenes Ludwig XV., dieses unschuldige Kind, das im Temple zu Tode gemartert wurde, eben weil es der Enkel jenes Ludwig XV. war.«

»Mein Herr«, sagte der Bischof, »ich liebe es nicht, daß Sie diese Namen in einem Atem nennen.«

»Cartouche? Ludwig XV.? Welchen von beiden bevorzugen Sie?«

Eine Pause trat ein. Der Bischof bedauerte fast, hierhergekommen zu sein, und doch fühlte er sich seltsam berührt und ergriffen.

»Ja, mein Herr«, fuhr das Konventsmitglied fort, »Sie lieben nicht die Härte der Wahrheit. Christus … der liebte sie. Der nahm eine Geißel und trieb das Pack aus dem Tempel. Seine Geißel sagte rauhe Wahrheiten. Wenn er sagte, sinite parvulos, lasset die Kindlein zu mir kommen, so machte er zwischen den Kindern keinen Unterschied. Ihm war es nicht peinlich, den Jungen des Barabbas und den des Herodes einzuladen. Die Unschuld, mein Herr, krönt sich selbst. Sie bedarf keiner Auszeichnung. Sie ist an sich erhaben, herrlich – ob sie in Lumpen gekleidet ist oder in Seidengewänder, die mit den königlichen Lilien geschmückt sind.«

»Das ist wahr«, sagte der Bischof leise.

»Einen Augenblick«, sagte das Konventsmitglied, »Sie erwähnten Ludwig XVII. Verstehen wir uns richtig: sind es die Unschuldigen, alle die kleinen Märtyrer, die niedrigen und die hohen, die wir beklagen? Wenn es so ist, dann will ich einstimmen. Gut, aber dann dürfen wir nicht bei 1793 stehenbleiben, unsere Tränen müssen früher einsetzen. Ich will mit Ihnen die Kinder der Könige beklagen, wenn Sie mit mir einstimmen in die Klage um die Kinder des Volkes.«

»Ich beklage alle«, sagte der Bischof.

»Gut«, rief G., »und wenn die Waagschale sich senken soll, dann sei es auf der Seite des Volkes, denn es leidet seit längerer Zeit.«

Wieder trat eine Pause ein. Das Konventsmitglied brach sie. Der Greis stützte sich auf den Ellbogen, kniff mit Daumen und Zeigefinger eine Falte in seine Wange, wie man es wohl mechanisch tut, wenn man einen anderen verhört, und stellte den Bischof streng zur Rede.

»Ja, mein Herr, seit langem leidet das Volk. Sie aber kommen zu mir und sprechen mir von Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seit ich in dieser Gegend lebe, bin ich einsam, setze meinen Fuß nicht vor meine Schwelle, sehe niemand als diesen Jungen, der mir hilft. Wohl ist Ihr Name zu mir gedrungen, ich muß sagen, er klang nicht übel, aber das beweist nichts. Geschickte Leute haben es nicht schwer, dem braven Volk etwas glaubhaft zu machen. Übrigens, ich habe Ihre Equipage nicht vorfahren gehört, Sie haben sie wohl da hinter dem Wald, am Kreuzweg stehengelassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie erklären, Sie seien der Bischof, aber das gibt mir für Ihre moralische Persönlichkeit keine Gewähr. Darum wiederhole ich meine Frage. Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, ein Kirchenfürst, einer dieser mit stattlichen Renten ausgestatteten Herren, denen es nicht an fetten Pfründen fehlt, Sie haben als Bischof von Digne fünfzehntausend Franken Gehalt und zehntausend Franken Nebeneinkünfte, also zusammen fünfundzwanzigtausend Franken! Sie gehören zu jenen, die eine gute Küche führen, denen es an livrierten Dienern nicht fehlt, die freitags Wasserhühner essen, die in einer Galakutsche, Lakaien hintenauf, einherfahren – und das im Namen Jesu Christi, der barfuß ging. Sie sind ein Prälat. Renten, Palast, Pferde, Diener, einen guten Tisch, alle Annehmlichkeiten des Lebens, all das genießen Sie, aber das sagt mir nur wenig. Über Ihren inneren, wesentlichen Wert weiß ich nichts, obwohl Sie doch zu mir gekommen sind, um mir die Tröstungen der Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?«

Der Bischof senkte den Kopf und sagte:

»Vermis sum.«

»Ein Erdenwurm, der in der Karosse fährt«, murmelte das Konventsmitglied. Jetzt war der alte Rebell herrisch und der Bischof demütig.

»Mein Herr«, sagte der Bischof, »sagen Sie mir doch, wieso meine Equipage, die dort hinter den Bäumen wartet, mein wohlbestellter Tisch mit den Wasserhühnern, die ich freitags esse, und meine Rente von fünfundzwanzigtausend Livres, wieso schließlich mein Palast mit meinen Lakaien beweist, daß das Mitleid keine Tugend, die Milde keine Pflicht und das Jahr 93 nicht verabscheuungswürdig ist?«

Das Konventsmitglied strich sich über die Stirn, wie um eine Wolke zu verscheuchen.

»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich tat unrecht, mein Herr. Sie sind hier in meinem Hause, Sie sind mein Gast. Ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sie erörtern meine Gedanken, also habe ich mich darauf zu beschränken, Ihre Argumente zu bekämpfen. Ihr Reichtum und Ihr behagliches Leben bieten mir im Kampf einen Vorteil, den ich nicht benützen darf. Es wäre gegen den guten Geschmack. Ich verspreche Ihnen, es in Zukunft nicht mehr zu tun.«

»Ich danke Ihnen«, sagte der Bischof.

»Gut, Sie sagen also, das Jahr 93 sei verabscheuungswürdig? Wir seien erbarmungslos gewesen?«

»Erbarmungslos, das ist es. Was halten Sie von Marat, der in die Hände klatschte, als er die Guillotine sah?«

»Und was halten Sie von Bossuet, der die Protestantenmetzeleien mit einem Tedeum feierte?«

Diese Antwort war hart, aber sie traf scharf wie eine Degenspitze. Der Bischof fuhr zusammen und fand keine Erwiderung. Es war ihm schmerzlich, Bossuet in diesem Zusammenhang nennen zu hören. Auch die besten Geister haben ihren Fetisch und fühlen sich verletzt, wenn die Logik mit ihnen respektlos umspringt.

Der alte Revolutionär begann schwer zu atmen; die Atemnot des Todeskampfs würgte ihn in der Kehle; noch immer strahlte das Licht in seinen Augen.

»Wir können noch ein wenig sprechen. Sie verabscheuen das Jahr 93 und finden es erbarmungslos, aber wie war die Monarchie? Oh, ich beklage das Schicksal Marie Antoinettes, aber auch jene arme Hugenottin verdient mein Mitleid, die 1685 unter Ludwig dem Großen, obwohl sie noch ihr Kind nährte, nackt bis zum Gürtel an einen Pfahl gebunden und vor die Wahl gestellt wurde, ihr Kind vor ihren Augen töten zu lassen oder gegen ihr Gewissen ihrem Glauben abzuschwören. Wie beurteilen Sie diese einer Mutter bereitete Tantalusqual? Mein Herr, beachten Sie es wohl, die französische Revolution hatte ihren großen Sinn. Die Zukunft wird die Verirrungen ihres Zorns entschuldigen, denn ihr Ergebnis war eine Verbesserung der Welt. Sie hat grausam zugeschlagen, aber sie hat dem Menschengeschlecht Wohltaten erwiesen. Doch ich will nicht weitersprechen, ich bin es allzu leid, und der Tod ist nahe.«

Er ahnte nicht, daß er Schritt für Schritt die inneren Verschanzungen des Bischofs gestürmt hatte. Eine nur blieb ihm noch, ein letzter Hort des Widerstandes.

»Der Fortschritt muß an Gott glauben«, sagte er. »Das Gute verträgt keine unfrommen Diener. Der Atheist ist ein schlechter Führer des Menschengeschlechts.«

Der alte Volksvertreter antwortete nicht. Ein Zittern durchschauerte ihn. Er blickte zum Himmel auf, und eine Träne trat in sein Auge. Fast stammelnd, den Blick in die Tiefe des Himmels gesenkt, flüsterte er:

»O du, Ideal, nur du bist!«

Der Bischof empfand eine unaussprechliche Erschütterung.

Nach einem Schweigen wies der Greis zum Himmel hinauf und sagte:

»Es gibt eine Unendlichkeit dort droben. Wenn sie von keinem Ich belebt wäre, wäre das Ich ihre Begrenzung; sie wäre nicht mehr unendlich; mit anderen Worten, sie wäre nicht mehr. Aber sie ist. Darum gibt es ein Ich in ihr, das Ich der Unendlichkeit – Gott!«

Der Sterbende hatte diese letzten Worte mit erhobener Stimme gesprochen, in ekstatischer Verzückung, als ob er jenes höhere Wesen erschaue. Als er ausgesprochen hatte, schlossen sich seine Augen. Die Anstrengung hatte ihn erschöpft. Offenbar hatte er in einer Minute die Kraft verbraucht, die ihm verblieben war. Seine Worte hatten ihn jenem genähert, der im Tode ist. Der letzte Augenblick war nahe.

Der Bischof begriff; als Priester war er hierhergekommen, war von kalter Ablehnung stufenweise bis zu höchster Rührung gelangt; jetzt nahm er diese zerfurchte, eisige Hand und beugte sich über den Sterbenden.

»Dies ist die Stunde Gottes. Wäre es nicht beklagenswert, wenn wir einander vergeblich begegnet wären?«

Der Revolutionär blickte auf. Ernst, den Mißmut überschattete, lag auf seiner Stirn.

»Herr Bischof«, sagte er mit einer Langsamkeit, die vielleicht mehr seiner Würde als der Schwäche seiner Todesstunde entsprang, »mein ganzes Leben war dem Studium und der Betrachtung gewidmet. Sechzig Jahre war ich alt, als mein Vaterland mich rief und befahl, daß ich mich in seine Angelegenheiten mische. Ich habe gehorcht. Ich sah Mißbräuche und bekämpfte sie. Ich sah Tyrannei, und ich habe sie niedergerungen. Für Recht und Gesittung habe ich gekämpft. Unser Land war vom Feinde bedrückt, ich habe es verteidigt. Frankreich war bedroht, ich habe mein Leben eingesetzt. Ich war nicht reich, und ich bin jetzt arm. Ich war einer der Führer des Staates, die Schatzkammern waren gefüllt mit Gold und Silber, so daß wir die Mauern stützen mußten, aber ich aß zu Mittag für zweiundzwanzig Sous in der Rue de l’Arbre-Sec. Ich habe den Unglücklichen geholfen, habe die Bedrückten aufgerichtet. Wenn ich Altartücher zerriß – und das habe ich getan –, so geschah es, um die Wunde des Vaterlandes zu verbinden. Sooft das Menschengeschlecht dem Licht entgegenstrebte, war ich auf seiner Seite. Wenn der Fortschritt erbarmungslos war, stellte ich mich ihm entgegen. Es geschah, daß ich meine eigenen Feinde, Leute von euch, beschützte. In Peteghem, in Flandern, dort, wo die Könige aus dem Merowingergeschlecht den Winterpalast hatten, gibt es ein Kloster der Urbanistinnen, die Abtei der Ste. Claire en Beaulieu – die habe ich 1793 gerettet. Ich tat meine Pflicht, so gut ich konnte. Man hat mich verjagt, gehetzt, verfolgt, böser Dinge bezichtigt, verleumdet, verflucht, proskribiert. Seit vielen Jahren schon sehe ich, ein Greis mit weißen Haaren, wie viele Leute auf mich verächtlich herabblicken, der armen, unwissenden Menge bin ich ein Gezeichneter; gut, ich nehme mein Schicksal an, ich hasse niemand. Aber jetzt zähle ich sechsundachtzig Jahre und werde sterben. Was wollen Sie noch von mir?«

»Ihren Segen«, sagte der Bischof. Er kniete nieder.

Als er aufblickte, hatte das Antlitz des Konventsmitglieds einen erhabenen Ausdruck angenommen. Der Greis war tot.


Eine Einschränkung

Es wäre verfehlt, wollte man aus dem Gesagten schließen, Monsignore Bienvenu sei ein »philosophisch veranlagter Geistlicher« oder ein »patriotischer Pfarrer« gewesen. Seine Begegnung mit dem Konventsmitglied G. hatte ihn in Staunen versetzt und noch weicher gestimmt als je. Das war alles.

Obwohl Monsignore Bienvenu kein Mann der Politik war, muß vielleicht an dieser Stelle doch in aller Kürze gesagt werden, wie er zu den Ereignissen seiner Zeit Stellung nahm.

Gehen wir einige Jahre zurück.

Kurz nach seiner Ernennung zum Bischof hatte der Kaiser Herrn Myriel zum Baron erhoben, zugleich mit einigen anderen Bischöfen. Wie bekannt, wurde der Papst in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1809 verhaftet. Bei dieser Gelegenheit wurde Myriel von Napoléon in die Synode der französischen und italienischen Bischöfe berufen, die in Paris zusammentreten sollte. Diese Synode tagte in Notre-Dame und trat am 15. Juni 1811 unter dem Vorsitz des Kardinals Fesch zusammen. Myriel war einer der fünfundneunzig Bischöfe, die an dieser Sitzung teilnahmen. Er erschien noch drei- oder viermal bei den Sitzungen, aber als Bischof einer Diözese im Hochland, als Mensch, der fast unmittelbar in der Natur lebte, an ländliche Sitten gewohnt, brachte er in diese Gesellschaft erhabener Herren Ideen mit, die dort peinlich auffielen. Er wurde bald nach Digne zurückgeschickt. Man fragte ihn, warum er so rasch heimgekehrt sei, und er sagte:

»Ich war ihnen peinlich. Die Luft der Außenwelt kam mit mir in den Saal. Ich war ihnen unangenehm wie eine offene Tür. Was wollen Sie, diese Herren sind Fürsten, ich bin nur ein armer Bauernbischof.«

Er hatte in der Tat Mißfallen erregt.

Da wir nichts verheimlichen wollen, müssen wir hinzufügen, daß er Napoléons Niedergang kalt aufnahm. Seit 1813 nahm er an den gegen den Kaiser gerichteten Kundgebungen teil und spendete ihnen Beifall. Als Napoléon von der Insel Elba zurückkehrte, wollte der Bischof ihn nicht besuchen und weigerte sich, während der Hundert Tage in den Kirchen für den Kaiser beten zu lassen.

Außer seiner Schwester, Fräulein Baptistine, hatte er noch zwei Brüder; der eine war General, der andere Präfekt. Er stand mit ihnen in lebhaftem Briefwechsel. Zu dem ersteren aber hatte er einige Zeit lang die Beziehungen abgebrochen, weil er nach Napoléons Landung in Cannes an der Spitze von zwölfhundert Mann, die den Kaiser verfolgen sollten, es so angestellt hatte, daß Napoléon ihm entwischte. Mit dem anderen Bruder, dem ehemaligen Präfekten, einem wackeren und würdigen Manne, der in Paris lebte, wechselte er freundschaftliche Briefe.

Im übrigen war er in allen Dingen gerecht, wahr, klug, bescheiden und würdig. Ein guter Priester, ein Weiser und ein Mann. Auch in seinen politischen Ansichten war er – von jener Einzelheit abgesehen, die wir berichteten und die wir hart verurteilen – tolerant und einsichtsvoll, vielleicht mehr als wir.

Der Torwart des Stadthauses war vom Kaiser in Amt und Würden eingesetzt worden. Es war ein ausgedienter Unteroffizier der alten Garde, einer, der Austerlitz mitgemacht und dort das Kreuz der Legion bekommen hatte, Bonapartist vom Scheitel bis zur Sohle. Gelegentlich entschlüpften diesem armen Teufel unbedachte Äußerungen, die damals als aufrührerische Reden bewertet wurden. Seit das Bildnis des Kaisers von dem Kreuz der Ehrenlegion entfernt worden war, trug er nie mehr Uniform, um nicht das Kreuz anlegen zu müssen. Er hatte das kaiserliche Bildnis ehrfürchtig aus dem Kreuz entfernt, das Napoléon ihm selbst an die Brust geheftet hatte, aber die freie Stelle ließ er leer. »Lieber sterben«, sagte er, »als die drei Kröten auf meinem Herzen tragen.«

Oft machte er sich laut über Ludwig XVIII. lustig.

»Wenn der Alte mit seinem Podagra doch zum Teufel ginge! Wenn er sich doch mit seinen englischen Gamaschen und seiner Perücke zu den Preußen scheren möchte!« So verstand er es, in einem einzigen Fluch die beiden Dinge zu vereinen, die er auf der Welt am meisten verabscheute, England und Preußen. Er trieb es so toll, daß er aus seinem Amt gejagt wurde. Jetzt lag er brotlos mit Weib und Kindern auf der Straße. Der Bischof ließ ihn kommen, schalt ihn milde aus und machte ihn zum Türhüter der Hauptkirche. So war er in neun Jahren dank seinen frommen Handlungen und seinem gütigen Verfahren in ganz Digne Gegenstand zärtlicher Verehrung. Sogar sein Verhalten gegen Napoléon wurde von dem Volk, das seinen Kaiser anbetete, aber auch seinen Bischof liebte, verziehen und schweigend übergangen.


Monsignore Bienvenu ist einsam

Fast immer sind die Bischöfe von einem Schwarm junger Geistlicher umdrängt wie die Generäle von jungen Offizieren. In ihrer Gefolgschaft gedeihen diese Priester, die der heilige Franz von Sales, dieser feine Kopf, irgendwo Gelbschnäbelpriester nennt. Jede Karriere entwickelt Streber, die den Hochgekommenen den Hof machen. Jede Macht schafft sich ihre Gefolgschaft, jedes Glück seinen Hof. Wer immer es auf eine glänzende Zukunft abgesehen hat, sammelt sich um eine glänzende Gegenwart. Keine Metropole ohne ihren Stationskommandanten. Wenn ein Bischof über einen gewissen Einfluß verfügt, folgt ihm auf Schritt und Tritt eine Eskorte junger Cherubim aus den Seminaren, die um ihn einen undurchdringlichen Kreis bilden und aufpassen, daß sein Lächeln nicht einem Fremden zufällt. Dem Bischof gefallen, bedeutet eine Anwartschaft auf ein Unterdiakonat. Man will seinen Weg machen, und das Apostolat schließt das Canonicat nicht aus.

So wie es bei den Beamten den Dreispitz gibt, so unter den Männern der Kirche die Mitra. Da sind diese Bischöfe, die bei Hof gut angeschrieben sind, reich, in der Gesellschaft etwas gelten, ohne Zweifel zu beten verstehen, aber darum nicht minder geschickt sind, auch weltliche Bitten vorzutragen, und nicht anstehen, in den Vorzimmern der Großen zu sitzen; sie sind das Sinnbild der vereinigten Geistlichkeit und Diplomatie, eher Abbés als Priester, eher Prälaten als Bischöfe. Wohl dem, der in ihrem Schatten gedeiht. Überall haben sie Einfluß, und sie lassen auf Günstlinge und Schmeichler, auf alle diese gefälligen jungen Leute fette Pfarreien, Pfründen, Archidiakonate, Almosenierstellen und Ämter in den Kathedralen und bischöflichen Palais herabregnen. Indem sie selbst ihren Weg machen, schleppen sie ihre Satelliten hinter sich her; es ist wie bei der Sonne, die ihre Planeten durch das Weltall schleift. Von ihrem Glanz fällt etwas ab auf ihre Gefolgschaft. Je reicher die Diözese des Bischofs, um so fetter die Pfarre, die er seinem Günstling bieten kann. Und gar erst Rom! Ein Bischof, der es versteht, Erzbischof zu werden, ein Erzbischof, der es zum Kardinal bringt, nimmt dich als Konklavisten mit, du trittst in die Rota ein, bekommst das Pallium, wirst Kammerherr, Monsignore sogar, und wer erst Bischof ist, hat nur mehr einen Schritt zur Eminenz, und von der Eminenz zur Heiligkeit führt die Wahlurne. Das Barett darf immer von der Tiara träumen. Heutzutage ist der Priester der einzige Mensch, der es regelrecht zum König bringen kann – und zu welch einem König! Welch eine Pflanzschule der Hoffnungen ist doch ein Priesterseminar! Wie viele schüchtern errötende Chorknaben, wie viele junge Abbés tragen auf dem Kopf bereits den berühmten Korb mit den Eiern aus der Fabel? Wie oft wird gewöhnlicher Ehrgeiz für innere Berufung gehalten, und das noch in seliger Selbsttäuschung?

Monsignore Bienvenu, dieser bescheidene, arme, dabei höchst eigenartige Mensch, wurde nicht zu den großen Männern der Kirche gezählt. Man erkennt es schon daran, daß sich keine jungen Priester um ihn drängten. Wir haben schon gesagt, daß er in Paris nicht »gut ankam«. Kein zukunftsfreudiger Abbé wünschte sich an diesen greisen Einzelgänger zu klammern. Kein bescheidenes Pflänzlein wollte im Schatten dieses Baumes grünen. Seine Canonici und Großvikare waren gute alte Männer, Leute aus dem Volk wie er, denen die Diözese kein Sprungbrett zum Kardinalsamt war, die ihrem Bischof glichen und sich von ihm nur in dem einzigen unterschieden, daß sie bereits am Ende ihrer Karriere angelangt waren, während er doch ein Ziel erreicht hatte. Man wußte, daß Monsignore Bienvenu niemanden hochbrachte, und die jungen Leute, die aus seinem Seminar hervorgingen, ließen sich bald den Erzbischöfen von Aix oder Auch empfehlen und machten sich aus dem Staube. Denn schließlich, um es zusammenzufassen, man will vorwärtsgestoßen werden. Ein Heiliger, der die Selbstverleugnung übertreibt, ist ein gefährlicher Nachbar; man könnte sich leicht mit unheilbarer Armut anstecken, oder ein so steifes Rückgrat bekommen, daß es ein für allemal aus wäre mit dem Avancement; Tugenden, die man besser meidet. Darum wurde Monsignore Bienvenu allein gelassen. Wir leben in einer dumpfen Gesellschaft. Vorwärtskommen, das ist die höchste Weisheit der Korruption.

Nichts ist scheußlicher als dieses Ideal des Erfolges. Seine trügerische Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die Menge bedeutet Erfolg soviel wie geistige Überlegenheit. In unserer Zeit ist eine fast offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten und ist noch stolz darauf, seine Livree zu tragen. Wer das große Los gewinnt, gilt für einen klugen Mann. Wer triumphiert, ist ehrenwert. Von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen abgesehen, hat unser Jahrhundert, kurzsichtig, wie es ist, nur falsche Helden bewundert. Wenn ein Notar Abgeordneter wird, ein falscher Corneille einen Tiridates schreibt, ein Eunuch sich einen Harem zulegt, ein Säbelraßler zufällig eine Entscheidungsschlacht schlägt, ein Apotheker für eine Armee Pappsohlen liefert und damit vierhunderttausend Livres Beute stiehlt, ein Hausierer sich auf den Wucher legt und damit sieben oder acht Millionen zusammenrafft, ein Intendant bei seinem Amtsaustritt so reich ist, daß er Finanzminister werden könnte, dann gilt er heute für ein Genie, und man verwechselt, was leicht vergoldet ist, mit dem massiven Gold.

Zweites Buch
Der Fall

Abend nach einem Tagmarsch

An einem der ersten Tage des Oktobers 1815 betrat ein Mann, der zu Fuß reiste, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang die kleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die sich um diese Zeit am Fenster oder an der Türschwelle zeigten, betrachteten den Fremdling mit einer gewissen Unruhe. Es war schwer, sich einen herabgekommeneren Menschen als diesen vorzustellen. Er war von mittlerem Wuchse, stämmig und bei Kräften. Sein Alter hätte man mit sechsundvierzig oder achtundvierzig Jahren angeben können. Seinen Kopf bedeckte eine Mütze, deren Lederschirm sein sonnenverbranntes, schweißbedecktes Gesicht zum Teil verbarg. Sein Hemd aus grobem, gelbem Leinen, das am Halse durch einen kleinen silbernen Anker zusammengehalten wurde, ließ eine behaarte Brust sehen. Sein Halstuch hatte er wie einen Strick zusammengedreht, seine Hosen waren aus blauem Zwillich, zerschlissen und schäbig, das eine Bein am Knie blank gescheuert, das andere durchlöchert. Er trug eine zerrissene, graue Joppe, deren Ärmel am Ellbogen einen Flicken zeigten, einen vollen, gutverschnürten Tornister, einen wuchtigen Knotenstock, genagelte Schuhe, aber keine Strümpfe. Das Haar trug er kurzgeschoren, der Bart war lang.

Niemand kannte ihn. Offenbar war er nur auf dem Durchmarsch. Woher er kam? Aus dem Süden. Vielleicht vom Meere. Denn er betrat Digne durch dasselbe Tor, durch das Napoléon sieben Monate früher auf dem Wege von Cannes nach Paris eingezogen war. Sichtlich war er den ganzen Tag unterwegs gewesen. Er schien sehr müde. Frauen aus der Vorstadt, die zum Fluß hin liegt, hatten gesehen, wie er am Ende der Promenade, unter den Bäumen des Boulevard Gassendi, stehenblieb und aus einem Brunnen trank. Der Durst mußte ihn arg quälen, denn Kinder hatten beobachtet, daß er zweihundert Schritte später, am Marktplatz, wieder Wasser aus dem Brunnen schöpfte.

An der Ecke der Rue Poichevert angelangt, bog er links ab und wandte sich dem Stadthaus zu. Er trat ein und kam erst nach einer Viertelstunde wieder heraus. Ein Gendarm saß neben dem Eingang auf einer Steinbank, auf die General Drouot am 4. März gestiegen war, um der erregten Menge die Proklamation aus dem Golfe von Juan vorzulesen. Der Wanderer nahm die Mütze ab und grüßte den Gendarmen scheu. Der antwortete nicht, folgte ihm mit einem forschenden Blick und ging dann in das Haus.

Es gab damals in Digne eine hübsche Herberge, La Croix-de-Colbas, deren Wirt, ein gewisser Jacquin Labarre, in der Stadt wegen seiner Verwandtschaft mit einem anderen Labarre hoch im Ansehen stand, weil jener andere in Grenoble die Herberge zu den Trois Dauphins unterhielt und bei der Garde gedient hatte. Zur Zeit der Landung Napoléons im Golfe von Juan hatte man sich in jener Gegend viel mit der Herberge der Trois Dauphins beschäftigt. Es wurde erzählt, General Bertrand habe, als Fuhrmann verkleidet, im Januar dort zu den Stammgästen gehört, unter den altgedienten Soldaten Kreuze der Ehrenlegion und unter den Bürgern Napoléondors verteilt. Tatsache ist, daß der Kaiser bei seinem Einzuge in Grenoble nicht in der Präfektur absteigen wollte, sondern dem Bürgermeister antwortete: »Ich kenne hier einen braven Mann, bei dem kehre ich ein.« Und er war in den Trois Dauphins abgestiegen. Dieser Ruhm jenes Labarre aus Grenoble strahlte fünfundzwanzig Meilen weit, und es fiel auch etwas davon auf die Croix-de-Colbas ab. Man sagte von ihrem Wirt in der Stadt: er ist der Vetter jenes Labarre in Grenoble.

Zu dieser Herberge, der besten am Ort, lenkte der Wanderer seine Schritte. Er trat in die Küche ein, zu der man unmittelbar von der Straße aus gelangte. Alle Herde waren angeheizt, und auch im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Der Wirt, der auch sein eigener Koch war, stand über die Kessel gebeugt und überwachte die Zubereitung eines üppigen Abendbrots, das für eine Gesellschaft vergnügter Fuhrleute bestimmt war, die im Nebenzimmer warteten. Wer gereist ist, weiß, daß die Rollkutscher viel von gutem Essen halten. Am Bratspieß stak ein fettes Kaninchen, von Rebhühnern flankiert, und in den Kesseln brieten zwei mächtige Karpfen aus dem See von Lauzet und eine Forelle aus dem See von Alloz.

Als der Wirt die Tür sich öffnen und einen neuen Gast eintreten hörte, fragte er, ohne von seinen Kesseln aufzublicken:

»Was wünscht der Herr?«

»Ich möchte hier essen und schlafen.«

»Nichts leichter als das«, er wandte den Kopf, maß den Fremdling mit einem flüchtigen Blick und ergänzte: »vorausgesetzt, daß Sie bezahlen.«

Der Mann zog eine pralle Lederbörse aus der Tasche seiner Joppe und antwortete:

»Ich habe Geld.«

»In diesem Falle – ganz zu Ihren Diensten.«

Der Mann steckte die Börse wieder in die Tasche, entledigte sich seines Tornisters, stellte ihn neben der Tür zu Boden, behielt seinen Stock in der Hand und setzte sich am Kamin auf einen Schemel. Oktoberabende sind in Digne kalt, denn es liegt im Gebirge.

Im Hin- und Hergehen beobachtete der Wirt den Reisenden.

»Wird bald gegessen?« fragte der Mann.

»Gleich.«

Während der Neuankömmling sich an dem Kamin wärmte, an den er sich mit dem Rücken gelehnt hatte, zog der wackere Herbergsvater Jacquin Labarre einen Bleistift aus der Tasche und riß von einem alten Zeitungsblatt, das auf der Fensterbank lag, eine Ecke ab. Auf diesen Fetzen Papier schrieb er ein paar Zeilen, faltete sie, ohne zu siegeln, und steckte sie einem Knaben zu, der als Küchenjunge und Hausbursche diente. Der Wirt flüsterte ihm ein Wort zu, und der Junge lief eilig in Richtung Stadthaus fort.

Der Gast hatte nichts davon bemerkt.

»Wird bald gegessen?« fragte er von neuem.

»Gleich«, sagte der Wirt.

Der Knabe kehrte zurück. Er brachte ein Stück Papier, das der Wirt hastig entfaltete wie jemand, der eine Antwort erwartet. Er schien aufmerksam zu lesen, schüttelte dann den Kopf und blieb einen Augenblick lang nachdenklich. Endlich trat er zu dem Reisenden, der vor sich hinzubrüten schien.

»Herr, ich kann Sie nicht aufnehmen.«

Der Mann richtete sich auf seinem Schemel auf.

»Fürchten Sie, daß ich nicht bezahle? Wollen Sie, daß ich Geld erlege? Ich habe doch Geld, wie ich Ihnen bereits sagte.«

»Es ist nicht darum.«

»Warum dann?«

»Sie haben Geld …«

»Allerdings.«

»Aber ich habe kein Zimmer frei«, erklärte der Wirt.

»Gut, so weisen Sie mir einen Platz im Stall an«, erwiderte der Mann ruhig.

»Das kann ich nicht.«

»Warum?«

»Die Pferde nehmen den ganzen Platz ein.«

»Gut, also einen Winkel im Speicher. Eine Schütte Stroh. Wir werden nach dem Essen darüber sprechen.«

»Ich kann Ihnen nichts zu essen vorsetzen.«

Diese Erklärung, in ruhigem, aber festem Ton gegeben, machte den Fremden stutzig. Er erhob sich.

»Ha, ich sterbe Hungers. Seit Sonnenaufgang bin ich unterwegs. Zwölf Meilen bin ich gelaufen. Ich zahle. Ich muß etwas zu essen haben!«

»Ich habe nichts.«

Der Mann lachte auf und deutete nach dem Herd.

»Nichts? Und was ist dort?«

»Alles bestellt.«

»Von wem?«

»Von den Herren Rollkutschern.«

»Wie viele sind es?«

»Zwölf.«

»Aber das reicht für zwanzig Leute aus.«

»Sie haben alles bestellt und vorausbezahlt.«

Der Mann setzte sich und sagte gelassen:

»Ich bin in der Herberge, ich habe Hunger und bleibe.«

Der Wirt beugte sich zu ihm herab und sagte mit einer Betonung, die den andern erzittern ließ:

»Gehen Sie!«

Der Reisende hatte sich gebückt und stieß mit seinem Stock einige Kohlen ins Feuer. Jetzt wandte er sich lebhaft um, aber als er den Mund auftat, um zu antworten, sah ihn der Wirt fest an und fuhr leise fort:

»Keine überflüssigen Worte! Wollen Sie, daß ich Ihnen Ihren Namen sage? Sie heißen Jean Valjean. Und soll ich Ihnen sagen, wer Sie sind? Als ich Sie eintreten sah, habe ich Lunte gerochen und ins Stadthaus geschickt. Hier ist die Antwort. Können Sie lesen?«

Er reichte dem Fremden das entfaltete Papier, das den Weg von der Herberge zum Stadthaus und zurück gemacht hatte. Der Mann warf einen Blick darauf. Nach einem kurzen Schweigen sagte der Wirt:

»Ich bin zu jedermann höflich, das ist meine Gewohnheit. Gehen Sie.«

Der Mann senkte den Kopf, nahm seinen Tornister vom Boden auf und ging.

Er ging die Hauptstraße entlang. Er schritt vor sich hin, dicht an den Häusern entlang wie einer, der gedemütigt und erniedrigt worden ist. Nicht ein einziges Mal wandte er sich um. Hätte er es getan, so wäre ihm nicht entgangen, daß der Wirt der Croix-de-Colbas auf der Schwelle erschienen war, im Kreise aller Gäste seiner Herberge und vieler Leute von der Straße, und daß er mit dem Finger auf ihn zeigte; aus den mißtrauischen und erschreckten Blicken der Leute hätte er wohl erraten können, daß seine Ankunft in kurzer Zeit ein Ereignis der Stadt sein würde.

Aber von alledem merkte er nichts. Leute, die bedrückt sind, sehen sich nicht viel um. Sie wissen nur zu gut, daß ein schlimmes Schicksal ihnen folgt.

Einige Zeit ging er weiter, durchschritt Straßen, die er nicht kannte, achtete seiner Müdigkeit nicht, wie das in großer Trauer wohl geschehen mag. Plötzlich fühlte er lebhaften Hunger. Die Nacht brach herein. Er hielt Umschau, ob er nicht irgendwo ein Quartier für die Nacht fände.

Aus der guten Herberge hatte man ihn fortgeschickt, sie war ihm verschlossen; also suchte er ein bescheidenes Quartier, irgendeinen notdürftigen Unterschlupf.

In diesem Augenblick flammte am Ende der Straße ein Licht auf, ein Kiefernzweig, der an einer Eisenstange hing, zeichnete sich auf dem fahlen Himmel der Dämmerung ab. Dahin wandte er seine Schritte. Es war in der Tat eine Schenke, eine kleine Gastwirtschaft in der Rue de Chaffaut. Der Reisende blieb einen Augenblick stehen und sah durch das Fenster in ein niederes Gemach, das von einer kleinen Lampe auf dem Tisch und von einem großen Feuer im Kamin erhellt wurde. Einige Männer saßen auf den Bänken und tranken. Der Wirt wärmte sich am Feuer. Im Kamin hing ein Eisenkessel an einer Querstange. Man betritt diese Schenke, in der man auch Quartier finden kann, von der Straße aus oder durch eine andere Tür aus einem Hof, in dem Dünger liegt.

Der Reisende wollte nicht die Straßenpforte wählen.

Er schlich in den Hof, zögerte einen Augenblick, legte dann scheu die Hand auf die Klinke und öffnete.

»Wer ist da?« fragte der Wirt.

»Jemand, der zu essen und zu schlafen begehrt.«

»Gut. Hier gibt’s zu essen, und hier kann man schlafen.«

Der Fremde trat ein. Die Trinker wandten sich nach ihm um. Die Lampe beleuchtete ihn von der einen Seite, das Kaminfeuer von der anderen. Man besah sich ihn, während er seinen Tornister abnahm.

»Hier ist Feuer«, sagte der Wirt. »Das Abendbrot kocht im Topf. Wärmen Sie sich hier, Kamerad.«

Der Fremde setzte sich an den Kamin und streckte seine müden Beine aus. Ein wohliger Duft aus dem Kessel stieg ihm in die Nase. Sein Gesicht, soweit es unter der Kappe erkennbar war, nahm einen Ausdruck von Behagen an, hinter dem jedoch die scharfe Schrift des Elends nicht unlesbar wurde.

Es war übrigens ein Gesicht, das Festigkeit, Energie und Trauer erkennen ließ. Eine seltsame Mischung aus Demut und Strenge. Die Augen leuchteten unter den Brauen wie Feuer im Gestrüpp.

Unter den Gästen befand sich ein Fischhändler, der eben durch die Straßentür eingetreten war, nachdem er sein Pferd bei Labarre im Stall untergebracht hatte. Dieser Mann winkte den Wirt zu sich. Die beiden wechselten flüsternd einige Worte, während der Fremde versonnen am Feuer saß.

Jetzt trat der Wirt wieder an den Kamin, legte dem Fremden brüsk die Hand auf die Schulter und sagte:

»Mach, daß du fortkommst!«

Der Fremde wandte sich um und fragte ruhig:

»Ach, Sie wissen …?«

»Ja!«

»Man hat mich aus der anderen Herberge fortgejagt.«

»Und man jagt dich auch aus dieser fort.«

»Und wohin soll ich gehen?«

»Sonstwohin.«

Der Fremde nahm seinen Stock und seinen Tornister und ging.

Als er auf die Straße trat, wurde er von einigen Kindern empfangen, die ihm von der Croix-de-Colbas nachgelaufen waren und Steine nach ihm warfen. Er wandte sich um und drohte ihnen mit dem Stock. Wie aufgescheuchte Vögel stoben sie auseinander.

Er kam an dem Gefängnis vorbei. An der Tür hing eine eiserne Kette, an der die Glocke befestigt war. Er schellte.

Als der Schließer öffnete, bat er mit demütig gezogener Kappe:

»Herr Schließer, wollen Sie mir nicht öffnen und für diese Nacht Unterkunft geben?«

»Ein Gefängnis ist keine Herberge«, antwortete die Stimme. »Machen Sie, daß Sie arretiert werden, dann lasse ich Sie herein.«

Das Schiebefenster wurde geschlossen.

Es wurde dunkel. Kalter Gebirgswind wehte. Im Schein des verlöschenden Tages bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die an die Straße stoßen, eine Hütte, die mit Rasenstücken belegt war. Kurz entschlossen sprang er über den Zaun und drang in den Garten ein. Er näherte sich der Hütte. Sie hatte einen sehr niedrigen Eingang und war jenen Hütten nicht unähnlich, die Straßenarbeiter im Chausseegraben zu bauen pflegen. Er dachte wohl, das wäre ein Unterschlupf für einen Arbeiter. Ihn fror, und er hungerte. Den Hunger wollte er ertragen, und hier würde er wenigstens Schutz gegen die Kälte finden. Solche Hütten sind zumeist des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich auf den Boden und kroch hinein. Es war warm darin, auch fand er eine gute Schütte Stroh vor. Einen Augenblick blieb er ausgestreckt liegen, ohne sich zu rühren, so müde war er. Da aber sein Tornister ihn störte, wohl auch ein ganz gutes Kissen abgeben mochte, machte er sich daran, ihn abzunehmen. In diesem Augenblick war ein grimmiges Knurren zu hören. Er blickte auf. Der Kopf einer gewaltigen Dogge erschien im Eingang.

Es war eine Hundehütte, in die er geraten war.

Aber er war stark und furchtlos. Mit seinem Stock als Waffe und seinem Tornister als Schild bewehrt, kroch er aus der Hütte so gut er konnte, wobei er allerdings seine Lumpen noch ärger zerriß.

Auch aus dem Garten entkam er, rückwärts schreitend und die Dogge in Schach haltend mit einem Manöver, das die Stockfechter »die geschlossene Rose« nennen.

Als er nicht ohne Mühe den Zaun überstiegen und die Straße wieder erreicht hatte, sah er sich von neuem allein, ohne Dach, ohne Lager, sogar aus der Hundehütte mit einer Schütte Stroh verjagt; er ließ sich auf einen Stein fallen, und ein Vorübergehender hörte ihn aufstöhnen:

»Nicht einmal soviel wie ein Hund!«

Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, kam an der Präfektur und dem Seminar vorbei. Als er den Domplatz überquerte, ballte er die Faust. Erschöpft und jeder Hoffnung bar, streckte er sich auf einer Steinbank aus.

In diesem Augenblick kam eine alte Frau vorüber, die eben die Kirche verlassen hatte. Sie bemerkte den Mann im Schatten.

»Was tut Ihr da, guter Freund?« fragte sie.

»Das sehen Sie wohl, gute Frau, ich lege mich schlafen«, antwortete er hart und zornig.

Diese gute Frau verdiente die Bezeichnung wirklich. Es war die Marquise de R.

»Auf dieser Bank?« fragte sie.

»Neunzehn Jahre habe ich auf Holzpritschen gelegen«, sagte der Mann, »heute bleibt mir nur Stein übrig.«

»Sie waren wohl Soldat?«

»Ja, gute Frau, Soldat.«

»Warum gehen Sie nicht in die Herberge?«

»Weil ich kein Geld habe.«

»Aber Sie können doch nicht im Freien schlafen? Gewiß haben Sie Hunger und frieren. Man wird Sie aus Mitleid aufnehmen.«

»Ich habe an alle Türen geklopft.«

»Und?«

»Überall hat man mich fortgejagt.«

Sie berührte ihn am Arm und deutete auf ein kleines, niedriges Haus neben dem bischöflichen Palais.

»Überall haben Sie angeklopft?«

»Ja.«

»Waren Sie auch dort?«

»Nein.«

»Dann gehen Sie dahin.«


Vorsicht und Weisheit

An diesem Abend war der Bischof von Digne nach seinem Spaziergange in der Stadt lange in sein Zimmer eingeschlossen geblieben. Er arbeitete fleißig, noch als es acht Uhr schlug, hatte ein großes, aufgeschlagenes Buch auf den Knien liegen und machte auf kleinen Zetteln Notizen, als Frau Magloire eintrat, um wie gewöhnlich das Silbergeschirr aus dem Wandschrank neben dem Bett zu holen. Als der Bischof einen Augenblick später merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht schon wartete, schloß er sein Buch, stand auf und trat in den Speisesaal.

Es war ein rechteckiger Raum mit einem Kamin, einer Tür, die geradewegs auf die Straße führte, und einem Fenster in den Garten hinaus.

Frau Magloire hatte in der Tat schon gedeckt. Sie plauderte jetzt mit Fräulein Baptistine. Auf dem Tisch, der an den Kamin gerückt war, stand eine Lampe, und im Kamin brannte ein Feuer. Als der Bischof eintrat, erörterte sie gerade lebhaft ihr Lieblingsthema, das auch Monsignore Bienvenu nicht mehr unbekannt war. Es handelte sich um die Klinke der Straßentür.

Als sie für das Abendbrot einholen gegangen war, hatte Frau Magloire an verschiedenen Orten schlimme Nachrichten erhalten. Von einem übelaussehenden Strolch war die Rede gewesen, einem verdächtigen Landstreicher, der sich in der Stadt herumtrieb; und wer heute nacht lange ausblieb, konnte sich auf eine unangenehme Begegnung gefaßt machen. Die Polizei, war gesagt worden, sei doch recht leichtfertig, offenbar, weil der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister nicht gerade gut aufeinander zu sprechen waren und jeder dem andern zu schaden hoffte, wenn irgend etwas vorfiel. Darum war es für vorsichtige Leute am besten, selber für ihre Sicherheit zu sorgen, und da sei es die erste Pflicht, sein Haus anständig zu verschließen, zu verriegeln und zu versperren, kurz, seine Türen gut zu verwahren.

Frau Magloire legte eine gewisse Betonung auf das Wort Türen, aber der Bischof hatte in seinem Zimmer gefroren, und darum richtete er sich jetzt am Kamin häuslich ein; seine Gedanken hatten eine andere Richtung genommen. Darum achtete er der Bemerkung nicht sonderlich, die Frau Magloire gemacht hatte, sie mußte sie wiederholen. Fräulein Baptistine wollte ihr einen Gefallen tun, zugleich aber ihrem Bruder nicht mißfallen, und darum äußerte sie schüchtern:

»Bruder, hast du gehört, was Frau Magloire sagt?«

»Mir ist so, als ob ich etwas gehört hätte«, antwortete der Bischof. Er wandte sich in seinem Stuhl halb um, legte die Hände auf seine Knie und richtete seinen heiteren, vergnügten Blick auf die alte Haushälterin: »Nun, was gibt’s? Schweben wir in großer Gefahr?«

Jetzt begann Frau Magloire von neuem, wobei sie, wohl ohne es selbst recht zu bemerken, ein wenig stärker auftrug. Kurz und gut, ein barfüßiger Bandit, ein gefährlicher Räuber oder so etwas Ähnliches trieb sich dem Vernehmen nach in der Stadt herum. Zuerst habe er bei Jacquin Labarre um Quartier nachgesucht, aber dort hatte man ihn nicht aufnehmen wollen. Später war er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und habe sich auch in anderen Straßen gezeigt. Ein Kerl, reif für den Galgen, mit einem Gesicht – so recht zum Angstkriegen.

»Wahrhaftig?« meinte der Bischof. Diese Bereitwilligkeit, sie anzuhören, ermutigte Frau Magloire. Vielleicht war der Bischof doch auch beunruhigt. Triumphierend fuhr sie fort:

»Ja, so ist es. Heute nacht gibt es gewiß ein Unglück in der Stadt. Alle Welt sagt das. Und dabei ist die Polizei so nachlässig« (eine nützliche Wiederholung!). »Man lebt in gebirgigem Land, und nicht einmal Laternen brennen des Nachts in den Straßen! Da soll man sich hinaustrauen. Stockfinster ist es draußen. Darum sage ich, Monsignore, und das Fräulein meint wie ich …«

»Ich meine gar nichts«, unterbrach die Schwester, »was mein Bruder entscheidet, wird gut sein.«

Frau Magloire fuhr fort, ohne diesen Einspruch zu beachten.

»Wir sagen also, daß dieses Haus gar nicht sicher ist, und wenn Monsignore erlauben, so gehe ich sofort zu Paulin Musebois, dem Schlosser, damit er die alten Riegel wieder an der Türe anbringt. Sie sind noch zur Hand, das Ganze ist in einer Minute gemacht. Wir müssen die Riegel haben, Monsignore, und wäre es nur für heute nacht, denn eine Tür, die jeder von außen mit der Klinke aufdrücken kann, der erste beste, der vorbeikommt, ist das Schrecklichste von der Welt, noch dazu, wenn man bedenkt, daß Monsignore die Gewohnheit haben, immer gleich ›herein‹ zu rufen. Und um Mitternacht, großer Gott, braucht keiner erst um Erlaubnis zu fragen …«

In diesem Augenblick wurde kräftig an die Türe geklopft.

»Herein!« rief der Bischof.


Heroischer Gehorsam

Die Tür ging auf.

Heftig wurde sie aufgerissen – ein Mann trat ein.

Wir kennen diesen Mann. Es ist derselbe, den wir eine Stunde vorher auf der Suche nach einem Obdach gesehen haben.

Er tat einen Schritt vorwärts und blieb dann stehen, ohne die Tür hinter sich wieder zu verschließen. Den Tornister hatte er auf dem Rücken, den Stock in der Hand; in seinem Blick war etwas Rauhes, Kühnes, Erschreckliches. Licht vom Kaminfeuer fiel ihm grell ins Gesicht. Er sah unheimlich aus.

Frau Magloire brachte nicht einmal die Kraft auf, einen Schrei auszustoßen. Sie zitterte und blieb mit offenem Munde stehen. Fräulein Baptistine wandte sich um, warf einen Blick auf den Fremden, zuckte erschrocken zusammen, sah aber sofort nach ihrem Bruder, dessen Gesicht tiefe Ruhe und Heiterkeit ausstrahlte.

Gelassen betrachtete der Bischof den Fremden. Als er den Mund auftat, um den Ankömmling zu fragen, was er wünsche, stützte dieser beide Hände auf seinen Stock, ließ den Blick hastig über den Greis und die beiden Frauen hingleiten und sagte dann laut, ohne eine Anrede abzuwarten:

»So ist es, ich heiße Jean Valjean. Ich bin ein Galeerensträfling. Neunzehn Jahre war ich im Bagno. Vor vier Tagen hat man mich in Freiheit gesetzt, und jetzt gehe ich nach Pontarlier, das ist mein Bestimmungsort. Schon vier Tage bin ich unterwegs, von Toulon aus. Heute bin ich zwölf Meilen zu Fuß gelaufen. Als ich heute abend hier ankam, war ich in einer Herberge, aber man hat mich weggejagt, weil ich den gelben Paß habe; den mußte ich im Stadthaus vorzeigen. So ist die Vorschrift. Dann war ich in einer anderen Herberge. Da haben sie gesagt: pack dich! Beim einen so, beim anderen so, keiner will mich. Ich war vor dem Gefängnis, der Schließer wollte mich nicht hereinlassen. Auch in einer Hundehütte. Der Hund hat mich gebissen und verscheucht, als wäre er ein Mensch. Als ob er wüßte, wer ich bin. Hier auf dem Platz wollte ich mich auf eine Steinbank legen, da kam eine Frau, zeigte mir Ihr Haus und sagte: Klopfen Sie da an. Ich habe es getan. Was ist das für ein Haus hier? Eine Herberge? Ich habe Geld, hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Die habe ich in neunzehn Jahren, im Bagno, verdient. Ich will bezahlen. Was liegt mir daran, ich habe ja Geld. Sehr müde bin ich, zwölf Meilen zu Fuß –! Und sehr hungrig. Soll ich bleiben?«

»Noch ein Gedeck, Frau Magloire!« sagte der Bischof.

Der Mann trat drei Schritte vor, bis an die Lampe heran, die auf dem Tisch stand.

»Hören Sie«, sagte er, »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden. Ich bin ein Galeerensträfling. Zwangsarbeit. Ich komme von den Galeeren.« Er zog ein gelbes Blatt Papier aus der Tasche. »Das da ist mein Paß. Ein gelber, wie Sie sehen. Das dient dazu, daß ich überall fortgejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen, Herr, ich habe es im Bagno gelernt. Das ist eine feine Schule für die, die lernen wollen. Sehen Sie doch, was da steht: Jean Valjean, entlassener Sträfling, geboren zu … Nun, das ist ja egal, Sie kümmert das nicht … Also: war neunzehn Jahre im Bagno. Fünf Jahre wegen Einbruchsdiebstahl, vierzehn Jahre wegen versuchten Ausbruchs. Sehr gefährlich! Da steht es. Jedermann wirft mich heraus. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das eine Herberge? Wollen Sie mir zu essen und Unterkunft geben? Haben Sie einen Stall?«

»Frau Magloire«, sagte der Bischof, »überziehen Sie das Bett im Alkoven mit neuen Laken.«

Frau Magloire ging hinaus, um zu tun, was ihr befohlen worden war.

Der Bischof wandte sich an den Fremden:

»Setzen Sie sich, mein Herr, und wärmen Sie sich. Wir werden gleich essen, und man wird inzwischen Ihr Bett bereiten.«

Jetzt begriff der Mann erst ganz. Sein Gesicht, das bisher hart und finster gewesen war, verriet Verblüffung, Zweifel und Freude. Er stammelte wie ein Irrer.

»Wahrhaftig, Sie wollen mich hierbehalten? Sie werfen mich nicht heraus? Mich, einen Sträfling, nennen Sie Herr? Sie duzen mich nicht? Ich war fest überzeugt, daß Sie mich fortschicken würden. Darum habe ich gleich gesagt, wer ich bin. Das war eine gute Frau, die mich hierhergeschickt hat. Und essen werde ich auch! Und ein Bett haben mit Matratze und Laken! Ein Bett … neunzehn Jahre lang habe ich nicht in einem Bett gelegen! Sie sind gute Leute. Ich habe ja Geld, ich werde Sie schon bezahlen. Verzeihung, Herr Wirt, wie heißen Sie? Ich werde alles bezahlen, soviel es ausmacht. Sie sind doch Wirt, nicht wahr?«

»Ich bin ein Priester aus diesem Ort«, sagte der Bischof.

»Ein Priester … ein wackerer Priester! Dann wollen Sie wohl gar kein Geld? Sie sind Pfarrer? Pfarrer von der großen Kirche da? Ach, wahrhaftig, ich bin blöde, habe gar nicht bemerkt, daß Sie das Käppchen tragen.«

Inzwischen hatte er seinen Tornister abgelegt, den Stock in die Ecke gestellt, seinen Paß eingesteckt und sich gesetzt. Fräulein Baptistines Blick ruhte sanft auf ihm. Er fuhr fort:

»Sie sind menschlich, Herr Pfarrer, Sie verachten mich nicht. Das tut wohl – einmal ein guter Priester. Sie brauchen wohl auch kein Geld?«

»Nein«, erwiderte der Bischof, »behalten Sie Ihr Geld. Wieviel haben Sie übrigens? Sagten Sie nicht, es wären hundertneun Franken?«

»Und fünfzehn Sous.«

»Hundertneun Franken und fünfzehn Sous! Wie lange brauchten Sie, um das zu verdienen?«

»Neunzehn Jahre.«

Der Bischof seufzte tief.

»Ich habe noch alles«, fuhr der Fremde fort. »Seit vier Tagen habe ich nur fünfundzwanzig Sous ausgegeben, und die habe ich in Grasse verdient, beim Wagenladen. Da Sie Abbé sind, muß ich Ihnen sagen, daß wir im Bagno einen Almosenier hatten. Auch einen Bischof sah ich eines Tages, so einen, der Monsignore angeredet wird. Das war der Bischof von Ste. Marie-Majore in Marseille. Das ist der Pfarrer, dem die andern Pfarrer gehorchen müssen. Sie müssen mich entschuldigen, ich sage das nicht geschickt, aber unsereiner versteht es nicht besser. Sie werden mich schon verstehen. Er hat im Bagno die Messe gelesen, und auf dem Kopfe hatte er einen spitzen Hut aus Gold. Es war am hellichten Mittag, alles an ihm glitzerte. Wir standen ringsum in Reihen, vor uns hatte man Kanonen aufgestellt, mit brennender Lunte. Wir sahen nicht sehr viel; er hat auch gepredigt, aber er stand weitab, man hörte nicht viel. Das ist ein Bischof, verstehen Sie.«

Während er sprach, war der Bischof aufgestanden und hatte die Türe geschlossen, die offengeblieben war. Frau Magloire trat ein. Sie brachte ein Gedeck und legte es auf den Tisch.

»Frau Magloire«, sagte der Bischof, »decken Sie möglichst nahe am Kamin.« Und zu seinem Gast gewendet: »Der Nachtwind ist hart in den Alpen, Sie frieren wohl, Herr Valjean?«

Sooft er Herr sagte, leuchtete das Gesicht des Fremden auf. Der Gedemütigte dürstet nach Achtung.

»Diese Lampe leuchtet sehr schlecht«, sagte der Bischof.

Frau Magloire begriff, ging in das Schlafzimmer des Bischofs und holte die beiden silbernen Leuchter vom Kamin; sie stellte sie brennend auf den Tisch.

»Herr Pfarrer«, sagte der Fremde. »Sie sind gut, Sie nehmen mich auf, Sie stecken sogar für mich Ihre Kerzen an. Und ich habe Ihnen doch gar nicht verschwiegen, wo ich hergekommen und daß ich ein Unglücklicher bin.«

»Sie brauchten mir das nicht zu sagen«, erwiderte der Bischof und berührte sanft die Hand des Fremden. »Dies ist nicht mein Haus, sondern das Haus Christi. Wer hier eintritt, wird nicht um seinen Namen gefragt, er braucht nur zu sagen, daß er Not leidet. Sie leiden, Sie haben Hunger und Durst, also seien Sie uns willkommen. Danken Sie mir nicht, sagen Sie nicht, daß ich Sie in meinem Hause aufnehme. Hier ist niemand zu Hause außer dem, der eine Zuflucht sucht. Sie sind hier mehr zu Hause als ich. Was hier ist, gehört Ihnen. Wozu brauche ich Ihren Namen zu wissen? … Sie haben wohl viel Arges durchgemacht?«

»Oh, die rote Jacke, eine Kanonenkugel am Bein, ein Brett als Nachtlager, Hitze, Frost, Arbeit, Prügel, um nichts und wieder nichts die doppelte Kette, für ein Wort die Einzelzelle. Und sogar im Krankenbett noch die Kette. Die Hunde … die Hunde sind besser dran! Neunzehn Jahre! Ich bin jetzt sechsundvierzig alt. Und jetzt … der gelbe Paß. Das ist das Ende.«

»Sie kommen von einem Ort des Jammers«, erwiderte der Bischof. »Aber hören Sie, im Himmel ist mehr Freude über die Tränen eines reuigen Sünders als über das weiße Gewand von hundert Gerechten. Wenn Sie von jenem Ort des Leidens heimkehren mit Haß und Groll wider die Menschen, so sind Sie wohl zu beklagen; sind Sie aber sanft, friedlich und wohlwollend, dann taugen Sie mehr als jeder von uns.«

Inzwischen hatte Frau Magloire das Abendbrot aufgetragen: Brotsuppe, ein Stück Speck, Hammelfleisch, Feigen, frischen Käse und ein Roggenbrot. Sie hatte noch eine Flasche von des Bischofs altem Mauves beigesteuert.

Sofort spiegelte das Gesicht des Bischofs jene Heiterkeit, die gastfreundlichen Menschen eignet.

»Zu Tisch!« rief er lebhaft, und er ließ den Fremden an seiner rechten Seite Platz nehmen, wie er es zu tun pflegte, wenn er einen Gast bei sich hatte. Fräulein Baptistine nahm ruhig und unbefangen zu seiner Linken ihren Platz ein. Der Bischof sprach das Tischgebet und teilte, wie es seine Gewohnheit war, selbst die Suppe aus. Der Fremde aß gierig.

Plötzlich sagte der Bischof: »Mir scheint, es fehlt etwas auf dem Tisch!«

Frau Magloire hatte in der Tat nur die drei nötigen Gedecke aufgelegt. Es war aber der Brauch des Hauses, daß alle sechs Silberbestecke aufgelegt wurden, wenn ein Gast bewirtet wurde. Harmlose Eitelkeit. Liebenswürdiger, kindlicher Luxus in diesem ernsten, ruhigen Hause, in dem die Armut für Anständigkeit galt.

Frau Magloire begriff, ging wortlos hinaus, und einen Augenblick später funkelten die drei Bestecke auf dem Tischtuch.


Einzelheiten über die Käsereien in Pontarlier

Um unsere Leser wissen zu lassen, was an jener Tafel vorging, zitieren wir aus einem Brief Fräulein Baptistines an ihre Jugendfreundin, die Vicomtesse de Bois-Chevron.

– – – – – – – -- --

Der Mann achtete auf niemand. Er aß gierig wie einer, der am Verhungern ist. Nach dem Essen sagte er endlich:

»Herr Pfarrer, das ist alles viel zu gut für mich, aber offen gestanden, die Rollkutscher, die mich nicht an ihrem Tisch haben wollten, lebten besser als Sie.«

Unter uns gesagt, diese Bemerkung ärgerte mich. Mein Bruder antwortete:

»Sie haben auch mehr Plage als ich.«

»Nein, das nicht«, sagte der Mann, »aber mehr Geld. Sie sind arm, das sehe ich wohl. Vielleicht sind Sie nicht einmal Pfarrer. Sind Sie wenigstens Pfarrer? Wahrhaftig, wenn der liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer sein.«

»Der liebe Gott ist mehr als gerecht«, sagte mein Bruder. Dann nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Herr Valjean, Sie gehen nach Pontarlier?«

»Mit vorgeschriebener Route.«

So war, wenn ich mich recht erinnere, der Ausdruck.

»Morgen, bei Tagesanbruch, muß ich wieder unterwegs sein«, fuhr er fort. »Es ist ein harter Marsch. Wenn die Nächte auch kalt sind, ist es bei Tag doch recht heiß.«

»Nun«, meinte mein Bruder, »Sie kommen da in eine gute Gegend. Meine Familie ist durch die Revolution zugrunde gerichtet worden, und ich bin zunächst in die Franche-Comté geflohen; dort lebte ich einige Zeit lang von meiner Hände Arbeit. Ich war gutwillig, und so fand ich Beschäftigung. Man kann dort frei wählen, in dieser Gegend. Es gibt Papiermühlen, Gerbereien, Branntweinbrennereien, Ölpressen, große Uhrenfabriken, Stahlwerke, Kupferwerke, mindestens zwanzig Eisenhütten, deren vier recht umfangreich sind, und zwar die in Lods, Châtillon, Audincourt und Beur …«

Ich glaube mich nicht zu täuschen, das waren wohl die Namen, die mein Bruder nannte; dann unterbrach er sich und richtete das Wort an mich.

»Liebe Schwester, haben wir nicht dort Verwandte?«

»Doch«, antwortete ich, »wir hatten wenigstens welche, unter andern Herrn de Lucenet, der bei der Torwache zu Pontarlier Hauptmann war unter dem alten Regime.«

»Ja«, meinte mein Bruder, »aber Anno 93 war es nichts mit den Verwandten, da mußte sich jeder auf seine eigenen Hände verlassen. Ich habe gearbeitet. Übrigens gibt es in der Gegend von Pontarlier, Herr Valjean, eine recht patriarchalische und anheimelnde Industrie – die Käsereien …«

Nun setzte mein Bruder, während er den Fremden wieder zuzugreifen nötigte, auseinander, wie diese Käsereien in Pontarlier eingerichtet sind. Man unterscheidet ihrer zwei Arten, die großen, die reichen Leuten gehören und über vierzig bis fünfzig Kühe verfügen, so daß sie sieben- bis achttausend Käse im Jahr liefern können; und dann die Genossenschaftskäsereien, die den Armen gehören; die Bauern des Mittelgebirges tun sich in diesen Betrieben zusammen, liefern den Milchertrag ihrer Kühe gemeinsam ein und teilen sich in den Gewinn. Sie nehmen auf gemeinsame Rechnung einen Käser in Dienst, dessen Aufgabe es ist, dreimal täglich von den Mitgliedern der Genossenschaft Milch abzuholen und die gelieferten Mengen auf einem doppelten Kerbholz zu vermerken. Gegen Ende April beginnt die Arbeit der Käsereien; Mitte Juni führen die Käser ihre Kühe in die Berge.

Der Fremde wurde während des Essens zusehends lebhafter. Mein Bruder hieß ihn von dem guten Mauves trinken, den er selber niemals trinkt, denn er ist zu teuer. Er sprach mit dieser verhaltenen Heiterkeit, die Sie ja an ihm kennen, wobei er gelegentlich ein freundliches Wort für mich einflocht. Immer wieder kam er auf die Annehmlichkeiten des Käserberufs zurück, als ob er den Mann darauf hinlenken wollte, daß er vielleicht auf diesem Wege ein Auskommen finden würde – doch wollte er ihn offenbar nicht unmittelbar darauf stoßen.

Als wir bei den Feigen waren, wurde an der Tür geklopft. Es war Mutter Gerbaut, die ihren Jungen auf dem Arm trug. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie der armen Frau zu geben. Unser Gast achtete nicht darauf, was vorging. Er sprach nicht und sah sehr müde ans. Als die arme alte Frau Gerbaut fortgegangen war, sprach mein Bruder das Dankgebet, dann wandte er sich zu dem Gast und sagte:

»Sie bedürfen gewiß sehr des Bettes.«

Frau Magloire hatte rasch abgedeckt. Ich begriff, daß wir uns zurückziehen sollten, um den Fremden schlafen zu lassen. So stiegen wir in unsere Schlafgemächer hinauf. Doch sandte ich Frau Magloire kurz nachher noch einmal hinunter, damit sie ihm das Gemsenfell aus meinem Zimmer aufs Bett legen möchte. Die Nächte sind jetzt eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es schon so alt ist, alle Haare gehen ihm aus.

Mein Bruder hat es seinerzeit gekauft, als er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen.

Frau Magloire kam gleich wieder heraus, wir beteten zusammen, und dann gingen wir, ohne eine Wort zu sprechen, jede in unsere Schlafkammer.


Ruhe

Nachdem Monsignore Bienvenu seiner Schwester gute Nacht gesagt hatte, nahm er einen der beiden Silberleuchter vom Tisch, gab den andern seinem Gast und sagte:

»Ich werde Sie jetzt in Ihr Zimmer führen, mein Herr.«

Der Mann folgte ihm.

Das Haus war so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und in den Alkoven zu gelangen, das Schlafzimmer des Bischofs durchqueren mußte. Als er durch dieses Zimmer schritt, war Frau Magloire gerade dabei, das Silber in dem am Kopfende des Bettes stehenden Wandschrank zu verschließen. Das pflegte allabendlich ihre letzte Verrichtung zu sein.

Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven. Ein weißes, frisches Bett war dort gerichtet. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein kleines Tischchen.

»Und nun gute Nacht«, sagte der Bischof. »Bevor Sie morgen früh aufbrechen, sollen Sie eine Tasse Milch von unseren Kühen bekommen, noch warm.«

»Danke, Herr Abbé«, erwiderte der andere.

Kaum hatte er diese friedvollen Worte ausgesprochen, als plötzlich und ohne Übergang eine seltsame Regung ihn ergriff, über die jene beiden frommen Frauen zu Eis erstarrt wären, wenn sie sie hätten mit ansehen müssen. Noch heute wird es uns schwer, Klarheit darüber zu gewinnen, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Wollte er warnen, wollte er drohen? Oder gehorchte er ganz einfach einer instinktiven, ihm selbst unverständlichen Regung? Er wandte sich jäh nach dem Greis um, kreuzte die Arme, richtete einen wilden Blick auf seinen Wirt und rief laut:

»Wahrhaftig, Sie wollen mich hier schlafen lassen, gleich neben Ihrer Tür?«

Er unterbrach sich, lachte unheimlich auf und fuhr fort: »Haben Sie sich denn das auch überlegt? Wer sagt Ihnen, daß ich nicht ein Mörder bin?«

»Das ist Gottes Sache«, erwiderte der Bischof.

Und er hob zwei Finger der rechten Hand, segnete den Gast, der regungslos blieb, und trat, ohne sich umzuwenden oder zurückzublicken, in sein Gemach.


Jean Valjean

Um Mitternacht erwachte Jean Valjean. Jean Valjean entstammte einer armen Bauernfamilie aus der Gegend von Brie. In seiner Kindheit hatte er nicht lesen gelernt. Als er in die Jahre kam, wurde er Baumscherer in Faverolles. Seine Mutter hieß Jeanne Mathieu; sein Vater Jean Valjean oder Vlajean, ein Name, der offenbar aus einem Spitznamen entstanden war, zusammengezogen aus voilà Jean, seht doch Jean.

Jean Valjean war von nachdenklichem, wenn auch nicht trübsinnigem Charakter, wie dies bei liebesfähigen Naturen so häufig vorkommt. Alles in allem wohl etwas verschlafen und matt, wenigstens dem Äußeren nach. Schon in frühester Kindheit verlor er Vater und Mutter. Die Mutter war an einem vernachlässigten Milchfieber gestorben, der Vater, der gleichfalls Baumscherer gewesen, holte sich bei einem Sturz den Tod. So blieb Jean Valjean nur eine ältere Schwester, die bereits Witwe war und sieben Kinder, Knaben und Mädchen, zu ernähren hatte. Diese Schwester hatte Jean Valjean erzogen und, solange ihr Gatte lebte, durchgebracht. Nun, der Mann starb. Damals war das älteste der Kinder acht Jahre alt, das jüngste eins. Jean noch nicht fünfundzwanzig. Er trat an die Stelle des Vaters und erhielt jetzt die Schwester, wie sie ihn erhalten hatte. Das tat er ganz selbstverständlich, wie eine Pflicht. Seine Jugend verbrauchte er in schwerer, schlechtbezahlter Arbeit. Nie sah man ihn mit einer Freundin, er hatte keine Zeit, Liebschaften anzufangen.

Des Abends kehrte er müde nach Hause zurück und aß wortlos seine Suppe. Während er aß, griff wohl Mutter Jeanne, seine Schwester, oft den schmackhaftesten Bissen aus seinem Teller, ein Stück Fleisch, eine Scheibe Speck, das Herz eines Kehlkopfs, um es einem ihrer Kinder zuzustecken; er blieb ruhig über seinen Teller gebeugt, ohne den Kopf zu erheben, achtete dessen nicht. In Faverolles wohnte unweit von Valjeans Hütte, auf der anderen Seite der Straße, eine Bäuerin, die Marie-Claude hieß; die Kinder, die nie satt werden konnten, liefen oft zu ihr hinüber, um angeblich im Namen der Mutter eine Pinte Milch auf Borg zu nehmen, die sie dann hinter einer Hecke oder in einem Winkel der Allee hastig austranken, wobei sie einander den Napf aus der Hand zu reißen suchten, so daß schließlich die Hälfte über die Schürzen lief. Hätte die Mutter von diesem Streich etwas erfahren, gewiß hätte sie die kleinen Sünder streng bestraft. Der rauhe, mürrische Jean Valjean aber bezahlte hinter dem Rücken der Mutter die Schuld, und so kamen die Kinder ungestraft davon.

In der Saison verdiente er als Baumscherer achtzehn Sous täglich; später nahm er Dienst als Melker, Handlanger, Hirt. Er tat, was er konnte. Auch seine Schwester rackerte sich ab, aber die sieben Kinder ließen ihr wenig Zeit.

Es geschah, daß ein Winter streng war. Da fand Jean keine Beschäftigung. Es fehlte der Familie an Brot, buchstäblich. Der Familie mit ihren sieben Kindern.

Eines Sonntags am Abend wollte Maubert Isabeau, Bäcker am Kirchplatz zu Faverolles, eben zu Bett gehen, als er von dem Schaufenster seines Ladens herauf heftigen Lärm hörte. Er kam gerade recht, um einen Arm zu sehen, der durch ein Loch eingedrungen war, das eben erst mit der Faust in die Glasscheibe geschlagen worden war; eine Hand ergriff ein Brot und zog es heraus. Isabeau eilte hinaus. Der Dieb rannte, was seine Beine hergaben; aber Isabeau bekam ihn zu fassen. Zwar hatte der Dieb das Brot fortgeworfen, aber sein Arm war noch blutig und zerschunden. Es war Jean Valjean.

Dies trug sich Anno 1795 zu. Jean Valjean wurde vor Gericht gestellt, weil er »des Nachts in ein bewohntes Haus eingebrochen wäre«. Er besaß ein Gewehr, das er sehr wohl zu handhaben verstand, denn er war auch ein wenig Wilddieb; das belastete ihn. Wie der Schmuggler, wird auch der Wilddieb gern als eine Art Räuber angesehen. Doch, wir müssen es nebenbei erwähnen, besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen diesen Leuten und den scheußlichen Mördern, die die Städte bevölkern. Der Wilddieb lebt im Wald, der Schmuggler im Gebirge oder auf dem Meer. Die Städte machen den Menschen grausam und erzeugen Verderbnis, das Gebirge aber, das Meer, der Wald bringen wilde, menschenscheue Leute hervor, sie entwickeln den rauhen Charakter, ertöten aber nicht alle Menschlichkeit.

Jean Valjean wurde schuldig gesprochen. Der Wortlaut des Gesetzes war klar. Es gibt in unserer Zivilisation furchtbare Augenblicke – jene Momente, da der Schiffbruch eines Menschen durch die Justiz feierlich verkündet wird. Wie düster ist die Minute, in der die Gesellschaft sich von einem Menschen abwendet und ein denkendes Wesen unwiderruflich und für immer aus ihrer Mitte verstößt!

Jean Valjean wurde zu fünf Jahren Arbeit auf den Galeeren verurteilt.

Am 22. April 1796 wurde in Paris ein Sieg ausgerufen, den der Oberkommandierende der Armeen in Italien bei Montenotte errungen hatte, jener General, den die Botschaft des Direktoriums an den Rat der Fünfhundert vom 2. Floreal des Jahres IV Buonaparte nennt; am selben Tage wurden in Bicêtre eine Reihe von Strafgefangenen an die Kette gelegt. Auch Jean Valjean wurde ein Glied dieser Kette. Ein alter Schließer jenes Gefängnisses, der heute neunzig Jahre zählt, erinnert sich noch jenes Unglücklichen, der damals in der Nordecke des Hofes an das Ende der vierten Kette geschmiedet wurde. Wie die andern, hatte er sich auf den Boden gesetzt. Offenbar begriff er nicht, was mit ihm vorging, empfand nur, daß es etwas Schreckliches war. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, rang sich unter den verschiedenen Gedanken, die diesen unwissenden Menschen peinigten, einer allmählich durch. Während hinter seinem Kopf mit schweren Hammerschlägen sein Halseisen zugeschlagen wurde, weinte er so heftig, daß er kaum zu sprechen vermochte, und er sagte nur von Zeit zu Zeit: »Ich war Baumscherer in Faverolles!« Dann erhob er schluchzend seine rechte Hand und senkte sie, stufenweise, siebenmal, als ob er der Reihe nach sieben Köpfe von Kindern berühre, und daraus errieten die Leute, daß er, was immer er getan haben mochte, nur schuldig geworden sei, weil er diese sieben Kinder hatte ernähren und bekleiden wollen.

Er kam nach Toulon nach einer Reise von siebenundzwanzig Tagen, die er, die Kette am Halse, auf einem Karren zurückgelegt hatte. In Toulon zogen sie ihm die rote Jacke an, und hier wurde sein ganzes früheres Leben ausgelöscht, ja sogar auch sein Name, denn er war jetzt nicht mehr Jean Valjean, sondern Nummer 24 601. Was wurde aus seiner Schwester? Was aus den sieben Kindern? Wer kümmert sich darum? Was wird aus ein paar Blättern des Baumes, an dessen Fuß die Säge gesetzt worden ist?

Es ist immer die gleiche Geschichte. Diese beklagenswerten Geschöpfe, die nunmehr ohne Stütze und ohne Führer waren, wurden auseinandergetrieben vom Zufall, vielleicht jeder woandershin. Sie verließen die Heimat. Der Kirchturm des Ortes, der ihre Heimat gewesen war, vergaß sie; ihr Acker vergaß sie; schließlich vergaß auch Jean Valjean sie, nachdem er einige Jahre im Bagno zugebracht hatte. In seinem Herzen war an Stelle der Wunde die Narbe getreten, das war es. Kaum ein einziges Mal hörte er von seiner Schwester. Das geschah, glaube ich, gegen Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Wie diese Nachricht zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Irgendwer, der sie in der Heimat gekannt hatte, war wohl der Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße nahe der Kirche Saint Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur mehr ein Kind bei sich, einen Jungen, wohl den jüngsten. Wo waren die sechs anderen? Vielleicht wußte sie es selbst nicht. Jeden Morgen ging sie in die Druckerei in der Rue du Sabot Numéro 3, wo sie als Falzerin arbeitete. Sie mußte um sechs Uhr morgens dort sein, also zur Winterszeit lange vor Tagesanbruch. Im Hause der Druckerei gab es auch eine Schule, dorthin brachte sie den kleinen Jungen, der sieben Jahre alt war. Da sie aber um sechs Uhr in der Druckerei sein mußte, während die Schule erst um sieben geöffnet wurde, mußte das Kind eine Stunde im Hof warten; im Winter eine Nachtstunde im Freien. In die Druckerei ließ man das Kind nicht, weil es dort, wie man sagte, störte. Wenn die Arbeiter morgens in ihre Werkstätten kamen, sahen sie den armen Kleinen auf dem Pflaster hocken, schlaftrunken, oft sogar im Dunkel eingenickt, zusammengekauert und über seinen Korb gebeugt. Wenn es regnete, erbarmte sich die Frau des Hauswarts seiner und ließ ihn in ihre Loge eintreten, in der es ein schmales Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle gab; der Kleine schlummerte dort in einem Winkel und schmiegte sich an die Katze, um es wärmer zu haben. Um sieben öffnete die Schule ihre Tore, dann trat er ein. Das war alles, was man Jean Valjean sagen konnte.

Gegen Ende des vierten Jahres kam die Reihe an Jean Valjean, auszubrechen. Seine Kameraden halfen ihm, wie das an jenem traurigen Ort üblich ist. Er entkam. Zwei Tage lang irrte er frei umher – sofern man gehetzt zu werden, jeden Augenblick zurückzuschauen, beim leisesten Geräusch zu erschrecken, sich vor allem zu fürchten, einem rauchenden Schornstein, einem vorübergehenden Menschen, einem bellenden Hund, einem galoppierenden Pferd, einer Uhr, die schlägt … sofern man dies Freiheit nennen will. Am Abend des zweiten Tages wurde er wieder gefangen. Seit sechsunddreißig Stunden hatte er weder gegessen noch geschlafen. Das Seegericht verurteilte ihn wegen dieses Verbrechens zu einer Verlängerung seiner Strafe um drei Jahre, so daß er insgesamt acht Jahre zu verbüßen hatte.

Im sechsten Jahre war die Reihe wieder an ihm; aber es gelang ihm nicht einmal, aus dem Gefängnis zu kommen. Beim Appell hatte er gefehlt. Die Kanone gab den üblichen Signalschuß, und nachts fanden ihn die Leute der Runde unter dem Kiel eines im Bau befindlichen Schiffes; er leistete Widerstand, wurde aber überwältigt. Das war Flucht und Widersetzlichkeit. Den Bestimmungen des Strafgesetzes gemäß bekam er diesmal fünf Jahre, davon zwei in Doppelketten. Macht zusammen dreizehn Jahre. Als er im zehnten Jahre wieder an die Reihe kam, nahm er die Gelegenheit wahr, aber auch diesmal war ihm das Glück nicht hold. Drei Jahre für diesen neuerlichen Versuch. Insgesamt sechzehn Jahre. Schließlich, im dreizehnten Jahr, als er einen letzten Versuch wagte und nach vier Stunden wieder gefaßt wurde, weitere drei Jahre. Drei Jahre für vier Stunden. Alles in allem neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er freigelassen. Gefangengesetzt worden war er im Jahre 1796, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.


Neue Qualen

Als die Stunde seiner Befreiung schlug, als dieses seltsame Wort: »Du bist frei« an sein Ohr drang, schien ihm der Augenblick unerhört und unwahrscheinlich, und ein Strahl lebendigen Lichts fiel in seine Seele.

Aber er sollte bald verblassen. Jean Valjean war von dem Gedanken der Freiheit berauscht gewesen. Nun beginne das neue Leben, hatte er gedacht. Aber nur zu bald erfuhr er, welche Freiheit das ist, der man einen gelben Paß gibt.

Bitterkeit. Er hatte berechnet, daß er während seiner Gefangenschaft im Bagno hunderteinundsiebzig Franken verdient haben müsse. Allerdings hatte er in dieser Rechnung die erzwungene Muße der Sonntage und Feiertage vergessen, die, auf neunzehn Jahre verrechnet, einen Verlust von vierundzwanzig Franken ergaben. Wie dem aber auch sei, durch verschiedene Abzüge blieben zu guter Letzt nur hundertneun Franken und fünfzehn Sous übrig, die ihm bei seiner Entlassung ausbezahlt wurden. Er begriff das nicht, er glaubte sich geschädigt oder, wenn wir das Wort nicht scheuen wollen, bestohlen.

Am Tag nach seiner Entlassung sah er in Grasse vor dem Tor einer Destillation Männer, die Warenballen verluden. Er bot seine Dienste an. Da die Arbeit eilig war, nahm man sie an. Er machte sich ans Werk. Er war gescheit, kräftig und geschickt. Er tat sein Bestes, und sein Dienstgeber schien zufrieden. Während er arbeitete, kam ein Gendarm vorüber, bemerkte ihn und verlangte nach seinen Papieren. Er mußte den gelben Paß zeigen. Dann machte sich Jean Valjean wieder an die Arbeit. Kurz vorher hatte er einen Arbeiter gefragt, was sie mit solcher Arbeit wohl im Tage verdienten, und man hatte ihm gesagt: dreißig Sous. Als der Abend kam, ging er zu dem Herrn der Destillation und bat um seinen Lohn, da er am nächsten Morgen weiterwandern müßte. Der Herr sprach kein Wort, sondern händigte ihm fünfzehn Sous aus. Jean erhob Einspruch. Da wurde ihm gesagt: »Für dich ist das genug.« Er bestand auf seinem Recht, aber da sah ihn der Meister scharf an und sagte: »Vorsicht, daß du nicht wieder ins Loch kommst!«

Auch hier hatte man ihn offenbar bestohlen.

Die Gesellschaft, der Staat hatte ihn im großen geplündert, jetzt kamen die Feinde einzeln und bestahlen ihn. Entlassung ist nicht Befreiung. Man verläßt das Strafhaus, aber die Verurteilung kann man nicht loswerden.

So war es ihm in Grasse ergangen. Der Leser hat gesehen, wie er in Digne aufgenommen wurde.


Erwachen

Als die Kirchturmuhr die zweite Stunde anzeigte, erwachte Jean Valjean. Was ihn aus dem Schlaf aufjagte, war das gute Bett. Zwanzig Jahre hatte er nicht in einem Bett gelegen, und obwohl er sich nicht entkleidet hatte, war die Empfindung jetzt doch allzu neu, um nicht seinen Schlaf zu stören.

Mehr als vier Stunden hatte er geschlafen. Die Müdigkeit war von ihm gewichen. Er war nicht gewohnt, lange zu schlafen.

Er schlug die Augen auf, blickte im Dunkel um sich, dann schloß er sie wieder, um von neuem einzuschlafen. Aber er konnte es nicht, und so begann er nachzudenken. Er befand sich in einer wirren Geistesverfassung. In seinem Gehirn war ein dunkles Hin und Her, alte Erinnerungen vermischten sich mit neuen, wuchsen jäh an und verschwanden wieder. Viele Gedanken kamen ihm, aber einer schob sich hartnäckig in den Vordergrund und verdrängte die andern. Wir wollen es unumwunden sagen, es war der Gedanke an die sechs Silbergedecke und den großen, silbernen Schöpflöffel, die Frau Magloire auf den Tisch gelegt hatte.

Das Silberzeug ließ ihm keine Ruhe. Es war da, nur einige Schritte entfernt. Als er das Zimmer nebenan durchschritten hatte, um hierher zu gelangen, wo er sich jetzt befand, hatte die alte Haushälterin es in den Wandschrank am Kopfende des Bettes gelegt. Jean hatte es wohl bemerkt. Es war, wenn man aus dem Speisesaal eintrat, rechter Hand. Massives Silber. Altes, gutes Silber. Mit dem schweren Schöpflöffel würde es gewiß zweihundert Franken erbringen. Das Doppelte der Summe, die er in neunzehn Jahren verdient hatte. Allerdings, er hätte ja mehr verdient, wenn ihn die Verwaltung nicht bestohlen hätte … Eine gute Stunde lang beschäftigte sich sein Geist mit diesen Dingen und kämpfte einen mühsamen Kampf. Es schlug drei. Wieder öffnete er die Augen, setzte sich auf, streckte den Arm aus, tastete nach seinem Tornister, den er in eine Ecke gelegt hatte, ließ die Beine herabhängen und blieb regungslos auf dem Bettrand sitzen. So verharrte er einige Zeit in tiefe Gedanken versunken; wenn ihn jemand so, einsam wachend, in diesem schlafenden Hause gesehen hätte, wäre er ein unheimliches Gefühl nicht losgeworden. Plötzlich bückte sich Jean, zog die Schuhe ab, stellte sie vorsichtig auf die Strohmatte neben dem Bett, nahm wieder seine nachdenkliche Haltung ein und versank in Reglosigkeit.

Ohne Unterlaß kehrten die gleichen Gedanken in sein Gehirn zurück; gleichzeitig mußte er, ohne recht zu begreifen warum, an einen Zwangsarbeiter namens Brevet denken, den er im Bagno gekannt hatte und dessen Hose nur durch ein einziges Tragband hochgehalten wurde; das Muster dieses Tragbands kam ihm immer wieder in den Sinn.

In dieser Stellung verharrte er, und vielleicht wäre er bis zu Tagesanbruch so verblieben, wenn nicht die Uhr wieder geschlagen hätte. Ihm schien, sie riefe ihm ein Vorwärts zu.

Er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und lauschte. Alles im Hause war still. Nun ging er aufrecht und in kurzen Schritten zum Fenster. Die Nacht war nicht sonderlich dunkel. Der Vollmond schien, nur zuweilen von Wolken verdunkelt, die der Wind über den Himmel peitschte. Immerhin entstand durch dieses Widerspiel von Licht und Schatten eine Art Dämmerung, die genügte, um sich zurechtzufinden.

Das Fenster war nicht vergittert. Es führte in den Garten und war, wie das auf dem Lande Sitte ist, nur schwach verklinkt. Er öffnete es, aber da ihm ein kalter, scharfer Wind entgegenwehte, schloß er es sofort wieder. Aufmerksam sah er in den Garten hinaus. Eine weiße, ziemlich niedrige Mauer, die man leicht übersteigen konnte, umschloß ihn. Im Hintergrund waren jenseits der Mauern in regelmäßigen Abständen Baumkronen zu erkennen, woraus man entnehmen konnte, daß die Mauer den Garten von einer Allee oder mit Bäumen bepflanzten Straße trennte.

Jetzt machte er eine entschlossene Bewegung, kehrte in den Alkoven zurück, nahm den Tornister vor, öffnete und durchsuchte ihn, zog einen Gegenstand heraus, den er auf das Bett legte, steckte seine Schuhe in eine der Tornistertaschen, verschnallte alles wieder, lud den Sack auf die Schultern, setzte die Mütze auf, wobei er nicht vergaß, den Schirm tief über die Augen zu ziehen, suchte tastend nach seinem Stock und ergriff endlich den Gegenstand, den er eben erst auf das Bett gelegt hatte. Er glich einer kurzen, an einem Ende zugespitzten Eisenstange.

In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen, wozu dieses Stück Eisen dienen mochte. War es ein Hebel, eine Keule? Im vollen Tageslicht hätte man erkannt, daß es ein Bergmannswerkzeug war. Man verwendete damals die Strafgefangenen auch dazu, in der Nähe von Toulon in den Steinbrüchen zu arbeiten, und so kam es, daß sie sich Bergmannswerkzeuge verschaffen konnten.

Er nahm das Eisen in die Rechte, hielt den Atem an, näherte sich leisen Schrittes der Tür des Nachbarzimmers, in dem, wie der Leser sich erinnert, der Bischof schlief, und fand sie halb angelehnt. Der Bischof hatte sie nicht verschlossen.


Die Tat

Jean Valjean lauschte. Nichts war zu hören.

Er stieß die Türe an. Mit der Fingerspitze tat er es, ganz leise und mit einer flüchtigen, ängstlichen Vorsicht, wie eine Katze, die in ein Zimmer schleichen will.

Die Tür gab nach und ließ geräuschlos einen Spalt frei.

Jean wartete einen Augenblick, dann stieß er sie ein zweites Mal an, kühner jetzt. Wieder gab sie lautlos nach. Der Spalt war jetzt breit genug, daß man durchschlüpfen konnte. Aber neben der Tür stand ein kleiner Tisch, der den Zugang versperrte. Jean Valjean erkannte die Schwierigkeit. Die Öffnung mußte erweitert werden. Entschlossen stieß er ein drittes Mal zu, diesmal energischer als vorher. Eine schlecht geölte Angel kreischte auf. Es klang in der Dunkelheit wie ein rauher, langgezogener Schrei.

Jean Valjean zitterte.

Im ersten Augenblick, in dem der Schreck den Lärm phantastisch vergrößerte, bildete er sich fast ein, die Türangel sei ein lebendiges Wesen, nehme plötzlich ein furchtbares Dasein an, belle wie ein Hund, um alle Welt zu warnen und die Schlafenden zu wecken.

Verwirrt blieb er stehen und fiel auf die Fersen zurück. Er hörte das Blut in seinen Schläfen hämmern, hörte den Atem wie einen Orkan aus der Brust hervorbrechen. Ihm schien es unmöglich, daß das furchtbare Kreischen der Türangel nicht das ganze Haus erschüttert habe wie ein Erdbeben; die Türe hatte Alarm geschlagen, der Alte würde aufstehen, die beiden Frauen mußten ein Geschrei erheben, Fremde würden zu Hilfe kommen, in einer knappen Viertelstunde war die ganze Stadt in Aufruhr und die Gendarmerie auf den Beinen.

Einen Augenblick lang glaubte er sich verloren.

Wie versteinert, wie zu einer Bildsäule erstarrt, blieb er reglos stehen. Einige Minuten verstrichen. Die Tür war jetzt weit offen. Er wagte, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich gerührt. Er lauschte. Alles still, niemand war durch das Knarren der verrosteten Angel erwacht.

Die schlimmste Gefahr war vorbei, aber noch immer war er sehr erregt. Doch ging er nicht zurück. Auch als er alles verloren geglaubt hatte, war er nicht zurückgewichen. Er wollte nur rasch zu Ende kommen. Er tat einen Schritt vorwärts und war in dem Zimmer.

Es lag in tiefer Ruhe. Hier und da konnte man ungewisse Formen von Gegenständen gewahren, in denen er des Tags auf den Tisch verstreute Papiere, aufgeschlagene Folianten, an ein Pult gelehnte Bände, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betschemel erkannt hätte, die aber jetzt nur als dunkle Umrisse und helle Flecken zu unterscheiden waren. Behutsam drang Jean Valjean vor, wobei er es sorgfältig vermied, an Möbel anzustoßen. Im Hintergrund des Zimmers war der ruhige, gleichmäßige Atem des schlafenden Bischofs zu vernehmen.

Weiter drang er vor.

Plötzlich blieb er stehen. Er stand vor dem Bett. Er hatte es früher erreicht, als er erwartete.

Die Natur mischt zuweilen ihre Phänomene und Schauspiele fast planmäßig in unsere Handlungen, als ob sie uns nachdenklich stimmen wollte. Fast seit einer halben Stunde bedeckte eine große Wolke den Himmel. In dem Augenblick, da Jean Valjean vor dem Bett haltmachte, zerriß sie, und ein Streifen Mondlicht fiel durch das Fenster auf das blasse Gesicht des Bischofs. Er schlief friedlich. Auch im Bett war er fast bekleidet, trug – wohl infolge der kalten Nächte im Alpenvorlande – ein braunes Baumwollhemd, das auch die Arme bis zu den Händen bedeckte. Sein Kopf lag in der entspannten Haltung der Ruhe seitlich auf dem Kissen; die linke Hand, die den Hirtenring trug, diese Hand, die so viele gute Werke vollbracht hatte, hing aus dem Bett. Sein Antlitz spiegelte Zufriedenheit, Hoffnung und Glück. Es war mehr als ein Lächeln, fast ein Strahlen. Auf seiner Stirn ein unbeschreiblicher Widerschein eines unsichtbaren Lichts. Jener geheimnisvolle Himmel, den die Seele der Gerechten während des Schlafs durchwandelt.

Jean Valjean hatte niemals etwas Ähnliches gesehen. Es war nicht zu beschreiben, was in ihm vorging; er selbst hätte es nicht angeben können. Es war eine Art tiefes Staunen. Was er dachte? Unmöglich zu erraten. Er war gerührt, tief beeindruckt. Aber welcher Art war seine Rührung? Er schien zugleich bereit, den Schädel des Greises einzuschlagen und ihm die Hand zu küssen.

Plötzlich wandte er sich ab, ging, ohne sich weiter um den Bischof zu kümmern, an dem Bett entlang auf den Wandschrank zu und setzte sein Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Der Schlüssel stak. Er öffnete. Das erste, was er gewahrte, war der Korb mit dem Silberzeug. Er nahm ihn, durchmaß mit großen Schritten und ohne jegliche Vorsicht das Zimmer, achtete nicht auf das Geräusch seiner Schritte, sondern erreichte die Tür, trat wieder in das Betzimmer, öffnete das Fenster, nahm seinen Stock, stopfte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb fort, sprang in den Garten, setzte über die Mauer wie ein Tiger und floh.


Der Bischof bei der Arbeit

Bei Sonnenaufgang erging sich Monsignore Bienvenu in seinem Garten. Frau Magloire kam in höchster Aufregung herbeigeeilt.

»Monsignore«, rief sie, »wissen Sie, wo der Korb mit den Silbersachen ist?«

»Ja.«

»Gelobt sei Jesus Christus!« rief sie, »ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«

Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet liegen gesehen. Er deutete darauf.

»Da ist er.«

»Leer! Und das Silber?«

»Ach, Sie meinen das Silber? Ich weiß nicht, wo es ist.«

»Großer Gott, gestohlen! Der Mann von gestern hat es gestohlen!«

Mit der ganzen Behendigkeit einer flinken Alten stürzte Frau Magloire in das Gebetzimmer, lief in den Alkoven und kehrte zurück. Der Bischof hatte sich über eine Staude gebeugt, die von dem Korb geknickt worden war, und betrachtete sie seufzend. Auf Frau Magloires Geschrei wandte er sich um.

»Monsignore, der Mann ist fort! Unser Silber ist gestohlen.«

Während sie noch schrie, bemerkte sie in der Ecke des Gartens ein abgebröckeltes Mauerstück.

»Sehen Sie, da ist er hinübergeklettert. Er ist in die Rue Cochefilet gesprungen. Diese Niedertracht! Unser ganzes Silber gestohlen!«

Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann sah er Frau Magloire ernst an und sagte sanft:

»War es denn unser Silber?«

Frau Magloire war sprachlos. Nach einer kurzen Pause fuhr der Bischof fort:

»Frau Magloire, zu Unrecht habe ich dieses Silber so lange bei mir behalten. Es gehörte den Armen. Wer war denn jener Mann? Ein Armer gewiß doch.«

»Ach, Herr Jesus!« rief Frau Magloire, »ich sag es ja nicht um meinetwillen oder wegen des Fräuleins, uns kann es ja recht sein, aber wie wollen Bischöfliche Gnaden denn jetzt essen?«

Verwundert sah sie der Bischof an.

»Ach, als ob es nicht Bestecke aus Zinn gäbe!« Frau Magloire zuckte die Achseln.

»Zinn riecht.«

»Gut, dann nehmen wir Eisen.«

Frau Magloire schnitt ein Gesicht.

»Eisen schmeckt.«

»Auch recht«, sagte der Bischof, »also Holz.«

Einige Augenblicke später frühstückte er an demselben Tisch, an dem gestern abend Jean Valjean gesessen hatte. Seine Schwester sagte kein Wort, Frau Magloire murrte dumpf. Monsignore Bienvenu machte die beiden darauf aufmerksam, daß er nicht einmal einen Holzlöffel oder eine Holzgabel benötigte, um sein Brot in die Milch zu stippen.

»Also was sagt man dazu?« murrte Frau Magloire im Hin- und Hergehen, »so einen Menschen nimmt man in sein Haus auf! So einen läßt man im Nebenzimmer schlafen! Ein Glück, daß er nur gestohlen hat. Die Beine zittern einem, wenn man nur daran denkt.«

Als Bruder und Schwester vom Tisch aufstanden, wurde an die Türe geklopft.

»Herein!« sagte der Bischof. Es wurde geöffnet, und eine seltsame Gruppe von Menschen drängte sich über die Schwelle. Drei hielten einen vierten am Kragen gepackt. Es waren Gendarmen. Der vierte war Jean Valjean. Ein Wachtmeister, der die Truppe zu führen schien, trat vor.

»Monsignore …«, begann er.

Bei diesem Worte blickte Jean Valjean, der düster und niedergeschlagen schien, auf.

Der Bischof trat, so rasch es ihm sein hohes Alter erlaubte, näher.

»Ach, da sind Sie ja«, sagte er zu Jean Valjean, »das ist mir lieb, Sie zu sehen. Ich hatte Ihnen doch auch die Leuchter gegeben, die silbernen, wissen Sie, damit Sie zweihundert Franken bekommen sollten, warum haben Sie die Bestecke genommen und die Leuchter hier gelassen?«

Jean Valjean schlug die Augen auf und sah den ehrwürdigen Bischof mit einem Ausdruck an, den keine menschliche Sprache wiederzugeben vermag.

»Monsignore«, rief der Wachtmeister, »so wäre also wahr, was der Mann sagte? Wir trafen ihn, und er sah aus wie einer, der etwas auf dem Kerbholz hat. Wir hielten ihn an und durchsuchten ihn. Da fanden wir diese Silbersachen.«

»Und er hat Ihnen gesagt«, unterbrach der Bischof lächelnd, »daß er sie von einem alten Priester geschenkt bekommen hat, bei dem er die Nacht verbrachte. Ich verstehe. Darum haben Sie ihn hergeführt. Es ist ein Mißverständnis.«

»Und demnach können wir ihn wieder gehen lassen?« fragte der Wachtmeister.

»Gewiß.«

»Du kannst gehen«, sagte einer der Gendarmen zu Jean Valjean. »Bist du taub?«

»Halt«, rief der Bischof, »bevor Sie gehen … die Leuchter!« Er trat an den Kamin, nahm die beiden Silberleuchter und reichte sie Jean Valjean. Wortlos, starr, sahen ihm die beiden Frauen zu.

Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Mechanisch griff er nach den beiden Leuchtern.

»Und jetzt gehen Sie in Frieden«, sagte der Bischof. »Übrigens, wenn Sie wiederkommen, mein Freund, brauchen Sie nicht durch den Garten zu gehen. Sie können immer die Straßentüre benützen, sie ist Tag und Nacht unversperrt.«

Die Gendarmen zogen sich zurück.

Noch immer stand Jean Valjean da wie ein Mensch, der ohnmächtig wird. Der Bischof trat dicht an ihn heran und sagte leise:

»Vergessen Sie niemals, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten dieses Geld dazu verwenden, ein anständiger Mensch zu werden.«

Jean Valjean konnte sich nicht erinnern, etwas Derartiges versprochen zu haben, aber er blieb still. Der Bischof hatte mit Nachdruck gesprochen. Feierlich fuhr er fort:

»Jean Valjean, mein Bruder, Sie gehören nicht mehr dem Bösen, sondern dem Guten. Ich kaufe Ihre Seele. Ich entziehe Sie den schwarzen Gedanken und dem Geist der Verderbnis und überantworte Sie Gott!«

Drittes Buch
Im Jahre 1817

Ein Doppelquartett

Im Jahre 1817 lieferten vier junge Pariser »einen famosen Streich«.

Von diesen vier Parisern war einer aus Toulouse, der andere aus Limoges, der dritte aus Cahors und der vierte aus Montauban; aber alle vier waren Studenten, und wer in Paris studiert, ist ein Pariser von Geburt.

Diese vier jungen Leute waren unbedeutend; Gesichter, wie man ihnen auf der Straße begegnet; weder gut noch schlecht, weder klug noch dumm, keine Genies, aber auch keine ausgemachten Tröpfe; hübsche Kerle, wie sie der April des Menschenlebens, das zwanzigste Lebensjahr, hervorbringt.

Sie hießen Félix Tholomyès aus Toulouse, Listolier aus Cahors, Fameuil aus Limoges und schließlich Blachevelle aus Montauban. Natürlich hatte jeder seine Geliebte. Blachevelle die Favourite, die so genannt wurde, weil sie in England gewesen war, Listolier die Dahlia, die einen Blumennamen zum nom de guerre gewählt hatte; Fameuil Zéphine – der Name ist eine Abkürzung aus Joséphine; Tholomyès endlich Fantine, die Blonde geheißen wegen ihrer schönen goldblonden Haare.

Favourite, Dahlia, Zéphine und Fantine waren vier reizende, frische, fröhliche Geschöpfe, noch immer ein wenig Arbeitermädchen, denn sie hatten die Nadel noch nicht ganz weggeworfen, wohl schon ein wenig durch ihre Liebschaften aus der Bahn geschleudert, aber noch mit einem Rest jener Heiterkeit und Ehrbarkeit im Antlitz und im Wesen, die bei den Frauen den ersten Fall überdauert. Eine unter den vieren wurde die Junge genannt, weil sie die jüngste war, eine andere die Alte; die Alte zählte dreiundzwanzig Jahre. Es soll nicht verschwiegen werden, daß die drei anderen erfahrener, leichtsinniger, ja sogar leichtfertiger waren als die blonde Fantine, die ihre ersten Illusionen noch nicht überwunden hatte.

Das hätte man von Dahlia, Zéphine und vor allem von Favourite wohl nicht behaupten können. Sie hatten jede in ihrem jungen Lebensroman schon manche Episode hinter sich, und der Liebhaber, der im ersten Kapitel Adolphe hieß, war im zweiten ein Alphonse und im dritten ein Gustave. Armut und Eitelkeit sind zwei schlimme Ratgeber: der eine drängt, der andere lockt; und da ist kein hübsches, junges Mädchen aus dem Volke, das nicht beiden Gehör schenkte. Diese schlechtbewachten Seelen sind empfänglich. Daher rührt mancher Sündenfall, daher mancher Stein, der nach jenen Geschöpfen geworfen wird.

Favourite war in England gewesen und wurde darum von Zéphine und Dahlia bewundert. Frühzeitig hatte sie es zu einer eigenen Wohnung gebracht. Ihr Vater war ein alter, brutaler Mathematiklehrer, der in jungen Jahren einmal gesehen hatte, wie das Kleid einer Kammerjungfer an einem Kaminvorsatz hängenblieb; darüber war er in Glut geraten, und so war Favourite entstanden. Zuweilen traf sie ihren Vater auf der Straße, und er grüßte sie sogar. Eines Morgens empfing sie den Besuch einer alten Frau, die wie eine Betschwester aussah.

»Sie kennen mich wohl nicht, Fräulein?«

»Nein.«

»Ich bin deine Mutter.«

Die Alte machte sich über den Speiseschrank her, aß und trank, ließ eine Matratze holen und blieb da. Diese Mutter, eine mürrische und frömmlerische Person, sprach niemals mit Favourite, aß für vier, hielt mit dem Portier vertraute Freundschaft und sprach schlecht von ihrer Tochter.

Was Dahlia zu Listolier getrieben hatte – es hätte auch ein anderer sein können –, kurz zur Untätigkeit, war nichts weiter, als daß sie allerliebste, rosige Fingernägel hatte. Wie sollte sie da arbeiten? Wer tugendhaft bleiben will, darf seiner Hände nicht achten.

Und was Zéphine betrifft, so hatte sie es Fameuil angetan mit ihrer schelmischen und schmeichlerischen Art zu sagen »Ja, mein Herr!«

Die jungen Leute waren Kameraden, die Mädchen Freundinnen. Solche Liebe hält mit solcher Freundschaft Nachbarschaft.

Tugend und Philosophie sind verschiedene Dinge; Favourite, Zéphine und Dahlia waren philosophisch veranlagt, Fantine tugendhaft.

Tugendhaft? Und Tholomyès? Salomo würde sagen, daß die Liebe ein Teil der Tugend ist. Und wir wollen nur bemerken, daß es ja Fantines erste Liebe war, eine uneingeschränkte, treue Liebe.

Fantine war auch die einzige von den vieren, die sich nur von einem duzen ließ.

Sie stammte aus den Tiefen der Gesellschaft. Sie war aus der undurchdringlichen Finsternis der sozialen Niederungen hervorgegangen und trug gewissermaßen das Mal der Anonymität auf der Stirn. In Montreuil sur Mer war sie geboren, von welchen Eltern, wußte niemand zu sagen. Weder Vater noch Mutter waren bekannt. Sie hieß Fantine, hatte niemals einen anderen Namen gehabt. Zur Zeit ihrer Geburt herrschte noch das Direktorium. Einen Familiennamen hatte sie nicht, weil es ihr an Familie gebrach, an einem Taufnamen fehlte es ihr, weil damals nicht getauft wurde. So bekam sie den Namen, den ihr der erste beste beilegte, dem die Kleine barfuß auf der Straße in den Weg gelaufen war. Sie bekam ihren Namen, wie ein Regentropfen auf den Kopf fällt. Man nannte sie die kleine Fantine; mehr wußte man nicht darüber. Dieses Menschenkind war eben so auf die Welt gekommen.

Mit zehn Jahren verließ Fantine die Stadt und nahm bei einem Bauern Dienst. Fünfzehnjährig kam sie nach Paris, um das Glück zu suchen. Sie war hübsch und blieb rein, solange sie konnte. Eine hübsche Blondine mit schönen Zähnen. Gold und Perlen waren ihre Mitgift, Gold auf dem Kopf und Perlen im Munde.

Mit ihren Händen erwarb sie sich ihr Brot; um zu leben, liebte sie schließlich, denn auch das Herz ist hungrig. Sie liebte Tholomyès.

Ihm war sie ein liebenswürdiger Zeitvertreib; er war für sie eine Leidenschaft. Die Straßen des Quartier Latin, in denen es von Studenten und Grisetten wimmelt, sahen den Beginn dieses kurzen Traumes. In diesem Straßengewirr des Panthéonhügels, wo so viele Abenteuer beginnen und enden, war Fantine Tholomyès lange davongelaufen, aber sie hatte es so eingerichtet, daß sie ihn immer wieder traf. Es gibt eine Art zu meiden, die dem Suchen gleicht. Kurz, die Idylle kam zustande.

Blachevelle, Listolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, an deren Spitze Tholomyès stand. Er war gewissermaßen der Kopf.

Kein ganz junger Student mehr; und noch dazu reich, denn er hatte viertausend Franken Rente zu verzehren, ein Einkommen, das rings um Sainte Geneviève für splendid gelten kann. Tholomyès war ein Lebemann von dreißig Jahren und nicht besonders gut erhalten. Er hatte Falten und schlechte Zähne. Auch die Haare gingen ihm aus, und er selbst sagte ohne allzu große Trauer: Mit dreißig eine Glatze, mit vierzig kahl. Auch seine Verdauung war mangelhaft, und sein Auge tränte. Aber im Ausmaß, in dem seine Jugend erlosch, entzündete sich seine Heiterkeit; er ersetzte die Zähne durch Späße, die Haare durch vergnügte Einfälle, die Gesundheit durch Ironie; und sein tränendes Auge lachte ohne Unterlaß. Er war bereits entblättert und stand doch noch in Blüte. Seine Jugend machte sich vorzeitig auf den Weg, aber sie trat sozusagen einen geordneten Rückzug an. Ein Stück, das er für das Vaudeville geschrieben hatte, war abgelehnt worden. Von Zeit zu Zeit schrieb er Verse. Auch verschaffte es ihm eine gewisse Überlegenheit, daß er ein großer Zweifler war, was ja schwachen Köpfen immer gewaltig imponiert.

Eines Tages nahm Tholomyès die drei andern beiseite und sagte:

»Es ist jetzt ein gutes Jahr, daß Fantine, Dahlia, Zéphine und Favourite verlangen, wir sollten ihnen eine Überraschung bereiten. Wir haben es ihnen feierlich versprochen. Jetzt bekommen wir es immer zu hören, zumal ich. So wie in Neapel die alten Weiber dem heiligen Januarius zurufen: Faccia gialluta, fa un miracolo, Gelbgesicht, tu ein Wunder, ebenso sagen unsere Schönen ohne Unterlaß: Tholomyès, wann kommt die Überraschung? Nun, gleichzeitig bekommen wir von unseren Eltern Briefe. Wir sitzen zwischen zwei Feuern. Der kritische Augenblick ist da, wir müssen etwas tun.«

Tholomyès senkte die Stimme und sagte geheimnisvoll etwas so Lustiges, daß alle vier zu lachen begannen und Blachevelle vergnügt ausrief:

»Das ist eine Idee!«

Das Ergebnis war, daß in einer verräucherten Kneipe für nächsten Sonntag eine Landpartie verabredet wurde, zu der die vier jungen Mädchen eingeladen werden sollten.


Vier und vier

Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, wie sich vor fünfundzwanzig Jahren solch eine Landpartie von Studenten und Grisetten abspielte. Paris hat heute nicht mehr dieselbe Umgebung. Im letzten halben Jahrhundert hat sich rings um Paris alles verändert, und wo früher der Kuckuck rief, rattern jetzt Waggons; wo die Postkutsche kroch, fährt die Bahn, und an Stelle des Postschiffs ist der Dampfer getreten; für uns heute ist Fécamp, was damals Saint-Cloud war.

Die vier Paare begingen gewissenhaft alle Torheiten, die damals bei Ausflügen aufs Land möglich waren. Die Ferien hatten eben begonnen, es war ein warmer, sonnenheller Tag. Favourite, die einzige, die schreiben konnte, hatte im Namen der vier Frauen an Tholomyès geschrieben: früh aufstehen ist fein. Darum waren auch schon alle um fünf auf den Beinen gewesen. Sie fuhren in der Postkutsche nach Saint-Cloud, bewunderten den Wasserfall, der gerade trocken lag, und meinten, er müsse doppelt schön sein, wenn Wasser darin wäre. Dann frühstückten sie in der Tête-Noire, leisteten sich eine Rundfahrt auf dem Teich, besuchten die Laterne des Diogenes, spielten Roulette an der Brücke von Sèvres, pflückten in Puteaux Blumen, kauften in Neuilly Pfeifchen, aßen überall Apfelkuchen und waren bester Laune.

Um ganz glücklich zu sein, fehlte nur eine kleine Widerwärtigkeit, etwa ein unvorhergesehener Regenguß; denn Favourite hatte, als man aufbrach, in belehrendem und mütterlichem Ton erklärt:

»Die Schnecken kriechen über den Weg. Das bedeutet Regen, Kinder!«

Tholomyès marschierte immer als letzter. Er war bester Laune, aber man merkte, daß er regierte. Sein Hauptschmuck waren Hosen mit »Elefantenbeinen«, Nankinghosen mit Kupferstegen. In der Hand schwang er einen mächtigen Spazierstock, der seine zweihundert Franken gekostet haben mochte, und da er sich alles erlaubte, hielt er sogar so ein neumodisches Ding, eine Zigarre, im Munde. Ihm war nichts heilig, er rauchte!

Tholomyès ist grandios, sagten die andern voll Bewunderung. Diese Hosen! Diese Energie!

Was Fantine angeht, so war sie die reinste Freude. Gott hatte ihr offenbar diese prächtigen Zähne gegeben, damit sie lachen sollte. Ihr Strohhütchen mit den langen, weißen Bändern trug sie lieber in der Hand als auf dem Kopf. Ihr dichtes, blondes Haar, das sich leicht auflöste und immer wieder hochgesteckt werden mußte, hätte einer »Galatea auf der Flucht« dienen können. Ihre rosigen Lippen zuckten vor Lebendigkeit. Die sinnlich geschwungenen Lippen, die einer alten Erigonemaske nachgeahmt schienen, mochten zu Kühnheiten herausfordern, aber die langen, bescheiden gesenkten Wimpern wirkten mildernd. Ihre ganze Toilette hatte irgend etwas Fröhliches, zu Gesang und Heiterkeit Anregendes; sie trug ein malvenfarbenes Barègekleid, kleine Goldkäferschuhe, deren Bänder ein X auf die weißen ajourierten Strümpfe zeichneten, und einen Musselinspenzer nach Marseiller Art, der dort Canezou (zusammengezogen aus quinze und août, fünfzehnter August) genannt wird, und dieser Name bedeutet, auf der Cannebière gesprochen, schönes Wetter, Sonne, Süden. Die andern drei Freundinnen, minder schüchtern, wie wir schon bemerkten, waren tiefer ausgeschnitten, und gerade im Sommer wirkt der tiefe Ausschnitt unter den großen, blumenbedeckten Hüten anmutig und aufmunternd; aber der Canezou der blonden Fantine, dieses durchsichtige Kleidungsstück, das soviel verbirgt und doch wieder verrät, verheimlicht und zugleich preisgibt, war eine köstliche Erfindung der Schüchternheit, und der berühmte Liebeshof der Vicomtesse de Cette mit den grünen Meeraugen hätte gewiß diesem Kleidungsstück, das doch auf Schamhaftigkeit Anspruch erhob, den großen Preis der Koketterie zugeteilt. Die Naivität ist manchmal die größte Geschicklichkeit, das kommt vor.

Fantines Gesicht war strahlend und rein, ihr Profil fein, die Augen zeigten ein tiefes Blau; kleine, gutgeformte Füße, prachtvoll angesetzte Gelenke, weiße Haut, die das Blau der Adern durchschimmern ließ, kindlich frische Wangen, der Hals kräftig, wie jener der äginetischen Juno, ein starker, geschmeidiger Nacken, Schultern, die ein Coustou modelliert haben könnte, und in ihrer Mitte ein feines, durch den Musselin erkennbares Grübchen; Heiterkeit durch Träumerei gedämpft – das war Fantines Wesen, man ahnte unter diesen Bändern und Stoffen eine Statue, in dieser Statue eine Seele.

Fantine war schön, ohne es recht zu wissen. Jene seltenen Träumer, die nur die Vollkommenheit anerkennen wollen, hätten in dieser kleinen Arbeiterin durch den Schleier der Pariser Anmut die heilige antike Harmonie erschaut. Diese Tochter des niedrigsten Volkes hatte Rasse. Sie war schön auf doppelte Art, schön als Stil und als Rhythmus.

– – – – – – – -- --

Nachdem man sich auf der Rutschbahn vergnügt hatte, mußte man ans Essen denken; man war müde und hielt schließlich seinen Einzug bei Bombarda, in jenem Restaurant, das der berühmte Bombarda auf den Champs-Elysées als Filiale seines Hauptgeschäfts in der Rue Rivoli an der Passage Delorme eingerichtet hatte.

Tischgespräche und Liebesgespräche sind gemeinhin ungegenständlich; die Reden Verliebter möchte man mit den Wolken, die der Esser mit Rauch vergleichen.

Fameuil und Dahlia trällerten; Tholomyès trank, Zéphine lachte, Fantine lächelte. Listolier blies auf seiner Holztrompete, die er in Saint-Cloud erstanden hatte. Favourite beunruhigte Blachevelle mit zärtlichen Bitten und sagte:

»Blachevelle, ich bete dich an!«

Das ermunterte Blachevelle zu der Gegenfrage:

»Was tätest du, Favourite, wenn ich dich nicht mehr liebte?«

»Das sollst du nicht einmal zum Spaß sagen!« rief Favourite. »Wenn du mich nicht mehr liebtest, liefe ich dir nach, würde dir die Augen auskratzen, dich mit Wasser begießen, und zuletzt ließe ich dich verhaften.«

An Blachevelles Lächeln war zu erkennen, daß diese Antwort seiner Eigenliebe wohltat.

»Ja«, sagte Favourite, »ich würde die Polizei rufen! Nicht schämen würde ich mich! Canaille!«

Blachevelle lehnte sich entzückt zurück und schloß stolz die Augen.

Dahlia flüsterte Favourite kauend zu:

»Bist du wirklich so verrückt nach diesem Blachevelle?«

»Widerlich ist er mir«, sagte Favourite ebenso leise und nahm ihre Gabel. »Dieser Geizkragen! Ich bin verliebt in den kleinen vis-à-vis, weißt du, du kennst ihn doch? Er kehrt sehr den Schauspieler heraus. Ich mag Schauspieler gern leiden. Sooft er nach Hause kommt, jammert seine Mutter: Mein Gott, mein Gott, schon wieder hat man keine Ruhe! Gleich wird er zu schreien anfangen. Liebster, Bester, du bringst noch meinen Kopf zum Zerspringen! Er steigt nämlich immer bis zum Boden hinauf, so hoch es nur irgend geht, und singt und deklamiert da oben, und weiß Gott was noch! Natürlich hört man ihn unten! Und er verdient zwanzig Sous täglich bei einem Anwalt mit Schreibarbeiten. Er ist der Sohn eines alten Kantors von Saint-Jacques du Haut-Pas. Ein feiner Bursche. Er vergöttert mich so sehr, daß er eines Tages, als er mich Teig kneten sah, herüberrief: ›Mamsell, machen Sie Kuchen aus Ihren Handschuhen, ich werde sie essen!‹ So etwas Nettes können doch nur Künstler sagen. Ein prächtiger Mensch. Ich bin auf dem besten Wege, mich über beide Ohren in ihn zu verlieben. Aber das ist gleichgültig, darum sage ich Blachevelle doch, daß ich ihn anbete. Wie ich lieben kann, was?«

Und nach einer Pause fuhr sie fort:

»Mir ist recht elend, Dahlia. Den ganzen Sommer über hat es geregnet, und immer gab es Wind, obwohl ich keinen Wind ausstehen kann; Blachevelle ist furchtbar knauserig. Auf dem Markt kann man nicht einmal Bohnen bekommen, man weiß gar nicht mehr, was man auf den Tisch bringen soll. Ich habe den Spleen, wie die Engländer sagen. Und die Butter ist auch nicht mehr zu bezahlen. Das Schrecklichste ist, daß wir in einem Zimmer essen, in dem ein Bett steht. Das vergällt mir das ganze Leben.«

Und jetzt wandte sie sich an Tholomyès und fragte energisch:

»Wo bleibt die versprochene Überraschung?«

»Ach ja, jetzt wäre es wohl an der Zeit. Meine Herren, die Stunde hat geschlagen, die Damen sollen ihre Überraschung haben. Meine Damen, warten Sie einen Augenblick auf uns.«

»Vorher noch einen Kuß«, verlangte Blachevelle.

»Auf die Stirn«, mahnte Tholomyès.

Jeder küßte feierlich seine Geliebte auf die Stirn, dann marschierten die vier Männer der Reihe nach zur Türe hinaus, wobei sie die Zeigefinger vielsagend auf die Lippen legten.

Favourite klatschte in die Hände.

»Das fängt ja lustig an«, sagte sie.

»Bleibt nicht zu lange weg«, murmelte Fantine, »wir erwarten euch!«


Lustiges Ende eines Scherzes

Als die jungen Mädchen allein geblieben waren, legten sie sich zu zweien in die Fenster, beugten sich hinaus und begannen zu plaudern.

Sie sahen die jungen Leute aus dem Restaurant Bombarda Arm in Arm hinausmarschieren; die vier wandten sich um, winkten, lachten und verschwanden in der staubbedeckten Menge der sonntäglichen Spaziergänger auf den Champs-Elysées.

»Bleibt nicht zu lange!« rief ihnen Fantine noch einmal nach.

»Was sie uns wohl bringen wollen?« fragte Zéphine.

»Gewiß etwas Hübsches«, meinte Dahlia.

»Ich wollte, es wäre von Gold«, sagte Favourite.

Bald waren sie von dem Treiben am Ufer ganz in Anspruch genommen. Um diese Zeit gehen dort die Postkutschen und Diligencen ab. Die Champs-Elysées waren damals Ausgangspunkt aller Postrouten nach Süden und Westen; die meisten Diligencen folgten den Seinequais und fuhren durch das Tor von Passy hinaus. Der Reihe nach rasselten diese schwarz-gelb lackierten mächtigen, schwerfälligen, mit Gepäck überladenen und mit Menschen vollgestopften Gefährte in wildem Galopp funkensprühend und staubaufwirbelnd dahin. Der Lärm belustigte die jungen Mädchen. Favourite rief:

»Welch ein Getöse! Als ob ein Bündel Ketten zerrissen würde!«

Einmal hielt eine der Postkutschen, hinter den Ulmen schwer erkennbar, plötzlich an und setzte sich dann rasch wieder in Bewegung. Fantine wunderte sich.

»Sonderbar«, sagte sie, »ich dachte, die Postkutschen halten niemals auf der Strecke.«

Favourite zuckte die Achseln.

»Diese Fantine ist wirklich vom Mond gefallen. Ich bin immer neugierig, wenn ich sie besuche, man lernt nie aus. Die einfachsten Dinge sind ihr rätselhaft. Wenn ich ein Reisender bin und zur Post sage: ich geh ein wenig voraus, nehmen Sie mich drüben am Quai auf, nun, dann hält die Kutsche, wo sie mich gerade trifft, und läßt mich einsteigen. Das kommt doch alle Tage vor. Du kennst wirklich das Leben nicht, Liebling.«

So verging einige Zeit. Plötzlich schien Favourite aus ihrer Nachdenklichkeit erwacht.

»Nun, und unsere Überraschung?«

»Ja, wo bleibt die berühmte Überraschung?!« rief Dahlia.

»Sie sind schon so lange fort«, sagte Fantine.

Während sie aufseufzte, trat der Kellner, der serviert hatte, ein. Er hielt etwas in der Hand, eine Sache, die einem Brief ähnlich sah.

»Was ist das?« fragte Favourite.

»Ein Brief, den die Herren für die Damen zurückgelassen haben.«

»Und warum haben Sie ihn nicht gleich gebracht?«

»Weil die Herren befohlen hatten, ihn erst nach einer Stunde zu bestellen.«

Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand.

»Keine Adresse!« rief sie, »aber ja, da steht etwas: Dies ist die Überraschung!«

Sie erbrach den Brief, und da nur sie lesen konnte, las sie ihn vor.

»Teure Freundinnen! Wisset, daß wir Eltern haben. Was Eltern sind, davon habt Ihr wohl keine rechte Vorstellung. Im bürgerlichen Recht und im Ehrenkodex wird so etwas Vater und Mutter genannt. Nun, diese Eltern jammern, die alten Leutchen verlangen nach uns, diese braven Männer und Frauen nennen uns verlorene Söhne, wollen, daß wir heimkehren, und machen sich anheischig, zu unseren Ehren ein Kälblein zu schlachten. Da wir tugendhaft sind, folgen wir dem Befehl. Zur Zeit, da Ihr dies leset, bringen uns fünf wackere Rosse zu Papa und Mama. Wir hauen ab, wie der Dichter sagt. Wir verduften – wir sind schon verduftet! Die Toulouser Post reißt uns aus dem Abgrund – und dieser Abgrund seid Ihr, Ihr lieben Kleinen! Wir kehren zurück in die menschliche Gesellschaft, zur Pflicht und Ordnung, und wir haben es sehr eilig, machen drei Meilen in der Stunde. Das Vaterland will, daß wir, wie jeder andere anständige Mensch, irgend etwas werden, Präfekten, Familienväter, Flurhüter oder Staatsräte. Blicket auf zu uns in Verehrung, denn wir sind Männer, die sich zu opfern wissen. Beweinet uns ohne Verzug, dann sorgt für Ersatz. Wenn dieser Brief Eure Herzen zerreißt, so rächt Euch und zerreißt ihn. Lebt wohl!

Zwei Jahre lang haben wir Euch beglückt. Nichts für ungut!

Tholomyès

Fameuil

Listolier

Blachevelle


PS. Das Diner ist bezahlt. –«

Die vier Mädchen sahen einander an. Favourite war es, die das Schweigen brach.

»Das ist wenigstens einmal ein guter Witz!«

»Sehr spaßhaft«, meinte Zéphine.

»Das hat natürlich Blachevelle ausgeheckt«, vermutete Favourite. »Ich könnte mich in ihn verlieben. Kaum ist er weg, so verliebe ich mich. So geht es.«

»Nein«, meinte Dahlia, »die Idee ist von Tholomyès. Unverkennbar.«

»In diesem Falle – nieder mit Blachevelle! Und hoch Tholomyès!« rief Favourite.

»Hoch Tholomyès!« stimmten Dahlia und Zéphine ein.

Sie lachten laut. Fantine lachte mit ihnen.

Als sie aber eine Stunde später nach Hause kam, weinte sie. Es war, wir sagten es schon, ihre erste Liebe gewesen; sie hatte sich diesem Tholomyès wie einem Gatten gegeben, und das arme Mädchen hatte ein Kind.

Viertes Buch
Anvertraut – ausgeliefert

Eine Mutter begegnet einer anderen

Im ersten Viertel dieses Jahrhunderts gab es in Montfermeil bei Paris eine kleine Gastwirtschaft, die jetzt nicht mehr existiert. Sie wurde von den Eheleuten Thénardier unterhalten und lag in der Ruelle du Boulanger. Über der Tür war ein Brett angebracht, das irgendein Bild zeigte, etwas wie einen Mann, der einen anderen auf dem Rücken trägt, und dieser andere hatte ungeheure Generalsepauletten aus Gold und breite Silbersterne; rote Kleckse stellten das Blut dar, das übrige Gemälde bestand aus Rauch, und das Ganze bedeutete wohl eine Schlacht. Darunter konnte man die Aufschrift sehen:

Zum Sergeanten von Waterloo.

Nichts ist gewöhnlicher als eine Fuhre oder eine Karre vor der Tür einer Herberge. Das Gefährt aber, oder besser gesagt, das Bruchstück von Gefährt, das vor der Kneipe »Zum Sergeanten von Waterloo« an einem Frühlingsabend des Jahres 1818 stand, hätte gewiß allein schon durch seinen Umfang die Aufmerksamkeit eines Malers auf sich gezogen, der da zufällig vorbeigekommen wäre.

Es war das Vordergestell eines Blockwagens, wie sie in bewaldeten Gegenden zum Transport von Baumstämmen benutzt werden. Dieses Gestell bestand aus einer massiven Achse aus Eisen, in die eine mächtige Deichsel gesteckt war und die von zwei riesenhaften Rädern getragen wurde. Das Ganze sah plump und mißförmig aus. Man hätte sagen können, es sei das Fahrgestell einer großen Kanone.

Wozu stand dieses Gefährt dort auf der Straße? Zunächst wohl, um den Verkehr zu hemmen, dann aber auch, um weiter zu rosten. In der alten sozialen Ordnung gibt es eine Unmenge von Dingen, die solchermaßen herumstehen und keine weitere Daseinsberechtigung haben als eben die, daß sie eben behinderlich sind.

Unter der Achse hing eine Kette so tief herab, daß sie fast bis zur Erde reichte, und in der Krümmung dieser Kette, wie auf einer Schaukel, saßen an diesem Abend zwei kleine Mädchen, eines von etwa zweieinhalb Jahren, das andere, jüngere, vielleicht achtzehn Monate; die Kleinere in den Arm der Größeren gelehnt. Ein geschickt verknotetes Tuch verhinderte, daß sie herunterfielen. Eine Mutter hatte diese Kette gesehen und hatte gedacht: halt, das ist ein Spielzeug für meine Kinder!

Die beiden Kleinen waren nett und sogar etwas gewählt angezogen; ihre Augen leuchteten, ihre frischen Wangen lachten; die eine war kastanienbraun, die andere brünett. Ihre naiven Gesichter strahlten Entzücken aus, ein Blumenbeet in der Nähe sandte einen Duft aus, der den Vorübergehenden von den beiden Kindern zu kommen schien. Die Kleine von achtzehn Monaten zeigte mit der keuschen Unbefangenheit des frühesten Kindesalters einen niedlichen kleinen Bauch.

Einige Schritte abseits saß auf der Schwelle der Herberge die Mutter, eine Frau von wenig einnehmendem Äußern, die aber in diesem Augenblick immerhin etwas Rührendes an sich hatte; mittels eines langen Stricks brachte sie die Kette zum Schaukeln und überwachte dabei ängstlich die beiden Kleinen mit jenem halb tierischen, halb himmlischen Ausdruck, der der Mutterschaft eigentümlich ist. Bei jeder Bewegung kreischten die Eisenringe gellend auf, die kleinen Kinder jubelten, und die untergehende Sonne mischte ihr Licht in all die Freude; es war, als ob diese Laune des Zufalls eine Titanenkette in eine Girlande der Cherubim verwandelt hätte.

Während die Mutter die Kleinen wiegte, sang sie eine damals berühmte Romanze:

»So muß es sein, sagt der Soldat …«

Ihr Gesang und die Beobachtung der Kinder hinderte sie zu hören oder zu sehen, was auf der Straße vorging.

Inzwischen war, als sie die erste Strophe jener Romanze anstimmte, jemand näher getreten, und plötzlich hörte sie knapp über ihrem Ohr eine Stimme.

»Zwei hübsche Kinderchen haben Sie, Frau!«

»… Zur schönen, süßen Imogen«, fuhr die Mutter fort, wie es im Text wohl lautete; dann wandte sie sich um.

Eine Frau stand vor ihr. Auch sie hatte ein Kind in den Armen.

Überdies schleppte sie einen recht umfangreichen Reisesack, der ziemlich schwer zu sein schien.

Das Kind dieser Frau war das entzückendste Wesen, das man sich nur vorstellen konnte. Ein Mädchen von zwei oder drei Jahren. Und nicht weniger kokett herausgeputzt wie die beiden andern Kleinen. Es trug ein Häubchen aus feinem Linnen, war mit Bändern und Spitzen geschmückt. Das Kleidchen war zurückgeschoben und ließ die weißen, prallen, wohlgeformten Schenkel sehen. Das Gesicht war rosig und verführerisch. Die Kleine verlockte den Beschauer, sie anzubeißen wie einen Apfel. Von ihren Augen konnte man nur sehen, daß sie sehr groß sein mußten und schöne Lider zeigten; denn sie schlief.

Sie schlief den ungestörten Schlaf ihres Alters. Mutterarme sind Zärtlichkeit; Kinder schlafen darin tief.

Was die Mutter betraf, so machte sie einen ärmlichen und traurigen Eindruck. Gekleidet war sie wie eine Arbeiterin, die wieder Bäuerin werden will. Sie war jung. War sie auch schön? Vielleicht, aber in dieser Kleidung kam es nicht zur Geltung. Ihr Haar, von dem nur eine blonde Locke sichtbar war, schien sehr dicht, aber es war sorgfältig unter einer Art Nonnenhaube, die am Kinn zusammengebunden war, verborgen. Schöne Zähne kommen nur beim Lachen zum Vorschein, und diese Frau schien nicht fröhlich gestimmt. Es war, als ob ihre Augen noch nicht lange trocken wären. Sie war blaß, sah müde und kränklich aus. An der Art, wie sie das schlafende Kind in ihren Armen ansah, war zu erkennen, daß sie es selbst genährt hatte. Um ihre Hüften hatte sie ein breites, blaues Tuch, wie es die Invaliden gebrauchen, geschlungen. Sie hatte sonnenverbrannte, mit Sommersprossen bedeckte Hände, und der Zeigefinger der Rechten war hart und zerstochen; ein brauner Mantel aus dicker Wolle und ein Leinenkleid war ihre Bekleidung.

Es war Fantine.

Kaum war sie zu erkennen. Nur wenn man näher zusah, konnte man bemerken, daß sie immer noch schön war. Eine traurige Falte, die wie einer ersten ironischen Regung entsprungen schien, durchschnitt die rechte Wange. Von der luftigen Musselinkleidung und den Bändern, die früher ihre Heiterkeit, ihren Übermut und ihre Lust zu singen zum Ausdruck gebracht hatten, war jetzt nicht mehr zu bemerken als von jenen Tautropfen, die in der Sonne wie Diamanten glitzern, aber bald verdunsten und den schwarzen Zweig hervortreten lassen.

Zehn Monate waren seit jenem »guten Scherz« verstrichen.

Was hatte sich inzwischen zugetragen?

Man errät es. Einsamkeit. Not. Fantine hatte Favourite, Zéphine und Dahlia bald aus dem Gesicht verloren; sobald das Band gerissen war, das jene Männer um sie geschlungen, waren sie auseinandergelaufen, und vierzehn Tage später wären sie sehr verwundert gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, sie seien Freundinnen: das war jetzt überflüssig.

Fantine war allein geblieben.

Der Vater ihres Kindes war fort, denn ach, ein solcher Bruch pflegt ja unwiderruflich zu sein … also war sie vollends vereinsamt, allein mit ihrer verringerten Arbeitslust und ihrer gesteigerten Freude am Vergnügen. Durch die Verbindung mit Tholomyès hatte sie sich daran gewöhnt, das schlichte Gewerbe, das sie auszuüben verstand, zu verachten, und hatte ihre Verdienstmöglichkeiten vernachlässigt. Nun war keine Hilfe zu erhoffen. Fantine konnte kaum lesen und nicht schreiben. Man hatte ihr in ihrer Kindheit nur beigebracht, ihren eigenen Namen aufs Papier zu setzen. So ließ sie durch einen öffentlichen Schreiber einen Brief an Tholomyès richten, später einen zweiten und noch einen dritten. Tholomyès hatte nicht geantwortet. Eines Tages hörte Fantine einige Frauen über ihr Töchterchen sagen:

»Nimmt man solche Kinder ernst? Man kann nur die Achseln zucken.«

Damals war ihr Tholomyès eingefallen, der auch die Achseln zuckte und dieses kleine, unschuldige Lebewesen nicht ernst nehmen wollte. Da dachte sie schlecht von ihm.

Aber was sollte sie tun? Sie wußte sich keinen Rat. Sie hatte einen Fehltritt begangen, aber im Grunde ihres Herzens war sie schamhaft und tugendhaft. Sie begriff ungefähr, daß sie dem Elend und der Schmach verfallen müsse. Sie mußte sich ein Herz fassen, und sie tat es. Ihr kam der Gedanke, nach ihrer Vaterstadt, Montreuil sur Mer, zurückzukehren. Vielleicht würde sie dort einen Bekannten finden, der ihr Arbeit verschaffte. Allerdings … sie mußte ihren Fehltritt verbergen. Es wurde ihr allmählich klar, daß sie sich zu einer zweiten, noch härteren Trennung werde verstehen müssen. Ihr Herz zuckte zusammen, aber sie rang sich durch. Fantine besaß, wie der Leser finden wird, einen wilden Lebensmut. Schon hatte sie jeglichem Schmuck entsagt, hatte sich in Leinen gekleidet und all ihre Seide, ihre Stoffe, Bänder, Spitzen dem Kinde, der einzigen Eitelkeit, die ihr verblieben war, geschenkt. Sie verkaufte ihre kleine Habe und löste dafür zweihundert Franken ein; nachdem sie ihre kleinen Schulden bezahlt hatte, blieben ihr etwa achtzig.

Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, als sie an einem schönen Frühlingsmorgen Paris verließ und ihr Kind auf dem Rücken aus der Stadt hinaustrug. Wer die beiden so gesehen hätte, wäre gewiß einer Regung des Mitleids zugänglich gewesen. Diese Frau besaß nichts auf der Welt als dieses Kind und dieses Kind nichts als diese Frau. Fantine hatte das Kind genährt, davon war ihre Brust etwas ermüdet, und sie hustete leicht.

Wir werden keine Gelegenheit mehr haben, von Félix Tholomyès zu sprechen. Begnügen wir uns zu sagen, daß er zwanzig Jahre später unter Louis Philippe ein angesehener Provinzadvokat war, einflußreich und begütert, ein verständiger Wähler und sehr strenger Geschworener; und auch dann noch ein Lebemann.

Gegen Mittag war Fantine, nachdem sie eine Strecke in den sogenannten Kleinfuhren für Paris und Umgebung, zu vier Sous die Meile, zurückgelegt hatte, in Montfermeil eingetroffen. Als sie an der Herberge der Thénardiers vorüberkam, hatten die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrer Kette ergötzten, Fantines Aufmerksamkeit erregt, und sie war vor ihnen wie vor einer Vision der Freude stehengeblieben. Tiefgerührt betrachtete sie die beiden. Wo Engel sind, kann das Paradies nicht fern sein. Sie glaubte, auf dem Schild der Herberge das geheimnisvolle »Hier ist es!« der Vorsehung zu sehen. Gewiß waren diese beiden Kinder glücklich. Fantine hatte sie mit Bewunderung und Zärtlichkeit betrachtet und konnte sich nicht enthalten, in einem Augenblick, da die Mutter zu einem neuen Vers ansetzte, zu sagen: »Zwei hübsche Kinderchen haben Sie, Frau!«

Selbst die rohesten Kreaturen sind entwaffnet, wenn man ihre Kinder rühmt. Die Mutter hob den Kopf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen. Sie selbst blieb auf der Schwelle sitzen.

»Ich bin Frau Thénardier«, sagte sie. »Wir betreiben hier diese Gastwirtschaft.«

Dann summte sie wieder einen Vers ihrer Romanze:

»Bin ein Ritter, muß wohl ziehn

Fern nach Palästina hin …«

Diese Frau Thénardier war eine rothaarige, fleischige, plumpe Person, ein rechtes Soldatenweib in ihrer mangelhaften Grazie. Seltsam, sie liebte es dabei, sich zu zieren – eine Neigung, die sie offenbar fleißiger Romanlektüre verdankte. Sie verschlang alte Bücher, und die bringen ja oft eine solche Wirkung zustande. Übrigens war sie noch jung, kaum dreißig Jahre. Wenn sie, die da gebückt saß, aufgestanden wäre, hätte ihre Riesengestalt, die sich auf einem Jahrmarkt hätte sehen lassen können, die Reisende gewiß in Angst versetzt und ihr Zutrauen vermindert: so daß, was wir eben zu erzählen im Begriffe sind, niemals zustande gekommen wäre. Ob ein Mensch sitzt oder aufrecht steht, an solche Dinge knüpft sich manchmal ein Schicksal.

Die Reisende erzählte ihre Geschichte, nicht ohne einige Änderungen an ihr vorzunehmen. Sie sei Arbeiterin, ihr Mann gestorben. In Paris gäbe es keine Arbeit, und darum wolle sie es anderswo versuchen, zum Beispiel zu Hause; sie sei heute morgen zu Fuß von Paris weggegangen, aber da sie das Kind getragen habe, sei sie bald müde geworden und in den Wagen gestiegen, dem sie auf dem Wege nach Villemomble begegnet sei; von Villemomble sei sie zu Fuß nach Montfermeil herübergegangen. Die Kleine sei ein wenig gelaufen, aber nur eine kurze Strecke, und sie sei ja noch so jung, dann habe sie sie wieder auf den Arm nehmen müssen. Jetzt sei der Schatz eingeschlafen.

Darüber küßte sie das Mädchen so leidenschaftlich, daß es erwachte. Das Kind schlug die Augen auf, große, blaue Augen, die denen der Mutter glichen, und sah um sich. Was es sah? Nichts, alles – und mit diesem ernsten, fast strengen Blick kleiner Kinder, der das Geheimnis ihrer strahlenden Unschuld unseren dämmernden Tugenden gegenüberstellt. Man möchte sagen, sie wüßten, daß sie Engel sind, wir aber Menschen.

Endlich begann die Kleine zu lachen, und obwohl die Mutter sie zurückhielt, glitt sie zur Erde herab mit der unzähmbaren Energie eines jungen Wesens, das laufen will. Sie bemerkte die beiden Kleinen auf ihrer improvisierten Schaukel, blieb stehen und sperrte, untrügliches Zeichen der Bewunderung, den Mund auf.

Mutter Thénardier band ihre Mädchen los, ließ sie von der Schaukel herabsteigen und sagte:

»Spielt, ihr drei!«

In diesem Alter werden Bekanntschaften rasch geschlossen; keine Minute war vergangen, da waren die kleinen Thénardiers bereits mit der neuen Freundin in dem sehr ernsthaften Bestreben vereint, Löcher in die Erde zu kratzen, wobei sie sich aufs beste zu amüsieren schienen.

»Wie heißt die Kleine?« fragte inzwischen Frau Thénardier.

»Cosette.«

Cosette … das heißt, eigentlich hieß sie Euphrasie. Aber aus Euphrasie hatte die Mutter Cosette gemacht mit jenem anmutigen Instinkt der Mütter und des Volkes, der aus Josepha Pepita und aus Françoise Sillette macht. Das sind Ableitungen, die geeignet sind, die ganze Etymologie auf den Kopf zu stellen. Ich habe eine Großmutter gekannt, die es zuwege brachte, aus Theodor Gnon zu machen.

»Wie alt ist sie?«

»Bald drei Jahre.«

»Wie meine Älteste.«

Inzwischen hatten sich die drei kleinen Mädchen in der Haltung tiefer Besorgnis und doch zugleich beglückender Spannung zusammengedrängt; irgend etwas war passiert. Ein dicker Regenwurm kam aus der Erde gekrochen. Sie fürchteten sich und waren doch entzückt.

»Ach diese Kinder!« rief Mutter Thénardier, »wie rasch die einander kennen! Wenn man sie so sieht, möchte man doch schwören, daß es drei Schwestern sind!«

Dies Wort war der Funke, auf den die andere gewartet zu haben schien. Sie nahm die Hand der Frau Thénardier, sah ihr fest ins Auge und fragte:

»Wollen Sie mein Kind bei sich behalten?«

Frau Thénardier antwortete mit einer Gebärde des Erstaunens, die weder Einwilligung noch Ablehnung bedeuten mußte.

Die Mutter Cosettes fuhr fort:

»Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Die Arbeit erlaubt es nicht. Mit einem Kind findet man keine Beschäftigung. Bei uns zu Hause sind die Leute so komisch in dieser Beziehung. Der liebe Gott hat mich zu Ihrer Herberge geführt. Als ich Ihre hübschen, sauberen Kinderchen sah, denen es offensichtlich so gut geht, habe ich gleich dieses Gefühl gehabt und habe mir gedacht: Das muß eine gute Mutter sein. Wirklich, die drei könnten Schwestern sein. Und dann komme ich ja auch bald wieder. Wollen Sie mein Kind so lange behalten?«

»Man müßte sich’s überlegen«, meinte Frau Thénardier.

»Ich würde sechs Franken monatlich geben.«

Jetzt wurde aus der Wirtsstube eine Männerstimme hörbar.

»Nicht unter sieben Franken! Und sechs Monate vorausbezahlt!«

»Sechs mal sieben wären zweiundvierzig …«, meinte Frau Thénardier.

»Das werde ich geben«, sagte die Mutter.

»Und fünfzehn Franken Anzahlung für die ersten Anschaffungen«, ließ die Männerstimme sich vernehmen.

»Das wären zusammen siebenundfünfzig Franken«, fuhr Frau Thénardier fort. Mitten in ihre Berechnung hinein aber summte sie ihr:

»So muß es sein, sagt der Soldat …«


»Ich werde es bezahlen«, sagte die Mutter. »Ich habe achtzig Franken. Mir bleibt noch ein Rest, um nach Hause zu kommen … wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich zu Hause Geld verdient habe, komme ich wieder und besuche meinen Schatz.«

Die Männerstimme fragte von neuem:

»Ist denn die Kleine ausgestattet?«

»Es ist mein Mann«, sagte Frau Thénardier.

»Aber gewiß hat sie eine Ausstattung, der kleine Schatz. Ich hatte es mir gleich gedacht, daß es Ihr Mann wäre. Und eine schöne Ausstattung sogar, alles dutzendweise! Seidenkleider wie eine Dame. Alles habe ich hier in meinem Reisesack.«

»Sie müssen es hierlassen«, antwortete die Männerstimme.

»Gewiß lasse ich es ihr hier«, erwiderte die Mutter. »Das wäre doch zu toll, wenn ich mein Kind nackt ließe!«

Jetzt wurde der Hausherr sichtbar.

»Gut«, sagte er.

Man wurde handelseinig. Die Mutter verbrachte die Nacht in der Herberge, erlegte das Geld, ließ das Kind zurück und machte sich am nächsten Morgen mit ihrem schlaff gewordenen Reisesack wieder auf den Weg.

Eine Nachbarin der Thénardiers begegnete ihr, als sie aus dem Ort hinausging, und erzählte später: »Ich sah diese Frau weinen, daß es zum Steinerweichen war.«

Der Wirt aber sagte zu seiner Frau, als Cosettes Mutter gegangen war:

»Nun werde ich die hundertzehn Franken doch bezahlen können, die morgen fällig sind. Diese fünfzig fehlten mir gerade noch. Weißt du auch, daß der Wechsel gewiß protestiert worden wäre? Wir hätten das Gericht auf den Leib gekriegt. Die hast du gut geködert mit deinen Kleinen!«

»Und ich dachte mir nicht einmal was dabei.«


Erste Skizze zweier verdächtiger Gestalten

Wer waren diese Thénardiers?

Diese Leute gehörten zu jener Zwitterart von Menschen, die sich aus ungebildeten Emporkömmlingen und herabgekommenen Gebildeten zusammensetzt, gewissermaßen eine Mischung ist aus dem sogenannten Mittelstand und der Unterklasse, und die Fehler der letzteren mit den Lastern der ersteren verbindet – kurz, die zwar die großherzigen Regungen des Arbeiters nicht kennt, aber auch die Ordnungsliebe der Bürgerklasse eingebüßt hat.

Es waren verkrüppelte Seelen, die, wenn zufällig irgendein Antrieb sie verführte, leicht zu Verbrechern entarten konnten. Die Frau war eher roh, während der Mann einen richtigen Lumpen abgeben konnte.

Dieser Thénardier mußte dem Kenner der Physiognomik auf den ersten Blick mißfallen. Manche Menschen braucht man nur anzusehen, um ihnen zu mißtrauen. Solche Leute blicken beunruhigt auf ihre Vergangenheit zurück, drohend auf ihre Zukunft. Etwas Unbekanntes ist in ihnen. Man weiß nicht, was sie getan haben oder noch tun werden. Ein Schatten in ihrem Blick verrät sie. Man braucht sie oft nur ein Wort sagen zu hören, nur eine Gebärde von ihnen zu erhaschen, und man ahnt ein dunkles Geheimnis in ihrer Vergangenheit oder düstere Möglichkeiten ihrer Zukunft.

Thénardier war, wenn man ihm glauben will, Soldat gewesen, Sergeant, wie er behauptete; angeblich hatte er an dem Feldzuge von 1815 teilgenommen und sich dabei ausgezeichnet. Das Schild seiner Kneipe war eine Anspielung auf eine seiner Waffentaten. Er hatte es selbst gemalt, denn er konnte alles, aber alles schlecht.

Die Thénardier war gerade klug genug, um alberne Bücher zu lesen. Sie lebte davon. Nichts anderes beschäftigte ihren Verstand; das hatte ihr seinerzeit, als sie noch jung war, ja sogar noch später, den Schein einer gewissen Besinnlichkeit verliehen, so daß sie neben ihrem Mann, einem Schurken von Format und geschulten Lumpen, geradezu angenehm wirkte. Sie war zwölf oder fünfzehn Jahre jünger als er. Später, als ihre romantischen Schmachtlocken zu ergrauen begannen und aus der Pamela eine Megäre wurde, war die Thénardier nur noch eine plumpe, böse Frau, die dumme Bücher las.

Man beschäftigte sich nicht ungestraft mit Albernheiten.

So geschah es, daß die älteste Tochter der Thénardiers Eponine getauft wurde; und die jüngere, das arme Geschöpf, sollte gar Gülnare heißen; das Glück wollte, daß ein Roman von Ducray-Duménil diese Schmach von ihr fernhielt; sie kam mit dem Namen Azelma davon.


Die Lerche

Es genügt, um Erfolg zu haben, nicht, daß man ein Schuft ist. Die Herberge ging schlecht.

Dank den siebenundfünfzig Franken der Reisenden konnte Thénardier einem Protest entgehen und seinen Wechsel honorieren. Aber schon im nächsten Monat brauchte er wieder Geld. Die Frau trug Cosettes Kleider nach Paris und versetzte sie auf dem Mont de Piété für sechzig Franken. Sobald diese Summe verausgabt war, gewöhnten sich die beiden daran, die Kleine für ein Kind zu halten, das sie aus reiner Barmherzigkeit bei sich behielten, und sie behandelten sie danach. Da sie jetzt keine Ausstattung mehr besaß, mußte sie die alten Kleider und Hemden der kleinen Thénardiers auftragen. Ihre Nahrung war, was übrigblieb – etwas besser als die des Hundes und etwas schlechter als die der Katze. Hund und Katze waren übrigens ihre Tischgenossen. Cosette aß mit ihnen unter dem Tisch aus einem Holznapf, der dem der beiden Tiere glich.

Die Mutter hatte sich, wie der Leser noch sehen wird, in Montreuil sur Mer niedergelassen. Allmonatlich ließ sie an die Thénardiers schreiben, um Nachrichten über ihr Kind einzuholen. Und unwandelbar antworteten die Thénardiers:

»Cosette geht es glänzend.«

Als die ersten sechs Monate abgelaufen waren, sandte die Mutter sieben Franken für den siebenten; monatlich liefen ihre Zahlungen pünktlich ein. Aber das Jahr war noch nicht voll, als Thénardier sagte:

»Wir sind ja keine Wohltäter! Was sollen wir denn von ihren sieben Franken alles leisten?«

Und er schrieb, sie müsse jetzt zwölf Franken bezahlen. Da sie der Mutter sagten, das Kind sei glücklich und gedeihe aufs beste, fügte sie sich und sandte zwölf Franken.

Gewisse Naturen können nicht nach einer Seite lieben, ohne nach der anderen zu hassen. Mutter Thénardier liebte ihre beiden Töchter leidenschaftlich, aber das hatte nur zur Folge, daß sie die Fremde verabscheute. So wenig Platz Cosette auch einnahm, ihr schien immer, es sei Platz, der den eigenen Kindern gebühre, und sie hatte ein Gefühl, als ob Cosette ihren Kindern die Luft wegschnappe. Diese Frau hatte, wie viele ihrer Art, ein gewisses Quantum Liebe und ein gewisses Quantum Püffe und Flüche täglich zu verausgaben. Wäre Cosette nicht im Hause gewesen, so wären gewiß auch die Grobheiten den eigenen Kindern, sosehr sie auch geliebt wurden, zugefallen; die Fremde aber leistete den beiden Mädchen den Dienst, alle Prügel auf sich abzuziehen. Cosette konnte nichts tun, ohne einen Hagel unverdienter und grausamer Züchtigungen auf sich herabzulocken.

Da die Thénardier gegen Cosette schlecht war, taten Eponine und Azelma desgleichen. In diesem Alter sind die Kinder nur Kopien der Eltern.

So verstrich ein Jahr, und noch eines.

Im Dorf hieß es: diese Thénardiers sind doch gute Leute. Sie sind nicht reich, aber sie bringen dieses arme Kind durch, das man bei ihnen liegengelassen hat.

Denn man nahm an, Cosette sei von ihrer Mutter vergessen worden.

Inzwischen hatte Thénardier erfahren – wir wissen nicht, auf welchen dunklen Umwegen –, daß das Mädchen unehelich geboren war und daß die Mutter es verleugnen mußte. Sofort verlangte er fünfzehn Franken monatlich, schrieb, die Kleine wachse und esse für drei, drohte sogar, sie zurückzuschicken.

Die Mutter zahlte auch die fünfzehn Franken.

Von Jahr zu Jahr wuchs das Kind, wuchs auch sein Elend.

Solange Cosette klein war, hatte sie den beiden anderen Kindern als Prügelfänger gedient; seit sie etwas größer war (noch nicht ganz fünf Jahre), diente sie als Hausmagd.

Cosette erledigte alle Gänge, säuberte Stuben, Hof und Straße, wusch Geschirre, trug sogar kleine Lasten. Die Thénardiers fühlten sich zu diesen Forderungen um so mehr berechtigt, als die Mutter, die sich noch immer in Montreuil sur Mer aufhielt, begann, unpünktlich zu zahlen. Sie blieb einige Monate mit ihren Sendungen im Rückstand.

Wenn sie damals, nach drei Jahren, nach Montfermeil gekommen wäre, hätte sie ihr Kind nicht wiedererkannt. Die niedliche, frische, kleine Cosette war jetzt mager und blaß. Sie hatte etwas Unruhiges in ihrem Wesen, etwas »Tückisches, Falsches«, wie die Thénardiers sagten.

Die Ungerechtigkeit hatte sie verschlossen, das Elend hatte sie häßlich gemacht. Nur ihre schönen Augen waren ihr verblieben, aber es tat weh, in sie hineinzuschauen, denn sie schienen nur so groß, um all das Unglück zu fassen.

In der Gegend nannte man sie Lerche. Das Volk, das Bildvergleiche liebt, hatte sie so genannt, weil dieses Geschöpf, kaum größer als ein Vögelchen, allmorgendlich als erste im Hause und im ganzen Dorfe aufstand.

Nur daß die arme Lerche niemals sang.

Fünftes Buch
Der Abgrund

Ein Fortschritt in der Industrie des schwarzen Glases

Was war aus dieser Mutter, die nach der Ansicht der Leute von Montfermeil ihr Kind im Stich gelassen hatte, geworden?

Nachdem sie die kleine Cosette bei den Thénardiers zurückgelassen hatte, war sie weitergewandert und schließlich nach Montreuil sur Mer gekommen.

Das war, wie der Leser sich erinnert, im Jahre 1818 gewesen.

Zehn Jahre früher hatte Fantine ihre Heimat verlassen. Montreuil sur Mer hatte sich sehr verändert. Während Fantine immer tiefer ins Elend herabgesunken war, hatte ihre Heimatstadt einen Aufschwung zu Wohlstand und Gedeihen genommen. Vor etwa zwei Jahren hatte sich ein Umschwung in der Industrie vollzogen, der für diesen kleinen Ort ein großes Ereignis wurde. Diese Einzelheit ist wichtig, und wir müssen näher auf sie eingehen.

Seit undenklichen Zeiten war es das besondere Gewerbe von Montreuil sur Mer, englischen Gagat und deutsches Schwarzglas nachzuahmen. Diese Industrie hatte immer ihr Leben gefristet, aber infolge des hohen Preises der Rohstoffe keinen Aufschwung nehmen können. Als Fantine zurückkehrte, war eben eine unerhörte Umwälzung in den Arbeitsmethoden dieser Industrie vollzogen worden. Gegen Ende des Jahres 1815 war ein Unbekannter in die Stadt gekommen und hatte die Idee gehabt, in der Gagaterzeugung das Harz durch Gummilack zu ersetzen. Diese geringfügige Änderung hatte genügt, eine Revolution hervorzurufen. Denn jetzt war billiger Rohstoff zur Genüge vorhanden, und so konnten zunächst die Löhne gesteigert werden, ein Vorteil, der für den ganzen Ort fühlbar wurde; dann konnte die Ware verbessert werden, was den Konsumenten zunutze kam, und schließlich konnte sie im Preise gesenkt werden, obwohl der Fabrikant den dreifachen Gewinn einstrich.

In knappen drei Jahren war der Mann, der diese Idee gehabt hatte, reich geworden, und reich auch die ganze Umgebung. Er war fremd im Departement. Über seine Herkunft war nichts bekannt. Die Anfänge seines Aufstiegs lagen im Dunkel.

Man erzählte sich, er sei mit sehr wenig Geld, höchstens ein paar hundert Franken, in die Stadt gekommen. Aber mit diesem bescheidenen Kapital, das er in den Dienst einer guten Idee stellte, hatte er ein Vermögen gemacht und dem Wohlstand der Stadt gedient. Als er nach Montreuil sur Mer gekommen war, schien er nach Kleidung, Haltung und Sprache ein einfacher Arbeiter zu sein. Es hieß, er habe damals, an jenem Dezemberabend, da er gänzlich unbeachtet seinen Einzug hielt, einen Tornister am Rücken und einen Knotenstock in der Hand gehabt. Eben an jenem Abend war im Gemeindehaus ein Brand ausgebrochen. Dieser Mann hatte sich in das Feuer gestürzt und hatte, ohne die größte Gefahr zu scheuen, zwei Kinder – es waren die des Gendarmeriehauptmannes – gerettet; so war es vielleicht zu erklären, daß in der Aufregung niemand nach seinem Paß gefragt hatte. In der Folge hatte man seinen Namen erfahren. Er hieß Père Madeleine, Vater Madeleine.


Madeleine

Er war etwa fünfzig Jahre alt, sah aus, als ob er irgendeinem geheimen Gedanken nachginge, und war gütig. Das ist alles, was man von ihm sagen konnte.

Dank dem Aufschwung der Industrie, den er veranlaßt hatte, war Montreuil sur Mer ein ansehnlicher Handelsplatz geworden. Spanien, das sehr viel schwarzen Jett konsumiert, sandte alljährlich große Aufträge. Montreuil sur Mer begann sogar London und Berlin Konkurrenz zu machen. Die Verdienste, die Vater Madeleine aus diesen Geschäften zog, waren so beträchtlich, daß er bereits im zweiten Jahre eine große Fabrik mit zwei geräumigen Werkstätten, einer für Männer, einer für Frauen, hatte einrichten können. Wer immer Not litt, konnte dort vorsprechen und war gewiß, Arbeit und Brot zu finden. Vater Madeleine verlangte von den Männern nur Arbeitswillen, von den Frauen Sittenreinheit und Ehrlichkeit. Er hatte zwei Werkstätten eingerichtet, um die beiden Geschlechter zu trennen und die Frauen und jungen Mädchen von den Männern fernzuhalten. In diesem Punkt war er unbeugsam. Es war die einzige Sache, in der er geradezu unduldsam war. Gewiß war diese Strenge begründet, denn da Montreuil sur Mer eine Garnisonstadt war, fehlte es nicht an Verlockungen und Verderbnis.

Im ganzen genommen, war Madeleines Ankunft eine Wohltat, sein dauernder Verbleib ein Geschenk der Vorsehung für diese Stadt. Früher war die ganze Gegend verelendet gewesen; jetzt gedieh alles in einem arbeitsamen Dasein. Der Puls eines werktätigen Lebens belebte und stärkte alles. Arbeitslosigkeit und Elend waren unbekannt. Selbst die Ärmsten hatten etwas, und auch der bescheidensten Hütte fehlte nicht jegliche Freude.

Vater Madeleine beschäftigte alle.

Und inmitten all dieser Tätigkeit, die von ihm ausging, erwarb er ein Vermögen, obwohl – höchst sonderbarerweise – nicht seine Hauptsorge diesem Ziel zu gelten schien. Er dachte offenbar mehr an die andern als an sich selbst. 1820 wußte man, daß er bei Laffitte 630 000 Franken deponiert hatte, aber bevor diese Summe beisammen war, hatte er eine gute Million für die Stadt und die Armen verausgabt.

Das Hospital war in Schwierigkeiten. Er hatte zehn neue Betten gestiftet. Er ließ zwei neue Schulen bauen, eine für Mädchen, eine für Knaben. Den beiden Lehrern setzte er eine Zulage aus, die ihr Gehalt um das Doppelte übertraf, und als sich jemand darüber wunderte, sagte er:

»Die Amme und der Schulmeister sind die beiden höchsten Beamten des Staates.«

Auch hatte er auf eigene Kosten einen Kindergarten eingerichtet – damals in Frankreich noch etwas fast Unbekanntes –, auch Unterstützungskassen für alte und invalide Arbeiter geschaffen. Rings um seine Fabrik war ein neues Arbeiterviertel entstanden, in dem viele mittellose Familien Unterkunft suchten; hier hatte er eine Apotheke eingerichtet, in der Heilmittel unentgeltlich abgegeben wurden.

Zuerst hatten die guten Leute geglaubt, er wäre ein schlauer Kerl, dem es letztlich doch nur auf den Reichtum ankäme. Als dann aber der Segen des Wohlstandes den Ort mehr traf als Madeleine selbst, hieß es: ein Ehrgeizling. Und dafür sprach auch, daß er offensichtlich religiös war und mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Kirche besuchte (was damals höchsten Ortes gern gesehen wurde). Jeden Sonntag hörte er eine stille Messe. Der Deputierte des Ortes, der einen Nebenbuhler witterte, fand besonders diese religiösen Anwandlungen verdächtig. Er war unter dem Kaiserreich Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft gewesen und hing den religiösen Anschauungen jener Epoche an. Als er aber den reichen Fabrikanten Madeleine sonntäglich um sieben Uhr die stille Messe besuchen sah, begriff er, was ihm drohe, und entschloß sich, den Nebenbuhler zu überbieten; er nahm sich einen Jesuiten zum Beichtvater und versäumte weder das Hochamt noch die Vesper. Das war eine Zeit, in der, wer ehrgeizig war, nicht ruhen durfte. Die Armen hatten davon ebenso ihren Vorteil wie der liebe Gott, denn der ehrenwerte Deputierte stiftete auch zwei Betten im Spital …

1819 ging eines Morgens das Gerücht durch die Stadt, Vater Madeleine sei auf Empfehlung des Herrn Präfekten und in Ansehung seiner großen Verdienste um die Stadt zum Bürgermeister von Montreuil sur Mer vorgeschlagen worden. Wer bisher gesagt hatte, der Alte sei nur ein Ehrgeizling, fand die Gelegenheit günstig und hielt den Beweis für erbracht, daß er recht gehabt hatte. Haben wir es nicht gesagt? Ganz Montreuil sur Mer war außer sich. Und das Gerücht war nicht unbegründet. Einige Tage später stand die Ernennung im Moniteur. Am nächsten Tag aber schlug Vater Madeleine die ihm erwiesene Ehre aus.

Im selben Jahre 1819 waren die von Madeleine erfundenen neuen Erzeugnisse der Jettindustrie auf der Gewerbeausstellung vertreten; auf den Bericht der Jury hin ernannte der König den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Neue Aufregung in der Kleinstadt. Aha, das war es, worauf Madeleine hinauswollte!

Aber er lehnte wieder ab.

Ein Rätsel, dieser Mensch. Die guten Leute zogen sich aus der Affäre, indem sie sagten: »Alles in allem eine Art Abenteurer.«

Der Leser hat gesehen, daß die Stadt ihm viel, die Armen ihm alles verdankten; seine Arbeiter waren ihm sehr zugetan. Er nahm ihre Liebe mit schwermütigem Ernst an. Als feststand, daß er reich sei, grüßten ihn die Leute aus der feinen Gesellschaft von Montreuil sur Mer, und man nannte ihn jetzt Herr Madeleine; die Arbeiter und die Kinder aber beließen es bei Vater Madeleine, und ihm war es recht so. Im Ausmaß, in dem er seinen Aufstieg nahm, regnete es Einladungen. Jetzt nahm die gute Gesellschaft ihn in Anspruch. Die kleinen Salons von Montreuil sur Mer, die dem Handwerker immer verschlossen gewesen wären, öffneten ihre Türen dem Millionär. Aber er blieb zurückhaltend.

Auch diesmal wußten die ganz Gescheiten eine Erklärung. Er ist unwissend, sagten sie, ein Mensch ohne Erziehung. Wer kennt seine Herkunft? Vielleicht wüßte er sich nicht in guter Gesellschaft zu bewegen. Man weiß ja nicht einmal bestimmt, ob er lesen kann.

So war es: als man ihn Geld verdienen sah, hatte man gesagt: ein Schacherer. Später, als man ihn Geld verschenken sah: ein Ehrgeizling. Als er die ihm angebotenen Ehrungen ausschlug: ein Abenteurer. Und als er sich von der Gesellschaft abschloß: ein ungebildeter Lümmel.

1820 aber, fünf Jahre nach seiner Ankunft in Montreuil sur Mer, strahlten die Dienste, die er seiner Stadt erwiesen, in so hellem Licht und die Meinung des Landes war so einhellig, daß der König ihn neuerlich zum Bürgermeister ernannte. Wieder wollte er ablehnen, aber der Präfekt drängte ihn, die Leute auf der Straße redeten ihm zu, bis er schließlich annahm. Entscheidend für seinen Entschluß war der ärgerliche Ausruf einer alten Arbeiterin gewesen, die zornig gesagt hatte:

»Ein guter Bürgermeister ist eine nützliche Sache! Darf man nein sagen, wenn man Gutes tun soll?«

Dies war die dritte Stufe seines Aufstiegs. Vater Madeleine war Herr Madeleine, Herr Madeleine Herr Bürgermeister.

Zu Beginn des Jahres 1821 meldeten die Journale den Tod des Bischofs Myriel von Digne, genannt Monsignore Bienvenu, der im Alter von zweiundachtzig Jahren und im Rufe hoher Heiligkeit verschieden war.

Der Bischof war, um diese Einzelheit hinzuzufügen, die von den Zeitungen nicht erwähnt wurde, seit Jahren blind gewesen, aber versöhnt mit diesem Schicksal, da ja seine Schwester bei ihm war.

Sofort nach dem Erscheinen der Todesanzeige im Stadtblatt von Montreuil sur Mer legte Herr Madeleine schwarze Kleider an und schlang einen Trauerflor um seinen Hut.

Man bemerkte es in der Stadt und mutmaßte allerlei. Man glaubte etwas über die Herkunft des Herrn Madeleine erfahren zu haben. Offenbar war er mit dem Bischof verwandt gewesen. Das steigerte sein Ansehen, und selbst in der guten Gesellschaft von Montreuil sur Mer dachte man besser von ihm. Der mutmaßliche Verwandte eines Bischofs war in der kleinen Nachahmung des Faubourg Saint-Germain, die es in jeder französischen Kleinstadt gibt, wohlgelitten. Alte Frauen behandelten ihn mit Auszeichnung, junge lächelten ihm zu. Eines Tages leistete sich die älteste der vornehmen Damen jenes Kreises, die bereits ein Altersrecht auf Neugierde hatte, die Frage:

»Sie sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne, Herr Bürgermeister?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Aber Sie tragen doch Trauer um ihn.«

»Ich stand in meiner Jugend im Dienste seiner Familie.«


Blitze am Horizont

Allmählich erschlaffte aller Widerstand. An seine Stelle trat allgemeine aufrichtige Achtung. Es gab 1821 eine Zeit, in der in Montreuil sur Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« nicht anders ausgesprochen wurden als 1815 die Worte »Seine bischöflichen Gnaden« in Digne.

Ein einziger Mensch in der Stadt entzog sich dieser allgemeinen Gefühlseinstellung und blieb, was auch Vater Madeleine tun mochte, widerspenstig, als ob ein unbestechlicher Instinkt ihn wach und mißtrauisch halte. Es scheint, als ob in gewissen Menschen ein geradezu tierischer Trieb sich geltend macht, der Antipathien und Sympathien hervorbringt und schicksalhaft den einen vom andern trennt, der zwei Spielarten des Typus Mensch gegeneinander scheidet wie Hund und Katze, Fuchs und Löwe.

Wenn Herr Madeleine ruhig, leutselig und von allen achtungsvoll begrüßt, die Straßen durchschritt, geschah es oft, daß ein hochgewachsener Mann in einem eisgrauen Ridingcoat, mit einem dicken Spazierstock und einem breitkrempigen Hut, sich jäh hinter ihm umdrehte, ihm mit den Augen folgte, bis er um eine Ecke gebogen war, die Arme verschränkte und mit der Unterlippe die Oberlippe fast bis zur Nase hochschob, als ob er sagen wollte: wer das nur sein mag! Den habe ich schon einmal in meinem Leben gesehen. Auf jeden Fall lasse ich mir von ihm nichts vormachen.

Dieser Mann mit seinem fast drohend-ernsten Gesicht war einer von jenen, die selbst auf einen flüchtigen Blick hin auffallen.

Er hieß Javert und war Polizist.

In Montreuil sur Mer versah er den peinlichen, aber nützlichen Dienst eines Inspektors. Den Anfängen von Madeleines Aufstieg hatte er nicht beigewohnt. Denn Javert verdankte seinen Posten der Protektion des Herrn Chabouillet, Sekretärs des Staatsministers Graf Anglês. Als Javert nach Montreuil sur Mer kam, hatte der Fabrikant bereits den Grundstein zu seinem Vermögen gelegt, und Vater Madeleine war schon Herr Madeleine geworden.

Javert war im Gefängnis geboren; seine Mutter war eine Kartenlegerin, deren Gatte damals auf den Galeeren saß. Als er herangewachsen war, begriff er, daß er gewissermaßen außerhalb der menschlichen Gesellschaft stand und niemals in sie eindringen werde. Er gewahrte, daß die Gesellschaft zwei Klassen von Menschen streng von sich fernhält, nämlich ihre Feinde und ihre Verteidiger; zwischen diesen beiden Klassen hatte er die Wahl. Zugleich aber fühlte er in sich eine Neigung zu Strenge, Regelmäßigkeit und Rechtschaffenheit, die noch durch seinen Haß gegen das Zigeunergesindel bestärkt wurde, dem er entstammte. Also wurde er Polizist. Er hatte Erfolg, und mit vierzig Jahren war er Inspektor.

In seiner Jugend hatte er in den Kerkern des Südens Dienst getan.

Er hatte eine Stumpfnase mit zwei breiten Flügeln, zu denen die Spitzen seines gewaltigen Schnurrbarts aufstiegen. Wer zum erstenmal dieses Haargestrüpp und diese Nasenhöhlen sah, konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Wenn Javert lachte, was selten genug geschah und fürchterlich wirkte, lösten sich seine dünnen Lippen voneinander und ließen nicht nur die Zähne, sondern auch das Zahnfleisch sehen; sein Schädel war klein, das Kinn stark vorgebaut, die Haare wuchsen über die Stirn bis zu den Brauen herab.

Den Charakter dieses Menschen bestimmten zwei höchst einfache und verhältnismäßig gute Empfindungen, die er indessen übertrieb und beinahe in schlechte verzerrte: Respekt vor der Obrigkeit und Haß gegen jede Rebellion. In seinen Augen war Diebstahl, Mord, jedes Verbrechen überhaupt nur eine Form der Rebellion. Wer indessen ein Staatsamt bekleidete, vom Premierminister bis zum Flurhüter herab, dem hing er in einer fast blinden, tiefen Verehrung an. Dagegen empfand er die tiefste Verachtung und Abneigung gegen jedermann, der auch nur ein einziges Mal die Schwelle des Erlaubten überschritten hatte. Das war für ihn eine Regel, die keine Ausnahmen zuließ. Sein erstes Dogma war: Der Beamte kann nicht irren. Die Behörde hat immer recht. Sein zweites: Die Verdorbenen sind unwiderruflich verloren. Von ihnen kann nichts Gutes mehr kommen.

Kurz, er war ein Anhänger jener überspitzten Denker, die dem Menschengesetz die mystische Macht zuerkennen, etwas zu bewirken, was es doch nur festzustellen vermag. Er war Stoiker, düsterer Träumer, demütig und hochmütig zugleich, wie alle Fanatiker. Sein Blick war kalt und stechend wie ein Bohrer. Sein Leitspruch: Wachen, überwachen! Er war fest überzeugt von der Nützlichkeit seines Wirkens, von der religiösen Heiligkeit seiner Amtsverrichtungen, fühlte sich, obwohl er nur ein Spitzel war, als Priester. Wehe dem, der ihm in die Hände fiel! Er hätte seinen Vater verhaftet, wenn er ihn auf der Flucht von den Galeeren ertappt, seine Mutter verraten, wenn er sie dabei erwischt hätte, wie sie sich der Polizeikontrolle zu entziehen suchte. Und er hätte es getan mit jener inneren Befriedigung, die nur die Tugend verleiht. Und dabei war er ein Mann, der seine Pflicht blutig ernst nahm, ein Mann der Selbstbescheidung, Selbstverleugnung, Zucht und Strenge. Die Fleisch gewordene Pflichterfüllung, Polizei, wie die Spartaner sie sich gedacht hatten.

In seinen seltenen Mußestunden las er, obwohl er nicht gerade ein Freund der Bücher war; so kam es, daß er nicht jeglicher Bildung ermangelte.

Laster kannte er nicht. Wenn er mit sich selbst zufrieden war, bewilligte er sich eine Prise Tabak. Das war die einzige Schwäche, die ihn menschenähnlich machte.

Man wird unschwer begreifen, daß Javert der Schrecken aller jener Leute war, die im statistischen Jahresbericht des Justizministeriums in der Rubrik »ohne festen Aufenthaltsort« geführt werden. Allein schon Javerts Name brachte sie aus der Fassung; tauchte er auf, so erstarrten sie zu Stein.

Das war der Mann. Das war Javert, der ein Auge auf Herrn Madeleine hatte, ein argwöhnisches, mißtrauisches Auge. Herr Madeleine hatte es wohl gemerkt, doch schien er nicht darauf zu achten. Er stellte Javert nicht zur Rede, suchte ihn nicht, wie er ihn auch nicht mied, ertrug diesen peinlichen Blick, ohne sich darum zu kümmern. Er behandelte Javert wie alle anderen Menschen, unbefangen und gütig.

Aus einigen Äußerungen, die Javert entschlüpften, konnte man erfahren, daß er heimlich mit der angeborenen Neugierde seines Menschenschlags nach der Herkunft Herrn Madeleines forschte. Er schien zu wissen und ließ es sogar durchblicken, irgend jemand habe irgendwo über eine verschollene Familie Nachforschungen angestellt. Einmal sagte er im Selbstgespräch ganz laut:

»Ich hab’s!«

Dann war er drei Tage lang versonnen und schweigsam geblieben. Offenbar war ihm der Faden, den er bereits in Händen hielt, wieder abgerissen.

Einmal aber schien Javerts seltsames Fragen auch auf Herrn Madeleine Eindruck zu machen. Und das geschah bei folgender Gelegenheit.


Vater Fauchelevent

Eines Morgens durchschritt Herr Madeleine eine ungepflasterte Straße von Montreuil sur Mer. Er hörte Lärm und bemerkte eine Ansammlung von Menschen. Er trat näher und sah, daß ein alter Mann, der Vater Fauchelevent genannt wurde, unter einen Wagen gestürzt war, nachdem sein Pferd die Fuhre umgeworfen hatte.

Dieser Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Herr Madeleine damals noch hatte. Als Madeleine in die Stadt gekommen war, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Amtsschreiber, einen Handel, der schlecht zu gehen begann. So hatte Fauchelevent sehen müssen, wie ein einfacher Arbeiter reich wurde, während er, der diplomiert war, herunterkam. Das hatte ihn neidisch gestimmt, und seither nahm er jede Gelegenheit wahr, um Madeleine zu schaden. Als er bankrott machte, blieb ihm nur ein Pferd und ein Wagen, und so mußte er, da er ohne Familie und Kinder war, als Fuhrmann sein Brot suchen.

Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und konnte sich nicht mehr erheben. Der Alte war zwischen die Räder geklemmt und lag so unglücklich, daß die ganze schwere Fuhre auf seiner Brust lastete. Und der Wagen war schwer beladen. Vater Fauchelevent stöhnte jämmerlich. Man hatte versucht, ihn herauszuziehen, aber vergebens. Ein falsch angesetzter Stoß, eine ungeschickte Hilfeleistung konnten ihn ums Leben bringen. Man konnte ihn aus seiner gefahrvollen Lage nur befreien, indem man den Wagen hochhob. Javert, der im Augenblick des Unglücksfalles zur Stelle gewesen war, hatte um eine Winde geschickt.

Als Madeleine näher trat, wurde ihm respektvoll Platz gemacht.

»Ist denn keine Winde zur Hand?« fragte er.

»Man hat bereits um eine gesandt«, erwiderte ein Bauer.

»Wann wird sie kommen?«

»Es ist nicht weit, aber eine Viertelstunde wird es wohl dauern.«

»Unmöglich, eine Viertelstunde!« rief Madeleine.

Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war aufgeweicht, und das umgeworfene Gefährt sank von Augenblick zu Augenblick tiefer ein, so daß die Brust des alten Fuhrmanns immer schwerer belastet wurde. Es konnte keine fünf Minuten mehr dauern, bis seine Rippen zerschmettert waren.

»Wir können unmöglich noch eine Viertelstunde warten«, sagte Madeleine zu den Bauern, die ihn nicht aus den Augen ließen.

»Es wird nichts anderes übrigbleiben.«

»Seht ihr denn nicht, daß der Wagen einsinkt?«

»Weiß Gott, allerdings …«

»Hört«, sagte Madeleine, »es ist noch genug Platz unter dem Wagen, daß ein Mann hineinschlüpfen und das Gefährt mit dem Rücken hochheben kann. Er braucht es nur eine halbe Minute zu halten, inzwischen wird der arme Mensch herausgezogen. Ist unter euch einer, der Muskel und ein Herz hat? Ich setze fünf Louisdor aus.«

Niemand rührte sich.

»Zehn Louisdor«, sagte Madeleine.

Alle blickten zu Boden. Einer murmelte:

»Dazu gehörte ja eine Teufelskraft. Und man riskiert, zu Brei zerquetscht zu werden.«

»Vorwärts«, rief Madeleine, »zwanzig Louis!«

Wieder schwiegen alle.

»An gutem Willen fehlt es nicht«, sagte eine Stimme.

Madeleine wandte sich um und erkannte Javert. Dieser fuhr fort:

»Es gehörte ein Riesenkerl dazu, einen solchen Wagen mit dem Rücken hochzuheben.«

Mit einem scharfen Blick auf Madeleine sagte er:

»Ich habe nur einen einzigen Menschen gekannt, Herr Madeleine, der zustande gebracht hätte, was Sie da verlangen. Es war ein Galeerensträfling.«

»Oh«, sagte Madeleine.

»Im Bagno, in Toulon.«

Madeleine erblaßte.

Inzwischen fuhr der Wagen fort, langsam zu sinken. Vater Fauchelevent keuchte und stöhnte.

»Ich ersticke! Das bricht mir alle Rippen entzwei!«

Wieder blickte Madeleine ringsum.

»Ist keiner da, der zwanzig Louis verdienen und dem armen Alten das Leben retten möchte?«

Wieder rührte sich niemand. Javert aber sagte:

»Ich kannte nur einen einzigen Menschen, der eine Winde ersetzten konnte – eben jenen Galeerensträfling!«

»Es erdrückt mich!« jammerte der Alte.

Madeleine blickte auf, begegnete dem Falkenauge Javerts, sah die Bauern unbeweglich stehen und lächelte traurig. Dann kniete er wortlos nieder, und bevor noch jemand einen Schrei ausstoßen konnte, war er unter dem Wagen.

Ein Augenblick bangen Schweigens folgte.

Man sah Madeleine, der fast flach auf dem Bauch lag und sich unter dem furchtbaren Gewicht zweimal vergeblich plagte, die Ellbogen den Knien zu nähern. »Vater Madeleine, lassen Sie ab davon!« wurde gerufen. Sogar der alte Fauchelevent warnte ihn. »Herr Madeleine«, sagte er, »tun Sie es nicht; wenn ich sterben muß, dann soll es geschehen, ich will nicht, daß Sie sich auch zerschmettern lassen.«

Madeleine antwortete nicht. Die Umstehenden keuchten. Die Räder waren schon so tief eingesunken, daß Madeleine kaum mehr unter dem Wagen hervorkonnte.

Plötzlich ging ein Zittern durch die gewaltige Masse der Ladung, langsam wurde der Wagen gehoben, und die Räder lösten sich halb vom Boden. Eine stöhnende Stimme rief: »Macht rasch!« Und alle stürzten herzu. Die Hingabe des einen hatte alle ermutigt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.

Madeleine stand auf. Er war blaß und schweißüberströmt. Seine Kleider waren zerfetzt und kotbedeckt. Alle waren zu Tränen gerührt. Der Greis umfing seine Knie und nannte ihn seinen lieben Gott. In Madeleines Antlitz war ein Ausdruck von himmlischem, beseligtem Weh, während er ruhig Javerts Blick erwiderte.


Fauchelevent wird Gärtner in Paris

Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturz das eine Bein verrenkt. Vater Madeleine ließ ihn in das Spital bringen, das er in dem Fabrikgebäude für seine Arbeiter eingerichtet hatte und in dem zwei barmherzige Schwestern beschäftigt waren. Am nächsten Morgen fand der Alte einen Tausendfrankenschein auf seinem Nachtschrank und dabei einen Zettel, auf den Madeleine geschrieben hatte:

»Ich kaufe Ihren Wagen und Ihr Pferd.«

Der Wagen war zerbrochen, das Pferd tot. Fauchelevent wurde gesund, eins seiner Beine aber blieb gelähmt. Madeleine verschaffte ihm durch Vermittlung der barmherzigen Schwestern und des Pfarrers eine Anstellung als Gärtner im Nonnenkloster zu Saint-Antoine in Paris.

Kurze Zeit nachher wurde Madeleine Bürgermeister. Als Javert ihm zum erstenmal mit der Schärpe, die seine Würde kennzeichnete, auf der Straße begegnete, zuckte er zusammen wie eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wittert. Seither mied er es nach Möglichkeit, ihm zu begegnen. Wenn ihn seine dienstlichen Obliegenheiten zwangen, beim Bürgermeister vorzusprechen, so benahm er sich ehrfurchtsvoll.

So lagen die Verhältnisse, als Fantine in ihre Heimatstadt zurückkehrte. Niemand erkannte sie wieder. Das Tor der Madeleineschen Fabrik war ihr wie ein freundliches Antlitz. Sie meldete sich und wurde in die Werkstätte der Frauen aufgenommen. Die Arbeit war Fantine neu, sie ging ihr nicht leicht von der Hand, und darum verdiente sie nicht allzuviel, aber genug, um ihr Leben zu fristen.


Frau Victurnien gibt fünfunddreißig Franken für die Moral aus

Als Fantine sah, daß sie auskommen konnte, war sie glücklich. Die Lust zur Arbeit erwachte. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich zu sehen, daß sie jung war, daß ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne gefallen konnten, vergaß vieles, dachte nur mehr an ihre Cosette und an die Zukunft; es fehlte nicht viel, und sie war glücklich. Sie mietete ein kleines Zimmer und kaufte auf Kredit Möbel: Rückfall in unordentliche alte Angewöhnungen.

Da sie nicht sagen konnte, sie sei verheiratet, hatte sie sich wohl gehütet, von ihrem Töchterchen zu sprechen. Doch zahlte sie wenigstens zu Anfang pünktlich ihre Schuld an Thénardier. Da sie nicht schreiben konnte, mußte sie sich eines öffentlichen Schreibers bedienen. Sie schrieb oft, und das fiel auf. In den Werkstätten der Frauen wurde geflüstert, Fantine schreibe Briefe und sie wolle sich wohl groß aufspielen.

Und unter ihren Freundinnen war nicht nur eine, die sie um ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne beneidet hätte.

Sie brachten heraus, daß sie mindestens zweimal monatlich immer an die gleiche Adresse schrieb. Es gelang ihnen, diese Adresse zu erfahren. Sie lautete: Herrn Thénardier, Wirt in Montfermeil.

Man ermittelte auch den Schreiber, und da der alte Biedermann einer Flasche Rotwein nicht widerstehen konnte, erfuhr man, daß Fantine ein Kind hatte.

»Also so eine war sie!«

Es fand sich sogar eine Frau, die eine Reise nach Montfermeil nicht scheute und mit Thénardier sprach. Als sie zurückkam, sagte sie:

»Es hat mich fünfunddreißig Franken gekostet, aber jetzt bin ich im Bilde. Ich habe das Kind gesehen.«

Diese Frau war eine alte Hexe, eine gewisse Victurnien, die Tugendwächterin aller Welt. Sie zählte sechsundfünfzig Jahre, und die Maske des Alters trat zurück hinter der der Häßlichkeit. Sie meckerte, und ihr Verstand war schrullig. Auch sie war, kaum zu glauben, einmal jung gewesen. Damals, Anno 93, hatte sie einen entlaufenen Bernhardiner geheiratet, der die rote Mütze genommen und zu den Jakobinern übergegangen war. Sie war vertrocknet, boshaft, tückisch, ihr Mönch, dessen Witwe sie bereits war, hatte sie gehörig gezähmt und gemeistert. Unter der Restauration kehrte sie in den Schoß der Kirche zurück, und sie tat es so voll und ganz, daß die Priester ihr ihren Mönch verziehen. Ihre kleine Habe hatte sie, nicht ohne großes Aufheben davon zu machen, einer frommen Gemeinde gestiftet. Im Bischofspalais zu Arras war sie gern gesehen. Das war die Frau, die in Montfermeil gewesen war und sagen konnte: Ich habe das Kind gesehen.

Alles das nahm Zeit in Anspruch. Fantine war seit mehr als einem Jahr in der Fabrik, als eines Morgens die Aufseherin der Frauenwerkstätte ihr von dem Herrn Bürgermeister fünfzig Franken überbrachte und bestellte, sie solle sich hier nicht mehr blicken lassen; und der Herr Bürgermeister lasse ihr sagen, sie solle am besten anderswohin ziehen.

Das geschah genau damals, als Thénardier seine Forderung neuerlich erhöhte und fünfzehn Franken monatlich verlangte. Fantine war niedergeschmettert. Sie konnte Montreuil sur Mer nicht verlassen, denn sie war mit der Miete im Rückstand und hatte ihre Möbel noch nicht bezahlt. Fünfzig Franken reichten nicht aus, um diese Schulden abzugelten. Sie stammelte einige flehentliche Worte, aber die Aufseherin bedeutete ihr, sie habe sofort die Werkstätte zu verlassen. Fantine war ja auch nur eine mittelmäßige Arbeiterin. Von Schmach und Verzweiflung niedergedrückt, verließ sie die Fabrik und ging nach Hause. Offenbar wußten jetzt alle von ihrer Schande!

Man empfahl ihr, sich an den Herrn Bürgermeister zu wenden, aber sie wagte es nicht. Er hatte ihr fünfzig Franken gegeben, weil er gut war, und er jagte sie aus dem Dienst, weil er gerecht war …


Erfolge der Frau Victurnien

Die Witwe des Mönchs hatte ihre Sache also gut gemacht.

Übrigens ahnte Madeleine nichts. So verknüpfen sich die Umstände. Es war nicht seine Gewohnheit, in die Frauenwerkstätte zu gehen. Er hatte die Leitung dieses Betriebes einem alten Fräulein anvertraut, das der Pfarrer ihm empfohlen hatte, und er hatte alles Vertrauen zu dieser wachsamen, wahrhaft ehrenwerten, gerechten Frau, die sogar zu geben verstand, aber das Mitleid nicht so weit trieb, zu verstehen und zu verzeihen. Ihr überließ Madeleine die Leitung der Werkstätte. Auch die besten Menschen sind zuweilen gezwungen, sich eines Teils ihrer Obliegenheiten zu entledigen. Aus eigener Machtvollkommenheit hatte die Aufseherin den Prozeß geführt, das Urteil gefällt und Fantine ihm unterworfen.

Was die fünfzig Franken betraf, so hatte sie sie aus einer Kasse entnommen, die Herr Madeleine ihr zur Unterstützung bedürftiger Arbeiterinnen anvertraut hatte und über die sie nicht Rechenschaft abzulegen brauchte.

Zunächst suchte Fantine in Dienst zu treten; sie ging von Haus zu Haus, aber niemand wollte sie nehmen. Fortziehen hatte sie nicht können. Der Möbelhändler, dem sie ihre Einrichtung – welch eine jämmerliche Einrichtung! – schuldete, hatte gesagt: »Wenn Sie fortgehen, lasse ich Sie als Diebin verhaften.« Der Hauswirt, dem sie noch Miete schuldete, hatte gesagt: »Sie sind jung und hübsch, Sie können zahlen.« So teilte sie die fünfzig Franken unter den Wirt und den Möbelhändler, gab Dreiviertel ihrer Einrichtung zurück, behielt nur das Allernötigste und fand sich ohne Arbeit, ohne Stellung und mit ungefähr hundert Franken Schulden wieder.

Sie begann grobe Soldatenhemden zu nähen und verdiente damit zwölf Sous täglich. Ihre Tochter kostete sie zehn. Damals begann sie mit ihren Zahlungen an Thénardier in Verzug zu geraten. Doch lehrte eine alte Frau, die ihr abends die Kerze anzündete, sie die Kunst des Lebens im Elend. Denn wenn man auch mit wenig gelebt hat, so gibt es auch noch eine Steigerung – mit nichts auskommen.

Fantine lernte, wie man einen Winter ohne Heizung durchhält, wie man einen Vogel los wird, der in seiner unergründlichen Freßgier alle zwei Tage für einen Heller Futter braucht, wie man einen Unterrock als Bettdecke und eine Bettdecke als Unterrock benützt, wie man an der Kerze spart, indem man seine Mahlzeit im Licht des hellerleuchteten Fensters von gegenüber einnimmt.

Es wurde ein wahres Talent daraus. Fantine faßte sogar wieder ein wenig Mut.

Anfänglich hatte Fantine kaum gewagt, auszugehen. Sobald sie die Straße betrat, fühlte sie, daß die Leute sich nach ihr umwandten und mit dem Finger auf sie zeigten. Alle Welt sah sie an, niemand grüßte. Diese rohe Mißachtung schnitt ihr ins Fleisch und fiel wie ein eisiger Wind in ihre Seele. In den Kleinstädten ist, scheint es, eine Unglückliche nackt und wehrlos gegen den Hohn und die Neugierde aller. In Paris bleibt man unbekannt, da ist die Dunkelheit wie ein schützendes Kleid. Wie sehr sehnte sie sich danach, wieder in Paris zu sein. Aber unmöglich …

Also mußte sie sich an die Verachtung gewöhnen, wie sie sich an die Not gewöhnte. Allmählich richtete sie sich ein. Nach zwei oder drei Monaten schüttelte sie die Scham ab und ging aus, als ob nichts gewesen wäre. So sah Frau Victurnien sie bisweilen vom Fenster aus, aufrecht einherschreitend, mit einem bitteren Lächeln um die Lippen, überzeugte sich von dem Elend dieser Person, die sie »in ihre Schranken gewiesen hatte«, und war stolz.

Das Übermaß der Arbeit erschöpfte Fantine; der leichte, trockene Husten wurde schlimmer. Manchmal sagte sie zu ihrer Nachbarin Marguerite:

»Fühlen Sie doch, wie meine Hände warm sind!«

Wenn sie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochenen Kamm ihre schönen Haare strählte, die wie Seide knisterten, empfand sie einen Augenblick beseligter Eitelkeit.

Sie war gegen Ende des Winters entlassen worden; ein Sommer verging, und wieder ward es Winter. Kurze Tage, weniger Arbeit. Winter, Kälte, kein Licht, von Morgen bis Abend nur eine kurze Spanne Zeit, draußen Nebel, Dämmerung, zugefrorene Fenster …

Und ihre Gläubiger quälten sie. Sie verdiente sehr wenig. Ihre Schulden wuchsen an. Die Thénardiers waren nicht die Leute, um Außenstände zu dulden; sie schrieben Briefe, die Fantine tief betrübten; allein das Porto erschöpfte ihre geringe Barschaft. Eines Tages schrieben sie ihr, die kleine Cosette sei trotz der Kälte fast nackt, sie brauche dringend eine Wolljacke, und dazu wären mindestens zehn Franken nötig. Fantine empfing diesen Brief und trug ihn einen ganzen Tag lang in der Hand. Am Abend endlich ging sie zu einem Barbier und zog ihren Kamm aus der Frisur. Die herrlichen, blonden Haare fielen ihr bis über die Hüften herab.

»Was würden Sie dafür geben?« fragte sie.

»Zehn Franken.«

»Schneiden Sie sie ab.«

Sie kaufte ein Wolljäckchen und sandte es den Thénardiers, die darüber in arge Wut gerieten, denn sie hatten es auf das Geld abgesehen. Das Jäckchen gaben sie Eponine, und die arme Lerche mußte weiter frieren.

Fantine dachte: mein Kind friert nicht mehr. Ich habe es mit meinen Haaren bekleidet. Sie trug jetzt ein kleines Häubchen, das ihren geschorenen Kopf verhüllte und ihr recht gut stand.

Inzwischen vollzog sich in Fantines Herz eine düstere Wandlung. Sie begann zu hassen. Lange Zeit hatte sie die Verehrung aller für Vater Madeleine geteilt. Jetzt aber bedachte sie, daß er es doch war, der sie fortgejagt hatte, daß er ihr Unglück verursacht hatte, und sie begann ihn mit einem ganz besonderen Haß zu verfolgen. Wenn sie an der Fabrik vorbeikam, zu einer Zeit, da die Arbeiter an der Tür standen, lachte und sang sie auffällig.

»Das wird kein gutes Ende nehmen«, sagte eine alte Arbeiterin einmal.

Sie nahm sich einen Liebhaber, den ersten besten, der ihr über den Weg lief, einen Mann, den sie nicht liebte, nur aus Wut. Es war ein elender Kerl, eine Art Bettelmusikant, ein Nichtstuer, der sie schlug und den sie verließ, wie sie ihn genommen hatte, mit Abscheu. Ihr Kind liebte sie immer noch. Der Husten wurde nicht besser, oft hatte sie Schweißausbrüche auf dem Rücken.

Eines Tages erhielt sie von den Thénardiers einen Brief, der folgendermaßen lautete: Cosette hat eine Krankheit, die jetzt hier umgeht. Die Leute nennen sie Frieselfieber. Sie muß teure Medikamente bekommen. Wir haben kein Geld, können nichts auslegen. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig Franken schicken, ist die Kleine tot.

Sie begann wild zu lachen, dann sagte sie zu der Nachbarin:

»Die sind gut! Vierzig Franken! Zwei Napoléons! Wo soll ich die nur hernehmen! Blöd sind diese Bauersleute.«

Sie lief auf die Straße, tanzend und lachend. Jemand begegnete ihr und fragte: »Was haben Sie nur, daß Sie so lustig sind?«

»Mir haben Leute vom Land eine rechte Dummheit geschrieben. Vierzig Franken wollen sie von mir. Dumme Bauern das!«

Als sie über den Platz ging, sah sie eine Menschenmenge, die einen seltsamen Wagen umstand, auf dem ein rotgekleideter Mann eine Rede hielt. Es war ein Zahnarzt, der dem Publikum Gebisse, schmerzstillende Mittel und Elixiere anbot.

Fantine mischte sich unter die Leute und begann mit den andern über das Geschwätz des Kurpfuschers zu lachen, der die Sprache des gemeinen Pöbels mit der der Leute von Stand zu einem seltsamen Kauderwelsch verband. Der Zahnreißer sah das lachende Mädchen und rief plötzlich:

»Sie haben hübsche Zähne, Sie Kleine da unten! Wenn Sie mir Ihre beiden Schneidezähne geben, zahle ich Ihnen für jeden einen Napoléon.«

»Was sind Schneidezähne?« fragte Fantine.

»Die beiden vordersten oben«, erwiderte der Zahnarzt.

»Um Gottes willen!« rief Fantine.

»Zwei Napoléon«, murrte eine zahnlose Alte neben ihr, »die hat ein Glück!«

Fantine lief davon und hielt sich beide Ohren zu, um nicht die heisere Stimme des Mannes zu hören, der ihr nachrief:

»Überlegen Sie sich’s, meine Schöne, zwei Napoléons sind kein Scherz! Wenn Sie doch noch Lust kriegen, kommen Sie zum ›Silbernen Kreuzer‹, dort finden Sie mich.«

Fantine kehrte nach Hause zurück. Zu Marguerite, die neben ihr arbeitete, sagte sie:

»Was ist das eigentlich, Frieselfieber?«

»Nun, eine Krankheit.«

»Braucht man da viel Medikamente?«

»Schrecklich viel Medikamente.«

»Und das kriegen auch Kinder?«

»Kinder besonders.«

»Kann man daran sterben?«

»Ganz leicht«, meinte Marguerite.

Am Abend ging sie in die Pariser Straße, in der die Herbergen sind.

Als Marguerite am nächsten Morgen vor Tagesanbruch – die beiden arbeiteten zusammen bei einer gemeinsamen Kerze – in Fantines Zimmer trat, fand sie das Mädchen blaß und kälteschauernd auf ihrem Bett sitzen. Die Haube war auf die Knie herabgefallen. Sie hatte nicht geschlafen. Die Kerze hatte die ganze Nacht gebrannt und war fast ganz verbraucht.

»Großer Gott«, rief Marguerite verblüfft, »die ganze Kerze ist verbrannt! Was ist denn los?«

Dann sah sie Fantine, die ihr den kurzgeschnittenen Kopf zuwandte. Sie war um zehn Jahre gealtert.

»Jesus!« rief Marguerite, »was haben Sie nur, Fantine?«

»Nichts«, sagte Fantine, »gar nichts. Mein Kind wird nicht an dieser schrecklichen Krankheit sterben.«

Und sie wies auf die beiden Napoléons, die auf dem Tisch lagen.

»Großer Gott!« sagte Marguerite, »ein Vermögen! Woher haben Sie das Geld?«

»Ich habe es bekommen.«

Sie lächelte. Das Kerzenlicht erhellte ihr Gesicht. Ein blutiges Lächeln. Rötlicher Speichel benetzte ihre Mundwinkel, und in ihrem Mund war ein schwarzes Loch. Zwei Zähne waren herausgerissen.

Vierzig Franken sandte sie nach Montfermeil. Thénardier hatte sich dieses Kniffs bedient, um Geld zu bekommen. Cosette war nicht krank.

Fantine warf ihren Spiegel aus dem Fenster. Sie hatte ihre Scham verloren, jetzt gab sie auch nichts mehr auf ihre äußere Erscheinung, vernachlässigte sich. Sie ging mit schmutzigem Häubchen aus. Aus Mangel an Zeit oder Gleichgültigkeit besserte sie ihre Wäsche nicht aus, flickte ihr altes Mieder mit Kattunlappen, die sich bei der leisesten Bewegung wieder ablösten. Die Leute, denen sie Geld schuldete, machten ihr Szenen und ließen ihr keine Ruhe. Überall, auf der Straße und auf der Treppe ihres Hauses, lauerten sie ihr auf. Sie hatte fieberglänzende Augen und Schmerzen zwischen den Schultern. Sie hustete stark. Sie haßte Vater Madeleine aus ganzem Herzen, aber sie klagte nicht. Sie mußte siebzehn Stunden täglich nähen, denn ein Unternehmer, der in den Strafanstalten arbeiten ließ, drückte die Preise und senkte dadurch den Lohn der freien Arbeiterin auf neun Sous herab. Neun Sous für siebzehn Stunden Arbeit. Und dabei waren die Gläubiger unerbittlicher als je. Der Möbelhändler, der fast seine ganzen Möbel zurückgenommen hatte, verfolgte sie. Thénardier schrieb, er habe aus allzu großer Güte lange genug gewartet, jetzt aber müsse er den aufgelaufenen Schuldbetrag, hundert Franken, sofort bekommen, sonst werde er Cosette, die noch von ihrer eben überstandenen Krankheit schwach wäre, auf die Straße werfen; möge sie krepieren, wenn sie wolle.

»Gut«, sagte sie, »Ausverkauf!«

Und sie wurde Dirne.


Wenn Herr Bamatabois nichts zu tun hat

In allen Kleinstädten, und so auch in Montreuil sur Mer, gibt es eine Sorte junger Leute, die mit fünfzehnhundert Livres Jahresrente in der Provinz ein Leben führen, wie man es in Paris mit zweihunderttausend bestreitet. Leute, Parasiten, die ein wenig Land, ein großes Stück Dummheit und ein kleines Verstand besitzen, in einem guten Salon für Bauernlümmel gelten würden, im Café aber den Edelmann herauskehren. Sie sprechen von »ihren« Wiesen, »ihren« Wäldern, »ihren« Pächtern, pfeifen Schauspielerinnen aus, um sich als Kunstverständige aufzuspielen, zanken sich mit den Offizieren der Garnison herum, um ihren Mut zu beweisen, jagen, rauchen, gähnen, trinken, schnupfen, spielen Billard, starren aus dem Fenster des Cafés, in dem sie leben, auf die Durchreisenden hinaus, die aus der Postkutsche steigen, speisen im Restaurant, halten sich einen Hund, der unter dem Tisch seinen Knochen frißt, und eine Geliebte, hängen an jedem Sou, kleiden sich übertrieben, verachten die Frauen, kopieren London nach Pariser Kopien und Paris nach Kopien aus Pont-à-Mousson, arbeiten nie, taugen zu nichts und schaden auch nicht sonderlich.

Wären sie reicher, würde man sie elegante junge Leute nennen. Wären sie ärmer, bloß Nichtstuer. So sind sie ganz einfach Unbeschäftigte. Und unter ihnen gibt es Langweilige, Gelangweilte, Verschlafene und Schufte.

Acht oder zehn Monate nach den oben erzählten Vorfällen, in den ersten Tagen des Januars 1823, an einem verschneiten Abend, machte sich einer dieser eleganten Leute, ein solcher Unbeschäftigter, ein Vergnügen daraus, eine Person zu belästigen, die in einem tiefausgeschnittenen Ballkleid vor den Fenstern des Cafés der Offiziere auf und ab ging. Er rauchte, denn es war große Mode, zu rauchen.

Sooft die Frau an ihm vorüberkam, blies er ihr mit einer Rauchwolke aus seiner Zigarre irgendeine Bemerkung zu, die er für geistvoll oder heiter hielt:

»Bist du aber häßlich!« oder: »Du solltest dich besser verstecken!« oder: »Wo hast du denn deine Zähne vergessen?«

Dieser Herr hieß Bamatabois.

Die Frau, eine traurige Erscheinung, die im Schnee auf und ab ging, antwortete nicht, warf nicht einmal einen Blick auf ihn, sondern setzte gelassen und regelmäßig ihre Promenade fort, die sie alle fünf Minuten wie einen Spießrutenläufer an dem sarkastischen Flaneur vorüberführte. Dieser geringe Erfolg verdroß den Müßiggänger, der einen Augenblick, da sie sich umwandte, benützte, um ihr nachzuschleichen, sein Kichern zu unterdrücken, eine Handvoll Schnee vom Boden aufzunehmen und ihr zwischen die nackten Schultern zu stecken. Das Frauenzimmer schrie auf, wandte sich um, stürzte sich auf den Mann, zerkrallte ihm das Gesicht und goß eine Flut gemeiner Schimpfworte auf ihn aus.

Auf den Lärm kamen Offiziere in Mengen aus dem Café heraus, Passanten blieben stehen, es bildete sich ein vergnügter Kreis, der brüllend und applaudierend die beiden Kämpfenden einschloß. Der Mann wehrte sich nach Kräften, sein Hut war bereits zu Boden gefallen; die Frau stieß mit Händen und Füßen nach ihm, brüllte vor Wut und Haß.

Plötzlich trat ein hochgewachsener Mann aus dem Kreise, griff das Frauenzimmer an ihrem kotbespritzten Seidenmieder und sagte:

»Komm mit.«

Sie blickte auf. Sofort verstummte ihre kreischende Stimme. Ihre Augen wurden starr, sie zitterte. Sie hatte Javert erkannt.

Der elegante junge Herr benützte diesen Zwischenfall, um sich aus dem Staub zu machen.


Probleme der städtischen Polizei

Javert drängte die Zuschauer beiseite, durchbrach den Kreis und ging in großen Schritten zum Polizeibüro, das sich am anderen Ende des Platzes befand; die Unglückliche zerrte er hinter sich her. Sie wehrte sich nicht. Kein Wort wurde gewechselt. Die Zuschauer, aufs höchste vergnügt, folgten den beiden scherzend und lachend. Auch das tiefste Elend ist eine Gelegenheit zu gemeinen Späßen.

Im Polizeibüro angelangt, das aus einem niedrigen, überheizten Zimmer mit einem vergitterten Fenster und einer Glastüre bestand, trat Javert mit Fantine ein und versperrte die Tür zum großen Mißbehagen der Neugierigen, die sich auf die Zehenspitzen stellten und ihre Hälse reckten, um etwas zu sehen. Die Neugierde ist eine Art Leckerei. Man sieht, wie man eine Delikatesse verschlingt.

Fantine war in einer Ecke niedergekauert, wie eine furchtsame Hündin. Der Sergeant brachte eine brennende Kerze herein und stellte sie auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Stempelpapier aus der Tasche und begann zu schreiben.

Die Dirnen sind durch unsere Gesetzgebung vollkommen der Willkür der Polizei ausgeliefert. Die Polizei springt mit ihnen um, wie sie will, bestraft sie nach Gutdünken und vergewaltigt nach Belieben die beiden traurigen Rechte, die von diesen Frauen ihr Gewerbe und ihre Freiheit genannt werden.

Javert war kalt. Sein ernstes Gesicht verriet keinerlei Erregung. Und doch war er stark in Anspruch genommen. Das war einer jener Augenblicke, wo er ohne Kontrolle, aber mit der ganzen Gewissenhaftigkeit seines Wesens, diese furchtbare Gewalt ausübte. Er fühlte, daß sein elender Polizeiagentenstuhl ein Tribunal war. Er hatte zu urteilen, zu verurteilen. Er brachte alles, was an Gedanken in seinem Kopf war, auf, um dieser großen Sache gerecht zu werden. Je mehr er die Tat jener Dirne prüfte, um so tiefer war seine Entrüstung. Sie hatte unverkennbar ein schweres Verbrechen begangen. Er selbst hatte es gesehen, wie dieses Geschöpf, das außerhalb der Gesetze stand, die Gesellschaft – in Person eines Grundbesitzers und Wählers erster Klasse – beleidigt und geschändet hatte. Eine Prostituierte hatte einen Bourgeois angegriffen. Er hatte es selbst gesehen, Javert.

Schweigend schrieb er.

Als er fertig war, unterzeichnete er das Schriftstück, faltete es zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten:

»Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie diese Person ins Loch.«

Zu Fantine aber sagte er:

»Du hast sechs Monate abzubrummen.«

Die Unglückliche erzitterte.

»Sechs Monate! Sechs Monate Gefängnis!« rief sie, »und nur sieben Sous Verdienst im Tag! Was soll aus Cosette werden? Ich schulde den Thénardiers noch mehr als hundert Franken, Herr Inspektor, wissen Sie das?«

Sie kroch auf dem von den schmutzigen Stiefeln all dieser Männer verunreinigten Boden mit gerungenen Händen zu Javert hin und jammerte.

»Seien Sie gnädig, Herr Javert! Ich schwöre es Ihnen, ich war nicht schuld. Wenn Sie von Anfang an dabeigewesen wären, hätten Sie es selbst gesehen. Dieser Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gestopft. Darf man uns denn Schnee in den Rücken stopfen, wenn wir ruhig an den Leuten vorübergehen und niemandem etwas tun? Da bin ich wütend geworden. Ich bin nicht ganz gesund. Und schon seit einiger Zeit hat er mir immer grobe Sachen gesagt. Du bist häßlich, hat er gesagt, und du hast ja keine Zähne. Ich weiß doch, daß ich keine Zähne habe. Ich habe nichts getan, ich dachte, laß den Herrn sich amüsieren. Ich benahm mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir den Schnee in den Rücken gestopft. Lieber, guter Herr Inspektor, ist denn niemand dabeigewesen, der bestätigen kann, daß es so gewesen ist? Vielleicht war es nicht recht von mir, in Wut zu geraten. Aber Sie wissen doch, im ersten Augenblick ist man seiner selber nicht Herr. Es geht einfach mit einem durch. Und dann plötzlich diese Kälte am Rücken, wenn man sich’s gar nicht versieht. Gewiß war es falsch, daß ich dem Herrn den Hut heruntergeschlagen habe. Warum ist er nur weggegangen? Ich würde ihn um Verzeihung bitten. Mein Gott, es käme mir nicht darauf an, ihn um Verzeihung zu bitten. Lassen Sie mich diesmal noch durchrutschen, Herr Javert, bedenken Sie doch, im Gefängnis verdient man sieben Sous täglich, und ich habe hundert Franken zu bezahlen, sonst jagt man meine Kleine fort. Mein Gott, ich kann sie doch nicht bei mir haben. Mit dem gemeinen Beruf … Schicken Sie mich nicht ins Gefängnis. Wenn die Kleine nicht gar so jung wäre, könnte sie ja selbst ihr Brot verdienen, aber in dem Alter geht es doch noch nicht. Ich bin von Natur aus gar keine schlechte Frau. Nur die Faulheit und die Lust, gut zu leben, haben mich so weit gebracht. Branntwein habe ich getrunken, aber nur, weil ich im Elend war, ich mag ihn gar nicht, aber man vergißt alles, wenn man davon trinkt. Als ich noch glücklicher war, hätte man nur in meinen Schrank schauen müssen, da hätte man schon gesehen, daß ich nicht ein kokettes Frauchen war, das unordentlich lebt. Wäsche hatte ich, so viel Wäsche! Erbarmen Sie sich, Herr Javert!«

Man erweicht ein Herz aus Granit. Aber ein Herz aus Holz ist nicht zu rühren.

»Vorwärts!« sagte Javert, »ich habe dich angehört. Bist du fertig? Vorwärts jetzt, du hast sechs Monate! Dagegen vermag der liebe Gott selbst nichts.«

Die Gendarmen griffen nach ihr.

Seit einigen Minuten schon war ein Mann eingetreten, ohne daß man seiner geachtet hatte. Er hatte die Türe wieder geschlossen, sich an die Wand gelehnt und den verzweifelten Bitten Fantines gelauscht.

Als die Gendarmen jetzt Hand an die Unglückliche legten, die sich nicht erheben wollte, trat er vor und sagte:

»Einen Augenblick!«

Javert blickte auf und erkannte Herrn Madeleine. Er zog den Hut und grüßte mit einer linkischen und ärgerlichen Gebärde.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister.«

Diese Worte lösten in Fantine eine eigentümliche Wirkung aus. Plötzlich war sie aufgesprungen, stieß die Gendarmen beiseite, trat vor Madeleine hin, bevor man sie zurückreißen konnte, sah ihn starr und wütend an und schrie:

»Ach, du bist also der Bürgermeister!«

Und sie spie ihm ins Gesicht.

Madeleine trocknete sein Gesicht und sagte:

»Inspektor Javert, setzen Sie diese Frau in Freiheit.«

Javert glaubte im Augenblick, er sei wahnsinnig geworden. Auf einen kurzen Moment waren die heftigsten Erregungen zusammengedrängt, die er zeit seines Lebens empfunden hatte. Eine Dirne spie einem Bürgermeister ins Gesicht, das war so ungeheuerlich, daß er es für ein Sakrileg gehalten hätte, derlei überhaupt nur zu denken. Gleichzeitig tauchte in ihm der Gedanke auf, diese beiden Menschen, die Dirne und der Bürgermeister, seien vielleicht von demselben Schlag und dieses Attentat sei vielleicht gar nicht so entsetzlich. Als er aber den Bürgermeister sah, diesen Beamten, der sich in aller Ruhe das Gesicht abtrocknete und befahl, man solle diese Frau in Freiheit setzen, verlor er alle Fassung; er konnte im Augenblick weder einen Gedanken fassen, noch ein Wort über die Lippen bringen.

Hatte er vergessen, daß der Bürgermeister anwesend war? Oder schien es ihm schließlich unmöglich, sich vorzustellen, eine Obrigkeit könne einen derartigen Befehl erteilen? War es so, daß der Bürgermeister nur etwas anderes gesagt hatte, als er meinte?

Wie dem auch sei, er wandte sich mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick und leise zitternd an den Bürgermeister und sagte, so unerhört es auch klingen mag, mit gesenktem Blick, aber fester Stimme:

»Herr Bürgermeister, das ist unmöglich.«

»Wieso?« fragte Madeleine.

»Diese Elende hat einen anständigen Mann belästigt.«

»Inspektor Javert«, sagte Madeleine ruhig und versöhnlich, »hören Sie mich an. Sie sind ein Ehrenmann, ich scheue mich nicht, Ihnen Erklärungen zu geben. Es war so: Auf dem Platz, von dem Sie diese Frau wegführten, standen noch Leute herum; ich habe mich erkundigt und habe alles erfahren. Dieser anständige Herr war schuld, und die Polizei hätte ihn arretieren sollen.«

»Aber diese elende Person hat den Herrn Bürgermeister beleidigt«, beharrte Javert.

»Das geht nur mich an. Eine Beleidigung, die mir angetan wird, ist wohl meine Sache. Ich kann tun, was ich will.«

»Verzeihung, Herr Bürgermeister, aber eine Beleidigung ist keine Privatsache, sondern geht auch die Behörden an.«

»Inspektor Javert, die höchste Justiz ist das Gewissen. Ich weiß, was ich tue.«

»Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, wie ich das alles verstehen soll.«

»Dann begnügen Sie sich damit, zu gehorchen.«

»Ich gehorche meiner Pflicht. Meine Pflicht ist, dieses Weibsstück auf sechs Monate ins Gefängnis zu setzen.«

»Hören Sie wohl, was ich sage«, antwortete Herr Madeleine sanft. »Sie wird nicht einen einzigen Tag absitzen.«

Jetzt wagte Javert, den Bürgermeister scharf anzusehen, und sagte mit einer noch immer sehr ehrerbietigen Stimme:

»Es ist mir sehr unlieb, Herr Bürgermeister, Ihnen Widerstand leisten zu müssen. Es ist das erstemal in meinem Leben, aber erlauben Sie mir gütigst zu bemerken, daß ich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse handle. Ich habe selbst gesehen, wie dieses Frauenzimmer Herrn Bamatabois, der Wähler und Besitzer des schönen Hauses mit dem Balkon an der Ecke der Esplanade ist, eines Steinbaues von drei Stockwerken, beleidigte. Nun, wie dem auch sei, Herr Bürgermeister, das ist eine Angelegenheit der Straßenpolizei, die mich angeht, und ich behalte dieses Frauenzimmer in Haft.«

Madeleine kreuzte die Arme und sagte mit einer strengen Stimme, wie sie von ihm noch niemals in der Stadt gehört worden war:

»Der Vorfall, von dem Sie sprechen, fällt in die Kompetenz der städtischen Polizei. Laut Paragraph neun, elf, fünfzehn und sechsundsechzig der Kriminalprozeßordnung bin ich es, der in dieser Sache die Entscheidung zu fällen hat. Ich ordne an, daß diese Frau in Freiheit gesetzt wird.«

Javert versuchte eine letzte Anstrengung.

»Herr Bürgermeister …«

»Ich erinnere Sie an den Paragraphen einundachtzig des Gesetzes vom 13. Dezember 1799 über willkürliche Gefangensetzung.«

»Herr Bürgermeister, erlauben Sie …«

»Kein Wort mehr!«

»Aber …«

»Hinaus!« rief Herr Madeleine.

Javert empfing den Schlag aufrecht und ohne mit der Wimper zu zucken, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.

Fantine trat zur Seite und sah ihn erstaunt vorübergehen. Sie war eine Beute seltsamer Erregung. Eben noch hatten zwei feindliche Mächte um sie gekämpft: der eine, um sie in die Finsternis hinabzustoßen, der andere, um ihr das Licht zu bringen. Während dieses Kampfes, der in ihren erschrockenen Augen gewaltigen Umfang angenommen hatte, waren ihr die beiden Männer wie zwei Riesen erschienen. Und er, den sie aufs schändlichste beleidigt hatte, war ihr Retter! Hatte sie sich getäuscht? Mußte sie allem abschwören, was sie seit langem empfunden hatte?

Sie fand sich nicht zurecht. Fassungslos blickte sie um sich, fühlte, wie bei jedem Wort, das Madeleine sprach, die furchtbare Finsternis des Hasses sich aufhellte und eine neue Freude in ihrem Herzen wach wurde.

Als Javert hinausgegangen war, wandte sich Madeleine nach ihr um und sagte mit langsamer Stimme gepreßt, als ob er Tränen unterdrücke:

»Ich habe alles gehört. Mir war das alles ganz unbekannt. Ich glaube wohl, daß es so sein muß, ich fühle es. Ich wußte gar nicht, daß Sie nicht mehr in meinen Werkstätten arbeiteten. Warum haben Sie sich damals nicht an mich gewandt? Ich werde Ihre Schulden bezahlen, ich werde Ihr Kind kommen lassen, oder Sie mögen es selbst holen. Sie können hier leben, oder in Paris, oder wo immer Sie wollen. Ich werde für Sie und Ihr Kind sorgen. Sie sollen wieder anständig und glücklich werden.«

Es war mehr, als Fantine ertragen konnte. Sie sollte Cosette wiederbekommen, sollte von diesem schändlichen Leben befreit werden! Frei sein, geachtet, mit Cosette! Sie konnte nur schluchzen. Ihre Knie knickten ein, sie sank vor Madeleine nieder, und bevor er sie hindern konnte, fühlte er, wie sie seine Hand nahm und ihre Lippen daraufpreßte.

Dann sank sie in Ohnmacht.

Sechstes Buch
Javert

Erholung

Madeleine ließ Fantine in jenes Spital schaffen, das er in seinem eigenen Hause eingerichtet hatte. Er übergab sie den Schwestern, die sie zu Bett brachten. Ein hitziges Fieber hatte sie ergriffen. Sie delirierte einen Teil der Nacht, schlummerte aber endlich ein.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hörte sie dicht neben dem Bett jemanden atmen, schob den Vorhang beiseite und erkannte Madeleine.

Jetzt hatte sich Madeleines Gestalt in Fantines Augen vollständig verändert. Er war ihr ein Lichtwesen geworden. Lange sah sie ihn an und wagte nicht, ihn anzureden. Endlich fragte sie schüchtern:

»Was tun Sie hier?«

Madeleine war schon seit einer Stunde hier. Er wartete auf Fantines Erwachen. Jetzt nahm er ihre Hand, fühlte ihren Puls und sagte:

»Wie fühlen Sie sich?«

»Gut. Ich habe geschlafen. Ich glaube, es geht schon besser.«

Madeleine hatte die Nacht und den Morgen damit zugebracht, Erkundigungen einzuziehen. Jetzt wußte er alles, kannte alle Einzelheiten aus Fantines trauriger Geschichte.

»Sie haben viel gelitten«, sagte er. »Aber beklagen Sie sich nicht, die Hölle, die Sie jetzt verlassen, ist der Zugang zum Himmel. Man muß immer so anfangen.«

Er seufzte tief.

Noch in derselben Nacht schrieb Javert einen Brief. Er trug ihn selbst am nächsten Morgen zum Postbüro von Montreuil sur Mer. Die Anschrift lautete: »An Herrn Chabouillet, Sekretär des Herrn Polizeipräfekten.« Da der Vorfall sich bereits in der Stadt herumgesprochen hatte, vermutete die Posthalterin, die den Brief zu sehen bekam und Javerts Schrift erkannte, er reichte seine Entlassung ein.

Madeleine beeilte sich, an die Thénardiers zu schreiben. Fantine schuldete ihnen hundertzwanzig Franken. Er sandte dreihundert, wies sie an, sich vollends bezahlt zu machen und das Kind sofort nach Montreuil sur Mer zu bringen, da die Mutter erkrankt sei und es zu sehen wünsche.

»Hol’s der Teufel«, sagte Thénardier zu seiner Frau, »dieses Kind geben wir nicht so ohne weiteres her. Das wird ja noch eine Milchkuh. Mir wird allerlei klar. Irgendein Idiot hat sich in die Mutter vergafft.«

So sandte er eine sehr geschickt aufgestellte Rechnung über fünfhundert und einige Franken. Sie enthielt unter anderem zwei unanfechtbare Posten, eine Ärzte- und eine Apothekerrechnung; Eponine und Azelma hatten nämlich lange Krankheiten überstanden. Cosette war, wir sagten es schon, niemals krank gewesen. Man hatte nur die Namen ausgetauscht. Auf der Rechnung stand, von Thénardiers Hand geschrieben:

»Als Anzahlung erhalten … 300 Franken.«

Madeleine sandte unverzüglich weitere dreihundert Franken und schrieb:

»Bringen Sie sofort Cosette.«

»Himmelherrgott«, sagte Thénardier, »dies Kind behalten wir.«

Inzwischen verbesserte sich Fantines Zustand nicht. Sie lag noch immer im Spital.

Madeleine besuchte sie täglich zweimal.

»Werde ich Cosette bald sehen?« fragte sie immer wieder.

»Vielleicht schon morgen früh«, antwortete er. »Sie kann jeden Augenblick eintreffen, ich erwarte sie.«

Dann strahlte das Gesicht der Mutter.

»Oh, ich werde sehr glücklich sein!«

Doch begann ihr Zustand sich jetzt sogar von Woche zu Woche zu verschlimmern.

Diese Handvoll Schnee, zwischen den Schulterblättern auf die nackte Haut gedrückt, hatte eine plötzliche Unterdrückung der Transpiration zur Folge gehabt, und jetzt brach die seit Jahren zurückgehaltene Krankheit heftig durch. Man folgte damals in der Behandlung der Brustkrankheiten den Indikationen Laënnecs. Der Arzt untersuchte Fantine und schüttelte den Kopf.

Madeleine befragte ihn: »Nun?«

»Hat sie nicht ein Kind, das sie zu sehen wünscht?«

»Nun, dann beeilen Sie sich, es kommen zu lassen.«

Madeleine zitterte. »Was hat der Arzt gesagt«, fragte Fantine.

Madeleine bemühte sich, zu lächeln.

»Er sagt, wir sollen Ihr Kind bald holen. Das wird Ihnen die Gesundheit bald wiedergeben.«

»Oh, er hat recht! Was haben diese Thénardiers nur, daß sie Cosette behalten? Ach, sie wird kommen. Dann werde ich das Glück bei mir haben.«

Thénardier indessen behielt das Kind und fand tausend Ausflüchte. Cosette sei ein wenig leidend, jetzt im Winter dürfe sie nicht reisen. Auch wären noch einige unbedeutende Schulden zu bezahlen, über die noch keine Rechnungen vorlägen.

»Ich werde jemand um Cosette schicken«, entschied Vater Madeleine. »Wenn es sein muß, fahre ich selbst hin.«

Er schrieb folgenden Brief und ließ Fantine unterzeichnen:

»Herr Thénardier, übergeben Sie Cosette dem Überbringer.

Die kleinen Restschulden werden Ihnen bezahlt werden.

Hochachtungsvoll

Fantine.«


Wie Jean zu Champ wird

Eines Morgens war Madeleine in seinem Arbeitszimmer damit beschäftigt, einige dringende Angelegenheiten des Bürgermeisteramts voraus zu regeln, für den Fall, daß er selbst nach Montfermeil reisen müßte, als ihm gemeldet wurde, der Polizeiinspektor wünsche mit ihm zu sprechen. Als Madeleine diesen Namen hörte, konnte er sich einer peinlichen Empfindung nicht erwehren. Seit dem Vorfall im Polizeibüro hatte Javert ihn scheuer gemieden als je, und Madeleine hatte ihn nicht zu sehen bekommen.

»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte er.

Madeleine blieb neben dem Kamin sitzen, die Augen auf ein Aktenbündel gerichtet, in dem er blätterte und Notizen eintrug. Er unterbrach seine Arbeit Javerts wegen nicht. Er mußte an die arme Fantine denken und wollte ihn eisig behandeln.

Javert grüßte respektvoll den Bürgermeister, der ihm noch immer den Rücken zuwandte. Er trat zwei oder drei Schritte vor, dann blieb er stehen, ohne das Schweigen zu brechen.

Ein Physiognomiker, der mit Javerts Art vertraut gewesen wäre und diesen Wilden im Dienste der Zivilisation, diese bizarre Mischung aus Römer und Spartaner, Mönch und Korporal, diesen Spitzel, der nicht zu lügen vermochte, seit längerer Zeit studiert hätte, ein solcher Physiognomiker, der noch dazu die alte geheime Abneigung Javerts gegen Madeleine gekannt und den Inspektor in diesem Augenblick gesehen hätte, wäre vor die Frage gestellt worden: Was ist mit diesem Mann vorgegangen? Offenbar hatte er eine heftige innere Erschütterung überstanden. Wie alle heftigen Menschen war er jähen Stimmungsumschlägen ausgesetzt. Wie er so eintrat und sich vor Madeleine verneigte, mit einem Blick ohne Groll, Zorn und Mißtrauen, wie er einige Schritte hinter dem Lehnstuhl des Bürgermeisters stehenblieb, fast in der Haltung eines Schuljungen, in der naiven Gebärde eines Menschen, der nie sanft, aber immer geduldig war, machte er einen höchst seltsamen und verblüffenden Eindruck. Er wartete, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu bewegen, in aufrichtiger Demut und ruhiger Ergebung, bis es dem Herrn Bürgermeister belieben würde, sich umzuwenden. Sein ganzes Wesen atmete Niedergeschlagenheit und Entschlossenheit zugleich.

Endlich legte der Bürgermeister die Feder beiseite und wandte sich halb um.

»Nun, was gibt’s, Javert?«

Javert blieb einen Augenblick stehen, als ob er sich sammle, dann sagte er mit trauriger Feierlichkeit, aber doch einfach:

»Herr Bürgermeister, ein schweres Vergehen ist begangen worden.«

»Was denn?«

»Ein niedriger Beamter hat es an Respekt gegen eine übergeordnete Persönlichkeit fehlen lassen. Ich komme zu Ihnen, Herr Bürgermeister, um Ihnen diese Tatsache pflichtgemäß zur Kenntnis zu bringen.«

»Wer ist der Beamte?«

»Ich«, sagte Javert.

»Sie selbst?«

»Jawohl, Herr Bürgermeister.«

»Und wer ist der Vorgesetzte, der sich über Sie zu beklagen hat?«

»Sie, Herr Bürgermeister.«

Madeleine richtete sich in seinem Lehnstuhl auf. Javert fuhr ernst und mit gesenkten Augen fort:

»Herr Bürgermeister, ich bitte Sie, meine Amtsentsetzung zu beantragen.«

Madeleine wollte sprechen. Aber Javert fiel ihm ins Wort.

»Sie werden sagen, Herr Bürgermeister, daß ich meine Entlassung einreichen könnte, aber das genügt nicht. Man nimmt seinen Abschied in allen Ehren. Ich aber habe ein Vergehen begangen und muß bestraft werden. Ich muß aus dem Dienst gejagt werden«, und nach einer Pause fuhr er fort: »Sie sind unlängst mit Unrecht streng gegen mich gewesen. Seien Sie es diesmal mit Recht.«

»Aber was denn?« rief Madeleine, »was soll das alles nur? Wo ist denn dieses Vergehen, das Sie gegen mich begangen haben? Sie wollen aus dem Dienst ausscheiden …«

»Entlassen werden.«

»Gut, entlassen werden. Aber ich verstehe kein Wort.«

»Sie werden gleich verstehen, Herr Bürgermeister.« Er seufzte tief auf, dann fuhr er traurig und kalt fort: »Vor sechs Wochen, gleich nach jener Szene mit dem Mädchen, habe ich Sie in meinem Zorn denunziert.«

»Denunziert?«

»Bei der Pariser Polizeipräfektur.«

Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber jetzt lachte er.

»Weil ich als Bürgermeister mich über die Polizei gestellt habe?«

»Nein, als alten Galeerensträfling.«

Der Bürgermeister erblaßte.

Ohne aufzublicken, fuhr Javert fort:

»Ich glaubte es selbst. Seit langem ging mir das im Kopf herum. Eine Ähnlichkeit, eine Auskunft, die Sie in Faverolles eingeholt haben, Ihre Kraft, Ihr Bein, das ein wenig lahmt, weiß Gott, was noch alles! Dummheiten! Aber schließlich kam ich so weit, daß ich Sie für einen gewissen Jean Valjean hielt.«

»Für einen gewissen …? Wie war der Name?«

»Jean Valjean. Das ist ein Galeerensträfling, den ich vor zwanzig Jahren sah, als ich in Toulon im Dienst war. Als er aus dem Bagno entlassen wurde, hat dieser Jean Valjean, wie behauptet wird, bei irgendeinem Bischof einen Diebstahl begangen. Dann ist er verschwunden, und seit acht Jahren hat man ihn vergeblich gesucht. Ich hatte mir fest eingebildet … nun, ich habe es getan. Zum Schluß gab der Zorn den Ausschlag, ich habe Sie bei der Präfektur angezeigt.«

Madeleine hatte das Aktenbündel wieder vorgenommen und fragte vollkommen gleichgültig:

»Und was hat man Ihnen geantwortet?«

»Daß ich ein Narr bin.«

»Nun, und?«

»Nun, man hat recht.«

»Es ist ein Glück, daß Sie das einsehen.«

»Ich muß wohl, denn der richtige Jean Valjean ist gefunden.«

Das Blatt, das Herr Madeleine in Händen hielt, fiel auf den Tisch, er hob den Kopf, sah Javert fest an und rief mit unbeschreiblichem Ausdruck:

»Im Ernst?«

»So ist es, Herr Bürgermeister. Irgendwo bei Ailly-le-Haut-Clocher wohnt ein Kerl, der sich Champmathieu nennen läßt. Ein armseliger Mensch. Niemand achtet auf ihn. Solche Leute leben eben … wovon, das weiß niemand. Kürzlich, im letzten Herbst, ist dieser Champmathieu verhaftet worden, weil er bei irgendeinem … es ist ja gleichgültig … Mostäpfel gestohlen hat. Also Diebstahl, Einbruch in einen Garten, Beschädigung eines Baumes durch Abbrechen von Ästen. Mein Champmathieu wird verhaftet, mit dem Ast in der Hand. Man sperrt ihn ein. Das ist nichts weiter als ein kleines Vergehen, nicht der Rede wert. Aber hier setzt die Vorsehung ein. Der Polizeikutter war in unmöglichem Zustand, darum läßt der Untersuchungsrichter Champmathieu nach Arras ins Departementsgefängnis bringen. Dort sitzt ein alter Galeerensträfling, ein gewisser Brevet, den man noch immer zurückhält, der aber, weil er sich gut geführt hat, Zellenaufseher geworden ist. Herr Bürgermeister, stellen Sie sich vor: Dieser Champmathieu ist noch nicht in der Zelle, da ruft dieser Brevet auch schon: ›Ach, den kenn ich ja! Der ist „Langjähriger“. Schau mich doch nur an, mein Bester! Du bist Jean Valjean. Jean Valjean?‹ Der Champmathieu tut ganz erstaunt. ›Tu nicht, als ob du von gestern wärst‹, sagte Brevet. ›Du bist Jean Valjean und warst in Toulon im Bagno, vor zwanzig Jahren. Wir kennen uns von dort!‹ Champmathieu leugnet natürlich. Das ist ja begreiflich. Man geht der Sache nach und findet folgendes: dieser Champmathieu war vor dreißig Jahren Baumscherer in verschiedenen Orten, unter anderm auch, wie ausdrücklich festgestellt worden ist, in Faverolles. Dann geht seine Spur verloren. Viel später taucht er in der Auvergne auf, dann in Paris, wo er, wie behauptet wird, Zimmermann war und eine Tochter hatte, eine Wäscherin. Aber das ist nicht bewiesen. Was war also dieser Jean Valjean, bevor er wegen erwiesenen Diebstahls auf die Galeeren kam? Baumscherer. Wo? In Faverolles. Noch etwas. Dieser Valjean hieß mit seinem Taufnamen Jean und seine Mutter mit Familiennamen Mathieu. Was ist begreiflicher, als daß er nach seiner Flucht aus dem Bagno den Namen seiner Mutter annahm, um seine Spur zu verwischen, und sich Jean Mathieu nannte? Gut, er ging in die Auvergne. Dort sagt man nicht Jean, man spricht den Namen dort Schan aus und nennt ihn kurzerhand Schan Mathieu. Das läßt sich der Mann gern gefallen und schreibt sich von nun an Champmathieu. Sind Sie mir gefolgt? Nun, man zieht in Faverolles Erkundigungen ein. Die Familie des Jean Valjean existiert nicht mehr. Spurlos verschwunden. Sie wissen, in diesen Kreisen verschwindet eine Familie, ohne daß etwas auffällt. Wenn solche Leute nicht gerade im Kot leben, so doch im Staub. Auch liegt diese ganze Geschichte dreißig Jahre zurück, und in Faverolles ist kein Mensch zu finden, der sich an Jean Valjean erinnert. Man fragt in Toulon nach. Außer Brevet sind noch zwei Sträflinge da, die Jean Valjean gekannt haben, zwei ›Lebenslängliche‹, Cochepaille und Chenildieu. Man holt sie aus dem Bagno und schafft sie nach Arras. Sie werden dem angeblichen Champmathieu gegenübergestellt. Ohne zu zögern, entscheiden sie sich. Er ist für sie, wie für Brevet, Jean Valjean. Dasselbe Alter – vierundfünfzig Jahre – dieselbe Figur, dasselbe Aussehen, nun, der gleiche Mann. Das war gerade in dem Augenblick, als ich meine Denunziation an die Pariser Präfektur sandte. Man antwortet mir, ich sei wohl verrückt, der besagte Jean Valjean befinde sich in Arras und sei in den Händen der Justiz. Sie begreifen, wie erstaunt ich war, da ich doch glaubte, eben diesen Jean Valjean hier am Wickel zu haben. Ich schrieb dem Untersuchungsrichter. Er läßt mich kommen, ich werde dem Champmathieu gegenübergestellt …«

»Nun?«

Unbeirrbar und traurig fährt Javert fort:

»Herr Bürgermeister, was wahr ist, muß wahr bleiben. Es tut mir leid, aber er ist Jean Valjean. Auch ich habe ihn wiedererkannt.«

Madeleine fragte sehr leise: »Sind Sie dessen sicher?«

Javert lachte schmerzlich auf, wie jemand, der vollkommen überzeugt ist.

»Ganz sicher. Und jetzt, nachdem ich den wirklichen Jean Valjean gesehen habe, begreife ich gar nicht, wie ich das andere auch nur glauben konnte. Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Bürgermeister.«

So flehend und ernst er auch die Bitte an jenen Mann richtete, der ihn vor sechs Wochen vor seinen Untergebenen gedemütigt hatte, war doch seine Haltung stolz und, wenn auch unbewußt, voll Einfachheit und Würde. Madeleine antwortete nur mit der jähen Frage:

»Und was sagt der Mann?«

»Ja, Herr Bürgermeister, das ist eine schlimme Sache. Da er Jean Valjean ist, wird er als rückfälliger Verbrecher behandelt. Wenn ein Junge eine Mauer übersteigt, einen Ast abbricht und Äpfel klaut, so ist es ein dummer Streich; tut es ein Mann, so ist es ein Vergehen; für einen ehemaligen Sträfling ist es ein Verbrechen. Einbruch und Diebstahl heißt das dann. Das geht nicht mehr die Polizei an, sondern die Assisen. Jetzt geht es nicht mehr um ein paar Tage Haft, sondern um lebenslänglichen Dienst auf den Galeeren. Hol’s der Teufel, der Kerl weiß, wozu er leugnet! Schwere Sache für einen andern als diesen Jean Valjean. Aber der ist pfiffig. Auch daran erkenne ich ihn wieder. Ein anderer würde es mit der Angst kriegen, würde jammern und schreien, alles ableugnen, um keinen Preis Jean Valjean sein wollen. Er aber tut, als ob er gar nichts begriffe. Er sagt: ich bin Champmathieu, mehr weiß ich nicht. Er tut verwundert und spielt den Blöden. Ein geschickter Kerl. Aber es wird ihm nichts nützen, man hat ja die Beweise in Händen. Er ist von vier Personen wiedererkannt, der alte Gauner, und wird unweigerlich verurteilt. Die Sache wird bei den Assisen in Arras verhandelt. Ich selbst bin als Zeuge geladen.«

Madeleine hatte sich wieder abgewandt, seine Aktenmappe aufgeschlagen und las wie ein vielbeschäftigter Mann. Endlich sah er sich nach Javert um.

»Genug, Javert. Im Grunde genommen sind diese Einzelheiten für mich uninteressant. Wir verlieren unsere Zeit, und wir haben Dringenderes zu tun. Gehen Sie zunächst zu Frau Buseaupied, der Gemüsehändlerin an der Ecke der Rue Saint-Saulve. Sagen Sie ihr, sie möchte ihre Klage gegen den Fuhrmann Pierre Chesnelong einreichen. Dieser Lümmel hat neulich die Frau und ihr Kind verletzt. Er soll bestraft werden. Dann gehen Sie zu Herrn Charcellay in der Rue Montre de Champigny. Er beklagt sich, daß eine Regentraufe des Nachbarhauses Wasser auf sein Grundstück ableitet und seine Bauten unterwäscht. Aber haben Sie denn auch Zeit, alles das zu erledigen? Wann fahren Sie nach Arras?«

»Die Verhandlung ist morgen, ich reise heute abend mit der Post.«

Madeleine machte eine fast unmerkliche Bewegung.

»Wie lange kann diese Verhandlung dauern?«

»Höchstens einen Tag. Das Urteil wird spätestens am selben Abend gefällt. Ich warte aber nicht darauf, der Ausgang ist ja unzweifelhaft. Sobald ich meine Aussage gemacht habe, fahre ich zurück.«

»Gut«, sagte Madeleine und verabschiedete Javert mit einer Handbewegung. Aber der ging nicht.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister …«

»Was gibt’s denn noch?«

»Ich muß doch aus dem Dienst gejagt werden.«

Madeleine stand auf.

»Sie sind ein Ehrenmann, Javert, und ich achte Sie. Sie übertreiben Ihr Vergehen. Auch dies ist eine Beleidigung, die nur mich angeht. Ich wünsche, daß Sie auf Ihrem Platze verbleiben.«

»Herr Bürgermeister, das geht nicht.«

»Aber ich sage Ihnen doch, daß das meine Sache ist.«

Javert, ganz seinen eigenen Gedanken nachhängend, erwiderte:

»Nein, ich übertreibe nicht. Für mich stellt sich die Sache folgendermaßen dar. Ich hatte Sie in falschem Verdacht. Das macht nichts aus. Schließlich ist es ja unsere Pflicht, jedem Verdacht nachzugehen. Aber ohne Beweise in Händen, in einem Anfall von Zorn, aus reiner Rachsucht Sie, einen Ehrenmann, einen Bürgermeister, einen Beamten als Galeerensträfling zu denunzieren, das ist sehr schlimm. Ich habe in Ihnen die Obrigkeit beleidigt, ich, der ich ein Diener der Obrigkeit bin. Wenn einer meiner Untergebenen so etwas täte, würde ich ihn für dienstunfähig erklären und fortjagen. Also …! Und noch eines, Herr Bürgermeister, ich war oft streng in meinem Leben, streng gegen die andern. Das war nur gerecht. Wenn ich aber nicht auch gegen mich streng wäre, wäre alle meine frühere Gerechtigkeit nur Lumperei. Darf ich mich denn mehr schonen als die andern? Wäre ich dazu befähigt gewesen, irgend jemanden zu bestrafen, wenn ich mich selbst schonte? Ich wäre ja ein Schuft, ich wünsche nicht, daß Sie mich gütig behandeln, denn als Sie zu andern gütig waren, habe ich es auch nicht gewollt. Darum darf ich es auch nicht für mich annehmen. Eine Güte, die es zuwege bringt, einer gemeinen Hure gegen einen Bürger recht zu geben, einem Polizeiagenten gegen einen Bürgermeister, kurz, dem Niedrigen gegen den Hochgestellten, das ist eine schlechte Güte; solch eine Güte müßte die Grundfesten der Gesellschaft zerstören. Seien Sie versichert, Herr Bürgermeister, wenn Sie der wären, für den ich Sie hielt, wäre ich gar nicht gut zu Ihnen, das hätten Sie wohl gemerkt! Im Interesse des Dienstes verlange ich, daß ein Exempel statuiert wird. Ich verlange ganz einfach die Dienstenthebung des Inspektors Javert.«

Alles das war in einem zugleich demütigen und stolzen, verzweifelten und festen Ton gesprochen.

»Nun, wir werden ja sehen«, meinte Madeleine. Und er reichte ihm die Hand. Javert fuhr zurück und rief zornig:

»Herr Bürgermeister, das geht nicht, ein Bürgermeister hat einem gemeinen Spitzel nicht die Hand zu geben.«

Dann verneigte er sich und ging.

Siebentes Buch
Der Fall Champmathieu

Schwester Simplice

An dem Nachmittage nach Javerts Besuch ging Madeleine wie gewöhnlich zu Fantine. Bevor er an ihr Bett trat, ließ er Schwester Simplice rufen.

Die beiden Nonnen, die in Madeleines Spital Dienst taten, waren Lazaristinnen – wie alle barmherzigen Schwestern – und hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.

Perpetua war eine Bäuerin wie jede andere auch, eine plumpe Person, die bei Gott in Dienst getreten war, wie man sonstwo in Dienst tritt. Nonne war sie, wie man Köchin ist. Diese Type ist nicht besonders selten. Die Klöster nehmen solche Bauersleute gern auf und bilden aus ihnen leicht Kapuziner und Ursulinerinnen. Diese groben Leute vom Land leisten gewissermaßen die religiöse Hausarbeit. Man wird unschwer vom Kuhhirten zum Karmeliter. Das kostet keine große Mühe. Das Leben auf dem Dorf und im Kloster setzt die gleiche Unwissenheit voraus, Mönch und Bauer stehen auf der gleichen Stufe. Man verlängere ein wenig den Kittel, und die Kutte ist fertig. So war auch Schwester Perpetua, die aus Marines bei Pontoise stammte, eine Nonne, die ihren Dialekt beibehalten hatte, mit den Kranken nicht sonderlich schonungsvoll umging und sogar einem Sterbenden den lieben Gott ins Gesicht warf, wenn es darauf ankam.

Schwester Simplice war weiß wie Wachs, und wenn man sie mit Perpetua verglich, war sie eine Wachskerze gegen ein Stearinlicht. Wie alt sie war, hätte niemand anzugeben gewußt, denn sie sah nicht aus, als ob sie jemals jung gewesen wäre oder einmal alt werden sollte. Jedenfalls war sie ein Geschöpf – wir wagen nicht zu sagen, eine Frau – von großer Ruhe, gutem Betragen, kühlem Empfinden … und sie hatte nie gelogen. So sanft war sie, daß sie gebrechlich scheinen konnte, aber doch wieder hart wie Granit. Die Kranken faßte sie mit sanften, weichen Fingern an. In ihrer Rede war, möchten wir sagen, schon das Schweigen, denn sie sprach nur das Allernötigste, und ihre Stimme war so sanft, daß sie im Beichtstuhl ebenso angenehm geklungen hätte wie im Salon. Wir sagten bereits, daß sie niemals gelogen oder auch nur aus berechtigtem Interesse oder gleichgültig irgend etwas gesagt hatte, was nicht die reinste Wahrheit war; das war ihr besonderer Wesenszug, ihre betonte Tugend. Wegen dieser unbeirrbaren Wahrheitsliebe war sie in der ganzen Kongregation berühmt. Als sie bei dem heiligen Vincenz von Paula ihr Gelübde ablegte, hatte sie den Namen Simplicia gewählt. Die Sizilianerin Simplicia ist, wie der Leser wohl weiß, jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ als sagte, sie sei aus Segesta, da sie doch in Syrakus geboren war – obwohl diese Lüge ihr das Leben gerettet hätte. Das war die passende Schutzheilige für dieses Geschöpf.

Als sie in den Orden eingetreten war, war sie mit zwei kleinen Fehlern behaftet, von denen sie sich allmählich etwas entwöhnt hatte; sie liebte Süßigkeiten und bekam gern Briefe.

Dieses fromme Mädchen hatte eine Zuneigung zu Fantine gefaßt, deren verborgene Tugend sie wohl fühlte, und hatte sich zu ihrer besonderen Pflege erbötig gemacht. Madeleine nahm sie beiseite und empfahl ihr Fantine mit einem Nachdruck, der der Schwester später noch oft in Erinnerung kam.

Dann trat er zu Fantine.

Sie erwartete jeden seiner Besuche wie einen Lichtstrahl. Zu der Schwester hatte sie gesagt: »Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist.«

An diesem Tage hatte sie schweres Fieber. Als sie Madeleine erkannte, fragte sie:

»Und Cosette?«

»Bald«, antwortete er lächelnd.

Er behandelte sie auch diesmal wie gewöhnlich, nur blieb er zu Fantines großer Freude eine ganze Stunde. Es wurde auch bemerkt, daß er einmal plötzlich sehr düster wurde. Man erklärte es sich aber daraus, daß der Arzt ihm leise gesagt hatte: »Es kann nicht mehr lange dauern.«


Schwester Simplice wird auf die Probe gestellt

Fantine verbrachte eine schlechte Nacht. Der Husten war schrecklich, das Fieber nahm an Stärke zu. Sie phantasierte. Als der Arzt am Morgen kam, lag sie im Delirium. Er zeigte sich beunruhigt und ordnete an, daß er gerufen werden sollte, sobald Herr Madeleine käme.

Den ganzen Vormittag war sie stumpf, sprach wenig, und ihre Augen waren starr. Nur von Zeit zu Zeit leuchteten sie auf, wie von einem himmlischen Licht durchflutet. Wenn Schwester Simplice sie nach ihrem Befinden befragte, sagte sie:

»Danke, es geht mir gut, aber ich möchte Herrn Madeleine sehen.«

Gegen zwölf kam der Arzt, stellte einige Rezepte aus, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister im Krankenhaus gewesen sei, und ging kopfschüttelnd weg.

Gewöhnlich erschien Herr Madeleine gegen drei Uhr bei der Kranken. Da Pünktlichkeit ein Teil der Güte ist, war er auch pünktlich. Schon gegen halb drei begann Fantine unruhig zu werden. In einem Zeitraum von zwanzig Minuten fragte sie die Nonne wohl zehnmal:

»Wie spät mag es sein, Schwester?«

Es schlug drei. Beim dritten Schlag setzte sich Fantine auf, obwohl sie sich sonst kaum im Bett bewegen konnte, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie tief aufseufzen. Dann wandte sie sich zur Seite und richtete den Blick auf die Tür.

So verging eine halbe, eine ganze Stunde. Es wurde fünf. Die Schwester hörte, wie sie leise sagte: »Morgen muß ich fort, er hätte heute kommen können.« Auch Simplice war über Madeleines Verspätung verwundert. Sie sandte eine Magd in die Fabrik, um sich zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister schon zu Hause sei und ob er heute nicht ins Spital käme. Bald war die Magd zurück. Fantine lag noch immer reglos und schien ihren Gedanken nachzuhängen. Leise erzählte die Magd Schwester Simplice, der Herr Bürgermeister sei am selben Morgen in einem kleinen Tilbury allein, ja sogar ohne Kutscher fortgefahren, ohne daß man wüßte, wohin er sich gewandt habe. Leute wollten ihn auf der Straße nach Arras gesehen haben, während andere versicherten, sie seien ihm auf der Pariser Straße begegnet.

Während die beiden Frauen miteinander flüsterten, hatte sich Fantine, in der das Fieber wieder aufflackerte, im Bette aufgesetzt und lauschte, mit geballten Fäusten auf das Kissen gestützt. Plötzlich rief sie:

»Sie sprechen von Herrn Madeleine. Warum sprechen Sie so leise? Was ist mit ihm? Warum kommt er nicht?«

Ihre Stimme war so rauh, daß die beiden Frauen eine Männerstimme zu hören glaubten und sich erschrocken umwandten.

»Antworten Sie doch!« rief Fantine.

Stammelnd sagte die Magd: »Die Frau des Hauswarts hat mir gesagt, er könne heute nicht kommen.«

»Bleiben Sie ruhig, mein Kind«, sagte die Schwester, »legen Sie sich wieder zurück.«

Ohne ihre Haltung zu verändern, rief Fantine wieder mit ihrer rauhen Stimme und in einem befehlenden Ton:

»Warum kann er nicht kommen? Sie wissen den Grund. Sie haben eben darüber flüsternd miteinander gesprochen. Ich will es wissen.«

Hastig flüsterte die Magd der Nonne zu: »Sagen Sie ihr doch, er sei in der Stadtverordnetenversammlung.«

Schwester Simplice errötete leise; man mutete ihr zu, sie sollte lügen. Andererseits begriff sie, daß die Wahrheit ein furchtbarer Schlag für die Kranke sein müßte und bei Fantines elendem Zustand böse Folgen haben konnte. Nicht lange verweilte die Röte auf ihren Wangen. Traurig und ruhig sagte sie:

»Der Herr Bürgermeister ist verreist.«

Fantines Augen funkelten. Eine unerhörte Freude verklärte ihr vergrämtes Gesicht.

»Verreist! Er holt Cosette.«

Und sie hob die Hände zum Himmel, ihr Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an, ihre Lippen bewegten sich; leise betete sie.

»Schwester«, sagte sie, nachdem sie gebetet hatte, »ich will mich wieder zurücklehnen, ich will alles tun, was man von mir verlangt. Ich bin eben recht schlecht gewesen. Verzeihen Sie mir, daß ich so laut gesprochen habe, es ist nicht gut, so laut zu sprechen, das weiß ich wohl, Schwester, aber sehen Sie, ich bin sehr zufrieden jetzt. Gott ist gut, und Herr Madeleine ist auch gut, denken Sie sich nur, er ist nach Montfermeil gegangen, meine kleine Cosette abzuholen.«

Sie legte sich zurück, half der Nonne das Kissen zurechtrücken und küßte das kleine, silberne Kreuz, das sie am Halse trug und das ihr Schwester Simplice geschenkt hatte.

»Suchen Sie jetzt ruhig zu bleiben, Kind«, sagte die Schwester, »und sprechen Sie nicht.«

»Er ist heute morgen nach Paris gefahren. Er hätte eigentlich gar nicht bis Paris fahren müssen. Montfermeil liegt, bevor man in die Stadt kommt, linker Hand. Erinnern Sie sich noch, wie er gestern, als ich nach Cosette fragte, geantwortet hat: Bald. Er will mir eine Überraschung bereiten, darum ließ er mich auch diesen Brief an die Thénardiers unterzeichnen. Die können doch nichts dagegen einwenden, nicht wahr? Sie sind ja bezahlt. Die Obrigkeit duldet doch nicht, daß einer ein Kind zurückbehält, wenn er sein Geld gekriegt hat. Morgen früh, Schwester, morgen wird er schon zurück sein, morgen ist ein Festtag für mich. Ja, Montfermeil ist ein Dorf. Ich bin zu Fuß von dort herübergekommen, seinerzeit, und da schien es mir recht weit. Aber mit der Post ist es wohl eine kurze Strecke. Morgen wird er mit Cosette hier sein. Wie weit ist Montfermeil von hier?«

Die Schwester, die keine Ahnung davon hatte, antwortete: »Oh, ich glaube schon, daß er morgen hier sein kann.«

Zwischen sieben und acht Uhr kam der Arzt. Da er kein Geräusch hörte, glaubte er, Fantine schlafe, und näherte sich auf den Zehenspitzen dem Bett. Er zog den Vorhang zurück und sah sich Fantine gegenüber, die ihn mit großen, ruhigen Augen ansah.

»Nicht wahr, Herr Doktor«, sagte sie, »man wird sie doch in einem kleinen Bett hier neben mir schlafen lassen?«

Der Arzt glaubte, sie sei wieder im Delirium.

»Sehen Sie«, fuhr sie fort, »es ist Platz genug da.«

Der Arzt nahm Schwester Simplice beiseite, die ihm den Hergang erzählte.

Er billigte ihr Verhalten.

Wirklich ging es Fantine besser. Der Druck war verringert, der Puls stärker. Neues Leben beseelte diesen erschöpften Körper.

»Herr Doktor«, fragte sie, »hat die Schwester Ihnen gesagt, daß der Herr Bürgermeister mir mein Püppchen bringen will?«

Der Arzt legte ihr Schweigen auf und ordnete an, daß jede Aufregung von ihr ferngehalten werden sollte. Auch verordnete er ihr einen Aufguß von Chinarinde und, falls das Fieber in der Nacht zunähme, ein Schlafmittel. Als er ging, sagte er zu der Schwester: »Es steht besser mit der Kranken. Wenn das Glück wollte, daß der Herr Bürgermeister wirklich morgen mit dem Kind kommt, wer weiß, die Krisen nehmen oft einen erstaunlichen Ausgang, und wir Ärzte kennen Fälle, in denen eine plötzliche große Freude den Lauf einer Krankheit hemmt. Ich weiß wohl, daß dies eine organische, weit vorgeschrittene Krankheit ist, aber es gibt Geheimnisse, die sich nicht ergründen lassen. Vielleicht retten wir sie doch.«


Der Reisende kommt an und will wieder abreisen

Es war fast acht Uhr abends, als der Wagen des Bürgermeisters vor der Postherberge in Arras vorfuhr. Madeleine stieg aus, beantwortete zerstreut die Fragen der Herbergsleute, ließ sein Pferd in den Stall bringen, trat in einen Billardsaal zu ebener Erde und setzte sich.

Die Wirtin kam.

»Wünscht der Herr hier zu nächtigen? Soll gedeckt werden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Der Stallknecht sagt, daß das Pferd des Herrn übermüdet ist.«

Jetzt brach er sein Schweigen.

»Wird das Pferd morgen früh marschfähig sein?«

»Unmöglich, mein Herr, es muß mindestens zwei Tage ruhen.«

»Ist hier das Postbüro?«

»Ja, mein Herr.«

Die Wirtin führte ihn in das Büro; er wies seinen Paß vor und erkundigte sich, ob er noch in derselben Nacht nach Montreuil sur Mer zurückfahren könnte. Der Platz neben dem Kurier war noch unbesetzt, er belegte und bezahlte ihn.

»Mein Herr«, sagte der Postbeamte, »seien Sie pünktlich um ein Uhr nachts zur Stelle.«

Dann verließ Madeleine die Gastwirtschaft und ging in die Stadt.

Er kannte Arras nicht und durchschritt aufs Geratewohl einige unbeleuchtete Straßen. Offenbar wollte er niemanden nach dem Weg fragen. Er überschritt die Grinchonbrücke und geriet in ein Wirrwarr enger Gassen, in dem er sich verirrte. Endlich, nach einigem Zögern, sprach er einen Bürger an, warf aber vorher einen scheuen Blick um sich, als ob er fürchte, ein Fremder könne seine Frage hören.

»Wollen Sie mir bitte sagen, mein Herr, wo das Gerichtsgebäude ist?«

»Sie sind wohl nicht aus unserer Stadt?« antwortete der Bürger, ein älterer Mann. »Folgen Sie mir. Ich gehe gerade dahin. Zur Präfektur. Das Gerichtsgebäude wird gerade ausgebessert, darum finden vorläufig die Verhandlungen in der Präfektur statt.«

»Sind auch die Assisen dort untergebracht?«

»Gewiß, mein Herr. Die Präfektur war vor der Revolution das bischöfliche Palais. Herr de Conzié, der Anno 82 Bischof war, hat darin den großen Festsaal erbauen lassen, in dem jetzt die Schwurgerichtsverhandlungen stattfinden.« Unterwegs sagte der Bürger:

»Wenn Sie einem Prozeß beiwohnen wollen, ist es wohl ziemlich spät. Gewöhnlich wird die Sitzung um sechs Uhr aufgehoben.«

Sie kamen auf einen großen Platz, und der Bürger zeigte Madeleine vier hohe, erleuchtete Fenster in der Fassade eines düsteren Gebäudes.

»Weiß Gott, mein Herr, Sie kommen noch zurecht. Da haben Sie aber Glück. Sehen Sie die vier Fenster? Hier tagen die Geschworenen. Es ist noch Licht, also ist die Verhandlung noch nicht zu Ende. Sind Sie an der Sache interessiert? Ist es ein Kriminalprozeß? Sind Sie etwa Zeuge?«

»Ich habe damit nichts zu tun«, antwortete Madeleine, »ich möchte nur mit einem Rechtsanwalt sprechen.«

»Das ist etwas anderes. Sehen Sie, mein Herr, dort die Tür: wo der Posten steht. Sie brauchen nur die große Treppe hinaufzugehen.«

Madeleine folgte dieser Weisung und befand sich einige Minuten später in einem großen Saal, in dem eine Menge von Leuten – darunter viele Advokaten – flüsternd in Gruppen beisammenstanden. Es ist immer ein bedrückender Anblick, diese schwarzgekleideten Leute in den Gerichtssälen murmelnd beisammenstehen zu sehen. Nur selten ist Erbarmen das Ergebnis dieser Gespräche. Nur zu oft ist die Verurteilung schon im voraus beschlossene Sache.

Dieser Raum, der nur von einer Lampe erhellt wurde, war ein altes Vorzimmer. Eine Flügeltür, die augenblicklich verschlossen war, trennte es von dem Saal, in dem die Assisen tagten.

In dieser Dunkelheit scheute sich Madeleine nicht, den erstbesten Anwalt, dem er begegnete, anzusprechen.

»Wie steht die Sache?«

»Schon zu Ende.«

»Zu Ende!«

Er hatte so gesprochen, daß der Advokat sich umwandte.

»Verzeihung, sind Sie etwa ein Verwandter?«

»Nein, ich kenne niemand hier. Wurde der Angeklagte verurteilt?«

»Selbstverständlich, das war nicht anders möglich.«

»Zwangsarbeit?«

»Lebenslänglich.«

So leise, daß der andere ihn kaum verstand, fuhr er fort:

»Ist die Identität festgestellt worden?«

»Welche Identität? Es war gar nicht von irgendeiner Identität die Rede. Es war ein ganz einfacher Fall: die Frau hatte das Kind getötet, der Kindsmord war bewiesen, aber die Geschworenen haben die Frage der Vorsätzlichkeit verneint, daher mußte auf ›lebenslänglich‹ erkannt werden.«

»Also eine Frau?«

»Natürlich. Die unverehelichte Limosin. Wovon sprachen Sie?«

»Von nichts Bestimmtem. Aber warum ist der Saal noch beleuchtet, wenn alles aus ist?«

»Das ist ein anderer Prozeß, der vor etwa zwei Stunden begonnen hat. Ein Fall, der ebenso klar liegt. Es handelt sich um irgendeinen Kerl, einen rückfälligen Verbrecher, der schon auf den Galeeren war und etwas gestohlen hat. Ich weiß nicht einmal seinen Namen. Dem Kerl sieht man übrigens den Banditen an der Nase an. Für sein Gesicht allein schon würde ich ihn auf die Galeeren schicken.«

»Meinen Sie, mein Herr, daß man noch in den Saal kommen kann?«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Es sind schon sehr viel Leute drin. Aber vielleicht sind nach dem Verhör einige weggegangen, und Sie können, wenn die Sitzung wieder eröffnet wird, hineinkommen.«

»Wo ist die Tür?«

»Die große da …«

Der Anwalt entfernte sich. In wenigen Augenblicken hatte Madeleine alle möglichen Empfindungen fast gleichzeitig durchkostet. Die Worte dieses Unbeteiligten hatten sein Herz wie eisige Nadeln und glühende Klingen durchbohrt.

Er trat zu einer der Gruppen und horchte. Da der Gerichtshof eine große Anzahl von Prozessen zu bewältigen hatte, hatte der Präsident für heute zwei einfache und kurze angesetzt. Mit der Kindsmörderin war begonnen worden, und jetzt sollte der rückfällige Sträfling an die Reihe kommen. Der Mann hatte Äpfel gestohlen, und nicht einmal das war hinreichend erwiesen; was aber feststand, war die Tatsache, daß er schon auf den Galeeren gewesen war. Dadurch verschlimmerte sich seine Lage. Übrigens war das Verhör und die Vernehmung der Zeugen bereits vorüber; es standen nur noch die Plädoyers des Verteidigers und des Staatsanwalts aus; vor Mitternacht würde man nicht zum Schluß kommen. Ohne Zweifel würde der Angeklagte verurteilt, denn der Staatsanwalt war ein tüchtiger Mensch und bekam alle seine Opfer zu fassen; ein witziger Mensch, der sogar Verse schrieb! Ein Gerichtsdiener stand neben der Tür zum Gerichtssaal. Madeleine wandte sich an ihn.

»Wird bald geöffnet?«

»Es wird nicht mehr geöffnet.«

»Wie, es wird nicht geöffnet, wenn die Verhandlung wieder beginnt?«

»Sie hat schon begonnen, aber es wird nicht mehr geöffnet.«

»Warum?«

»Der Saal ist schon überfüllt.«

»Kein einziger Platz mehr?«

»Nein, es darf niemand mehr eintreten«, und, nach einer kleinen Pause: »Es sind vielleicht noch zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden frei, aber die werden nur an Beamte vergeben.«

Der Gerichtsdiener kehrte ihm den Rücken.

Mit gesenktem Haupt entfernte sich Madeleine, durchschritt das Vorzimmer, stieg langsam die Treppe hinab. Offenbar überlegte er. Ein heftiger Kampf, der in ihm seit gestern abend tobte, war noch nicht ausgetragen; jeden Augenblick konnte er neu aufflammen. Als Madeleine am Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an die Rampe und kreuzte die Arme. Plötzlich griff er in seine Rocktasche, zog ein Portefeuille heraus, nahm einen Bleistift, riß ein Blatt aus einem Notizbuch und schrieb darauf:

»Madeleine, Bürgermeister von Montreuil sur Mer.«

Dann eilte er die Treppe hinauf, drängte sich durch die Menge, trat auf den Gerichtsdiener zu und reichte ihm das Blatt.

»Überbringen Sie dies dem Herrn Präsidenten.«

Der Gerichtsdiener nahm das Blatt, warf einen Blick darauf und gehorchte.


Ein Ort, an dem man sich Überzeugungen bildet

Einige Minuten später stand Madeleine in einem getäfelten, von zwei Kerzen auf einem grünüberzogenen Tisch erleuchteten Kabinett von strengem Aussehen. Er hatte noch die letzten Worte des Gerichtsdieners in den Ohren, der gesagt hatte:

»Dies hier ist das Beratungszimmer. Sie brauchen nur dort die Tür mit der Kupferklinke zu öffnen und befinden sich im Verhandlungssaal, unmittelbar hinter dem Stuhl des Herrn Präsidenten.«

Mit diesen Worten vermischte sich eine vage Erinnerung an schmale Korridore und dunkle Treppen, die er soeben durchquert hatte.

Der Gerichtsdiener hatte ihn allein gelassen. Der entscheidende Augenblick war gekommen. Madeleine bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln, konnte es aber nicht. Wenn es am nötigsten ist, reißen oft die Fäden, die im Gehirn die Gedanken verbinden. Er befand sich an dem Ort, wo die Richter beraten und ihr Urteil fällen. Mit stumpfer Ruhe sah er in diesem friedlichen und zugleich schrecklichen Zimmer um sich, in dem so viele Existenzen vernichtet worden waren und in dem auch bald sein Name ausgesprochen werden sollte. Er starrte die Wand an, warf einen Blick auf sich selbst und wunderte sich, daß er hier stand.

Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts gegessen, und er war zermürbt von der Fahrt in dem groben Gefährt; aber er fühlte nichts, empfand nichts.

Er näherte sich einem schwarzen Rahmen, der an der Wand hing und unter Glas einen alten, handschriftlichen Brief des Herrn Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, offenbar irrtümlich datiert vom 9. Juni des Jahres II, enthielt. In diesem Brief übersandte Pache der Kommune die Liste der Minister und Deputierten, die in Haft gehalten wurden. Ein Zeuge, der Madeleine in diesem Augenblick beobachtet hätte, wäre ohne Zweifel zur Ansicht gekommen, daß dieser Brief ihn sehr interessierte, denn er ließ ihn nicht aus dem Auge, sondern las ihn wohl zwei- oder dreimal. Und doch begriff er nichts von seinem Inhalt.

In Gedanken versunken, wandte er sich um, und sein Blick fiel auf die Kupferklinke der Tür zum Verhandlungssaal. Er hatte sie fast vergessen. Sein Blick blieb an der Klinke hängen und wurde starr; Bestürzung spiegelte sich in seinen Mienen. Schweiß perlte von seiner Stirn und rieselte über seine Schläfen herab.

Mit einer entschlossenen Gebärde wandte er sich ab; es war, als ob er sagen wollte: Großer Gott, muß ich denn? Er sah vor sich die Tür, durch die er eingetreten war, ging mit festen Schritten auf sie zu, öffnete sie und trat hinaus. Schon war er im Korridor, einem langen, schmalen Korridor mit Stufen und Schaltern. Er atmete auf und lauschte. Nichts war zu hören. Da begann er zu laufen, als ob man ihn verfolge.

Er bog um mehrere Ecken, endlich blieb er wieder stehen und taumelte, so daß er sich an die Wand lehnen mußte. Der Stein war kalt, eisig lag der Schweiß auf seiner Stirn. Er schauderte.

So verging geraume Zeit. Endlich senkte er den Kopf, seufzte qualvoll auf, ließ die Arme herabfallen und ging langsam zurück. Es war, als ob jemand ihn eingeholt hätte und zurückführe.

Wieder gelangte er in das Beratungszimmer. Sein Blick fiel auf die Klinke. Sie glitzerte wie ein furchtbarer Stern. Er sah sie an, wie das Schaf in das Auge des Tigers blickt.

Er konnte den Blick nicht davon abwenden.

Schritt für Schritt näherte er sich der Tür.

Wenn er gehorcht hätte, wäre wohl ein undeutliches Gemurmel aus dem Nebenraum an sein Ohr gedrungen; aber er horchte nicht.

Fast ohne es selbst zu bemerken, stand er plötzlich vor der Tür und griff krampfhaft nach der Klinke. Er öffnete und befand sich im Verhandlungssaal.

Mechanisch schloß er die Tür hinter sich, blieb stehen und hielt Umschau.

Er befand sich in einem geräumigen, schlechterleuchteten Saal, in dem es bald lärmend zuging, bald wieder still war; hier wickelte sich ein Kriminalprozeß mit seiner ganzen albernen und düsteren Gewichtigkeit vor den Augen der Menge ab.

Auf der einen Seite des Saales, auf der auch er sich befand, sah er Richter mit zerstreuten Mienen in abgetragenen Talaren, die an ihren Nägeln kauten und mit den Augenlidern klappten; auf der anderen Seite eine Menge in Lumpen; Advokaten in allen möglichen Haltungen; Justizsoldaten mit biederen, harten Gesichtern; alte, schmutzige Täfelung, ein unsauberer Plafond, Tische, die mit vergilbtem, ehemals grünem Serge überzogen waren, Türen mit schwarzen Fingerabdrücken. An Nägeln hängende Lampen, die mehr Qualm als Licht verbreiteten; auf den Tischen Kerzen in Kupferleuchtern. Finsternis, Häßlichkeit, Traurigkeit.

Niemand achtete seiner. Alle Blicke waren auf einen Punkt gerichtet, eine Holzbank, die an eine kleine Tür gelehnt war, linker Hand vom Platz des Präsidenten. Auf dieser Bank saß ein Mann zwischen zwei Gendarmen.

Dieser Mann war er.

Madeleine suchte ihn nicht, er sah ihn sofort. Wie von selbst richteten sich seine Blicke auf ihn, als ob er im voraus gewußt hätte, wo er war.

Er glaubte sich selbst zu sehen, gealtert, nicht ganz mit demselben Gesicht, aber doch ähnlich in der Haltung, mit struppigen Haaren, mit diesem wilden, unsteten Blick, in dieser selben groben Joppe – er, wie er seinerzeit nach Digne gekommen war, Haß im Herzen, sorgfältig diesen furchtbaren Schatz häßlicher Gedanken in seiner Seele verbergend, die er in neunzehn Jahren der Kerkerhaft gesammelt hatte.

Dieser Mensch schien mindestens sechzig Jahre alt zu sein. Es war etwas Rohes, Blödes, Verschrecktes in seinem Wesen.

Als die Türe ging, war man zur Seite getreten, um Madeleine Platz zu machen; der Präsident hatte den Kopf gewandt, hatte erraten, daß der Eintretende der Bürgermeister von Montreuil sur Mer sein mußte, und hatte gegrüßt. Der Staatsanwalt, der Madeleine in Montreuil sur Mer kennengelernt hatte, wohin ihn ministerielle Aufträge geführt hatten, erkannte ihn und grüßte gleichfalls. Madeleine bemerkte es kaum.

Richter, Schreiber, Gendarmen, eine Menge grausam neugieriger Zuschauer, das hatte er alles schon einmal gesehen, damals, vor siebenundzwanzig Jahren. Jetzt fand er diese grausigen Dinge wieder; sie erneuerten sich, sie existierten noch immer. Nicht sein überreiztes Gedächtnis hatte ihm das vorgespiegelt, dies waren wirkliche Gendarmen und wirkliche Richter, eine wirkliche Menge – Menschen von Fleisch und Blut. Jetzt erwachte die Vergangenheit rings um ihn, Gespenster tauchten wieder auf, die grausigen Erinnerungen seiner Vergangenheit erstanden zu neuer, furchtbarer Wirklichkeit.

Dies alles war ein gähnender Abgrund vor ihm. Er schloß die Augen, etwas in einer Seele sagte ihm: Nie wieder! Niemals!

Und durch eine tragische Fügung des Schicksals, das ihn zum Wahnsinn treiben wollte, war er selbst es, der da vor ihm stand, war er es – und dieser Mann, über den man zu Gericht saß, wurde von allen Jean Valjean genannt.

Alles war wieder auferstanden, dieselbe Mitternachtsstunde, fast dieselben Gesichter der Richter, der Justizsoldaten und Zuschauer. Nur hing jetzt über dem Kopf des Präsidenten ein Kruzifix, das war damals, als er verurteilt worden war, nicht so gewesen. Damals hatte man in Abwesenheit Gottes Recht gesprochen.

Ein Stuhl stand hinter ihm, er sank darauf, von dem Gedanken gepeinigt, man könne ihn sehen. Er verbarg sich hinter einem Stapel von Kartons, die auf dem Richtertisch lagen. Jetzt konnte er sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich gewann er Fassung. Er erlangte wieder das Gefühl für die Wirklichkeit. Er war ruhig genug, um zuhören zu können.

Herr Bamatabois befand sich unter den Geschworenen.

Jetzt suchte Madeleine Javert, aber er sah ihn nicht, vielleicht, weil die Zeugenbank durch den Tisch des Schreibers verdeckt war. Auch war der Saal, wie wir schon sagten, spärlich beleuchtet. Als Madeleine eintrat, hatte der Anwalt sein Plädoyer gerade beendet. Jetzt schickte sich der Staatsanwalt an, zu antworten. Es war eine ebenso energische wie gezierte Rede, die er hielt, die übliche Rede eines Staatsanwalts.

Zunächst beglückwünschte er den Verteidiger zu der Aufrichtigkeit, mit der er gesprochen, und machte sich die Zugeständnisse, die er aus der Rede des Advokaten herausgehört, zunutze. Was der Advokat des Beschuldigten einbekannt hatte, galt ihm als Geständnis des Angeklagten selbst. Dieser Anwalt schien einräumen zu wollen, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Das stellte der Staatsanwalt fest. Dieser Mensch war also Jean Valjean. In diesem Punkte war die Anklage durchgedrungen, und man brauchte nicht weiter darüber zu sprechen. Jetzt ging er in einer geschickten Abschweifung auf die seelischen Ursachen und Quellen der Kriminalität zurück, schleuderte den Donner der Verdammnis gegen die romantische Schule der Literatur, die damals noch jung war und von den Kritikern der »Oriflamme« und der »Quotidienne« als satanistische Schule verdammt wurde, wies – nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit – auf den Einfluß hin, den diese perverse Literatur auf Champmathieu ausgeübt haben mußte, oder vielmehr auf Jean Valjean. Nachdem er alles verbraucht hatte, was sich hierüber sagen läßt, kehrte er wieder zu Jean Valjean zurück. Wer war dieser Jean Valjean? Ausführliche Beschreibung des Mannes. Ein Ungeheuer, ausgespien … usw. usw. Den Urtext aller Beschreibungen dieser Art findet man in dem Monolog des Theramenes, der zwar auf der Bühne nicht viel taugt, aber der judiziellen Beredsamkeit große Dienste geleistet hat und noch täglich leistet. Sobald diese Beschreibung beendigt war, rief der Staatsanwalt in einer oratorischen Wendung, die ganz danach angetan war, in der nächsten Nummer des »Journal de la Préfecture« rühmend erwähnt zu werden: Und ein solcher Mensch usw. usw., Vagabund, Bettler, ohne Existenzmittel, usw. usw., durch sein Vorleben allein schon befähigt zu allen Schandtaten und durch einen Aufenthalt im Bagno kaum gebessert, usw. usw., ein solcher Mensch, in flagranti bei einem Diebstahl ertappt, nur wenige Schritte entfernt von der Mauer, die er überstiegen, den gestohlenen Gegenstand noch in Händen, ein solcher Mensch leugnet sein Vergehen, den Diebstahl, den Einbruch, leugnet alles, sogar seinen Namen, ja sogar seine Identität.

»Von hundert anderen Beweisen ganz zu schweigen«, fuhr er fort, »auf die wir hier nicht zurückkommen wollen, wird er von vier Zeugen wiedererkannt, von Javert, dem untadeligen Polizeiinspektor Javert, und von drei ehemaligen Genossen seiner Schande, den Sträflingen Brevet, Chenildieu, Cochepaille. Was wagt er dieser niederschmetternden Einstimmigkeit entgegenzustellen? Er leugnet! Welche Verstocktheit! Sie werden Gerechtigkeit üben, meine Herren Geschworenen, usw. usw. …«

Während der Staatsanwalt sprach, horchte der Angeklagte mit offenem Munde, mit einem Staunen, das an Bewunderung streifte. Er war offenbar überrascht, daß man so schön sprechen konnte. Manchmal, an besonders energischen Stellen der Rede, wenn die überströmende Beredsamkeit wie ein Orkan über den Angeklagten hereinbrach und Epitheta durch die Luft wirbelte, schüttelte er leise den Kopf zum Zeichen seiner traurigen, stummen Beschwerde. Zwei- oder dreimal hörten die Zuschauer, die ihm am nächsten saßen, wie er leise sagte: »Das kommt davon, daß man Herrn Baloup nicht gefragt hat.« Der Staatsanwalt machte die Geschworenen auf dieses alberne, offenbar berechnete Gebaren aufmerksam, das beileibe nicht Dummheit, sondern Geschicklichkeit, Schlauheit, Gewandtheit und Betrug beweise, und wies darauf hin, daß solches Verhalten die tiefe Verderbtheit des Angeklagten neuerlich ans Tageslicht bringe. Er beantragte eine strenge Bestrafung.

Der Verteidiger erhob sich, begann mit einigen Komplimenten über die bewunderungswürdige Beredsamkeit des Staatsanwalts, replizierte, so gut er konnte, gegen einige Argumente, fand aber keine starken Worte; offenbar hatte er das Gefühl eines Mannes, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.


Alles leugnen

Jetzt waren die Plädoyers zu Ende. Der Präsident ließ den Angeklagten aufstehen und richtete an ihn die übliche Frage:

»Haben Sie Ihrer Verteidigung etwas hinzuzufügen?«

Der Mann stand da, drehte sein abscheuliches Hütchen zwischen den Händen und schien nichts zu begreifen.

Der Präsident wiederholte seine Frage.

Diesmal verstand ihn der Angeklagte. Er machte eine Bewegung, als ob er aus dem Schlaf aufwache, ließ seinen Blick ringsum schweifen, sah das Publikum, die Gendarmen, seinen Advokaten, die Geschworenen, den Gerichtshof an, legte seine ungeheure Faust auf den Bord der Barriere vor seiner Bank und begann plötzlich, mit einem Blick auf den Staatsanwalt, zu sprechen. Es war wie der Ausbruch eines Vulkans. So unzusammenhängend brachen die Worte aus seinem Mund hervor, daß sie ins Gedränge kamen und alle gleichzeitig über seine Lippen zu gleiten versuchten.

»Ich habe folgendes zu sagen«, begann er. »Ich war Zimmermann in Paris, nämlich bei Herrn Baloup. Es ist ein harter Beruf. Als Zimmermann arbeitet man immer im Freien, im Hof, oder bei guten Meistern in irgendeinem Schuppen, aber niemals in geschlossenen Werkstätten, denn diese Arbeit braucht Raum, verstehen Sie. Im Winter ist es so kalt, daß man mit den Armen um sich schlagen muß, um ein wenig Wärme zu bekommen; aber die Meister können das nicht leiden, denn sie sagen, es ist verlorene Zeit. Eisen in der Hand zu halten, wenn das Pflaster friert, ist hart. Das verbraucht einen Menschen rasch. In diesem Beruf wird man schnell alt. Mit vierzig ist einer fertig. Ich habe es bis dreiundfünfzig gebracht, das war eine große Plage. Und die Arbeiter sind auch nicht gut. Wenn einer nicht mehr ganz jung ist, dann nennen sie ihn alter Trottel und alter Esel. Ich habe nur dreißig Sous am Tag bekommen, den Meistern war es recht, daß sie sich auf mein Alter ausreden konnten. Und dazu hatte ich noch meine Tochter, die Wäscherin. Sie verdiente natürlich auch ein wenig. So zusammen ging’s gerade. Sie hatte es auch nicht leicht. Den ganzen Tag mit dem halben Leib im Wasser, ob es regnet oder schneit, und der Wind fährt einem ins Gesicht; sogar wenn es friert, immer dasselbe, immer waschen! Manche Leute haben nicht viel Wäsche, und denen ist es immer besonders eilig! Wäscht man es nicht gleich, ist man den Kunden los. Die Bretter sind schlecht zusammengefügt, überall träufelt es durch. Die ganzen Kleider werden durch und durch naß. Das geht durch die Haut. Sie hat auch bei den Enfants-Rouges gearbeitet, dort kommt das Wasser aus Röhren, man muß nicht selber im Wasser stehen. Vor sich hat man das fließende Wasser, hinter sich den Bottich zum Spülen. Alles im geschlossenen Raum – da hat man es nicht so kalt. Aber ein Dampf ist dort, schrecklich, und das geht einem in die Augen. Um sieben Uhr abends kam sie nach Hause, und gleich darauf husch ins Bett! So müd war sie. Ihr Mann prügelte sie. Sie ist schon tot. Wir sind nicht besonders glücklich gewesen. Sie war ein braves Mädel, ging nie auf den Ball, war immer ruhig. Ich erinnere mich an einen Karnevalsabend, da legte sie sich um acht Uhr ins Bett, jawohl. Das ist die reinste Wahrheit. Sie brauchen nur zu fragen. Wenden Sie sich an Herrn Baloup. Fragen Sie den. Ansonsten weiß ich nicht, was man von mir will.«

Er schwieg. Seine Rede hatte er laut, rasch, heiser und rauh gehalten mit einer naiven, wilden Gereiztheit. Einmal hatte er sich unterbrochen, um jemandem in der Menge zuzunicken. Die Behauptungen kamen ruckweise aus ihm heraus, und er bekräftigte sie mit Gebärden, als ob er Holz hackte. Als er zu Ende war, begannen die Zuhörer schallend zu lachen. Er sah um sich, und als er alle lachen sah, begriff er nicht und begann auch zu lachen.

Es war unheimlich.

Der Präsident, ein aufmerksamer und wohlwollender Mensch, begann zu sprechen. Er brachte den Geschworenen in Erinnerung, daß Herr Baloup, der ehemalige Brotherr des Angeklagten – wenn man ihm glauben dürfe –, daß also Herr Baloup vergeblich geladen worden sei. Er hatte Bankrott gemacht und war nicht mehr aufzufinden. Dann wandte sich der Präsident an den Angeklagten, forderte ihn auf, aufmerksam zuzuhören, und sagte:

»Sie befinden sich in einer Lage, in der man alles überlegen muß. Schwerer Verdacht lastet auf Ihnen, das Schlimmste steht zu befürchten. In Ihrem Interesse fordere ich Sie noch einmal auf, erklären Sie sich über diese zwei Punkte: erstens, haben Sie, ja oder nein, die Mauer des Gartens des Herrn Pierron überstiegen, einen Ast abgebrochen und die Äpfel gestohlen, also Einbruchsdiebstahl begangen? Zweitens, ja oder nein, sind Sie der entlassene Galeerensträfling Jean Valjean?«

Der Angeklagte schüttelte den Kopf wie einer, der wohl versteht, was er antworten soll, tat auch den Mund auf, wandte sich dem Präsidenten zu und sagte:

»Also erst mal …«

Dann sah er zunächst seinen Hut, dann den Plafond an und versank in Schweigen.

»Angeklagter«, rief der Staatsanwalt streng, »passen Sie auf. Sie antworten auf nichts, was man Sie fragt. Ihre Verwirrung allein verurteilt Sie. Es ist klar, daß Sie nicht Champmathieu heißen, sondern der Galeerensträfling Jean Valjean sind, der sich zunächst unter dem Namen Jean Mathieu zu verbergen suchte, dem Namen seiner Mutter, der dann in der Auvergne war, ebenso in Faverolles – und dort Baumscherer. Es ist vollkommen klar, daß Sie bei einem Einbruchsdiebstahl reife Äpfel aus dem Garten des Herrn Pierron gestohlen haben. Die Herren Geschworenen werden sich danach zu richten wissen.«

Der Angeklagte hatte sich gesetzt. Jetzt aber sprang er auf und schrie:

»Sie sind ein ganz schlechter Mensch! Das wollte ich sagen. Und noch anderes, aber ich fand nicht die Worte. Gestohlen habe ich gar nichts. Ich bin einer, der nicht alle Tage ißt. Ich kam von Ailly, es war nach einem Regen, der Boden war ganz gelb, und überall stand noch Wasser; gerade daß am Wegrand die Grashalme hervorstanden. Ich fand am Boden einen abgebrochenen Ast, auf dem noch Äpfel waren, den habe ich aufgehoben, weil ich nicht dachte, daß man dadurch in Schwierigkeiten kommt. Jetzt sitze ich drei Monate im Gefängnis, und man springt mit mir so um! Man sagt allerlei, verlangt, ich soll antworten, der Gendarm, der ein guter Kerl ist, stößt mich mit dem Ellbogen an und flüstert mir zu: So red doch! Ich weiß aber nicht, wie ich es sagen soll, ich bin kein Studierter. Das ist falsch, daß niemand das sehen will. Gestohlen habe ich nichts, ich habe etwas von der Erde aufgehoben, was dort lag. Sie reden von Jean Valjean und Jean Mathieu. Ich kenne diese Leute nicht. Das sind Dörfler, ich aber habe bei Herrn Baloup gearbeitet, in der Spitalstraße. Ich heiße Champmathieu. Wenn Sie mir sagen, wo ich geboren bin, da müssen Sie recht schlau sein, denn ich weiß es selber nicht. Nicht alle Leute haben Häuser, worin sie zur Welt kommen. Das wäre ja verdammt gemütlich. Ich glaube, mein Vater und meine Mutter waren Leute, die auf der Landstraße lebten. Mehr ist mir davon nicht bekannt. Als ich ein Kind war, nannte man mich Kleiner, jetzt werde ich Alter gerufen. Das sind meine Taufnamen. Halten Sie es damit, wie Sie wollen. Ich war in der Auvergne, ich war in Faverolles, aber du lieber Himmel, kann man nicht dort gewesen sein, ohne ein Sträfling zu sein? Ich sage Ihnen, daß ich nichts gestohlen habe und daß ich Champmathieu bin. Ich war bei Herrn Baloup in Dienst und hatte eine eigene Wohnung. Machen Sie endlich Schluß mit diesem Unsinn. Warum ist denn alle Welt darauf aus, mir etwas anzutun?«

Der Staatsanwalt war stehengeblieben. Jetzt wandte er sich an den Präsidenten:

»Herr Präsident, in Anbetracht der wirren, aber schlauen Versuche des Angeklagten, alles abzuleugnen, in Anbetracht der Tatsache, daß er für einen Idioten gehalten werden möchte, was ihm allerdings nicht gelingt – und das möge er sich gesagt sein lassen –, stellen wir den Antrag, der Gerichtshof möchte neuerdings die Sträflinge Brevet, Cochepaille und Chenildieu sowie den Polizeiinspektor Javert vorrufen und sie ein letztes Mal über die Identität des Angeklagten mit dem Sträfling Jean Valjean befragen.«

Auf die Erwiderung des Präsidenten, daß der Inspektor Javert sofort nach seiner Vernehmung wieder die Stadt verlassen habe, wozu ihm auch die Erlaubnis erteilt worden sei, beschränkte sich der Staatsanwalt auf den Antrag, die drei Zeugen Brevet, Chenildieu und Cochepaille noch einmal zu vernehmen.

Der Präsident wies einen Gerichtsdiener an, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür des Zeugenzimmers. Der Gerichtsdiener, von einem Gendarmen begleitet, führte den Sträfling Brevet herein. Der alte Galeerensträfling trug die schwarzgraue Jacke der Zentralgefängnisse. Er mochte etwa sechzig Jahre zählen und sah halb wie ein Kaufmann, halb wie ein Schuft aus. Es besteht ja zuweilen eine Ähnlichkeit … Nun, in dem Gefängnis, in das neue Verfehlungen ihn gebracht hatten, war er fast so etwas wie ein Schließer geworden. Jedenfalls war er ein Mann, von dem die Vorgesetzten sagen: er sucht sich nützlich zu machen. Die Gefängnisgeistlichen bestätigten, daß er religiös war. Man darf nicht vergessen, daß diese Vorfälle in der Zeit der Restauration spielen.

»Brevet«, sagte der Präsident, »Sie haben eine entehrende Strafe abzubüßen und dürfen daher keinen Eid ablegen.«

Brevet blickte zu Boden.

»Immerhin«, fuhr der Präsident fort, »kann auch in einem Menschen, den das Gesetz entehrt hat, mit Gottes Einwilligung ein Gefühl für Recht und Ehre wach bleiben. An dieses Gefühl appelliere ich in dieser entscheidenden Stunde. Wenn es, wie ich hoffe, in Ihnen noch lebt, dann überlegen Sie, bevor Sie antworten, und ziehen Sie in Betracht, daß dieses Wort einerseits den Mann dort verderben, andererseits aber die Justiz aufklären kann. Der Augenblick ist feierlich, noch immer haben Sie Zeit, sich zurückzuziehen, wenn Sie einen Irrtum auch nur für möglich halten. – Angeklagter, stehen Sie auf! Brevet, sehen Sie den Angeklagten an, sammeln Sie Ihr Gedächtnis und sagen Sie bei Ihrem Gewissen und dem Heil Ihrer Seele, ob Sie bei Ihrer Aussage verharren und diesen Mann als Ihren alten Kameraden ans dem Bagno, Jean Valjean, erkennen.«

Brevet sah den Angeklagten an, dann wandte er sich dem Gerichtshof zu.

»Ja, Herr Präsident, ich habe ihn gleich erkannt, und es ist jetzt auch nicht anders; dieser Mann ist Jean Valjean. Er kam 1796 nach Toulon und wurde 1815 entlassen. Ich wurde im nächsten Jahre freigelassen. Er sieht jetzt blöd aus, aber das ist eine Folge des Alters; im Bagno war er ein recht gewitzter Kerl. Ich erkenne ihn ganz bestimmt.«

»Setzen Sie sich«, sagte der Präsident, »Angeklagter, bleiben Sie stehen.«

»Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, ein »Lebenslänglicher«, wie die rote Jacke und die grüne Mütze erkennen ließen. Er verbüßte seine Strafe in Toulon, von wo er hierhergeholt worden war. Er war klein, etwa fünfzig Jahre alt, lebhaft, frech, hatte fiebrige Augen und viele Falten in seinem gelben Gesicht. Bei seinen Gefährten im Bagno hieß er Ohnegott.

Der Präsident richtete etwa dieselben Worte an ihn wie an Brevet. Als er ihn daran erinnerte, daß sein Ehrverlust ihn des Rechtes beraube, den Zeugeneid zu schwören, hob Chenildieu den Kopf und ließ seinen Blick über die Menge hinschweifen. Der Präsident forderte ihn auf, sich zu sammeln, und fragte ihn, ob er den Angeklagten kenne.

Chenildieu lachte laut.

»Ob ich den kenne! Fünf Jahre lang sind wir an derselben Kette gehangen! Du nimmst es mir doch nicht übel, Alter?«

»Setzen Sie sich«, sagte der Präsident.

Jetzt führte der Gerichtsdiener Cochepaille herein. Auch er war ein »Lebenslänglicher« und trug dieselbe Tracht wie Chenildieu. Er war ein Bauer aus Lourdes und plump wie ein Pyrenäenbär. Oben in den Bergen war er Hirte gewesen und später Räuber geworden. Cochepaille war nicht weniger wild als sein Vorgänger, aber um so dümmer. Er gehörte zu jenen Unglücklichen, die von der Natur als wilde Tiere geschaffen und von der Gesellschaft als Galeerensträflinge gehalten werden.

Der Präsident versuchte auch ihn mit pathetischen und ernsten Worten zu beeindrucken und fragte endlich, ob auch er den Angeklagten erkenne.

»Das ist Valjean«, sagte Cochepaille.

Jede der drei Aussagen – sie waren offenbar aufrichtig und guten Glaubens abgegeben – hatte in der Zuhörerschaft ein Gemurmel zur Folge, das dem Angeklagten nichts Gutes weissagte; von Mal zu Mal war dieses Gemurmel stärker geworden und hatte länger gedauert. Der Angeklagte hörte mit erstauntem Gesicht zu. Nach der ersten Aussage hatten die Gendarmen ihn murmeln gehört: »Na, das wäre einer.« Nach der zweiten, etwas lauter und fast befriedigt: »Gut.« Nach der dritten hatte er gerufen: »Ausgezeichnet!«

Der Präsident fragte ihn:

»Angeklagter, Sie haben gehört. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Ich sage – ausgezeichnet!«

Eine Unruhe ging durch das Publikum. Auch die Geschworenen konnten sich der allgemeinen Erregung nicht entziehen. Der Mann war verloren.

»Gerichtsdiener!« rief der Präsident, »schaffen Sie Ruhe. Ich schließe die Verhandlung.«

In diesem Augenblick entstand rings um den Präsidenten eine Bewegung. Man hörte jemand laut rufen:

»Brevet, Chenildieu, Cochepaille, seht hierher!«

Alle, die diese Stimme hörten, glaubten zu Eis zu erstarren, so beklagenswert und furchtbar klang sie. Alle Augen wandten sich nach der Stelle, von wo sie erklungen war. Da stand ein Mann, der unter den bevorzugten Zuhörern Platz gefunden hatte und jetzt langsam vordrang. Der Präsident, der Staatsanwalt, Herr Bamatabois und zwanzig andere, die ihn erkannten, schrien einstimmig auf:

»Herr Madeleine!«


Champmathieu wundert sich noch mehr

Er war es in der Tat. Die Lampe des Gerichtsschreibers warf ihr volles Licht auf ihn. Er hielt seinen Hut in der Hand, seine Kleider waren in Ordnung, sein Ridingcoat war sorgfältig zugeknöpft. Er war sehr blaß und zitterte leicht. Seine Haare, die grau gewesen waren, als er nach Arras kam, waren jetzt weiß.

Alle sahen nach ihm. Die Aufregung war unbeschreiblich. Einen Augenblick lang war etwas wie ein Zögern in der Menge. Die Stimme hatte so grell geklungen, der Mann aber sah so ruhig aus, daß man zunächst nicht begriff. Man fragte sich, wer geschrien habe. Man wollte nicht glauben, daß ein Mann, der so ruhig aussah, so furchtbar aufschreien könne.

Aber diese Unentschiedenheit dauerte nur Sekunden. Bevor der Präsident oder der Staatsanwalt ein Wort sagen konnten, war der Mann, den jetzt noch alle Herr Madeleine nannten, zu den Zeugen Cochepaille, Brevet und Chenildieu getreten.

»Erkennt ihr mich nicht?«

Die drei blieben betroffen stumm und schüttelten die Köpfe. Der verschüchterte Cochepaille grüßte militärisch. Herr Madeleine wandte sich zu den Geschworenen und zum Gerichtshof und sagte gelassen:

»Meine Herren Geschworenen, lassen Sie den Angeklagten frei, Herr Präsident, lassen Sie mich verhaften. Ich bin der Mann, den Sie suchen, ich bin Jean Valjean.«

Niemand wagte zu atmen. Der ersten Regung des Staunens war Grabesstille gefolgt. Man fühlte im Saal etwas wie jenen religiösen Schauer, den das Große zu erregen vermag.

Im Gesicht des Präsidenten waren nur Sympathie und Trauer zu erkennen. Er hatte dem Staatsanwalt einen Wink gegeben und sprach leise mit seinen Beisitzern. Dann wandte er sich an das Publikum und fragte mit einer Betonung, die von allen verstanden wurde:

»Ist vielleicht ein Arzt im Saal?«

»Ich danke Ihnen«, sagte Madeleine, »aber ich bin nicht verrückt. Sie sollen es gleich sehen. Sie waren eben im Begriff, einen großen Irrtum zu begehen. Lassen Sie diesen Mann frei. Ich tue meine Pflicht, ich bin der unglückliche Verurteilte. Ich bin der einzige, der hier klar sieht, und ich sage Ihnen die Wahrheit. Was ich in diesem Augenblick tue, sieht Gott da droben, und das genügt. Sie können mich verhaften, denn ich bin ja hier. Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich habe mich unter einem falschen Namen verborgen, ich bin reich geworden, Bürgermeister … wollte wieder zu den anständigen Leuten gehören. Es scheint, daß das nicht geht. Nun, ich kann Ihnen das nicht alles sagen, ich will Ihnen auch nicht mein Leben erzählen, beizeiten kommt auch das ans Licht. Ich habe wirklich jenen Bischof bestohlen, es ist wahr. Man hat nicht unrecht, wenn man sagt, daß Jean Valjean ebenso schlecht wie unglücklich war. Vielleicht lastet nicht alle Schuld auf ihm. Hören Sie mich an, meine Herren Richter! Ein Mann, der so tief gesunken ist wie ich, darf wohl die Vorsehung nicht belehren, ihm steht es nicht an, der menschlichen Gesellschaft Ratschläge zu erteilen, aber sehen Sie, die Schande, der ich zu entkommen suchte, ist eine recht schädliche Sache. Die Galeeren bringen den Galeerensträfling hervor. Bedenken Sie das, wenn Sie wollen. Bevor ich dahin kam, war ich ein armer Bauer, sehr wenig intelligent, eine Art Idiot, dort habe ich mich geändert. Ich war blöde, ich wurde schlecht, aber verzeihen Sie, Sie können das nicht verstehen, was ich da sage. Ich habe nichts hinzuzufügen. Verhaften Sie mich. Mein Gott, Herr Staatsanwalt, Sie sagen, Madeleine ist verrückt geworden, Sie glauben mir nicht. Das ist sehr traurig. Verurteilen Sie wenigstens diesen Menschen hier nicht. Diese drei erkennen mich nicht. Wäre doch Javert hier, er würde mich erkennen.«

Jetzt wandte er sich an die drei Sträflinge.

»Ich erkenne Sie, Brevet, erinnern Sie sich …?« Zögernd fuhr er fort: »Erinnerst du dich an die Hosenträger aus Trikot mit dem Damenbrettmuster, die du im Bagno hattest?«

Brevet war verblüfft und sah ihn von Kopf bis zu den Füßen erschrocken an. Er aber fuhr fort: »Chenildieu, Ohnegott, du hast auf der rechten Schulter eine Brandwunde, weil du dich einmal selbst in die Kohlenpfanne gelegt hast, um die drei Buchstaben T. F. P. auszubrennen. Sag, ist das wahr?«

»Allerdings«, erwiderte Chenildieu.

»Und du, Cochepaille, du hast gleich neben der Schlagader am linken Arm in blauen Buchstaben das Datum der Landung Napoléons in Cannes, den 1. März 1815, eingebrannt. Schieb deinen Ärmel zurück!«

Cochepaille schob den Ärmel zurück, und alle Blicke richteten sich auf den nackten Arm. Ein Gendarm näherte eine Lampe, das Datum wurde sichtbar.

Jetzt wandte sich der Unselige mit einem Lächeln, das allen ins Herz schnitt, an die Richter. Es war ein Lächeln des Triumphes und der Verzweiflung zugleich:

»Sie sehen wohl, ich bin Jean Valjean.«

Und jetzt waren in diesem Saal weder Richter noch Ankläger, noch Gendarmen: nur erstaunte Augen und bewegte Herzen. Keiner gedachte der Rolle, die er hier zu spielen hatte. Der Staatsanwalt hatte vergessen, daß es seine Pflicht war, Sühne zu heischen, der Präsident, den Vorsitz zu führen, der Verteidiger, zu verteidigen. Seltsam, niemand fragte, keine Behörde griff ein. Alle waren wie betäubt.

Niemand konnte mehr bezweifeln, daß man Jean Valjean vor sich hatte. Plötzlich war Licht in diese ganze Angelegenheit gekommen, die eben noch im tiefsten Dunkel gelegen hatte.

»Ich will die Verhandlung nicht weiter stören«, sagte Jean Valjean, »da niemand mich verhaftet, gehe ich. Ich habe noch Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, wer ich bin und wo er mich findet; er wird mich verhaften lassen, wenn es ihm beliebt.«

Er ging auf die Türe zu. Niemand erhob seine Stimme, kein Arm streckte sich aus, ihn aufzuhalten. Alle wichen zurück. Langsam schritt er durch die Menge. Es wurde nie festgestellt, wer ihm die Türe geöffnet hat, aber Tatsache ist, daß die Türe offen war, als er zu ihr kam.

Er wandte sich noch einmal um und sagte:

»Sie alle hier, Sie finden wohl, daß ich Mitleid verdiene, nicht wahr? Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was ich fast getan hätte, so erscheint mir mein jetziges Leben beneidenswert.«

Er ging hinaus, und die Türe wurde geschlossen, wie sie geöffnet worden war; keine Stunde verging, da war Champmathieu von jeglicher Anklage freigesprochen; er wurde unverzüglich in Freiheit gesetzt. Tief erstaunt machte er sich davon, überzeugt, alle Menschen wären verrückt.

Achtes Buch
Der Gegenstoß

Fantine glücklich

Der Morgen dämmerte. Fantine hatte eine schlaflose Fiebernacht verbracht, umgaukelt von beseligenden Bildern; gegen Morgen schlief sie ein. Schwester Simplice, die bei ihr gewacht hatte, machte sich diese Gelegenheit zunutze, um ihr einen neuen Chinarindenaufguß zu bereiten. Die gute Schwester befand sich seit Augenblicken im Laboratorium des Spitals, über ihre Phiolen und Fläschchen gebeugt, weil sie im schwachen Licht der Morgendämmerung die Gegenstände nur schwer zu unterscheiden vermochte. Plötzlich wandte sie sich um und stieß einen leisen Schrei aus. Madeleine stand vor ihr. Er war still eingetreten.

»Sie sind es, Herr Bürgermeister!«

Leise fragte er:

»Wie geht es der armen Frau?«

»Nicht schlecht im Augenblick. Aber wir waren nicht wenig besorgt.«

Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. Die Schwester wagte nicht zu fragen, ob er in Montfermeil gewesen sei, aber sie sah wohl, daß er nicht von dort kam.

»Gut«, sagte er, »Sie taten recht, die Arme nicht zu enttäuschen.«

»Ja, aber jetzt, Herr Bürgermeister, wenn sie Sie sieht, aber nicht das Kind, was sollen wir ihr dann sagen?«

Er blieb einen Augenblick nachdenklich.

»Gott wird uns das Rechte in den Mund legen.«

»Aber wir können doch nicht lügen«, murmelte die Schwester leise.

Es wurde heller im Zimmer. Das Tageslicht fiel auf Madeleines Gesicht. Zufällig blickte die Schwester gerade auf.

»Mein Gott«, rief sie, »was ist Ihnen geschehen? Ihre Haare sind ganz weiß!«

»Weiß?«

Schwester Simplice besaß keinen Spiegel. Sie suchte im Gerätekasten des Arztes und fand darin einen kleinen Spiegel, dessen sich der Arzt bediente, um am Hauch festzustellen, ob ein Kranker tot sei oder noch atme. Madeleine nahm den Spiegel, sah seine Haare an und sagte:

»Wahrhaftig …«

Aber er sagte es so gleichgültig, als ob er an etwas anderes dächte.

»Kann ich sie sehen?« fragte er dann.

»Wollten Sie lieber nicht erst das Kind holen lassen, Herr Bürgermeister?« fragte die Schwester.

»Doch, aber das wird zwei bis drei Tage dauern.«

»Wenn sie nicht erfährt, daß Sie zurückgekommen sind, wird sie Geduld haben; und wenn das Kind dann kommt, denkt sie natürlich, daß Herr Bürgermeister eben mit dem Kind zurückgekommen sind. Man brauchte also nicht zu lügen.«

Madeleine dachte einen Augenblick nach, dann sagte er mit ruhigem Ernst:

»Nein, Schwester, ich muß sie sehen. Vielleicht eilt es sehr.«

Die Nonne schien dieses Wort wohl nicht zu beachten, das der ganzen Erklärung des Bürgermeisters einen seltsam dunklen Sinn gab. Sie sagte:

»Sie schläft. Sie können eintreten, Herr Bürgermeister.«

Er trat in Fantines Zimmer und schlug den Vorhang ihres Bettes zurück. Einen Augenblick stand er reglos vor dem Bett und betrachtete abwechselnd die Kranke und das Kruzifix. Es war wie damals, vor zwei Monaten, als er sie das erstemal im Spital besucht hatte: sie schlief, er betete. Nur war ihr Haar grau, seines weiß geworden.

Plötzlich schlug Fantine die Augen auf und fragte mit einem friedlichen Lächeln:

»Und Cosette?«

Das war nicht überraschend, nicht eine Regung der Freude: es war die Freude selbst. Diese einfache Frage »und Cosette?« war mit so tiefer Überzeugung, so sicher im Glauben vorgetragen, daß er keine Antwort fand.

»Ich wußte doch, daß Sie hier waren«, fuhr sie fort.

»Ich habe geschlafen, aber ich habe Sie doch gesehen. Schon lange sehe ich Sie. Während der ganzen Nacht bin ich Ihnen mit meinen Augen gefolgt. Aber sagen Sie mir doch, wo ist Cosette? Warum haben Sie sie mir nicht aufs Bett gelegt, damit ich sie gleich sehe, wenn ich aufwache?«

Glücklicherweise trat in diesem Augenblick der Arzt ein. Er kam Herrn Madeleine zu Hilfe.

»Mein Kind«, sagte der Arzt, »beruhigen Sie sich. Ihre Kleine ist da.«

Fantines Augen leuchteten auf, und ein klares Licht verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht. Sie faltete die Hände mit einem Ausdruck, der alles in sich schloß, was ein Gebet an sanfter Ergebung und dringendem Verlangen auszudrücken vermag.

»Oh«, rief sie, »bringen Sie sie mir!«

Rührende Illusion einer Mutter. Cosette war für sie noch immer das kleine Kind, das man bringt.

»Noch nicht«, sagte der Arzt, »nicht in diesem Augenblick. Sie haben noch immer Fieber. Der Anblick des Kindes würde Sie erregen und Ihnen schaden. Sie müssen zuerst gesund werden.«

»Aber ich bin doch gesund!« rief sie heftig, »ist das doch ein Esel, dieser Arzt! Ich will mein Kind sehen!«

»Sie sehen«, sagte der Arzt, »wie sie sich bereits aufregt. Solange Sie sich in diesem Zustand befinden, werde ich nicht erlauben, daß man Ihnen das Kind bringt. Es handelt sich nicht darum, daß Sie das Kind sehen – Sie sollen für das Kind leben. Sobald Sie vernünftig sind, werde ich es selbst hierher bringen.«

Sie ließ den Kopf hängen.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor, wirklich, ich bitte Sie um Verzeihung. Früher hätte ich nicht so gesprochen, wie ich es jetzt getan habe, aber mir ist so viel Unglück zugestoßen, daß ich manchmal gar nicht mehr weiß, was ich rede. Ich begreife, daß Sie die Aufregung fürchten, und ich werde warten, solange Sie es wünschen.«

Madeleine hatte sich auf einem Stuhl neben dem Bett niedergelassen. Sie wandte sich nach ihm um; offenbar kostete es sie große Mühe, ruhig und gefaßt zu erscheinen. Wenn man sie so friedlich sähe, dachte sie, würde man ihr ohne Schwierigkeit Cosette zuführen. Doch konnte sie sich nicht enthalten, tausend Fragen an Madeleine zu richten.

»Haben Sie denn eine gute Reise gehabt, Herr Bürgermeister? O wie gütig sind Sie, daß Sie sie selbst geholt haben. Sagen Sie mir nur, wie sie aussieht. Hat sie die Reise gut ausgehalten? Ach, sie wird mich ja gar nicht erkennen. Während all der langen Zeit hat sie mich bestimmt vergessen. Diese Kinder haben ja kein Gedächtnis. Wie gern möchte ich sie sehen. Herr Bürgermeister, finden Sie sie schön? Ist sie nicht hübsch, meine Kleine? Gewiß haben Sie sehr in der Post gefroren! Könnte man sie nicht auf einen kleinen Augenblick herbringen? Doch, man könnte sie ja gleich wieder forttragen. Sie sind doch hier der Herr, wenn Sie nur wollen …«

Er nahm ihre Hand.

»Cosette ist hübsch, es geht ihr gut, Sie werden sie bald sehen. Aber jetzt sind Sie ruhig. Sie sprechen zu lebhaft, und Sie strecken die Arme aus dem Bett. Sie werden wieder husten müssen.«

In der Tat unterbrachen Hustenanfälle Fantine fast bei jedem Wort.

Fantine murrte nicht, denn sie fürchtete, durch ihre allzu leidenschaftlichen Worte das Vertrauen in ihre Selbstbeherrschung erschüttert zu haben. Darum begann sie von gleichgültigen Dingen zu sprechen.

»Ein recht hübscher Ort, Montfermeil, nicht wahr? Im Sommer macht man sogar Landpartien dahin. Machen diese Thénardiers denn anständige Geschäfte? Viel Leute kommen dort nicht hin. Es ist ja auch eine recht schlechte Budike, ihre Wirtschaft.«

Madeleine hielt noch immer ihre Hand. Offenbar war er zu ihr gekommen, um ihr Dinge zu sagen, vor denen er jetzt zurückschreckte. Der Arzt hatte seine Visite beendigt und sich zurückgezogen. Nur Schwester Simplice war noch zugegen.

Plötzlich, inmitten des Schweigens, schrie Fantine auf:

»Ich höre sie! Mein Gott, ich höre sie!«

Unten im Hof spielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau oder irgendeiner Arbeiterin. Die Kleine lief hin und her, lachte und sang.

»Oh, es ist Cosette! Ich erkenne ihre Stimme.«

Das Kind lief wieder weg, wie es gekommen war, die Stimme verhallte. Fantine lauschte noch eine Zeitlang, dann wurde ihr Gesicht düster, und Madeleine hörte sie flüstern:

»Wie schlecht von dem Arzt, daß er mein Kind nicht zu mir läßt! Er ist nicht gut, dieser Mensch.«

Indessen wurde sie bald wieder heiter. Sie preßte den Kopf an das Kissen und begann mit sich selbst zu sprechen.

»Ganz glücklich werden wir sein. Und sogar einen kleinen Garten werden wir haben. Herr Madeleine hat es mir versprochen. Meine Kleine kann dann im Garten spielen.«

Sie lachte.

Madeleine hatte Fantines Hand losgelassen, er lauschte ihren Worten, wie man dem Winde lauscht, die Augen zu Boden gerichtet, in abgründige Gedanken versunken. Plötzlich hörte sie auf zu sprechen. Er blickte auf. Fantine schien entsetzt zu sein. Sie sagte nichts, sie atmete kaum mehr; sie hatte sich halb aufgerichtet, ihre magere Schulter hatte das Hemd zurückgeschoben; ihr Gesicht, eben noch strahlend, war totenfahl, und ihr starrer Blick schien auf irgend etwas Furchtbares gerichtet.

»Mein Gott«, rief er, »was haben Sie, Fantine?«

Sie antwortete nicht, ließ den Gegenstand nicht aus den Augen, den sie zu sehen schien, und berührte nur mit der Hand seinen Arm, während sie mit der andern in den Hintergrund deutete. Er wandte sich um und sah Javert.


Die Obrigkeit tritt in ihre Rechte

Fantine hatte Javert seit dem Tage, da der Bürgermeister sie aus den Händen jenes Mannes gerissen hatte, nicht mehr gesehen. Ihr krankes Gehirn konnte sich keine Rechenschaft ablegen, aber sie ahnte, daß er sie holen komme. Sie konnte dieses schreckliche Antlitz nicht ertragen, sie verbarg ihr Gesicht in beiden Händen und schrie angstvoll:

»Herr Madeleine, retten Sie mich!«

Jean Valjean – wir wollen ihn nunmehr so nennen – war aufgestanden. Sanft und ruhig sagte er zu Fantine:

»Seien Sie ruhig, Kind. Er kommt nicht um Ihretwillen.«

Dann wandte er sich zu Javert und sagte:

»Ich weiß, was Sie wollen.«

»Los, rasch!« befahl Javert. Etwas Wildes, Frenetisches war in dem Ton seiner Worte. Er tat nicht, wie gewöhnlich, äußerte sich nicht, wies keinen Haftbefehl vor. Für ihn war Jean Valjean ein geheimnisvoller, unfaßbarer Feind, ein Kämpfer im Dunkel, mit dem er seit fünf Jahren gerungen hatte, ohne ihn bezwingen zu können.

Diese Verhaftung war nicht ein Anfang, sondern ein Schluß. Darum beschränkte er sich darauf, zu sagen:

»Los, rasch!«

Dabei trat er nicht vor; er warf Jean Valjean nur diesen faszinierenden, tierischen Blick zu, mit dem er seine Opfer an sich zu ziehen pflegte. Es war der Blick, den Fantine eben erst bis in ihr Mark dringen gefühlt hatte.

Auf Javerts Ruf hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. Aber der Herr Bürgermeister war doch da. Was hatte sie zu befürchten?

Javert trat in die Mitte des Zimmers und rief:

»Nun, kommst du bald?«

Die Unglückliche blickte um sich. Es waren nur die Nonne und der Herr Bürgermeister im Zimmer. Wem konnte das rohe »du« gelten? Nur ihr. Sie schauerte. Und jetzt sah sie etwas Unerhörtes, etwas so Unerhörtes, daß ihr selbst in ihren schwärzesten Fieberträumen nichts Ähnliches erschienen war. Sie sah, wie der Spitzel Javert den Herrn Bürgermeister am Kragen faßte; sah, wie der Herr Bürgermeister den Kopf beugte. Ihr war, als ginge die Welt unter.

Tatsächlich hatte Javert Jean Valjean am Kragen gepackt.

»Herr Bürgermeister!« schrie Fantine.

Javert lachte laut auf – sein widerwärtiges Lachen entblößte alle Zähne.

»Hier ist kein Bürgermeister mehr!«

Jean Valjean suchte die Hand nicht abzuwehren, die den Kragen seines Ridingcoats festhielt. Er sagte:

»Javert …«

»Du hast Herr Inspektor zu mir zu sagen!«

»Mein Herr, ich möchte mit Ihnen ein Wort unter vier Augen sprechen.«

»Laut! Sprich laut! Mit mir spricht man laut.«

Jean Valjean fuhr leise fort:

»Ich muß Sie etwas bitten.«

»Ich sage dir, du sollst laut sprechen.«

»Aber das sollen nur Sie allein hören …«

»Was liegt mir daran? Ich höre nicht auf dich.«

Jean Valjean wandte sich nach ihm um und sagte rasch und ganz leise:

»Geben Sie mir drei Tage! Ich will nur das Kind dieser armen Frau hier holen. Ich werde alles bezahlen. Sie können mich begleiten, wenn Sie wollen.«

»Du willst dich wohl über mich lustig machen!« schrie Javert. »Na, für so blöd hätte ich dich nicht gehalten. Drei Tage willst du, damit du auskneifen kannst? Und um das Kind dieser Person da zu holen! Ausgezeichnet! Ein guter Witz!«

Fantine zitterte.

»Mein Kind!« rief sie, »mein Kind holen? Also ist es noch nicht hier? Schwester, sagen Sie mir, wo ist Cosette? Ich will mein Kind. Herr Madeleine! Herr Bürgermeister!«

Javert stampfte mit dem Fuß.

»Jetzt reißt die auch noch das Maul auf, die! Schweig du, Weibsstück! Ein Schweineland das, in dem die Galeerensträflinge Beamte sind und die Dirnen gepflegt werden wie Gräfinnen! Aber das wird ja jetzt anders. Es war auch schon die höchste Zeit.«

Er sah Fantine scharf an und rief:

»Daß du es nur weißt, von einem Herrn Madeleine ist hier nicht die Rede, und von einem Herrn Bürgermeister schon gar nicht. Der da steht, ist nur ein Dieb, ein Bandit und Bagnosträfling namens Jean Valjean. Und den habe ich am Kragen. Das ist alles.«

Fantine richtete sich im Bett auf, sah Jean Valjean an, dann Javert, dann die Nonne; sie tat den Mund auf, als ob sie sprechen wollte, ein Röcheln löste sich aus ihrer Kehle, ihre Zähne schlugen aufeinander, sie griff mit krampfhaft geöffneten Händen um sich wie ein Ertrinkender und fiel dann auf das Kissen zurück. Ihr Kopf stieß gegen die Bettkante und sank auf die Brust herab; der Mund stand offen, die Augen waren leer und erloschen. Sie war tot.

Jean Valjean legte seine Hand auf Javerts Hand, preßte sie auf wie die eines Kindes und sagte zu Javert:

»Sie haben diese Frau getötet.«

»Schluß!« schrie Javert wütend. »Wir sind nicht hier, um uns zu unterhalten. Das können wir uns sparen. Die Wache wartet unten. Los, oder ich lasse dir Daumenschrauben anlegen!«

In einer Ecke des Zimmers stand ein altes Eisenbett, das in ziemlich elendem Zustand war und den Schwestern des Nachts als Ruhestätte diente. Jean Valjean trat an dieses Bett, brach im nächsten Augenblick die Kante, die bereits locker war, ab – was seinen Muskeln nicht schwerfiel –, erhob diese Waffe und blickte Javert an. Der Inspektor zog sich zur Türe zurück.

Mit seiner Eisenstange in der Faust, trat Jean Valjean langsam an Fantines Bett. Dort angekommen, wandte er sich um und sagte mit kaum hörbarer Stimme:

»Ich empfehle Ihnen nicht, mich jetzt zu stören.«

Sicher ist nur, daß Javert zitterte.

Ihm fiel ein, er könnte die Wache rufen, aber da mußte er befürchten, Jean Valjean könne die Gelegenheit nützen und entspringen. Er blieb also stehen, hielt seinen Stock fest in der Hand und lehnte sich an den Türpfosten, ohne Jean Valjean aus den Augen zu lassen.

Der stützte seinen Ellbogen auf den Bettrand, seine Stirn in seine Hand; so betrachtete er Fantine. Stumm, seinen Gedanken hingegeben, verweilte er so. In seinen Mienen war nur ein unaussprechliches Mitleid zu lesen. Endlich beugte er sich über Fantine und sprach leise zu ihr.

Was er sagte? Was konnte der unglückliche Mann der toten Frau sagen? Niemand hat seine Worte vernommen. Oder die Tote? Es gibt rührende Illusionen, die vielleicht höchste Wirklichkeiten sind. Außer Zweifel ist nur, daß Schwester Simplice, die einzige Zeugin dieses Vorgangs, oft erzählte, in diesem Augenblick, als Jean Valjean sich zu dem Ohr der toten Fantine neigte, sei ein Lächeln über ihre blassen Lippen gehuscht.

Jean Valjean nahm Fantines Kopf in seine Hände und legte ihn sorgsam, wie eine Mutter ihr Kind, zurecht; er schob ihre Haare unter der Haube zurecht und knüpfte das Band ihres Hemdes zu. Dann schloß er ihre Augen,

Fantines Antlitz schien in diesem Augenblick von einem seltsamen Licht überstrahlt. Der Tod ist der Eintritt in das große Reich des Glanzes. Ihre Hand hing aus dem Bett. Jean Valjean kniete nieder und drückte einen Kuß auf sie. Dann wandte er sich um und sagte zu Javert:

»Jetzt stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«


Ein anständiges Grab

Javert lieferte Jean Valjean ins Stadtgefängnis ein.

Die Verhaftung des Herrn Madeleine war für Montreuil sur Mer eine Sensation, ein außerordentliches Ereignis. Wir müssen leider bekennen, daß das einzige Wort »Galeerensträfling« genügte, um alle Welt ihm abspenstig zu machen. In kaum zwei Stunden war alles Gute vergessen, was er getan hatte, und er war eben nur ein Zuchthäusler. Um der Gerechtigkeit willen müssen wir feststellen, daß noch niemand wußte, was sich in Arras abgespielt hatte.

Einen ganzen Tag lang wurden Gespräche wie etwa die folgenden geführt.

Wissen Sie schon, ein entlassener Sträfling! Wer? Der Bürgermeister. Herr Madeleine? Allerdings. Nicht möglich? Er hieß gar nicht Madeleine, er hat irgendeinen gemeinen Namen, Béjean, Bojean, Boujean oder so ähnlich. Großer Gott! Nun, er ist verhaftet. Verhaftet?! Im Stadtgefängnis. Man wird ihn bald abholen. Wohin denn? Er kommt wegen Straßenraubs vor die Assisen. Nun, das dachte ich mir immer. Dieser Mensch war zu gut, zu vollkommen, zu tadellos. Das Kreuz lehnt er ab, verteilt überall Almosen. Ich dachte mir’s doch immer, daß da etwas dahintersteckt!

Zumal in den Salons wurde so gesprochen. Eine alte Dame, eine Abonnentin des »Drapeau blanc«, äußerte folgende Bemerkung, deren ganze Tiefe nicht abzuschätzen ist:

»Das ist mir ganz lieb. Es mag für diese Bonapartisten eine Lehre sein!«

So verschwand das Phantom, das sich Madeleine genannt hatte, aus Montreuil sur Mer. Nur drei oder vier Leute in der ganzen Stadt bewahrten ihm ein treues Andenken. Zu diesen zählte die alte Portiersfrau, die ihm gedient hatte.

Am Abend desselben Tages saß diese wackere Alte in ihrer Loge, noch ganz bestürzt und traurigen Gedanken nachhängend. Die Fabrik war den ganzen Tag über geschlossen gewesen, das Haupttor verriegelt, die Straße leer. Im Hause waren nur noch die beiden Nonnen, Perpetua und Simplicia, die bei der toten Fantine wachten.

Zur Stunde, da Herr Madeleine nach Hause zu kommen pflegte, stand die brave Portiersfrau mechanisch auf, nahm den Schlüssel zu seinem Zimmer aus einer Lade und stellte den Leuchter bereit, als ob sie ihn erwarte. Dann setzte sie sich wieder und versank in Nachdenken. Sie hatte alles das ganz unbewußt getan.

Erst zwei Stunden später erwachte sie aus ihrem Sinnen. Mein Gott, dachte sie, wie kommt es nur, daß ich den Schlüssel bereitgelegt habe?

In diesem Augenblick wurde das Glasfenster aufgedrückt, eine Hand griff herein, nahm den Schlüssel und den Leuchter und entzündete die Kerze an dem Licht in der Loge.

Die Portiersfrau unterdrückte einen Schrei.

Sie kannte diese Hand, diesen Arm, diesen Rockärmel. Es war Madeleine. Sekunden vergingen, bevor sie sprechen konnte, denn sie war, wie sie später selbst erzählte, ganz außer sich.

»Mein Gott, Herr Bürgermeister«, sagte sie endlich, »ich dachte …«

Sie hielt inne, denn das Ende des Satzes, der so respektvoll begonnen wurde, wäre peinlich gewesen. Jean Valjean war für sie noch immer der Bürgermeister.

Er beendete ihren Gedanken.

»Sie dachten, ich wäre im Gefängnis. Ich war es. Ich habe das Fenstergitter ausgebrochen und bin vom Dach herabgesprungen. So, jetzt bin ich da. Ich gehe in mein Zimmer. Holen Sie mir Schwester Simplice, sie ist gewiß noch bei der Leiche dieser armen Frau.«

Eilig gehorchte die Alte.

Er gab ihr keine weitere Anweisung. Er wußte gewiß, daß sie besser auf ihn achten würde als er selbst.

Er stieg inzwischen die Treppe hinauf, die in sein Zimmer führte. Oben angelangt, ließ er seinen Leuchter auf der höchsten Stufe stehen, öffnete geräuschlos die Tür und trat ein. Tastend schloß er die Fensterläden, dann holte er seinen Leuchter. Diese Vorsicht war nötig, denn sein Fenster war von der Straße aus zu sehen.

Es wurde an die Tür geklopft.

»Herein!« rief er.

Es war Schwester Simplice. Sie war bleich, hatte gerötete Augen, und die Kerze in ihrer Hand zitterte. Die Erschütterungen des Tages hatten diese Nonne wieder zur Frau gemacht.

Jean Valjean schrieb einige Zeilen auf ein Stück Papier und reichte es der Nonne: »Schwester, überbringen Sie dies dem Herrn Pfarrer.«

Das Blatt war nicht zusammengefaltet. Sie warf einen Blick darauf.

»Sie können es lesen«, sagte er.

Und sie las folgendes:

»Ich bitte den Herrn Pfarrer, über alles, was ich hier zurücklasse, zu wachen. Es mögen aus dem Ertrag des Verkaufs die Kosten meines Prozesses und die Beerdigung der Frau bestritten werden, die heute gestorben ist. Der Rest komme den Armen zu.«

Die Schwester wollte sprechen, aber sie konnte nur einige unartikulierte Laute hervorbringen. Endlich sagte sie:

»Wünschen der Herr Bürgermeister noch einmal diese arme Tote zu sehen?«

»Nein, ich werde verfolgt, man könnte mich dort verhaften. Es würde ihre Ruhe stören.«

Kaum hatte er gesprochen, als ein lautes Geräusch auf der Treppe hörbar wurde. Von unten erscholl die Stimme der Portiersfrau, die gellend rief:

»Guter Herr, ich schwöre Ihnen bei Gott, daß den ganzen Tag und Abend über niemand hierhergekommen ist! Ich habe die Türe nicht aus dem Auge gelassen.«

»Es ist aber Licht im Zimmer«, antwortete eine Männerstimme.

Es war die Stimme Javerts.

Die Tür war so im Zimmer angebracht, daß sie, geöffnet, die rechte Ecke verdeckte. Jean Valjean trat in diese Ecke. Schwester Simplice kniete an dem Tisch nieder.

Die Tür wurde aufgerissen, Javert trat ein. Man hörte das Flüstern von Männern und die heftige Einrede der Portiersfrau im Korridor. Die Nonne blickte nicht auf. Sie betete.

Javert sah die Schwester und blieb betroffen stehen. Man erinnert sich, daß sein tiefster Wesenszug, das Element, in dem er atmete, die Verehrung jeglicher Autorität war. Und die Autorität der Kirche war für ihn die höchste; er war religiös – oberflächlich, aber korrekt, hierin wie in allen anderen Punkten. In seinen Augen war ein Priester ein Geist, der nicht irren konnte, eine Nonne ein Geschöpf, das der Sünde unfähig ist.

Als er die Schwester gewahrte, war seine erste Regung, sich zurückzuziehen. Aber sein Pflichtgefühl wurde wach, trieb ihn gebieterisch nach der anderen Richtung. Wenigstens eine Frage wollte er wagen.

Das war jene Schwester Simplice, die nie in ihrem Leben gelogen hatte. Javert wußte es und zollte dieser Tugend seine besondere Verehrung.

»Schwester«, sagte er, »sind Sie allein?«

Es war ein schrecklicher Augenblick. Die arme Portiersfrau glaubte ohnmächtig zu werden.

Die Schwester blickte auf und antwortete:

»Ja.«

»Verzeihen Sie, Schwester, wenn ich weiterfrage. Ich tue nur meine Pflicht. Haben Sie heute abend nicht einen Mann hier gesehen, einen Entsprungenen, den wir suchen, einen gewissen Jean Valjean?«

»Nein«, antwortete die Schwester.

Sie log. Sie log zweimal, Schlag auf Schlag, ohne zu zögern.

»Verzeihung«, sagte Javert und zog sich mit einer tiefen Verneigung zurück.

Eine Stunde später wanderte ein Mann mit raschen Schritten durch die Nacht, von Montreuil sur Mer nach Paris; es war Jean Valjean. Nach der Zeugenaussage von zwei oder drei Fuhrleuten, die ihm begegnet waren, trug er ein Felleisen und war mit einem Kittel bekleidet. Woher er ihn hatte? Man hat es nie erfahren.

Und noch ein Wort über Fantine.

Der Pfarrer glaubte richtig zu handeln (und vielleicht tat er es auch), indem er von Jean Valjeans Nachlaß soviel wie möglich für die Armen sicherte. Und alles in allem, worum ging es? Ein Zuchthäusler, eine öffentliche Dirne …

Darum vereinfachte er die Beerdigung Fantines, beschränkte sie auf das unvermeidlich Notwendigste und bestimmte ihr einen Platz im Massengrab.

Fantine wurde also in einem Winkel des Friedhofs, für den keine Pacht verlangt wird, der allen und niemand gehört, begraben. Glücklicherweise weiß Gott, wo er seine Seelen zu finden hat.

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