Vierter Teil
Eine Idylle in der Rue Plumet und ein Epopöe in der Rue Saint-Denis

Erstes Buch
Eponine

Das Lerchenfeld

Marius hatte Javert auf die Spur der Verbrecher gebracht; und kaum war Javert wieder fort, um seine Gefangenen in drei Droschken nach dem Gefängnis zu bringen, da war auch Marius fortgelaufen. Es war erst neun Uhr abends. Er ging zu Courfeyrac.

Der Student war jetzt nicht mehr einer der unbeirrbaren Bewohner des Quartier Latin. Er war nach der Rue de la Verrerie verzogen, »aus politischen Gründen«, wie er sagte. In jener Gegend ließen sich damals die Revolutionäre gern nieder.

Als Marius Courfeyrac gesagt hatte, daß er bei ihm schlafen wolle, zog dieser eine Matratze aus seinem Bett (in dem es deren zwei gab), legte sie auf den Boden und sagte:

»Bitte.«

Am nächsten Morgen, es war erst sieben Uhr früh, begab sich Marius in sein früheres Quartier, bezahlte die restliche Miete und alles, was er Frau Burgon schuldete, ließ seine Bücher auf einen Handwagen verladen, sein Bett, seinen Tisch, seine Kommode und seine zwei Stühle, und dann entfernte er sich, ohne seine neue Adresse zu hinterlassen; als Javert am selben Morgen in das Gorbeausche Haus kam, um Marius noch einmal über die Vorgänge von gestern abend zu befragen, bestellte ihm »Mame Bougon«:

»Ausgezogen.«

Marius hatte zwei Gründe, so rasch umzuziehen. Einmal fühlte er einen lebhaften Widerwillen gegen dieses Haus, in dem er die Bekanntschaft einer der häßlichsten Ausgeburten unserer Gesellschaftsordnung gemacht hatte, des schlechten Armen, der vielleicht noch widerwärtiger ist als der schlechte Reiche. Und dann wollte er auch in dem Prozeß, der jener Verhaftung folgen mußte, nicht als Zeuge gegen Thénardier auftreten.

Javert glaubte, der junge Mann, dessen Namen er übrigens vergessen hatte, sei furchtsam geworden und habe sich aus dem Staub gemacht; er riskierte einige Versuche, ihn wiederzufinden, erreichte aber nichts.

So verging ein Monat, dann wieder einer. Marius wohnte noch immer bei Courfeyrac. Von einem Advokaten, der auf dem Strafgericht zu tun hatte, hatte er erfahren, daß Thénardier in Haft gehalten wurde. Jeden Montag ließ Marius Thénardier durch die Gefängniskasse fünf Franken übermitteln.

Und da er sonst kein Geld mehr besaß, entlieh er diese kleinen Beträge Courfeyrac. Das war das erstemal in seinem Leben, daß er sich mit Schulden belastete. Diese regelmäßigen Überweisungen von je fünf Franken waren ein doppeltes Rätsel – für Courfeyrac, der sie auslegen mußte, und für Thénardier, der sie empfing.

Übrigens war Marius wie zerschmettert. Alles hatte sich wieder zum Bösen gewendet. Sein Leben war zurückgesunken in jenes Dunkel, in dem er tastend weiterschritt. Er hatte das junge Mädchen, das er liebte, einen Augenblick lang in nächster Nähe gesehen, dann waren die beiden Unbekannten, denen all sein Interesse gehörte, wieder verschwunden. Jetzt blieben ihm nicht einmal mehr Vermutungen offen. Sogar den Namen, den er schon zu kennen glaubte, wußte er nicht. Gewiß hieß sie nicht Ursule. Er hatte sie Lerche nennen hören, aber das war doch offenbar nur ein Spitzname. Und was sollte er von dem Alten denken? Verbarg er sich wirklich vor der Polizei? Jetzt fiel ihm der Arbeiter mit den weißen Haaren wieder ein, den er damals in der Nähe des Invalidendoms gesehen hatte. Offenbar war er mit Leblanc identisch. Also verkleidete er sich? Dieser Mann hatte heldische und auch befremdende Züge. Warum hatte er nicht um Hilfe gerufen? Warum war er geflohen? War er wirklich der Vater des jungen Mädchens, wirklich der Mann, den Thénardier zu erkennen glaubte? Konnte Thénardier sich täuschen?

Im übrigen folgten die Tage einander, ohne daß irgend etwas Neues geschah. Nur schien es ihm, als ob der Weg, den er noch zu gehen hatte, immer kürzer werde. Schon sah er den Abgrund vor sich.

Wenn man die Rue Saint-Jacques hinaufsteigt und dem alten inneren Boulevard folgt, erreicht man die Rue de la Santé, stößt bis zur Glacière vor und findet kurz vor dem Ufer der Gobelins eine freie Fläche, im Umkreis der Pariser Boulevards den einzigen Platz, auf dem ein Ruisdael gerne seinen Klappstuhl aufgeschlagen hätte.

Ich weiß nicht, worauf die Anmut dieses Stückchen Landes beruht; es ist eine grüne Wiese, auf der Wäscheleinen ausgespannt sind. Eine alte Meierei aus der Zeit Ludwigs XIII. mit einem hohen Mansardendach steht dort; zwischen Pappeln liegt ein kleiner Teich. Am Horizont das Panthéon, das Taubstummeninstitut, Val-de-Grâce, und im äußersten Hintergrund die viereckigen Türme von Notre Dame.

Da dieser Ort wert ist, daß man ihn ansieht, kommt kein Mensch hin. Kaum daß alle Viertelstunden einmal ein Lastwagen vorüberrollt.

Eines Tages gelangte Marius auf einem einsamen Spaziergange dahin. Der Reiz dieser fast weltverlassenen Gegend berührte ihn, und so benützte er die Gelegenheit, als zufällig ein Passant vorüberkam, und fragte ihn:

»Wie heißt diese Gegend hier?«

»Lerchenfeld. Hier hat Ulback die Schäferin von Ivry ermordet.«

Aber nach dem Wort Lerchenfeld hatte Marius nicht weiter zugehört. Der Geist des Träumers ist gewisser Erstarrungen fähig, die oft ein einziges Wort auszulösen vermag. Alle seine Gedanken klammerten sich an eine einzige Idee: Lerche. Dieses Wort hatte in der Tiefe seiner Melancholie den Namen Ursule ersetzt.

Hier werde ich erfahren, wo sie sich aufhält, dachte er.

Diese Idee war verrückt, aber zwingend.

Und von jetzt an kam er täglich nach dem Lerchenfeld.


Beschäftigung der Sträflinge

Der Triumph, den Javert im Gorbeauschen Hause errungen hatte, schien vollständig, aber er war es nicht.

Zunächst einmal hatte die Polizei den »Gefangenen« nicht in ihre Hände bekommen, und das ärgerte Javert am meisten. Einer, der ermordet werden soll und vor der Polizei davonläuft, ist verdächtiger als der Mörder, der bleibt; gewiß wäre dieser Flüchtling ein nicht minder guter Fang gewesen als die ganze Truppe der Banditen, deren man sich bemächtigt hatte.

Des weiteren war Montparnasse entkommen. Man mußte eine künftige Gelegenheit abwarten, ihn zu greifen. Er hatte sich damals bei Eponine, die unter den Bäumen des Boulevards Schmiere stand, aufgehalten und hatte sie schließlich fortgeführt, da er lieber den Don Juan als den Schinderhannes spielen wollte. So war er entkommen. Javert hatte Eponine zwar später erwischt, aber das war ein recht mittelmäßiger Trost. Sie wurde zu Azelma in das Frauengefängnis gebracht.

Endlich war auf dem Transport einer der wichtigsten Häftlinge, Claquesous, verschwunden. Man wußte nicht recht, wie es zugegangen war. Die Agenten und Polizisten »begriffen es selbst nicht«. Er hatte sich in Luft aufgelöst, sich durch die Fenster des Wagens verflüchtigt; fest stand nur, daß er, als die Wagen vor dem Gefängnistor hielten, nicht mehr da war. Das Ganze schmeckte nach Zauber oder Polizei. War Claquesous buchstäblich verschwunden? Oder stand er in einem geheimen Einverständnis mit den Agenten? War dieser sonderbare Mensch zugleich ein Geheimnis der Ordnung und der Unordnung? Hatte diese Sphinx ihre Hände sowohl in den Intrigen der Verbrecher wie in den Machenschaften der Behörde? Javert ließ sich nie auf solche Dinge ein, ihm war jeder Kompromiß unmöglich. Aber unter den Leuten, die er befehligte, befanden sich auch einige Inspektoren, die, mochten sie auch seine Untergebenen sein, vielleicht tiefer in die Geheimnisse der Präfektur eingedrungen waren als er; und dieser Claquesous war ein solcher Schuft, daß er immerhin einen guten Spitzel abgeben konnte. Wie dem auch sei, der Mann war nicht mehr aufzufinden. Javert war darüber weniger empört als verwundert.

Was Marius betraf, so interessierte er die Polizei wenig.

So begann die Untersuchung.

Der Untersuchungsrichter hatte es für zweckmäßig befunden, einen der Leute der Bande Patron-Minette nicht in die Einzelzelle bringen zu lassen, wohl in der Hoffnung, daß er etwas ausplaudern würde. Diese Wahl fiel auf Brujon, den Wuschelkopf aus der Rue du Petit-Banquier. Man hatte ihn in den Hof Charlemagne gebracht, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Er war ein junger, sehr geschickter Kerl, der gerne eine jämmerliche und alberne Miene aufsetzte. Dieser Trick hatte auch den Untersuchungsrichter getäuscht, der ihn darum vor der Einzelzelle bewahrte.

Die berufsmäßigen Verbrecher stellen ihre Tätigkeit auch nicht ein, wenn sie sich in den Händen der Justiz befinden. Eine solche Kleinigkeit stört sie nicht. Wegen eines Dings zu sitzen, hindert keinen, ein anderes zu drehen.

Brujon schien die Haft schlecht zu ertragen. Oft stand er stundenlang im Hofe Charlemagne an der Luke der Kantine und starrte idiotisch auf die Preistafel, die mit »Knoblauch … zweiundsechzig Centimes« begann und mit »Zigarren … fünf Centimes« endete. Oder er verbrachte seine Zeit damit, zu zittern oder mit den Zähnen zu klappern, über Fieber zu klagen und sich zu erkundigen, ob nicht eines der achtundzwanzig Betten des Krankensaals frei wäre.

Plötzlich wurde bekannt – das war in der zweiten Hälfte des Monats Februar 1832 –, daß dieser verschlagene Brujon unter dem Namen von drei Kameraden Dienstmänner nach verschiedenen Stadtgemeinden entsandt hatte; er hatte sich diesen Luxus fünfzig Sous kosten lassen, und dieser Umstand machte den Oberaufseher neugierig.

Man erkundigte sich und erfuhr, daß die fünfzig Sous folgendermaßen verausgabt waren; zehn für einen Gang nach dem Panthéon, fünfzehn für einen nach dem Val-de-Grâce, fünfundzwanzig schließlich für einen nach dem Tor von Grenelle. Nun befanden sich an diesen drei Orten die Wohnsitze von drei berüchtigten Banditen, Kruideniers, genannt Bizarro, Glorieux und Barre-Carrosse. Man kam auf den Gedanken, diese Leute könnten mit der Bande Patron-Minette in Verbindung stehen, von der man ja zwei Führer, Babet und Gueulemer, hinter Schloß und Riegel hatte. Offenbar hatte Brujon ihnen Tips für irgendwelche neue Verbrechen gegeben. Die drei wurden verhaftet, und man glaubte, irgendeinen Plan Brujons vereitelt zu haben.

Eine Woche später traf es sich, daß ein Wärter, der gerade nachts die Runde machte, Brujon in seinem Bette sitzend und schreibend fand. Brujon kam auf einen Monat in die Einzelzelle, aber das Geschriebene war nicht zu finden. Die Polizei war so klug wie zuvor.

Fest steht aber, daß am nächsten Tage ein Kassiber aus dem Hof Charlemagne in die »Löwengrube«, einen anderen Hof des gleichen Gefängnisses, flog, über ein fünf Stock hohes Gebäude hinweg.

Dieser Kassiber gelangte an seine Adresse, obwohl der Mann, an den er gerichtet war, sich augenblicklich in Einzelhaft befand. Und das war niemand anders als Babet, einer der vier Führer der Bande Patron-Minette.

Der Kassiber lautete:

»Babet, in der Rue Plumet ist etwas zu drehen. Ein Garten und ein Gitter.«

Das war der Zettel, den Brujon damals in der Nacht geschrieben hatte.

Trotz aller scharfen Beobachtung fand Babet ein Mittel, dieses Schreiben nach der Salpêtrière gelangen zu lassen, an eine gute Freundin, die gerade dort logierte. Die übergab es einer anderen Bekannten, einer gewissen Magnon, die schon lange die Aufmerksamkeit der Polizei erregt hatte, aber noch nicht verhaftet worden war. Magnon stand mit den Thénardiers in intimer Verbindung, und wir werden darüber bei passender Gelegenheit noch zu sprechen haben; sie ging zu Eponine, die jetzt zwischen dem Frauengefängnis und der Salpêtrière die Verbindung bilden konnte, denn man hatte die beiden Töchter Thénardiers in Ermangelung von gegen sie zeugenden Tatsachen auf freien Fuß gesetzt. Als Eponine das Untersuchungsgefängnis verließ, wartete Magnon schon an der Türe und überbrachte ihr Brujons Schreiben an Babet mit dem Auftrag, die Sache auszubaldowern.

Eponine ging sofort nach der Rue Plumet, erkannte den Garten und das Gitter, beobachtete das Haus einige Tage lang und brachte schließlich Magnon einen Zwieback, den die Freundin Babets in die Salpêtrière einschmuggelte. Ein Zwieback bedeutet in der symbolischen Sprache der Gauner:

»Nichts zu machen.«

Eine Woche später begegneten Babet und Brujon einander auf einem Transport im Korridor des Untersuchungsgefängnisses; der eine kam vom Untersuchungsrichter, der andere wurde gerade hingeführt.

»Na?« fragte Brujon, »Rue P.?«

»Zwieback«, erwiderte Babet.


Marius hat eine Begegnung

Eines Morgens, es war an einem Montag, und Marius hatte eben von Courfeyrac für Thénardier die wöchentlichen fünf Franken entliehen, steckte der junge Mann die Münze in seine Tasche und beschloß, bevor er zum Gefängnistor ging, ein wenig zu lustwandeln. Er hoffte, er werde dann besser arbeiten können.

So war es nun schon seit langem. Er stand früh auf, setzte sich an seinen Arbeitstisch und begann mit seiner Übersetzung. Damals arbeitete er an einer Übertragung eines berühmten Rechtsstreits zwischen zwei deutschen Gelehrten, Gans und Savigny; er nahm zuerst den Gans vor, las vier Seiten, versuchte etwas zu Papier zu bringen, hatte aber zwischen der weißen Schreibfläche und seinen Augen ein störendes Flimmern; verärgert stand er auf und sagte:

»Ich gehe aus. Vielleicht komme ich dann in Zug.«

Dann spazierte er zu dem Lerchenfeld.

Wohl ging er wieder nach Hause, versuchte sich auf die Arbeit zu stürzen, aber er kam nicht weiter. Es war schier unmöglich, die zerrissenen Fäden in seinem Gehirn wieder zu verknüpfen. Dann dachte er wohl: morgen geh ich aber nicht aus, das hindert mich nur an der Arbeit.

Und er ging alle Tage aus.

Bald wohnte er mehr auf dem Lerchenfeld als in Courfeyracs Bude.

An diesem Tag hatte er am Ufer der Gobelins Platz genommen. Eine heitere Morgensonne schimmerte durch das frische Laub der Bäume.

Plötzlich hörte er mitten in seiner Niedergeschlagenheit eine bekannte Stimme, die sagte:

»Holla, da ist er ja!«

Er blickte auf und erkannte das unglückliche Mädchen, das einmal zu ihm gekommen war, die ältere von den beiden Töchtern Thénardiers, Eponine. Jetzt wußte er sogar, wie sie hieß. Seltsam, sie sah jetzt noch dürftiger, aber schöner aus als einst. Sie hatte in zwei verschiedenen Richtungen Fortschritte gemacht. Einerseits war sie barfuß und in elende Lumpen gehüllt, oder ihre Lumpen waren wenigstens um einige Monate älter geworden: die Risse verbreitert, der Schmutz undurchdringlicher. Die Stimme war noch immer heiser, die Stirn gefurcht, der Blick unstet und frech. Aber es war irgend etwas Beklagenswertes, Verschüchtertes dazugekommen. Die Untersuchungshaft hatte ihre Züge verändert.

Sie hatte einige Strohhalme in den Haaren, nicht wie Ophelia, die von Hamlets Wahnsinn angesteckt worden war, sondern weil sie die Nacht in einer Scheune zugebracht hatte. Und doch sah sie hübsch aus. O welch ein Stern bist du, Jugend!

Jetzt blieb sie vor Marius stehen, und ihr bleiches Gesicht zeigte einen Schimmer von Freude, etwas wie ein Lächeln. Erst nach einigen Sekunden konnte sie sprechen.

»Also habe ich Sie doch gefunden! Ich war bei Vater Mabeuf, um nach Ihnen zu fragen. Er hatte recht, als er sagte, ich würde Sie hier finden. Wie ich Sie gesucht habe! Wenn Sie wüßten …! Ich war auch im Gefängnis. Vierzehn Tage! Dann haben sie mich laufen lassen. Erstens konnten sie gegen mich nichts sagen, und dann bin ich noch zu jung. Erst in zwei Monaten erreiche ich das nötige Alter. Oh, wie ich Sie gesucht habe! Sechs Wochen lang. Wohnen Sie denn nicht mehr dort?«

»Nein.«

»Ah, ich verstehe. Wegen der Sache damals. Solche Geschichten sind ekelhaft. Da sind Sie also ausgezogen. Aber warum tragen Sie nur einen solchen alten Hut? Ein junger Mensch wie Sie soll hübsche Kleider haben. Wissen Sie das, Herr Marius? Der Vater Mabeuf nennt Sie sogar Baron … weiter weiß ich nichts. Sind Sie wirklich Baron? Barone sind doch immer alte Männer, die in den Luxembourg-Garten gehen, dorthin, wo die Sonne am besten hintrifft, und die Quotidienne lesen. Ich war einmal mit einem Brief bei einem solchen Baron. Der war seine hundert Jahre alt. Sagen Sie, wo wohnen Sie jetzt?«

Marius antwortete nicht.

»Oh, Sie haben ein Loch im Hemd!« fuhr sie fort. »Ich muß es Ihnen wohl flicken.« Jetzt wurde ihr Gesicht traurig. »Sie scheinen sich gar nicht zu freuen, daß Sie mich wiedersehen.«

Marius schwieg. Auch sie brachte einen Augenblick lang kein Wort über die Lippen.

»Und doch, wenn ich wollte, könnte ich Sie zwingen sich zu freuen.«

»Wieso denn? Was meinen Sie damit?«

»Ach, früher sagten Sie du zu mir.«

»Nun, was meinst du damit?«

Sie biß sich auf die Lippen und schien zu zögern; vielleicht war sie die Beute eines erbitterten Kampfes in ihrem Innern. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein.

»Schade, aber was kann man tun? Sie sehen so traurig aus, ich möchte Sie lieber lustig sehen. Aber Sie müssen mir auch versprechen, daß Sie lachen werden. Ich will bestimmt wissen, daß Sie lachen und sagen: Bravo, das ist gut! Armer Herr Marius, erinnern Sie sich noch, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten mir geben, was ich verlange …«

»Gut, sag schon, was du weißt.«

Sie sah auf das Weiße seiner Augen.

»Ich weiß die Adresse.«

Marius erblaßte. All sein Blut strömte zum Herzen.

»Welche Adresse?«

»Die Adresse, die Sie verlangt haben, die Adresse des Fräuleins.«

Jetzt seufzte sie tief auf.

Marius sprang auf und griff nach ihrer Hand.

»Oh«, rief er, »führ mich hin! Verlang, was du willst. Wo ist sie?«

»Kommen Sie mit mir. Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, und weiß die Nummer nicht, es ist recht weit von hier, aber das Haus kenne ich, und ich werde Sie hinführen.«

Sie zog ihre Hand zurück und sagte mit einem kläglichen Ton, der jeden anderen, minder begeisterten Beobachter zu Tränen gerührt hätte:

»Ach, wie Sie sich freuen!«

Marius’ Stirn bewölkte sich. Lebhaft ergriff er Eponines Arm.

»Du mußt mir schwören, daß …«

»Schwören? Was denn?«

»Schwören, Eponine, daß du diese Adresse nicht deinem Vater sagst.«

Verwundert blickte sie auf.

»Woher wissen Sie, daß ich Eponine heiße?«

»Versprich mir erst, was ich verlangt habe.«

Sie schien nicht mehr zu hören.

»Das ist lieb, daß Sie mich Eponine genannt haben.«

Marius nahm sie bei den Armen und schüttelte sie.

»So antworte doch um Himmels willen! Höre doch, was ich sage! Schwöre, daß du diese Adresse nicht deinem Vater sagst!«

»Meinem Vater? Ach, da seien Sie unbesorgt. Der sitzt in der Dunkelzelle. Übrigens, was kümmere ich mich um meinen Vater?«

»Das sind alles noch keine Versprechungen!«

»Aber lassen Sie mich doch los! Wie Sie mich schütteln! Doch, ich versprech es Ihnen ja! Ich schwöre es sogar, was liegt mir daran? Ich werde die Adresse meinem Vater nicht sagen. Ist es jetzt gut?«

»Und sonst auch niemand?«

»Auch sonst niemand.«

»Gut, dann führe mich!« rief Marius.

»Kommen Sie. Oh, wie er glücklich ist«, murmelte sie.

Nach einigen Schritten aber blieb sie stehen.

»Sie können nicht so nahe hinter mir herlaufen, Herr Marius. Folgen Sie mir, ohne daß man es merkt. Sie dürfen nicht mit einer wie ich gesehen werden.«

Wieder nach zehn Schritten blieb sie neuerlich stehen. Marius holte sie ein.

»Wissen Sie auch, daß Sie mir etwas versprochen haben?«

Marius griff in die Tasche. Er besaß auf der Welt nur diese fünf Franken, die er Vater Thénardier zugedacht hatte. Jetzt nahm er sie und drückte sie Eponine in die Hand.

Sie aber spreizte die Finger und ließ die Münze zu Boden fallen. Dann sagte sie mißmutig:

»Ich will Ihr Geld nicht.«

Zweites Buch
Das Haus in der Rue Plumet

Das geheimnisvolle Haus

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte ein Pariser Gerichtspräsident sich insgeheim eine Geliebte gehalten, insgeheim, weil jene Zeit es so wollte, daß die großen Herren ihre Mätressen zeigten, die Bürger aber die ihren versteckten. Darum hatte er im Faubourg Saint-Germain, in der verlassenen Rue de Blomet, die jetzt Rue Plumet heißt, ein kleines Haus erbauen lassen.

Es bestand aus einem einstöckigen Pavillon, der im Erdgeschoß zwei Zimmer, im ersten Stock zwei Kammern, unten eine Küche, oben ein Boudoir enthielt; vor dem Gebäude lag ein Garten, der gegen die Straße zu vergittert war und ungefähr einen Morgen maß. Mehr bekamen die Passanten der Straße nicht zu sehen. Hinter dem Pavillon aber lag ein schmaler Hof, und auf der anderen Seite des Hofes ein kleiner, niedriger Bau, der insgesamt zwei Räume enthielt, vielleicht ursprünglich dazu bestimmt, im Notfall ein Kind und eine Amme zu beherbergen. Dieser Bau stand durch eine Hintertür, die maskiert war, mit einem langen, schmalen Gang in Verbindung, der zwischen zwei hohen Mauern verlief. Er war mit großer Vorsicht versteckt zwischen den Gärten und Feldern, die angrenzten, und mündete gleicherweise in einer versteckten Tür, die, etwa eine Viertelmeile von dem Hauptgebäude entfernt, in einem anderen Stadtteil, an einer ruhigen Stelle der Rue de Babylone lag.

Im Oktober 1829 hatte ein alter Herr dieses Haus, wie es lag und stand, gemietet, zusammen mit dem Hintergebäude und dem Gang nach der Rue de Babylone. Er ließ die Geheimtüren an beiden Enden des Ganges erneuern, ließ auch an dem Haus, das noch von früher her einige Möbel aufwies, allerlei Ausbesserungen vornehmen. Dann zog er mit einem jungen Mädchen und einer bejahrten Dienerin in aller Stille ein. Nachbarn konnten sich darüber nicht unterhalten, weil es keine gab.

Dieser Mieter, der so wenig Aufsehen zu erregen wünschte, war Jean Valjean, das junge Mädchen Cosette. Die alte Dienerin hieß Toussaint, und Jean Valjean hatte sie vor dem Spital und dem Elend bewahrt. Sie war alt, stammte aus der Provinz und stotterte. Diese drei Vorzüge hatten Jean Valjean veranlaßt, sich ihre Dienste zu sichern. Den Mietvertrag hatte er Fauchelevent, Rentner, unterzeichnet.

Warum hatte Jean Valjean das Kloster Petit-Picpus verlassen? Was war vorgefallen?

Nichts.

Der Leser erinnert sich vielleicht, daß Jean Valjean im Kloster glücklich war, so glücklich, daß er sich schließlich Gewissensbisse machte. Er sah Cosette täglich, fühlte, wie seine väterliche Liebe zu ihr sich immer mehr entfaltete, sagte sich, daß sie ihm ganz gehöre und daß niemand sie ihm mehr entreißen könne. Gewiß würde sie Nonne werden, und da das Kloster jetzt für sie wie für ihn die Welt bedeutete, würde er hier allmählich altern, während sie heranwuchs. Die Hoffnung, sich nie mehr von ihr zu trennen, entzückte ihn.

Und doch, wenn er darüber nachdachte, verfiel er in Unsicherheit. Er prüfte sein Gewissen, fragte sich, ob dieses Glück ihm auch zustehe, ob es sich nicht auf Kosten des Glücks eines andern, jenes Kindes nämlich, erst vollends entfalte; ob nicht er, der Greis, dieses Kind des Glücks beraube. Und war das nicht ein Diebstahl? Dieses Kind, begriff er, hatte ein Recht darauf, die Welt kennenzulernen, bevor es ihr entsagte; man durfte ihm nicht alle Freuden rauben unter dem Vorwand, daß man ihm alle Prüfungen ersparen wolle, durfte die Unwissenheit dieses Mädchens nicht mißbrauchen, um es glauben zu machen, es sei zum Klosterleben berufen; das hieße ein Geschöpf Gottes vergewaltigen und Gott betrüben.

Wer weiß, vielleicht würde Cosette eines Tages eine schlechte Nonne, und dann mußte sie ihn hassen! Dieser letzte Gedanke war fast egoistisch und weniger heroisch als die andern, für Valjean aber war er geradezu unerträglich.

Er beschloß, das Kloster zu verlassen.

Was Cosettes Erziehung betrifft, so war sie fast abgeschlossen.

Sobald Jean Valjean sich also zu einem Entschluß durchgerungen hatte, wartete er nur mehr auf eine Gelegenheit. Sie ergab sich, als der alte Fauchelevent starb.

Jetzt erbat Jean Valjean eine Audienz bei der Priorin und sagte ihr, sein Bruder habe ihm ein kleines Erbe hinterlassen, das ihn immerhin instand setze, in Zukunft ohne Arbeit zu leben; darum scheide er aus dem Dienst des Klosters aus und nehme auch Cosette mit. Es sei aber billig, daß Cosette, wenn sie kein Gelübde ablege, auch nicht kostenlos erzogen werde, und darum bitte er die ehrwürdige Priorin demütig, sie möge im Namen der Klostergemeinschaft ein Geschenk von fünftausend Franken annehmen, das als Entschädigung für die fünf Jahre gelten mochte, die Cosette hier zugebracht. So verließ Jean Valjean das Kloster der Ewigen Anbetung.

Als er fortging, trug er einen kleinen Koffer, den er keinem Dienstmann anvertrauen wollte und dessen Schlüssel er immer bei sich trug. Cosette mußte darüber lachen und sagte schließlich sogar, sie sei auf den Koffer eifersüchtig.

Jean Valjean entdeckte das Haus in der Rue Plumet und ließ sich dort nieder. Jetzt war er ja im rechtmäßigen Besitz des Namens Ultime Fauchelevent.

Gleichzeitig mietete er noch zwei andere Wohnungen in Paris, um nicht, wenn er in einem Stadtviertel bliebe, die Aufmerksamkeit eines Beobachters zu erregen. Er erreichte dadurch, daß er in solchen Fällen wie jenen, da Javert ihn beinahe schon gefaßt hatte, unauffällig verschwinden konnte. Eine dieser Wohnungen lag in der Rue de l’Ouest, die andere in der Rue de l’Homme-Armé.


Jean Valjean als Nationalgardist

Hauptsächlich aber wohnte er in der Rue Plumet, und dort hatte er sein Leben folgendermaßen eingerichtet.

Cosette bewohnte mit der Dienerin den Pavillon. Sie hatte das große Schlafzimmer, ein Boudoir und den ehemaligen Salon des Gerichtspräsidenten. Auch der Garten stand zu ihrer Verfügung. Er selbst bewohnte den einfachen Bau auf der anderen Seite des Hofes, der eher einer Pförtnerloge glich; seine Matratze lag auf einem Gurtbett, er hatte einen Tisch aus weißem Holz, zwei Strohstühle, einen Wasserkrug aus Ton, einige Bücher auf einem Brett und seinen Koffer, von dem er sich nie trennte; geheizt wurde in diesem Raum niemals. Zu essen pflegte er bei Cosette, und er befahl, daß für ihn immer ein Stück Brot bereitlag. Zu Toussaint hatte er, als sie ihren Dienst antrat, gesagt:

»Das Fräulein ist die Herrin des Hauses.«

Cosette hatte im Kloster Haushaltungskunde gelernt und leitete die Wirtschaft, die im übrigen sehr bescheiden geführt wurde. Täglich führte Jean Valjean Cosette spazieren, in den Luxembourg-Garten; er bevorzugte die Allee, die am wenigsten aufgesucht wurde; sonntags führte er sie zur Messe, nach Saint-Jacques du Haut-Pas, weil diese Kirche sehr weit von ihrer Wohnung entfernt war. Die Gegend, in der Saint-Jacques liegt, ist sehr ärmlich, und so hatte er häufig Gelegenheit, Almosen zu verteilen. Wenn er zur Kirche kam, umdrängten ihn die Armen, und so war er zu dem Titel gekommen, den auch Thénardier ihm in seinem Schreiben zubilligte: der wohltätige Herr aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas.

Auch besuchte er mit Cosette Notleidende oder Kranke. Doch durfte kein Fremder das Haus in der Rue Plumet betreten. Toussaint hatte für Lebensmittel zu sorgen, und Jean Valjean selbst holte das Wasser von einem Brunnen auf dem Boulevard. Holz und Wein wurden in einem Halbkeller untergebracht, der an dem Tor zur Rue de Babylone lag und früher jenem Präsidenten als Grotte gedient hatte; darum war er auch noch mit Muscheln ausgelegt. Es gab einmal eine Zeit, wo die Mode für Verliebte Grotten vorschrieb.

An der Tür zur Rue de Babylone gab es auch einen Briefkasten für Briefe und Zeitungen; da aber die drei Bewohner des Pavillons in der Rue Plumet nichts dergleichen empfingen, diente er, der früher Billetdoux und Liebesbotschaften vermittelt hatte, jetzt nur mehr für Steuerzettel und Mitteilungen der Nationalgarde. Denn Herr Fauchelevent, Rentier, gehörte der Nationalgarde an. Der Zensus von 1831 war so streng gewesen, daß ihm nicht einmal die Bewohner eines Nonnenklosters entgehen konnten; überdies war ein Mann, der auf dem unzugänglichen und heiligen Terrain von Petit-Picpus geduldet war, in den Augen des Magistrats so achtenswert, daß man ihn auch des Dienstes auf der Stadtwache würdigte.

Drei- oder viermal jährlich zog Jean Valjean seine Uniform an und tat Dienst. Übrigens folgte er diesen Stellungsbefehlen gern, denn diese Verkleidung – die einzige gesetzmäßige – stellte ihn mit seiner Mitwelt auf gleichen Fuß und gestattete ihm doch, der Einzelgänger zu bleiben, der er war. Jean Valjean hatte bereits das Alter von sechzig Jahren erreicht und war nicht mehr dienstpflichtig, aber er sah nicht älter aus als fünfzig und hatte keine Lust, seinem Kompaniechef zu entlaufen. Er gehörte keinem Stande an, verleugnete seinen Namen, seine Identität, sein Alter – alles. Darum war er gerne Nationalgardist. Dem erstbesten zu gleichen, der brav seine Steuern zahlte, war sein höchster Ehrgeiz. Sein moralisches Ideal war der Engel, sein weltliches der Bürger.

Doch müssen wir einen Umstand erwähnen: wenn Jean Valjean mit Cosette ausging, kleidete er sich wie ein ehemaliger Offizier. Zeigte er sich aber allein auf der Straße, was meistens nur des Abends geschah, so trug er Arbeitertracht und eine Mütze, deren Schild das halbe Gesicht verdeckte. War das Vorsicht oder Bescheidenheit? Beides zugleich. Cosette hatte sich längst an die Absonderlichkeit ihres Schicksals gewöhnt und achtete der eigenartigen Gewohnheiten ihres Vaters nicht. Und was Toussaint betraf, so verehrte sie Jean Valjean und hielt alles für gut, was er tat.

Weder Jean Valjean noch Cosette, noch Toussaint benützten jemals die Tür zur Rue de Babylone. Wer die Bewohner des Hauses nicht durch das Gitter beobachtete, hätte kaum erraten können, daß jemand hier wohne. Das Tor blieb immer verschlossen. Jean Valjean hatte sogar den Garten ungepflegt gelassen, damit er nicht die Aufmerksamkeit der Passanten errege.


Die Rose merkt, daß sie bewaffnet ist

Eines Tages sah Cosette zufällig in den Spiegel und sagte sich:

»Sieh da!«

Ihr schien, sie wäre eigentlich ganz hübsch. Das versetzte sie in merkwürdige Verlegenheit. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nie über ihr Gesicht nachgedacht. Sie sah wohl in den Spiegel, aber sie beobachtete nicht. Auch hatte man ihr so oft gesagt, daß sie häßlich war. Und wenn Jean Valjean auch sanft eingewandt hatte: Aber nein, nicht doch, so hatte sie kaum darauf geachtet. Sie war herangewachsen in dem Gedanken, daß sie häßlich sei, und hatte sich dreingefunden mit der raschen Resignation des Kindes.

Jetzt hatte der Spiegel ihr dasselbe gesagt wie Jean Valjean. Sie schlief nicht in dieser Nacht.

Wenn ich hübsch wäre, dachte sie, wäre das nicht komisch?

Am nächsten Tag sah sie zufällig wieder in den Spiegel und begann zu zweifeln. Ich war wohl nicht ganz bei Trost, dachte sie. Ich bin doch häßlich. Aber sie hatte nur schlecht geschlafen und sah darum blaß und müde aus. Der Gedanke, daß sie schön sei, hatte sie nicht so gefreut, daß sie jetzt, als sie sich eines Besseren belehrt glaubte, traurig geworden wäre. Aber sie sah nicht mehr in den Spiegel und kämmte sich vierzehn Tage lang, ohne hineinzusehen.

Abends nach dem Essen pflegte sie im Salon zu sitzen und sich mit einer Handarbeit zu beschäftigen; Jean Valjean hielt sich in ihrer Nähe und las. Einmal blickte sie von der Arbeit auf und war beunruhigt, als sie gewahrte, wie sorgenvoll ihr Vater sie betrachtete.

Ein andermal glaubte sie auf der Straße jemand hinter ihr sagen zu hören:

»Hübsches Mädchen! Aber schlecht angezogen.«

Ach, der meint mich nicht, dachte sie. Ich bin häßlich, aber gut angezogen. Damals trug sie den Plüschhut und das Merinokleid.

Eines Tages endlich war sie im Garten und hörte, wie die arme alte Toussaint zu Jean Valjean sagte: »Haben Sie denn nicht bemerkt, Herr, wie hübsch das Fräulein wird?« Cosette hörte nicht, was der Vater antwortete, aber Toussaints Worte machten auf sie einen tiefen Eindruck. Sie lief in ihr Zimmer, trat vor den Spiegel, den sie seit Monaten mied, und stieß einen Schrei aus.

Sie war schön, sie war hübsch. Toussaint hatte recht, und ihr Spiegel auch. Ihre Gestalt war nun voll entwickelt, ihre Haut weiß, ihr Haar glänzend; ihre Augen strahlten. Die Erkenntnis ihrer Schönheit kam ihr plötzlich, sie konnte nicht mehr zweifeln. Stolz wie eine Königin kehrte sie in den Garten zurück. Sie glaubte, die Vögel singen zu hören und die Sonne schimmern zu sehen zwischen den Bäumen, obwohl es Winter war.

Jean Valjean seinerseits empfand ein tiefes und kaum erklärliches Unbehagen.

Schon seit einiger Zeit beobachtete er diese täglich strahlendere Schönheit ängstlich. Allen anderen schien sie zu lachen, ihm war sie ein Gegenstand der Trauer.

Wie schön sie ist! dachte er, was soll aus mir werden?

Und die ersten Wirkungen stellten sich bald ein.

Seit Cosette wußte, daß sie schön sei, achtete sie auf ihre Kleidung. Ihr fiel ein, daß jemand im Vorübergehen gesagt hatte: hübsch, aber schlecht angezogen, und dieses Orakel hatte in ihr Herz den Samen eines Gefühls gestreut, welches das Leben der Frau zu bestimmen pflegt, der Koketterie.

Mit dem Glauben an ihre eigene Schönheit entfaltete sich auch ihre weibliche Seele. Das Merinokleid war ihr gräßlich, und sie schämte sich des Plüschhuts. Ihr Vater hatte ihr niemals etwas abgeschlagen. Bald besaß sie die ganze Wissenschaft des Hutes, des Kleides, des Mantels und der Schuhe – diese Wissenschaft, die die Pariserin so reizvoll und so gefährlich macht.

Und zu jener Zeit begegnete ihr Marius nach sechs Monaten wieder im Luxembourg.


Der Kampf beginnt

Cosette trug in ihrer Einsamkeit, wie Marius in der seinen, alle Bereitschaft in sich, in Flammen aufzugehen. Das Schicksal näherte mit geheimnisvoller, schicksalsschwangerer Geduld die beiden mit der Elektrizität der Leidenschaft geladenen Geschöpfe einander, bis sie ihre Seelen vereinen konnten wie zwei Wolken, deren Berührung den Blitz entzündet.

Es gab eine Zeit, da Cosette, ohne es zu wissen, mit ihren Blicken Marius beunruhigte, während auch Marius nicht ahnte, daß sein Blick auf Cosette wirkte.

Schon lange beobachtete das Mädchen ihn, wie junge Mädchen es eben tun: indem sie anderswohin sah. Marius fand Cosette noch häßlich, als sie bereits bemerkt hatte, daß er gut aussah. Aber da er ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, blieb sie gleichgültig.

Als dann eines Tages ihre Augen einander begegneten und erzählten, was unaussprechlich ist, begriff Cosette zunächst nichts. Sie war nur nachdenklich, als sie in das Haus in der Rue de l’Ouest zurückkehrte, in dem Jean Valjean damals gerade für sechs Wochen Quartier genommen hatte. Als sie am nächsten Morgen erwachte, erinnerte sie sich des jungen Unbekannten, der so lange gleichgültig geblieben war und sie jetzt beobachtete; doch schien ihr, diese Aufmerksamkeit sei ihr gar nicht angenehm. Eher fühlte sie sich bereit, zu zürnen. Ein kriegerischer Instinkt regte sich in ihr. Zu lange hatte er sie übersehen. Sie empfand eine noch ganz kindliche Freude, daß sie jetzt Rache üben konnte.

Sie wußte, daß sie schön war, und ahnte, daß diese Schönheit ihr als Waffe dienen konnte. Die Frauen spielen mit ihrer Schönheit wie Kinder mit dem Messer. Sie verwunden sich selbst.

Man wird sich erinnern, wie schüchtern und verängstigt Marius war. Er blieb auf seiner Bank und wagte sich nicht vor. Das verstimmte Cosette. Eines Tages sagte sie zu Jean Valjean:

»Vater, komm, gehen wir einmal da entlang.«

Da Marius nicht zu ihr kam, ging sie zu ihm. Und seltsam genug, das erste Zeichen wahrer Liebe ist beim Mann die Schüchternheit, beim Mädchen der Mut. Das mag wunderlich scheinen, und doch ist es das Einfachste der Welt. Die beiden Geschlechter wollen sich einander nähern, jedes nimmt die Eigentümlichkeiten des andern an.

An diesem Tag machte Cosettes Blick Marius toll, und zugleich zitterte Cosette unter dem Blick Marius’. Er ging von dannen, neu ermutigt, sie tief beunruhigt. Und von diesem Tage an liebten sie einander.


Kummer

Situationen erzeugen im Menschen die entsprechenden Instinkte. Die alte Mutter Natur benachrichtigte rasch Jean Valjean vom Auftreten Marius’. Er zitterte bis in die dunkelsten Tiefen seines Herzens. Er sah nichts, wußte nichts, spähte aber mißtrauisch in dem Dunkel, in dem er sich befand, um sich, als ob er fühle, daß hier ein alter Bau zusammenstürze und ein neuer aufgerichtet werde. Zugleich aber empfing Marius eine Warnung seines Instinkts und bemühte sich, dem »Vater« so wenig als möglich in die Quere zu kommen. Dennoch geschah es, daß Jean Valjean ihn zuweilen bemerkte. Marius’ Gehaben war alles andere als natürlich. Er zeigte eine bedenkliche Vorsicht und eine linkische Keckheit. Auch kam er jetzt nicht mehr so nahe heran wie früher. Weit ab nahm er Platz und blieb wie verzückt sitzen. Auch brachte er ein Buch mit und tat, als ob er lese. Warum verstellte er sich?

Früher hatte er einen alten Anzug getragen, jetzt erschien er täglich in festlichem Gewande; es war nicht einmal sicher, daß er sich nicht die Haare kräuseln ließ: er machte komische Augen, ja, er trug Handschuhe!

Jean Valjean verabscheute diesen jungen Mann aus ganzem Herzen. Cosette ließ sich nichts anmerken. Sie wußte selbst kaum, was sie empfand, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre Gefühle verheimlichen mußte.

Jedenfalls bestand zwischen der plötzlich erwachten Neigung Cosettes für gute Kleider und der feiertäglichen Gewandung des jungen Mannes ein Parallelismus, der Jean Valjean mißfiel. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, beruhte er auf einem Zufall, aber dieser Zufall schien bedrohlich.

Niemals sprach er zu Cosette von diesem Unbekannten. Eines Tages aber konnte er sich nicht länger halten und sagte in einem Anfall unklarer Verzweiflung, die zuletzt das eigene Unheil heraufbeschwört:

»Dieser junge Mann sieht aber sehr pedantisch aus!«

Vor einem Jahr noch hätte Cosette als gleichgültiges junges Mädchen geantwortet: »Aber nein, er ist reizend.« Zehn Jahre später hätte sie vielleicht gesagt: »Pedantisch und unerträglich, du hast recht.« In ihrem augenblicklichen Zustand aber beschränkte sie sich darauf, mit erheuchelter Ruhe zu sagen: »Ach, der da!«

Als ob sie ihn zum erstenmal bemerkt hätte.

Wie dumm ich war, dachte Jean Valjean, sie hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Ich mache sie noch auf den Menschen aufmerksam.

O rührende Einfalt der Alten, o ahnungsvoller Verstand der Kinder!

Jean Valjean begann einen geheimen Krieg gegen Marius zu führen, den dieser in der erhabenen Torheit seiner Leidenschaft und seines Alters nicht bemerkte. Der Greis legte ihm eine Menge von Fallen. Er kam zu verschiedenen Zeiten in den Park, wechselte die Bank, verlor sein Taschentuch, kam schließlich sogar allein; wie mit verbundenen Augen stolperte Marius in jede Falle. Sooft Jean Valjean ein tückisches Fragezeichen in seinen Weg stellte, antwortete er harmlos »ja«. Cosette ließ sich inzwischen nicht aus ihrer scheinbaren Sorglosigkeit und unbeirrbaren Ruhe herauslocken, so daß Jean Valjean schließlich zu dem Schlusse kam: dieser alberne Bursche ist bis über die Ohren in Cosette verliebt, aber sie hat ihn noch gar nicht bemerkt.

Ein einziges Mal beging sie einen Fehler und alarmierte ihren Vater. Nach dreistündigem Verweilen auf der Bank stand er auf, um nach Hause zu gehen. Da sagte sie:

»Schon?«

Das übrige ist dem Leser bekannt. Marius fuhr fort, sich möglichst ungeschickt zu benehmen. Eines Tages folgte er Cosette in die Rue de l’Ouest. Ein andermal sprach er gar mit dem Pförtner. Dieser seinerseits verständigte Jean Valjean darüber.

»Herr«, sagte er, »wer ist der junge, neugierige Mann, der Sie ausforscht?«

Am nächsten Tag warf Jean Valjean Marius einen Blick zu, den dieser endlich begriff. Und acht Tage später war Jean Valjean umgezogen. Er schwor, den Luxembourg-Garten nie mehr zu betreten und die Rue de l’Ouest zu meiden. Er kehrte in die Rue Plumet zurück.

Drittes Buch
dessen Anfang nicht dem Ende gleicht

Ein Idyll der Einsamkeit und eine Kaserne benachbart

Seit vier oder fünf Monaten hatte Cosette Marius nicht gesehen. Ohne es selbst zu bemerken, hatte sie sich beruhigt. Die Natur, der Frühling, die Jugend, Liebe zu ihrem Vater, endlich der fröhliche Gesang der Vögel und die heitere Frische der Blumen ließen allmählich, Tropfen für Tropfen, einen Balsam in die Seele dieser Jungfrau träufeln, der dem Vergessen nicht unähnlich war. Erlosch ihr Feuer? Glomm es unter der Asche?

Tatsache ist, daß sie wenigstens den heftigen Schmerz nicht mehr fühlte.

Eines Tages erinnerte sie sich plötzlich Marius’.

Ach, dachte sie, ich denke ja kaum mehr an ihn.

In derselben Woche bemerkte sie, daß ein sehr smarter Offizier der Lanzenreiter mit Wespentaille, entzückender Uniform, Schleppsäbel, aufgedrehtem Schnurrbart und lackierter Tschapka an dem Gitter ihres Gartens vorbeispazierte. Überdies hatte er blonde Haare, blaue Augen, ein rundes, hübsches und unverschämtes Gesicht; in nichts glich er Marius.

Schon am nächsten Tag kam er wieder vorbei. Sie merkte sich, um welche Stunde dies geschah.

Und von diesem Tag an spazierte er (war es Zufall?) fast täglich an dem Gitter vorüber.

Die Kameraden des Offiziers bemerkten, daß es in diesem »verwahrlosten« Garten hinter dem alten Rokokogitter ein recht hübsches Mädchen gab, das fast immer zu sehen war, wenn der fesche Leutnant vorüberkam – dieser Leutnant, den unsere Leser bereits kennen und der Théodule Gillenormand hieß.

»Hast du denn die Kleine nicht bemerkt«, fragten sie, »die dir immer Augen macht?«

»Hab ich denn Zeit dazu, alle Mädel zu bemerken, die mir Augen machen?« erwiderte der Lanzenreiter.


Cosette in Angst

In der ersten Hälfte des Monats April unternahm Jean Valjean eine Reise. Das geschah, wie unsere Leser bereits wissen, von Zeit zu Zeit, in sehr langen Zwischenräumen. Er blieb dann ein oder höchstens zwei Tage außerhalb. Wohin er ging? Das wußte niemand, auch Cosette nicht.

Jean Valjean war also abwesend.

Am Abend befand sich Cosette allein im Salon. Um sich zu zerstreuen, setzte sie sich an das Harmonium.

Als sie genug gespielt hatte, blieb sie nachdenklich sitzen. Plötzlich war ihr, als ob sie im Garten Schritte höre. Ihr Vater konnte es nicht sein, denn er war ja verreist. Und Toussaint lag bereits im Bett. Es war zehn Uhr abends.

Sie trat an den verschlossenen Fensterladen des Salons und legte das Ohr daran. Jetzt glaubte sie den Schritt eines Mannes zu erkennen, der durch den Garten schlich.

Rasch eilte sie in den ersten Stock und öffnete ein kleines Fensterchen, um in den Garten hinabzuschauen. Der Vollmond warf sein Licht strahlend auf den Garten. Es war taghell.

Niemand zu sehen.

Sie öffnete das Fenster. Der Garten lag in tiefstem Frieden, und so weit man die Straße von hier aus überschauen konnte, war sie leer wie immer.

Cosette dachte, sie habe sich getäuscht.

Am nächsten Tag ging sie bei Einbruch der Dunkelheit im Garten spazieren. Während sie unbestimmten Gedanken nachhing, glaubte sie plötzlich dasselbe Geräusch wie gestern zu hören. Es war, als ob jemand in der Dunkelheit unter den Bäumen hinschliche. Doch achtete sie weiter nicht darauf, zumal sie nichts sehen konnte.

Als sie auf die kleine Rasenfläche vor dem Hauseingang trat, ging eben hinter ihr der Mond auf und warf ihren Schatten auf den Kiesweg.

Erschrocken blieb sie stehen.

Neben ihrem Schatten zeichnete der Mond auf dem Rasen einen anderen schrecklichen und unheimlichen, den Schatten eines Mannes mit einem runden Hut.

Der Fremde konnte nur einige Schritte hinter ihr stehen.

Eine Minute lang stand sie da, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen, sich auch nur zu rühren.

Jetzt raffte sie all ihren Mut zusammen und wandte sich entschlossen um.

Niemand war da.

Sie sah auf den Rasen: der Schatten war verschwunden.

Jetzt eilte sie kühn in das Gestrüpp, durchsuchte alle Winkel bis zum Gitter; aber sie fand nichts.

Jetzt erst fühlte sie den eisigen Hauch des Schreckens. War das auch eine Halluzination? Einmal konnte sie sich täuschen, aber zweimal? Und dieser Schatten hatte gar nicht einem Gespenst geglichen. Gespenster tragen nicht runde Hüte.

Am nächsten Tage kam Jean Valjean zurück. Cosette erzählte ihm, was sie beobachtet hatte, und erwartete, er werde die Achseln zucken und sagen: Du bist ein kleines Närrchen.

Aber er schien besorgt.

»Es wird nichts Besonderes sein«, sagte er immerhin.

Dann schützte er eine Besorgung vor und eilte in den Garten; sie bemerkte, daß er das Gitter aufmerksam betrachtete.

In der Nacht wachte sie plötzlich auf. Diesmal war sie sicher, Schritte auf der Freitreppe unter ihrem Fenster zu vernehmen. Sie lief zu ihrem Ausguck und sah im Garten einen Mann mit einem großen Stock in der Hand. Eben als sie aufschreien wollte, fiel das Mondlicht auf sein Gesicht. Es war ihr Vater.

Sie legte sich wieder zu Bett und dachte: er ist doch unruhig.

Nicht nur diese Nacht, auch die nächsten beiden Nächte verbrachte Jean Valjean im Garten. Cosette bemerkte es wohl. In der dritten Nacht, es war zur Zeit des abnehmenden Mondes, hörte sie gegen ein Uhr ein lautes Lachen und die Stimme ihres Vaters, der rief.

»Cosette!«

Sie sprang aus dem Bett, hüllte sich in ihren Morgenrock und öffnete das Fenster.

Ihr Vater stand unten auf der Rasenfläche.

»Ich wollte dich nur beruhigen«, sagte er, »sieh hier! Da ist dein Schatten mit dem runden Hut.«

Und er zeigte ihr auf dem Rasen einen Schatten, der wirklich dem eines Mannes mit einem runden Hut recht ähnlich war. Es war die Silhouette des Schornsteins auf dem Nachbarhause, der mit einem breiten Kapitell geschmückt war.

Auch Cosette lachte.

Am nächsten Tag beim Frühstück spottete sie über den unheimlichen Garten, in dem die Schornsteine spukten.

Einige Tage später aber ereignete sich ein neuer Zwischenfall.


Nachricht

Neben dem Gartengitter stand eine Bank aus Stein, die gegen die Blicke Neugieriger durch eine Hagebuttenhecke geschützt war. Doch konnte ein Vorübergehender sogar mit freier Hand bis zu jener Bank reichen.

Eines Abends gegen Ende April war Jean Valjean ausgegangen. Cosette hatte sich nach Sonnenuntergang auf die Gartenbank gesetzt. Ein kühler Wind rauschte in den Bäumen, und Cosette hing ihrer Träumerei nach. Eine unbestimmte Traurigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, die Traurigkeit des Abends und jener Stunde, die einem halbgeöffneten Grabe gleicht.

Cosette stand auf, ging langsam im Garten auf und ab und betrachtete, sosehr ihr Geist auch anderswo weilte, die mit abendlichem Tau benetzten Gewächse.

Man müßte eigentlich, dachte sie, Holzschuhe anziehen, wenn man um diese Zeit in den Garten geht. Man erkältet sich sonst.

Dann kehrte sie zu ihrer Bank zurück.

Als sie sich setzen wollte, bemerkte sie auf dem Platz, den sie eben verlassen hatte, einen ziemlich großen Stein, der vorher bestimmt noch nicht hier gewesen war.

Sie sah ihn an und fragte sich, was er zu bedeuten habe. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dieser Stein könne schließlich nicht allein hierhergekommen sein, es müsse ihn ein Arm durch das Gitter geschoben haben. Dieser Gedanke beunruhigte sie. Diesmal empfand sie wirklich Furcht. Der Stein war da, jetzt konnte sie nicht mehr an eine Halluzination glauben.

Doch diese Angst währte nicht lange. Bald trat die Neugierde an ihre Stelle.

Ach, wir wollen erst sehen, sagte sie sich.

Sie hob den Stein auf, der ziemlich schwer war, und fand darunter einen Brief.

Der Umschlag war aus weißem Papier. Cosette griff danach. Keine Adresse, kein Siegel. Aber wenn der Umschlag auch offen war, so enthielt er doch ein Blatt Papier.

Die Schrift gefiel Cosette.

Sie suchte nach einer Unterschrift, fand aber keine. Auch die Anrede fehlte. An wen richtete sich dieses Schreiben? An sie doch offenbar, da es auf ihre Bank gelegt wurde. Und von wem kam es? Ein unwiderstehlicher Drang überkam sie, den Brief zu lesen. Sie suchte wohl ihren Blick wegzuwenden, sah den Himmel an, blickte auf die Straße hinaus, beobachtete einen Augenblick lang die Tauben auf dem Dach des Nachbarhauses; schließlich aber fiel ihr Blick doch auf das Blatt, und sie dachte, sie müsse doch wissen, was darauf stehe. Und sie las folgendes:

»Gott kann dem Glück derer, die lieben, nur noch eines hinzufügen – Ewigkeit. Nach einem Leben der Liebe eine Ewigkeit der Liebe, das bedeutet in der Tat noch eine Steigerung. Aber es ist unmöglich, das Glück selbst zu steigern, das die Liebe uns auf dieser Welt vermittelt – selbst Gott kann das nicht. Er ist die Fülle des Himmels, aber die Liebe ist die Fülle des Menschlichen.«


Nachdem der Brief gelesen

Süße Gedanken bemächtigten sich Cosettes. Als sie aufblickte, spazierte gerade der schöne Offizier mit triumphierender Miene an dem Gitter vorüber. Cosette fand ihn abscheulich.

Wieder las sie das Blatt.

Es war ein Brief ohne Anschrift, ohne Namenszeichnung, Datum, zugleich dringlich und doch uninteressiert, eine rätselhafte Mischung aus Liebesbotschaft und Betrachtung, ein Rendezvous, gegeben in einer anderen Welt.

Wer mochte diese Zeilen geschrieben haben?

Cosette zögerte nicht einen Augenblick.

Nur er!

Jetzt tagte es in ihrem Geiste. Alles tauchte wieder aus der Vergessenheit auf. Sie empfand eine unerhörte Freude und doch eine tiefe Angst. Er war es, er schrieb ihr! Sein Arm hatte durch das Gitter gelangt! Sie hatte ihn vergessen, er hatte sie wiedergefunden. Aber hatte sie ihn denn wirklich vergessen? Nein, niemals! Sie war einen Augenblick lang so toll gewesen, es selbst zu glauben, weiter nichts. Als sie das drittemal das Blatt durchstudiert hatte, erschien wieder Leutnant Théodule und klirrte mit den Sporen. Cosette mußte aufblicken. Sie fand ihn jetzt langweilig, nichtssagend, sehr häßlich und unverschämt. Der Offizier glaubte, ihr zulächeln zu müssen. Ärgerlich wandte sie sich ab. Am liebsten hätte sie ihm etwas an den Kopf geworfen.

Dann lief sie in das Haus, schloß sich in ihr Zimmer ein, las das Blatt wieder und wieder, bis sie es auswendig konnte. Dann küßte sie es und steckte es in ihr Korsett.


Die Alten sind dazu da, rechtzeitig fortzugehen

Als es Abend wurde, ging Jean Valjean aus. Cosette aber kleidete sich an. Sie ordnete ihre Haare zu ihrer besten Frisur, zog ein besonders hübsches Kleid an, ohne recht zu wissen warum.

Wollte sie ausgehen? Erwartete sie Besuch? Nein.

Als es dunkelte, ging sie in den Garten. Toussaint war noch in der Küche beschäftigt, die auf den Hinterhof hinausging.

Sie kam zu ihrer Bank. Der Stein lag noch immer da. Sie setzte sich und legte ihre weiße Hand auf den Stein, als ob sie ihn streicheln und ihm danken wollte.

Plötzlich fühlte sie, daß jemand hinter ihr stand.

Sie wandte sich um und stand auf.

Er war es.

Er trug keinen Hut. Ihr schien, daß er blaß und mager war. In der Dunkelheit konnte man seinen schwarzen Anzug kaum erkennen. Die Dämmerung ließ seine schöne Stirn fahl, seine Augen beschattet erscheinen. Etwas an ihm erinnerte, kaum durch sein sanftes Wesen gemildert, an Tod und Nacht.

Cosette brachte kein Wort über die Lippen. Langsam trat sie zurück, denn sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Auch er rührte sich nicht. Sie fühlte seinen Blick, ohne selbst die Augen zu ihm aufzuschlagen.

Jetzt lehnte sie sich an einen Baum. Wäre dieser Baum nicht dagewesen, gewiß wäre sie umgesunken.

Und jetzt hörte sie seine Stimme, diese nie gehörte Stimme, die das leise Rauschen des Laubes kaum übertönte.

»Verzeihen Sie, daß ich gekommen bin. Ich mußte, denn ich konnte nicht so weiterleben. Haben Sie den Brief gelesen, den ich hier auf diese Bank legte? Erkennen Sie mich noch? Fürchten Sie sich nicht vor mir. Es ist lange her seit damals … erinnern Sie sich noch an den Tag im Luxembourg, neben der Statue des Gladiators? Es muß ein Jahr sein seit damals. Ich habe die Frau, die dort die Stühle vermietet, gefragt, aber sie sagte, sie hätte Sie nicht mehr gesehen. Sie wohnten damals Rue de l’Ouest, in einem netten Haus, im dritten Stock. Sehen Sie, daß ich es weiß? Ich bin Ihnen nachgegangen, damals. Was sollte ich auch sonst tun? Aber dann sind Sie verschwunden. Einmal saß ich unter den Arkaden des Odéon und las Zeitungen, da glaubte ich Sie zu sehen. Ich lief Ihnen nach – aber ich hatte mich getäuscht. Es war nur derselbe Hut. Jetzt komme ich nachts immer hierher. Fürchten Sie sich nicht, niemand sieht mich. Ich will nur Ihre Fenster aus der Nähe sehen. Ich gehe ganz leise, damit Sie mich nicht hören und keine Angst bekommen. Unlängst stand ich hinter Ihnen, da haben Sie sich umgewandt. Sofort bin ich davongelaufen. Einmal hörte ich Sie singen und war glücklich. Macht es Ihnen etwas, wenn ich Sie singen höre? Es kann Ihnen doch nichts daran liegen, nicht wahr? Wenn Sie wüßten, wie ich Sie liebe! Verzeihen Sie mir, daß ich so spreche, aber ich weiß selbst nicht, was ich sage. Vielleicht kränke ich Sie.«

Die Beine versagten ihr den Dienst.

Er fing sie in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust, ohne zu wissen, was er tat. Er selbst taumelte, während er sie hielt. Ihm war, als ob sich ein Nebel vor seine Augen breite. Blitze zuckten zwischen seinen Brauen. Ihm war, als ob hier eine religiöse Handlung vollzogen werde und als ob er etwas Heiliges verletze. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Er fühlte das Blatt Papier und stammelte:

»Lieben Sie mich denn?«

Fast unhörbar antwortete sie:

»Schweig doch! Du weißt es.«

Sie dachte nicht daran, ihn zu fragen, wie er hierhergekommen war. Alles erschien ihr so einfach, es war so selbstverständlich, daß er bei ihr war!

Allmählich begannen sie zu sprechen. Der Bann der Stummheit war gebrochen. Sie vertrauten sich ihre Geheimnisse an, erzählten einander von ihrer Liebe, alles, was die Jugend und der Rest ihrer Kindlichkeit ihnen zuflüsterte.

Als sie alles gesagt hatten, legte das Mädchen ihren Kopf auf Marius’ Schulter und fragte:

»Wie heißen Sie?«

»Marius.«

»Ich heiße Cosette.«

Viertes Buch
Der kleine Gavroche

Der Wind spielt einen bösen Streich

Nach 1823, während die Herberge in Montfermeil langsam zugrunde ging, hatten die Thénardiers noch zwei Kinder bekommen: zwei Knaben. Also hatten sie insgesamt deren fünf, zwei Mädchen und drei Jungen.

Es war genug.

Die Thénardier entledigte sich der beiden Jüngsten bald. Ein eigentümliches Glück begünstigte sie dabei.

Bei der Thénardier war die Natur gewissermaßen nur ein Bruchstück. Wie die Marschallin de la Motte-Haudancourt, war die Thénardier nur die Mutter ihrer Töchter. In ihnen erschöpfte sich ihr Gefühl. Ihr Menschenhaß traf auch ihre Söhne. Den Ältesten verabscheute sie. Die beiden Jüngsten waren ihr unerträglich.

Warum?

Darum.

Jetzt wollen wir berichten, wie die Thénardiers sich ihrer beiden jüngsten Kinder entledigten und daraus noch Nutzen zogen.

Jene Magnon, von der wir bereits berichteten, daß sie mit der Bande Patron-Minette in Verbindung stand, war früher einmal Magd im Hause des alten Gillenormand. Von ihm hatte sie zwei Kinder bekommen. Der Leser erinnert sich vielleicht der großen Epidemie, die damals, vor fünfunddreißig Jahren, die Quartiere an der Seine heimsuchte und die Anlaß zu bedeutsamen Errungenschaften der ärztlichen Wissenschaft war. Durch diese Epidemie verlor Magnon am gleichen Tage ihre beiden Kinder. Das war ein schwerer Schlag, denn die Kleinen waren der Mutter sehr wertvoll, stellten sie doch eine monatliche Rente von achtzig Franken dar. Dieser Betrag wurde im Auftrage des Herrn Gillenormand von Herrn Barge, Rentenempfänger, Rue du Roy-de-Sicile, außerordentlich pünktlich ausgezahlt. Mit den Kindern war auch die Rente begraben.

Magnon suchte Ersatz. In dieser Verbrechergesellschaft, der sie angehörte, weiß jeder von jedem alles, hält jeder reinen Mund, hilft einer dem andern. Magnon brauchte zwei Kinder, die Thénardier hatte zwei zu vergeben. Alter und Geschlecht stimmten. Beide Teile konnten zufrieden sein. Die kleinen Thénardiers wurden kleine Magnons. Zur Sicherheit zog Magnon in die Rue Cloche-Perce. In Paris wird man vergessen, wenn man in ein anderes Quartier zieht.

Die Verwaltungsbehörde hatte nichts von der Sache erfahren, so daß die Unterschiebung höchst einfach vonstatten ging. Nur verlangten die Thénardiers für die beiden Kinder eine monatliche Leihgebühr von zehn Franken, zu deren Zahlung Magnon sich auch bereit erklärte.

Magnon, muß gesagt werden, gehörte zur Oberklasse der Verbrecherinnen. Sie kleidete sich gut. Ihre Wohnung teilte sie mit einer Engländerin, einer sehr schlauen Diebin. Man nannte sie Mamsell Miß.

Die beiden Kinder, die solchermaßen von der Magnon übernommen wurden, waren übrigens nicht zu beklagen. Durch einen Betrag von achtzig Franken der Mutter ans Herz gelegt, erfuhren sie eine recht gute Behandlung; sie waren nicht schlecht gekleidet, nicht schlecht genährt, fast wie Bürgerkinder gehalten; gewiß ging es ihnen bei der falschen Mutter besser als bei der richtigen. Da Magnon für eine Dame gelten wollte, sprach sie nie vor den Kindern Argot.

Plötzlich, unvermittelt, wurden diese beiden armen Geschöpfe, denen das Schicksal bisher noch nicht übel mitgespielt hatte (ja, deren Unglück zum Glück ausgeschlagen war), jäh ins Leben hinausgeschleudert.

Eine Massenverhaftung wie jene in Jondrettes Zimmer, die notwendigerweise zu allerlei Verhaftungen und Hausdurchsuchungen führt, ist für die Verbrechergesellschaft notwendigerweise eine Katastrophe. Thénardiers Sturz riß auch Magnon in den Abgrund.

Eines Tages, kurz nachdem Magnon Eponine die Meldung aus der Rue Plumet überbracht hatte, gab es in der Rue Cloche-Perce Haussuchung. Magnon und Mamsell Miß wurden verhaftet, das ganze Haus entvölkerte sich plötzlich. Während dieser Szene hatten die beiden Kleinen im Hinterhof gespielt und nichts von der Razzia bemerkt. Als sie nach Hause kommen wollten, fanden sie die Tür verschlossen, das Haus verödet. Ein Flickschuster, der gegenüber wohnte, rief sie herbei und übergab ihnen einen Zettel, den »die Mutter« ihnen hinterlassen hatte. Darauf stand:

»Monsieur Barge, Rentenempfänger, Rue du Roy-de-Sicile Nr. 8.«

»Ihr wohnt nicht mehr hier«, sagte der Mann, »geht dahin. Es ist nicht weit. Die erste Straße links. Fragt euch mit dem Zettel da durch.«

Die Knaben machten sich auf den Weg. Es war kalt, die kleinen Fingerchen des Älteren, der den Zettel hielt, waren klamm. An der Ecke der Rue Cloche-Perce riß ihm ein Windstoß das Blatt ans der Hand, und da es bereits Abend war, konnte das Kind ihn nicht wiederfinden.

So begannen die beiden Kleinen durch die Straßen zu irren.


Der kleine Gavroche zieht Vorteile aus dem großen Napoléon

Der Pariser Frühling kennt rauhe Stürme, deren kalter Hauch uns nicht frieren, aber doch erschauern läßt. Es scheint dann, daß die Tür des Winters nur halb geschlossen ist und daß durch den Spalt noch ein letzter winterlicher Wind durchstreicht.

An einem Abend, an dem es besonders stürmte, so daß man sich in den Januar zurückversetzt glauben konnte und die Bürger ihre Wintermäntel wieder hervorholten, stand der kleine Gavroche vor einem Friseurladen nahe der Orme-Saint-Gervais. Obwohl er vor Kälte zitterte, war er vergnügt. Er tat, als ob er eine tiefdekolletierte und mit einem Orangenblütenkranz geschmückte Wachspuppe bewundere, die sich im Schaufenster drehte und, von zwei Lampen bestrahlt, den Zuschauern zulächelte; in Wirklichkeit aber spähte er in den Laden hinein, um zu sehen, ob er hier nicht ein Stück Seife mausen könnte, um es später für einen Sou einem Vorstadtbarbier weiterzuverkaufen.

Während er also diese Puppe betrachtete, gleichzeitig aber ein Stück Seife nicht aus den Augen ließ, murmelte er:

»Dienstag. Es war gar nicht Dienstag. Oder doch Dienstag? Vielleicht. Sicher sogar.«

Eine Deutung dieses seltsamen Monologs ist nie gelungen.

Bezog es sich auf das letztemal, daß der Junge gegessen hatte? Wenn ja, dann war es vor drei Tagen gewesen, denn dies geschah an einem Freitag.

Der Barbier stand in seinem wohldurchwärmten Laden und rasierte einen Kunden. Von Zeit zu Zeit warf er einen Seitenblick auf den Feind da draußen, der zwar die beiden Hände in die Taschen gesteckt hatte, aber nicht seinen Witz.

Während Gavroche die Puppe, das Schaufenster und die Windsor-soap betrachtete, kamen zwei Kinder, nicht ganz gleich groß, recht anständig gekleidet und um einiges jünger als er – sie mochten der eine sieben, der andere fünf Jahre alt sein –, des Weges, klinkten schüchtern die Tür auf und traten in den Laden. Sie fragten irgend etwas, baten vielleicht um eine Gabe. Von draußen konnte man ihre Worte um so weniger verstehen, als sie sichtlich von den Tränen der Kleinen erstickt wurden. Der Barbier wandte sich zornig nach ihnen um, ohne das Rasiermesser wegzulegen, schob den Älteren mit der linken Hand, den Jüngeren mit dem Knie hinaus und schlug hinter ihnen die Tür zu.

»Um nichts und wieder nichts bringen sie die Kälte da herein!« schrie er.

Die beiden Kinder marschierten weiter. Der Himmel hatte sich bewölkt, es begann zu regnen.

Der kleine Gavroche war den beiden nachgegangen.

»Was habt ihr denn, ihr?«

»Wir wissen nicht, wo wir schlafen sollen.«

»Ist es das? Na, keine große Sache! Darum weint man noch lange nicht. Seid ihr blöd!«

Nachdem er solchermaßen seine Überlegenheit zum Ausdruck gebracht hatte, nahm er einen sanften Gönnerton an.

»Kommt mit, ihr Rangen.«

Die beiden folgten ihm, wie sie einem Erzbischof gefolgt wären. Schon hatten sie aufgehört zu weinen.

Gavroche stieg die Rue Saint-Antoine hinan und wandte sich nach der Bastille.

Ein Frauenzimmer, das die drei, einen immer kleiner als den anderen, im Gänsemarsch daherkommen sah, lachte laut auf. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Lachen respektlos war.

»Tag, Fräulein Omnibus!«

Offenbar hatte der Friseur ihn so kriegerisch gestimmt. Eine Portierin mit einem Bart, die eben mit dem Besen in der Hand vor dem Haustor stand, begrüßte er:

»Wollen gnädige Frau ausreiten?«

Dann trat er in eine Lache, daß die Lackschuhe eines Passanten über und über bespritzt wurden.

»Lausbub!« schrie dieser wütend.

»Haben der Herr eine Beschwerde? Das Büro ist schon geschlossen. Morgen, bitte.«

Sie kamen an einem Bäckerladen vorbei.

»Jungens, habt ihr schon gegessen?«

»Seit heute morgen nicht.«

»Habt ihr keine Eltern?«

»Doch, wir haben Mama, aber wir wissen nicht, wo sie ist.«

»In manchen Fällen ist das besser, als wenn man es weiß«, versicherte Gavroche nachdenklich. »Ihr habt also eure Erzeuger verloren. Ihr wißt nicht genau, wo ihr sie liegengelassen habt. Das soll man nicht. Man soll besser auf die Erwachsenen aufpassen. Aber jetzt wird die Sache mit dem Essen dringlich.«

Er suchte in seinen Hosentaschen und fand schließlich einen Sou. Ohne den Kleinen Zeit zu lassen, sich über diesen grandiosen Fund zu entzücken, bugsierte er die beiden in den Bäckerladen, legte seinen Sou auf den Tisch und rief:

»Junger Mann, für fünf Centimes Brot!«

Der Bäcker – es war der Inhaber des Ladens – nahm ein Brot und ein Messer.

»In drei Stücken, junger Mann«, fuhr Gavroche würdevoll fort, »wir sind nämlich drei.«

Der Bäcker streifte die drei mit einem Blick, nahm ein Stück Schwarzbrot und setzte das Messer an. Jetzt legte Gavroche den Finger an die Nase, als ob ihm ein bedeutsamer Gedanke käme. So hat Friedrich der Große eine Prise Tabak genommen! Dann fragte er den Bäcker:

»Was ist denn das?«

»Sehr gutes Brot, Brot zweiter Klasse.«

»Schwarzer Hundekuchen«, sagte Gavroche verächtlich. »Ich verlange Weißbrot, junger Mann. Ich habe die Herren dazu eingeladen.«

Der Bäcker mußte lächeln und betrachtete, während er das Weißbrot anschnitt, die drei Jungen auf eine Art, die Gavroche irritierte.

»Eh, Sie Semmelkonditor, paßt Ihnen vielleicht etwas nicht?«

Als das Brot abgeschnitten war, kassierte der Bäcker den Sou, und Gavroche sagte zu den beiden Kindern:

»Pampft euch voll!«

Dann, als er sah, daß die Jungen ihn erschrocken anblickten:

»Ach, richtig, sie sind ja noch klein, sie verstehen das noch nicht«, voll Würde: »eßt, Kinderchen.«

Und da der Ältere ihm der Anrede würdiger schien, überreichte er ihm das größte Stück und sagte: »Stopf dir das in den Verschluß.«

Sie waren hungrig, und wer lange Zähne hat, versteht zuzubeißen.

Dann setzten die Kleinen den Weg zur Bastille fort.

Als sie die Rue des Ballets erreichten, aus deren Hintergrund das Gefängnis feindlich herüberdrohte, rief plötzlich eine Stimme:

»Holla, bist du es, Gavroche?«

»Ach, Montparnasse!«

Der andere hatte blaue Brillen aufgesetzt, aber Gavroche erkannte ihn gleich.

»Holla!« rief Gavroche, »du hast ja blaue Brillen wie ein Doktor? Sehr stilvoll, weiß Gott.«

»Still«, flüsterte Montparnasse, »nicht so laut.«

Rasch zog er Gavroche aus dem Lichtkegel eines Schaufensters. Mechanisch folgten die beiden Kleinen.

»Weißt du, wo ich hingehe?« fragte Montparnasse.

»Dir die Hanfkrawatte anmessen lassen.«

»Quatschkopf! Ich gehe zu Babet.«

»Ich dachte, der sitzt?«

»Abkutschiert!«

Rasch erzählte er dem Straßenjungen, daß Babet am selben Morgen bei seiner Überführung in die Conciergerie entsprungen war.

Gavroche hörte alles aufmerksam an und sparte auch nicht mit sachkundigem Lob.

»So ein Zahnreißer!« applaudierte er.

Inzwischen hatte er den Stock, den Montparnasse in der Hand trug, ergriffen und zog den Griff heraus; eine Dolchklinge wurde sichtbar.

»Ach, du hast deinen Gendarmen in einen Frack gesteckt?«

Montparnasse blinzelte ihm zu.

»Willst du denn die Polente kiefeln?«

»Wer weiß«, meinte Montparnasse kaltblütig. »Es ist immer gut, wenn die Rose ihre Dornen nicht zu Hause läßt. Und du, wohin gehst du jetzt?«

Gavroche deutete auf seine beiden Schützlinge.

»Bringe die Kleinen da zu Bett.«

»Wo denn?«

»Bei mir zu Hause.«

»Also du hast eine Wohnung? Wo denn?«

»Im Elefanten.«

»Im Elefanten?« fragte Montparnasse verwundert, obwohl er nicht gerade zu den Naturen gehörte, die leicht in Staunen geraten.

»Natürlich im Elefanten. Was ist da weiter dabei?«

Jetzt schien Montparnasse zu begreifen.

»So, im Elefanten! Wohnt sich’s dort bequem?«

»Komfortabel. Nicht dieser dumme Wind wie unter den Brücken.«

»Und wie kommst du hinein? Gibt’s ein Loch?«

»Natürlich. Aber du darfst nicht davon sprechen. Zwischen den Vorderbeinen. Die Polente hat es noch nicht bemerkt.«

»Ah, und da kletterst du rauf?«

»Im Handumdrehen. Schwubbs bin ich drin! So, und jetzt gute Nacht! Solltest du mich brauchen, kannst du mich ja dort suchen. Ich wohne Hochparterre. Kein Portier. Du fragst nach Herrn Gavroche.«

»Gut«, erwiderte Montparnasse.

Dann trennten sie sich, Montparnasse schlug die Richtung nach dem Grèveplatz, Gavroche nach der Bastille ein.

Vor zwanzig Jahren konnte man noch in der Südwestecke des Bastilleplatzes ein sonderbares Denkmal sehen, das inzwischen der Vergessenheit verfallen ist, das aber doch verdient, in Erinnerung gebracht zu werden, denn es verdankte seine Entstehung einem Antrag des »Mitglieds des Instituts und kommandierenden Generals der Armee in Ägypten«.

Wir sagten Denkmal, obwohl dieser Ausdruck nicht ganz berechtigt ist; es handelte sich gewissermaßen nur um den gewaltigen Leichnam einer napoléonischen Idee. Die Figur des Elefanten war vierzig Fuß hoch, aus Mauerwerk aufgeführt, und trug auf dem Rücken einen Turm, der einem Haus glich. Früher war dieser Turm grün angestrichen gewesen, aber die Zeit und der Regen hatten ihn geschwärzt. Was das Ganze bedeuten sollte, wußte niemand. Ursprünglich war es wohl als ein Symbol der Volkskraft gedacht. Es sah düster, rätselhaft und ungeheuerlich aus.

Nur wenige Fremde besichtigten dieses Bauwerk, und die Pariser gönnten ihm keinen Blick. So verfiel es. Jeder Winter schlug furchtbare Wunden in seine Flanken. Die Baupolizei hatte sich seit 1814 nicht mehr um das Ungetüm gekümmert. Es stand in seinem Winkel, krank und vergessen, von einem morschen Zaun umgeben, den betrunkene Kutscher gern mißbrauchten. Zwischen seinen Beinen wuchs hohes Gras.

Hierher führte Gavroche die beiden Kleinen. Er ahnte wohl, daß das Ungeheuer sie in Furcht setzen mußte, und sagte:

»Keine Bange, ihr Kleinen.«

Dann kroch er durch eine Lücke im Zaun und zog die beiden hinter sich her. Sie waren wohl etwas verschüchtert, folgten ihm aber wortlos und überließen sich dieser Vorsehung in Lumpen, die ihnen Brot gegeben und einen Unterschlupf versprochen hatte.

An den Zaun war eine Leiter gelehnt, die wohl des Tags den Arbeitern auf dem Platze nebenan diente. Gavroche richtete sie mit erstaunlicher Kraft auf und lehnte sie an eines der Vorderbeine des Elefanten. Gleich über dem oberen Ende der Leiter konnte man ein schwarzes Loch erkennen, das in den Bauch des Ungeheuers führte.

Gavroche zeigte seinen Gästen dieses Loch und sagte:

»Bitte gütigst einzutreten!«

– – – – – – – – – – -- -- -- --

Kurz vor Morgengrauen näherte sich von der Rue Saint-Antoine im Laufschritt ein Mann, überquerte den Platz der Bastille, kroch durch das Loch des Zauns und blieb unter dem Elefanten stehen. Wenn es nicht stockfinster gewesen wäre, hätte selbst ein flüchtiger Beobachter erkennen müssen, daß dieser Mann eine Nacht lang im Regen gestanden hatte. Jetzt stieß er einen Schrei aus, der keiner menschlichen Sprache angehört und wohl nur von einem Papagei wiederholt werden kann. Zweimal rief er:

»Kirikikiuuuuu!«

Auf den zweiten Schrei antwortete aus dem Bauch des Elefanten eine Knabenstimme:

»Ja.«

Gleich darauf wurde ein Brett von dem Loch im Bauch des Elefanten weggezogen, und ein Knabe glitt an einem Bein des Ungeheuers herab.

Kirikikiu galt offenbar dem Elefanten und bedeutete: Melden Sie mich Herrn Gavroche.

»Wir brauchen dich«, sagte Montparnasse kurz, »komm!« Der Junge verlangte keine weitere Aufklärung.

»Gut, gehen wir«, sagte er.


Schwierigkeiten bei der Flucht

Und folgendes geschah in dieser Nacht im Gefängnis la Force.

Babet, Brujon, Gueulemer und Thénardier hatten, obwohl Thénardier in Einzelhaft saß, verabredet, auszubrechen. Babet hatte allerdings das Geschäft am Vormittag schon auf eigene Rechnung gemacht, wie der Leser aus dem Gespräch zwischen Montparnasse und Gavroche entnommen hat. Montparnasse sollte den anderen von außen helfen.

Brujon, der einen Monat in verschärfter Haft gesessen hatte, war inzwischen tätig gewesen; er hatte einen Strick geflochten und einen Plan ausgeheckt. Früher wurden Sträflinge, die sich gegen die Disziplin vergangen hatten, in verließartigen Einzelzellen untergebracht, die aus vier Steinmauern, einer Decke aus Stein und einem Pflaster aus Fliesen bestanden, vergitterte Luken und doppelte Eisentüren hatten und nur mit einem Feldbett möbliert waren; aber diese Einzelzellen wurden schließlich allzu grausam gefunden. Jetzt bestehen sie aus einer doppelten Eisentür, einer vergitterten Luke, vier Steinmauern, einer Decke aus Stein und einem Boden aus Steinfliesen; möbliert sind sie item mit einem Feldbett. Unterschied gegen früher: jetzt heißen sie nicht Einzelzellen, sondern Strafzellen.

Gegen Mittag fällt sogar in diese Räume ein wenig Licht. Der Nachteil, den diese Einsperrung bietet, besteht darin, daß die Strafzellen, die – wie gesagt – Gott bewahre keine Einzelzellen sind, den Häftling zwar nicht zur Arbeit anhalten, ihn aber zum Sinnieren bringen.

Die Folge war, daß Brujon die Strafzelle im Besitz eines Strickes verließ. Und da er für so gefährlich galt, daß ihn der Leiter des Hofes Charlemagne nicht haben wollte, brachte man ihn in den Neubautrakt, der Bâtiment-Neuf genannt wurde. Hier fand er zunächst Gueulemer, dann einen Nagel vor: Gueulemer, das bedeutete ein neues Verbrechen, der Nagel – der versprach die Freiheit.

Brujon hatte seinerzeit seine Karriere als Dachdecker begonnen. Diese Vorkenntnisse kamen ihm jetzt um so mehr zunutze, als zur Zeit das Schieferdach des Gefängnisses ausgebessert wurde. So war der Hof Saint-Bernard nicht mehr vom Hofe Charlemagne und Saint-Louis getrennt. Auf den Dächern gab es Leitern und allerlei Gerüst – oder, von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen, Brücken und Treppen.

Das Bâtiment-Neuf enthielt in vier Stockwerken vier übereinanderliegende Schlafräume und schließlich einen Giebel, der Bel-Air genannt wurde. Ein Rauchabzug führte aus dem Erdgeschoß, vielleicht aus einer früheren Küche, durch alle vier Stockwerke zum Dach, wo er in einem abgeplatteten Pfeiler auslief.

Gueulemer und Brujon schliefen im selben Saal. Vorsichtshalber hatte man sie im Erdgeschoß untergebracht. Es war Zufall, daß die Kopfenden ihrer Betten an den Kamin stießen.

Thénardier saß, gerade über ihnen, in dem Giebelraum Bel-Air.

Wenn der Spaziergänger in der Rue Culture-Sainte-Catherine, hinter der Kaserne der Feuerwehr, vor dem Tor des Badehauses stehenbleibt, sieht er sich einem Hofe gegenüber, in dem in allerlei Kübeln Pflanzen gezogen werden und in dessen Hintergrunde ein kleiner, weißer Rundbau mit grünen Fensterläden sichtbar wird. Dieses Haus gleicht einem bukolischen Traum Rousseaus. Und doch stieg vor kaum zehn Jahren hinter diesem Rundbau eine gewaltige kahle, schwarze Mauer auf, an die er gelehnt war.

Es war die Mauer des Rondenweges um die Force.

So hoch diese Mauer auch war, wurde sie doch von einem noch schwärzeren Dach überragt – dem Giebel des Bâtiment-Neuf. Man konnte sogar mit freiem Auge die vergitterten Luken des Giebels und den Schornstein sehen.

Bel-Air, der Giebel des »Neubaues«, war ein großer, in Mansarden geteilter Raum, der durch dreifache Gitter und doppelte, eisenbeschlagene Türen versichert war. In einem der Käfige dieses Giebelraums war seit der Nacht des dritten Februars Thénardier untergebracht.

In vielen Gefängnissen gibt es verräterische Beamte, die halb Kerkermeister, halb Verbündete der Häftlinge sind und den Gefangenen bei ihren Ausbruchsversuchen behilflich sind. In eben jener Nacht, in der Gavroche die beiden umherirrenden Kinder auflas, erwarteten Brujon und Gueulemer, die von Babets Flucht bereits wußten, die Mitternachtsstunde, erhoben sich dann leise aus ihren Betten und begannen mit Brujons Nagel das Heizloch des Kamins zu erweitern. Wohl erwachten einige Gefangene von dem Lärm, stellten sich aber schlafend und ließen Gueulemer und Brujon gewähren. Brujon war geschickt, Gueulemer stark. Bevor der Aufseher in seiner vergitterten Zelle etwas hören und durch das Fenster in den Schlafsaal sehen konnte, waren die beiden Burschen bereits auf dem Dach. Regen und Sturm hatten zugenommen.

»Eine schöne Nacht, um auszurücken«, meinte Brujon.

Ein Lichthof von sechs Fuß Breite und achtzig Fuß Tiefe trennte die beiden von der Mauer des Rondenwegs. In der Tiefe sahen sie das Gewehr eines Postens funkeln. Sie befestigten das eine Ende des Stricks, den Brujon in der Strafzelle geflochten hatte, am Gitter des Schornsteins, warfen das andere über die Rondenmauer, überquerten den Abgrund, klammerten sich an einen Mauervorsprung und gelangten schließlich auf ein kleines Dach, das an das Badhaus stieß. Jetzt zogen sie ihren Strick nach, sprangen in den Hof des Badhauses, stießen die Tür auf und waren auf der Straße.

In knapp drei viertel Stunden hatten sie dies alles bewerkstelligt.

Einige Augenblicke später waren sie auf Babet und Montparnasse gestoßen.

Als sie den Strick nachzogen, war er zerrissen und ein Stück blieb am Schornstein hängen. Übrigens hatten die beiden Ausbrecher sich, von einigen Hautabschürfungen an den Händen abgesehen, keine Verwundung zugezogen.

Thénardier war, ohne daß man später erfahren konnte, von wem, über diesen Fluchtplan unterrichtet und schlief nicht. Gegen ein Uhr nachts, es war stockfinster, sah er auf dem Dach gegenüber seiner Luke zwei Schatten. Einer blieb eine Sekunde lang stehen. Es war Brujon. Thénardier erkannte ihn und begriff alles. Er hatte genug gesehen.

Da Thénardier unter Anklage stand, planmäßig einen bewaffneten Überfall unternommen zu haben, wurde er streng bewacht. Ein Posten, der alle zwei Stunden abgelöst wurde, ging mit geladenem Gewehr vor seinem Käfig auf und ab. Im Bel-Air brannte die ganze Nacht über eine Lampe. Der Gefangene schleppte an seinen Füßen ein paar fünfzig Pfund schwere Eisengewichte. Täglich um vier Uhr nachmittags besuchte ihn ein Wärter mit zwei Doggen (das war damals noch üblich), trat in seine Zelle, legte ein zweipfündiges Schwarzbrot auf den Boden, prüfte die Gewichte und beklopfte die Gitterstäbe. Auch zweimal des Nachts kam dieser Mann mit seinen beiden Doggen zur Kontrolle an Thénardiers Tür.

Doch hatte Thénardier die Erlaubnis erhalten, eine Art Nagel zu behalten, mit dem er das Brot an die Wand nagelte, um es, wie er sagte, vor den Ratten zu schützen. Da Thénardier beständig unter den Augen des Wachtpostens war, hatte man keinen Anstoß daran genommen, ihm diese Gunst zu gewähren. Später allerdings erinnerte man sich, daß einer der Wächter Einwände gemacht hatte:

»Man könnte ihm ja ebensogut einen Holzpflock geben …«

Um zwei Uhr morgens wurde der alte Soldat, der seit Mitternacht Posten gestanden hatte, durch einen Rekruten ersetzt. Kurz nachher machte der Mann mit seinen Doggen den zweiten Rundgang, bemerkte aber nur, daß der Wachtposten sehr jung und recht bäurisch aussah. Zwei Stunden später, um vier Uhr, wurde dieser Rekrut abgelöst. Man fand ihn auf dem Boden liegend und schlafend. Und Thénardier war nicht mehr da. Seine Fußgewichte, deren Klammern durchbrochen waren, lagen auf dem Boden. In der Decke fand man ein Loch. Ein Brett aus seiner Pritsche war herausgerissen und offenbar mitgenommen worden, denn es war nicht mehr zu finden. Schließlich entdeckte man in der Zelle eine halbvolle Flasche von jenem Wein, mit dem der Posten betäubt worden war. Auch das Bajonett des Soldaten fehlte.

Als diese Feststellungen gemacht wurden, glaubte man, Thénardier sei inzwischen über alle Berge. Er befand sich in der Tat nicht mehr im Bâtiment-Neuf, schwebte aber noch immer in großer Gefahr.

Wohl hatte er auf dem Dach des Hauses den Rest jenes Stricks gefunden, an dem Brujon hinabgeklettert war, aber dieser Strick war viel zu kurz und reichte nicht bis zur Rondenmauer.

Wenn man aus der Rue des Ballets in die Rue du Roy-de-Sicile einbiegt, so hat man zur Rechten eine dunkle Mulde. Auf dieser Stelle stand im vorigen Jahrhundert ein Gebäude, von dem auch damals nur mehr die drei Stock hohe Hinterwand übriggeblieben war. Diese Ruine zeigte noch zwei Fenster.

Die Abbruchstelle war von einem morschen Bretterzaun umfriedet; an der Straßenseite stand eine kleine Baracke. Die Tür im Zaun war noch vor einigen Jahren mit einer Klinke versehen.

Auf dem First dieser verfallenen Mauer landete Thénardier gegen drei Uhr morgens.

Wie war er dahin gelangt? Hatte er sich der Leitern bedient, welche die Dachdecker zurückgelassen hatten, und war mit ihrer Hilfe über den Hof Charlemagne, den Hof Saint-Louis und die Rondenmauer hierher gelangt? Diese Strecke zeigte Klüfte, die unüberbrückbar schienen.

Es ist oft schier unmöglich, die erstaunlichen Leistungen entspringender Sträflinge zu begreifen. Der Mann, der aus Kerkerhaft flieht, ist inspiriert. Er hat seinen besonderen Stern, der über dieser geheimnisvollen Flucht leuchtet.

Wie dem auch sei, jetzt saß Thénardier schweißtriefend, vom Regen durchnäßt, mit zerfetzten Kleidern, zerschundenen Händen, Knien und Ellbogen, auf dem Giebel jener Mauer. Er legte sich der Länge nach hin, denn er war zu Tode erschöpft.

Totenblaß, verzweifelt wartete er, von dem Gedanken gepeinigt, daß es nun bald tagen würde; binnen kurzem würde es von der benachbarten Kirche Saint-Paul vier Uhr schlagen, dann wurde der Wachtposten bei der Ablösung schlafend gefunden. Er blickte in die Tiefe, starrte auf das nasse, schwarze Straßenpflaster hinab, das ihm den Tod androhte und doch die Freiheit versprach.

Hatten seine drei Komplizen, denen die Flucht geglückt war, ihn bemerkt, würden sie ihm zu Hilfe kommen? Er lauschte. Aber außer einer Polizeistreife war seit einer Stunde niemand durch die Straße gekommen.

Es schlug vier Uhr. Thénardier zitterte. Kurz danach hörte er aus dem Gebäude des Gefängnisses jenen verworrenen Lärm, der immer einem entdeckten Fluchtversuch folgt. Türen wurden zugeschlagen, Gitter knarrten in den Angeln, Posten eilten hin und her, Gewehrkolben wurden auf den Boden gestoßen. Durch die Fenster sah man Lichter treppauf, treppab huschen; die Feuerwehr war aus der benachbarten Kaserne geholt worden, und die Helme glitzerten im Widerschein der Fackeln auf dem Dach. Gleichzeitig bemerkte Thénardier von der Bastille herüber einen fahlen Lichtschein, der am Horizont den Tag ankündigte.

In seiner Angst gewahrte er plötzlich in der Straße, die noch im Dunkeln lag, einen Mann, der an den Mauern entlangschlich, von der Rue Pavée herüberkam und den Bauplatz betrat, der an Thénardiers Mauer stieß. Diesem Mann folgte ein zweiter, der ebenso vorsichtig näher kam, diesem ein dritter und vierter. Als sich die Leute wieder vereinigt hatten, klinkten sie die Tür in dem Zaun auf und traten in den Schatten der Baracke. Jetzt standen sie direkt unter Thénardier. Offenbar hatten sie diesen Platz gewählt, um unbeachtet beraten zu können. Thénardier konnte ihre Gesichter nicht erkennen, horchte aber mit den scharfen Ohren des Verzweifelten, der keine Rettung mehr erhofft.

Jetzt schimmerte ihm ein Hoffnungsstrahl entgegen. Diese Leute sprachen Argot.

»Abschrammen«, sagte der erste. »Hier ist nichts zu drehen.«

»Es regnet, daß das Feuer des Teufels ausgehen könnte. Die Polente wird gleich vorbeikommen. Da drüben steht auch einer. Besser, wir hauen ab.«

»Warten wir doch ein bißchen«, meinte der dritte, »es brennt nicht. Wer weiß, ob er uns nicht noch braucht.«

Jetzt erkannte Thénardier Montparnasse, der eine gewähltere Sprache bevorzugte. Es waren seine Freunde.

Brujon antwortete ungeduldig, aber immer noch leise.

»Was du dir wieder ausgedacht hast! Der Schubiak stellt sich dämlich an. Der hat’s noch nicht heraus.«

»Aber man läßt seine Freunde nicht so einfach sitzen«, erwiderte Montparnasse mürrisch.

»Wir können gar nichts für ihn tun«, meinte Brujon, »fort mit Schaden! Jeden Augenblick kann die Hand auf unserer Schulter liegen.«

Montparnasse leistete nur schwachen Widerstand. In der Tat hatten die vier Männer mit jener Treue, die gerade Verbrecher auszeichnet, eine ganze Nacht im Bereich der Force zugebracht, was für sie immerhin gefahrvoll war; bis jetzt hatten sie gehofft, Thénardier irgendwo auf einer Mauer auftauchen zu sehen. Nun aber verloren sie die Hoffnung, und sogar Montparnasse, der ein bißchen Thénardiers Schwiegersohn war, gab nach. Einen Augenblick noch, und sie würden gehen. Thénardier keuchte auf seiner Mauer vor Angst wie ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß, der die Segel eines Schiffs am Horizont vorübergleiten sieht.

Zu rufen wagte er nicht, denn ein einziger Schrei konnte alles verderben. Jetzt kam ihm ein Gedanke. Er zog Brujons Strick aus der Tasche und warf ihn in die Tiefe.

Der Strick fiel den vier Männern zu Füßen.

»Holla, eine Witwe«, sagte Babet.

»Ein Onkel«, sagte Brujon.

»Das ist der Wirt«, sagte Montparnasse.

Sie sahen hinauf. Thénardier schob seinen Kopf vor.

»Rasch«, flüsterte Montparnasse, »hast du das Strickende, Brujon?«

»Ja.«

»Knüpf die beiden Stricke zusammen, dann werfen wir das Ganze hinauf, er kann es festmachen und daran herunterrutschen.«

Thénardier wagte jetzt, lauter zu sprechen.

»Ich bin ganz klamm.«

»Wir werden dir schon einheizen.«

»Kann mich nicht rühren.«

»Laß dich abrutschen, wir fangen dich auf.«

»Hab die Hände steif.«

»So binde wenigstens den Strick an die Mauer.«

»Ich kann nicht.«

»Einer von uns muß hinauf«, meinte Montparnasse.

»Drei Stockwerke!« wandte Brujon ein.

Ein altes Ofenrohr stieg von der Baracke an der Mauer hinauf, fast bis zu dem Platz Thénardiers. Es war brüchig und sehr schmal.

»Vielleicht kommt man da hinauf?« fragte Montparnasse.

»An der Röhre?« fragte Babet. »Ein Kerl nicht. Höchstens ein Bub.«

»Aber wo nehmen wir einen Buben her?«

»Wartet«, sagte Montparnasse, »ich sehe einen Ausweg.«

Vorsichtig klinkte er die Tür auf, spähte in die Straße hinaus und lief dann in der Richtung auf die Bastille.

Sieben oder acht Minuten, die Thénardier wie Jahrtausende erschienen, verstrichen. Babet, Brujon und Gueulemer standen verbissen da. Endlich ging die Tür auf und Montparnasse erschien abermals. Er brachte Gavroche. Da es noch immer heftig regnete, war die Straße menschenleer.

Der kleine Gavroche trat unbefangen näher. Das Wasser troff ihm aus den Haaren. Gueulemer redete ihn an:

»Bub, bist du ein Mann?«

Gavroche zuckte die Achseln.

»Ein Bub wie ich ist ein Mann, und Männer wie ihr sind Buben.«

»Der Junge hat keine kurze Zunge«, meinte Babet.

»In Paris sind die Kinder nicht auf den Mund gefallen«, versicherte Brujon.

»Was wollt ihr?« fragte Gavroche.

»Du sollst da an dem Rohr rauf«, erklärte Montparnasse.

»Mit ’m Stück Witwe.«

»Und oben das Seil vertäuen.«

»Und dann?« fragte Gavroche.

»Das ist alles.«

»Willst du?« fragte Brujon.

Dem Jungen schien die Frage albern. Er zog stumm die Schuhe aus.

Gueulemer packte Gavroche, hob ihn auf das Dach der Baracke, deren morsche, wurmstichige Bretter sich unter dem Gewicht des Knaben bogen, und warf ihm den Strick zu, dessen Enden Brujon inzwischen verknotet hatte. In diesem Augenblick beugte sich Thénardier vor und man sah sein fahles Gesicht.

Gavroche erkannte ihn.

Holla, da ist ja Papa, dachte er, na, wenn schon!

Dann nahm er den Strick zwischen die Zähne und kletterte hinauf.

Bald saß er rittlings auf der Mauer und befestigte den Strick am Querbalken des einen Fensters.

Einen Augenblick später stand Thénardier auf der Straße.

Sobald seine Füße den Boden berührt hatten, fühlte er weder Müdigkeit noch Angst. Alle Schrecken wichen wie Nebel von ihm, sein grausamer Verstand erwachte, und seine erste Frage war:

»Habt ihr heute noch was vor?«

Gavroche saß in der Ecke und zog sich seine Schuhe an. Als er sah, daß die Männer sich nicht mehr um ihn kümmerten, ging er. Er verschwand um die Ecke der Rue des Ballets. Jetzt nahm Babet Thénardier beiseite.

»Hast du dir den Buben angesehen?«

»Welchen Buben?«

»Der dir den Strick gebracht hat?«

»Nicht näher.«

»Ich weiß nicht, aber ich glaube, es war dein Sohn.«

»Wirklich?«

Fünftes Buch
Freude und Leid

Im Glanz …

Wie der Leser gesehen hat, war Eponine, als sie das Haus in der Rue Plumet entdeckte, zunächst nicht darauf verfallen, die Banditen dahin zu führen; sie bemühte sich sogar, ihr Geheimnis zu bewahren. Dann hatte sie Marius dahin gebracht. Der hatte tagelang das Gitter bewacht und war schließlich, wie Romeo in Julias Garten, eingedrungen. Nur hatte er es leichter gehabt als Romeo, denn dieser mußte eine Mauer übersteigen, Marius aber brauchte nur eine morsch gewordene Stange aus dem Gitter zu lösen und sich durchzuzwängen. Er war schlank. Da die Straße, wie wir bereits nannten, wenig begangen war, lief Marius kaum Gefahr, bei seinen nächtlichen Besuchen bemerkt zu werden.

Seit jener seligen Stunde, da ein Kuß das Verlöbnis der beiden jungen Leute besiegelt hatte, kam Marius jeden Abend. Wenn Cosette damals einem gewissenlosen Lüstling verfallen wäre, wäre sie verloren gewesen. Es gibt unter den Frauen großmütige Herzen, die sich verschwenden, und Cosette zählte zu ihnen.

Aber Gott wollte, daß diese Liebe Cosette nicht verderben, sondern retten sollte.

Jean Valjean ahnte nichts.

Cosette war nicht ganz so träumerisch veranlagt wie Marius. Oft war sie heiter, und das genügte, um Jean Valjean glücklich zu machen. Ihre Gedanken, ihre zärtlichen Regungen, das Bild Marius’, das ihre Seele erfüllte, alles dies konnte der unvergleichlichen Reinheit ihrer schönen, keuschen, lächelnden Stirn keinen Abbruch tun. Und Jean Valjean war ruhig.

Wenn zwei Liebende gut miteinander auskommen, so geht alles glatt. Auch der dritte, der ihr Glück stören könnte, wird leicht mit Hilfe dieser Vorsichtsmaßregeln, die alle Verliebten kennen, in Ruhe gehalten. Niemals widersetzte sich Cosette einem Wunsch Jean Valjeans.

Er wollte spazierengehen.

»Gewiß doch, Väterchen.«

Nein, er wollte doch lieber zu Hause bleiben.

»Sehr gern.«

Er wollte einen Abend bei Cosette verbringen.

Sie war entzückt.

Da er ja doch um zehn Uhr abends ging, kam Marius an solchen Tagen erst später, sobald er hörte, daß die Tür zu der Freitreppe geöffnet wurde.

Am Tag ließ sich Marius nie sehen. Jean Valjean dachte nie mehr daran, daß es einen Marius gab. Und die alte Toussaint, die früh zu Bett ging, hatte einen festen Schlaf.

Um Mitternacht kehrte dann Marius nach Hause zurück. Courfeyrac sagte zu Bahorel:

»Wirst du es mir glauben, Marius kommt jetzt immer gegen ein Uhr morgens nach Hause.«

»Was willst du denn?« antwortete Bahorel, »in jedem Seminaristen steckt ein Fuchs.«

Einmal sah Courfeyrac Marius streng an und sagte:

»Sie führen einen unordentlichen Wandel, junger Mann!«

Denn Courfeyrac war ein praktischer Mensch und hatte für das unsichtbare Paradies Marius’ kein Verständnis.

»Mein Lieber«, sagte er eines Morgens, »es kommt mir ganz so vor, als ob du jetzt am Monde wohntest im Königreich Traumland, Provinz Illusionen, Hauptstadt Seifenblase. Sag mal, mein Junge, wie heißt sie denn?«

Aber er konnte Marius nicht zum Sprechen bringen.

Während dieses süßen Maimonats genossen Marius und Cosette allerlei Glück. Sie zankten miteinander und sagten Sie, nur um sich später auf Du zu verständigen.

Sie führten lange Gespräche über Leute, die ihnen vollkommen gleichgültig waren. Und das mag ein neuerlicher Beweis dafür sein, daß auch bei der entzückenden Oper, die sich Liebe nennt, das Libretto keine Rolle spielt.

Marius hörte zu, wenn Cosette von Kleiderstoffen sprach.

Cosette lauschte Marius, wenn er politische Ansichten entwickelte.

Oder sie schwiegen, und das war am süßesten.

Und doch drohten Wirrungen.


Der Hund bewacht den Garten

Wir müssen jetzt, da ernste Ereignisse bevorstehen und schwere Wolken sich über dem Horizont von Paris zusammenziehen, genauere Daten angeben.

Am nächsten Tag, dem 3. Juni 1832, ging Marius bei einbrechender Nacht seinen gewohnten Weg. Er begegnete Eponine, aber er wandte sich ab und erreichte durch die Rue Monsieur die Rue Plumet.

Die Folge war, daß Eponine ihm nachging, was sie bisher noch nie getan hatte. Immer hatte sie sich begnügt, ihn zu sehen, hatte sogar darauf verzichtet, ihn anzureden.

Sie sah, wie er die Gitterstange herausnahm und in den Garten schlich.

Holla, dachte sie, er geht in das Haus.

Auch sie eilte zu dem Gitter, betastete die Stangen und fand leicht jene, die Marius gelockert hatte.

»Stehengeblieben, Lisette!« murmelte sie traurig.

Sie setzte sich auf den Gittersockel, als ob sie das Haus bewache. Der Winkel war dunkel, Eponine verschwand vollkommen.

So saß sie etwa eine Stunde, ohne sich zu rühren, ja fast ohne zu atmen, und sann.

Gegen zehn Uhr abends kam einer der zwei oder drei Leute, die genötigt sind, die Rue Plumet zu durchqueren, ein alter Bürger, hastig an dieser übelbeleumundeten Stelle vorbei. Plötzlich hörte er eine dumpfe Stimme murmeln:

»Jetzt staune ich nicht mehr, daß er alle Abend diesen Weg geht.«

Der Passant blickte um sich, sah aber niemand und wurde furchtsam. Rasch ging er weiter.

Es war klug von ihm, sich zu beeilen, denn gleich nachher kamen sechs Männer einzelweise des Wegs. Vor dem Hause Jean Valjeans blieb der erste stehen und wartete auf die andern.

»Hier ist es«, flüsterte einer.

»Ist ein Hund im Garten?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls habe ich eine Boulette mitgebracht, die wir ihm anbieten können.«

»Hast du Kitt, damit wir das Fenster eindrücken können?«

»Ja.«

»Das Gitter ist alt«, sagte einer mit einer Bauchrednerstimme.

»Um so besser. Es wird nicht schreien, wenn man es durchsägt.«

Der sechste hatte bis jetzt den Mund noch nicht aufgetan. Er prüfte das Gitter, rüttelte an allen Stäben und gelangte schließlich zu jener Stange, die Marius gelockert hatte. In diesem Augenblick griff eine Hand aus dem Dunkel nach seinem Arm, und eine Stimme sagte heiser:

»Vorsicht, Hund!«

Der Mann sah ein blasses Mädchen vor sich stehen.

Er fuhr zurück.

»Wer ist denn das?« stotterte er.

»Deine Tochter.«

Es war Eponine, die mit Thénardier sprach.

Jetzt kamen auch Claquesous, Gueulemer, Babet, Montparnasse und Brujon leise näher. Jeder hatte irgendein Gerät in der Hand.

»Was soll denn das bedeuten? Was hast du denn hier zu suchen? Bist du verrückt?« fuhr Thénardier seine Tochter so laut an, als man flüstern konnte. »Warum störst du uns bei der Arbeit?«

Eponine lachte und legte ihm den Arm um den Hals.

»Ich bin da, weil ich da bin, Papachen. Darf ich vielleicht nicht auf einem Stein sitzen? Ihr solltet nicht hier sein, denn ich habe euch doch gesagt: das hier ist Zwieback! Magnon hat es euch bestellt. Aber küß mich doch, Papachen, wir haben uns ja so lange nicht gesehen! Du bist also frei?«

Thénardier suchte sich aus ihren Armen zu befreien und murmelte:

»Gut, geküßt hast du mich ja schon. Ja, ich bin frei. Jetzt pack dich fort.«

Aber Eponine wurde zärtlicher.

»Wie bist du denn nur losgekommen?« fragte sie, »du mußt ja ordentlich schlau sein, daß du da ausgerückt bist. Und die Mutter? Wo ist denn Mama? Erzähl mir, wie es Mama geht.«

»Gut. Ich weiß nicht. Laß mich in Ruhe und scher dich fort.«

»Ich will aber jetzt nicht gehen«, schmollte Eponine wie ein verzogenes Kind. »Du schickst mich fort, jetzt, wo ich dich nach vier Monaten wiedersehe und nach Herzenslust küssen kann!«

Wieder fiel sie ihm um den Hals.

»Das ist mir denn doch zu blöd!« schimpfte Babet.

»Macht rasch!« verlangte Gueulemer, »die Polente kann gleich vorüberkommen!«

Eponine wandte sich um.

»Ach, Herr Brujon! Und auch Sie, Herr Babet! Guten Tag, Herr Claquesous! Erkennen Sie mich denn nicht mehr, Herr Gueulemer? Wie geht’s, Montparnasse?«

»Doch, sie erkennen dich«, sagte Thénardier, »aber jetzt guten Abend, fort mit dir! Laß uns in Ruhe!«

»Das ist eine Stunde für die Füchse, nicht für die Hühner«, sagte Montparnasse.

»Du siehst doch, daß wir hier ein Ding drehen wollen!«

Eponine griff nach Montparnasses Hand.

»Vorsicht, du wirst dich schneiden«, sagte er, »ich halte ein offenes Messer.«

»Mein lieber, kleiner Montparnasse«, sagte Eponine sanft, »irgendeinem muß man schließlich auch trauen. Ich bin doch die Tochter meines Vaters. Sie haben mich beauftragt, diese Sache auszuforschen, Herr Gueulemer.«

Eponine scheute den Argotausdruck. Seit sie Marius kannte, mied sie die Sprache der Verbrecherwelt.

Sie drückte Gueulemers Hand.

»Sie wissen, daß ich nicht dumm bin. Sonst hat man mir immer geglaubt. Ich habe Ihnen manchen Dienst erwiesen. Hier im Hause weiß ich Bescheid, Sie bringen sich nur unnütz in Gefahr. Nichts zu holen.«

»Es sind nur Weiber drin!«

»Nein, die Leute sind ausgezogen.«

»Aber die Kerzen haben sie brennen lassen«, antwortete Babet und deutete auf ein Licht in der Mansarde. Toussaint war noch nicht zu Bett gegangen.

»Das sind die neuen, ganz arme Leute. Keinen Sous im Haus.«

»Geh zum Teufel!« sagte Thénardier. »Wenn wir das Haus durchsucht haben, vom Keller bis zum Boden, werden wir dir sagen, ob es was darin gegeben hat oder nicht.«

Er stieß sie zur Seite.

»Herr Montparnasse!« rief Eponine, »ich bitte Sie, seien Sie nett, gehen Sie nicht da hinein.«

»Jetzt scher dich zum Teufel, Biest!« schrie Thénardier, »wir Männer haben hier zu tun.«

Eponine gab Montparnasses Hand frei und sagte:

»Ihr wollt also unbedingt in dieses Haus?«

»Ein wenig«, antwortete der Bauchredner höhnisch.

Jetzt lehnte sie sich an das Gitter, sah den sechs bis an die Zähne bewaffneten Banditen, die in der Finsternis wie Teufel aussahen, ruhig ins Gesicht und sagte leise, aber fest:

»Gut, und ich will, daß ihr nicht hineingeht.«

Alle blieben erstaunt stehen. Nur der Bauchredner lachte noch.

»Freunde«, sagte sie wieder, »ich spreche jetzt. Wenn ihr aber an dieses Gitter kommt und in den Garten geht, dann werde ich schreien, an alle Türen schlagen, die ganze Stadt aufwecken und euch alle sechs den Polizisten ausliefern.«

»Das trau ich ihr zu«, flüsterte Thénardier Brujon zu.

»Und meinen Vater zuallererst!« Thénardier ging auf sie los.

»Nicht so nahe, guter Mann!«

»Was hat sie denn nur, diese verfluchte Hündin?« sagte er, trat aber zurück.

Sie lachte höhnisch.

»Wie du siehst, kommst du doch nicht da hinein. Ich bin keine Hündin, denn ich bin die Tochter eines Wolfes. Ihr seid sechs, aber daran liegt mir nichts. Ihr seid Männer, ich bin eine Frau. Vor euch fürchte ich mich noch lange nicht. Ich sage euch, daß ihr hier nicht hereinkommt, weil ich es nicht will. Geht ihr näher heran, so belle ich. Der Hund, sage ich euch, bin ich. Um euch kümmere ich mich nicht. Geht, wohin ihr wollt, aber nicht hierher. Ihr stoßt mit dem Messer zu, ich mit dem Fuß! Kommt doch!«

Jetzt verlegte sich Thénardier aufs Verhandeln.

»Sprich doch nicht so laut«, sagte er. »Du willst mich doch nicht wirklich an der Arbeit hindern. Von etwas müssen wir doch leben. Fühlst du denn gar nichts für deinen Vater?«

»Du hältst mich wohl für blöd!«

»Wir müssen doch was zu essen haben.«

»Verreckt!«

Die sechs Männer zogen sich in den Schatten zurück und berieten. Das Mädchen beobachtete sie ruhig.

»Es ist etwas mit ihr los«, sagte Babet, »sie hat etwas. Ist sie verliebt? Es wäre schade, wenn uns diese Sache zu Essig würde. Zwei Weiber und ein alter Mann im Hinterhof, und fabelhafte Gardinen! Der Alte scheint ein Jud zu sein. Sicher ein gutes Geschäft.«

»Gut, dann geht ihr hinein, ich bleib bei dem Mädel, und wenn sie sich rührt …«

Das Messer blinkte in Montparnasses Hand.

Thénardier sagte kein Wort, schien aber einverstanden.

Brujon galt ein wenig für das Orakel der Bande. Er hatte sich noch nicht geäußert. Man wußte, daß er vor nichts zurückschreckte, und einmal hatte er aus purer Ruhmsucht einen Polizeiposten ausgenommen. Übrigens dichtete er und erfreute sich darum großen Ansehens.

»Was hältst du davon?« fragte Babet.

Brujon schüttelte den Kopf und sagte endlich:

»Heute morgen sah ich zwei Spatzen, die rauften. Abends begegnete ich einem keifenden Frauenzimmer. Schlechte Zeichen! Fahren wir ab.«

Und sie gingen.

»Wenn ihr wolltet, ich hätte dem Mädel den Hals umgedreht«, murrte Montparnasse.

»Ich rühre keine Dame an«, sagte Babet.


Marius beginnt praktisch zu werden, indem er Cosette seine Adresse gibt

Während »der Hund« das Gitter bewachte, war Marius bei Cosette.

Nie war der Stern am Himmel glänzender, nie hatten die Blumen süßer geduftet. Marius war zärtlich und tief beglückt. Aber Cosette schien ihm traurig. Sie hatte geweint. Ihre Augen waren gerötet.

Das war der erste Schatten, der auf sein Glück fiel.

»Was hast du denn?«

»Ich werde es dir gleich sagen.« Dann setzte sie sich auf die Bank, wartete, bis er neben ihr Platz genommen hatte, und fuhr fort:

»Mein Vater hat mir heute morgen gesagt, ich solle mich für eine Reise bereithalten. Er hat Geschäfte zu erledigen, wir müssen vielleicht verreisen.«

Marius zitterte vom Kopf bis zu den Füßen.

Wenn einer am Ende seines Lebens ist, heißt Sterben für ihn Fortgehen. Steht er aber am Anfang, so bedeutet Fortgehen Sterben.

Marius erwachte aus einem Traum. Seit sechs Wochen hatte er gewissermaßen außerhalb des Lebens gelebt. Das Wort »Abreisen« brachte ihn zur Besinnung.

Er fand kein Wort. Cosette fühlte nur, daß seine Hand kalt wurde.

»Was hast du?« fragte sie.

»Aber das ist ja unmöglich!« rief Marius.

In diesem Augenblick schien Marius kein Mißbrauch der Gewalt, keine Grausamkeit, keine Bestialität eines Tyrannen, keine Missetat eines Busiris, Tiberius oder Heinrich VIII. dieser gleich: Herr Fauchelevent wollte verreisen.

»Und wann wirst du reisen?« fragte er mit schwacher Stimme.

»Er hat mir nicht genau gesagt, wann.«

»Und wann kommst du zurück?«

»Auch das weiß ich nicht.«

Marius stand auf.

»Cosette, Sie reisen also auch?«

»Warum sagst du nicht du zu mir?«

»Ich frage, ob Sie auch reisen?«

»Ja, aber was soll ich denn tun?«

Cosette nahm Marius’ Hand und drückte sie heftig.

»Gut«, sagte Marius, »dann gehe ich anderswohin.«

Cosette fühlte den Sinn dieser Worte mehr, als sie ihn verstand. Sie wurde so blaß, daß sie selbst in der Dunkelheit weiß erschien.

»Was meinst du damit?« fragte sie.

Marius sah sie an, blickte zum Himmel auf und antwortete:

»Nichts.«

Als er den Blick wieder senkte, sah er, daß Cosette lächelte.

»Ach, wie dumm wir sind! Ich habe eine Idee, Marius.«

»Was?«

»Reise du auch dahin! Ich werde dir schon sagen, wo wir sind.«

Marius war erwacht, die Wirklichkeit stand wieder klar vor ihm.

»Ich soll auch reisen? Bist du verrückt? Dazu braucht man Geld, und ich habe keines. Ich schulde Courfeyrac jetzt schon zehn Louis. Ich trage einen alten Hut, der keine drei Franken wert ist, mein Rock hat keine Knöpfe, das Hemd ist zerrissen, die Ärmel sind durchgescheuert; meine Schuhe lassen Wasser durch. Seit sechs Wochen denke ich nicht daran, und ich habe auch dir nichts davon gesagt. Es geht mir sehr schlecht, Cosette, und du liebst mich, weil du mich nur bei Nacht siehst. Wenn du mir bei Tag begegnetest, würdest du mir einen Sou schenken. Ich soll reisen? Nicht einmal den Paß kann ich bezahlen.«

So saßen sie lange. Erst als er Cosette schluchzen hörte, wandte er sich um.

»Liebst du mich?« fragte er.

»Ich bete dich an.«

»Weine nicht«, fuhr er fort. »Willst du um meinetwillen aufhören zu weinen?«

»Liebst du mich denn?«

»Cosette, ich habe niemals einem Menschen mein Ehrenwort gegeben, denn ich scheue mich davor. Ich fühle, daß mein Vater neben mir steht. Jetzt aber gebe ich dir mein heiligstes Ehrenwort, daß ich sterbe, wenn du fortgehst.«

Cosette hörte auf zu weinen. Sie erschauerte vor der Kälte einer Wahrheit, die sie begriff.

»Höre also: warte morgen nicht auf mich.«

»Warum?«

»Erst übermorgen.«

»Aber warum denn?«

»Du wirst sehen. Wir müssen einen Tag opfern, um vielleicht alles zu gewinnen.« Leise fuhr er fort: »Er weicht nie von seinen Gewohnheiten ab. Er empfängt nur abends.«

»Von wem sprichst du?« fragte Cosette.

»Ich? Ich habe nichts gesagt.«

»Hoffst du?«

»Warte bis übermorgen.«

Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, erhob sich auf die Fußspitzen und wollte in seinen Augen die Hoffnung lesen.

»Übrigens«, fuhr Marius fort, »du mußt meine Adresse wissen, es kann ja allerlei eintreten. Ich wohne bei meinem Freunde Courfeyrac, Rue de la Verrerie Nr. 16.«

Er griff in seine Tasche, zog ein Taschenmesser heraus und schrieb mit der Klinge auf die Mauer:

»16, Rue de la Verrerie.«

Als er ging, war die Straße menschenleer. Eponine war den Banditen bis zum Boulevard nachgegangen.


Ein altes und ein junges Herz

Vater Gillenormand zählte damals geschlagene einundneunzig Jahre. Noch immer wohnte er mit Fräulein Gillenormand in der Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6, in seinem Hause. Er war, wie unser Leser sich erinnert, einer von jenen Greisen, die den Tod aufrecht erwarten und die das Alter nicht zu beugen vermag.

Eines Abends saß er allein in dem Salon mit den Hirtenszenen, hatte die Füße auf den Kaminvorsatz gestützt und hielt, ohne zu lesen, ein Buch in Händen.

Er war nach alter Mode als Incroyable gekleidet. Hätte er sich so auf der Straße gezeigt, wären ihm die Kinder nachgelaufen.

Während er nachsann, trat sein alter Diener, Baske genannt, ein und meldete:

»Wünschen der Herr Herrn Marius zu empfangen?«

Der Greis fuhr auf und erblaßte. All sein Blut strömte zum Herzen.

»Was für ein Herr Marius?« stotterte er.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Baske verschüchtert, »ich habe ihn nicht gesehen. Nicolette hat mir gesagt, es sei ein junger Mann, und ich sollte ihn als Herrn Marius melden.«

»Laß ihn eintreten.«

Er blieb in der gleichen Haltung sitzen, starrte nur nach der Tür. Sie ging auf, und ein junger Mann trat ein. Es war Marius.

Er blieb an der Tür, als ob er eine Aufforderung, näher zu treten, erwarte.

Seine fast elende Kleidung konnte man in der Dunkelheit – er stand im Schatten des Lampenlichts – nicht erkennen. Nur sein kluges, ernstes, seltsam trauriges Gesicht war sichtbar.

Er war es! Endlich, nach vier Jahren, kam er. Mit einem einzigen Blick suchte Gillenormand ihn zu überschauen. Er fand ihn schön, vornehm, von edler Haltung. Er hatte Lust, die Arme zu öffnen, ihn zu rufen, Worte der Liebe stiegen auf aus seiner Brust und traten auf die Lippen. Aber nach dem Gesetz, das diese seltsame Natur bestimmte, verwandelten sie sich in rauhe Rede.

»Was wollen Sie hier?« fragte er.

Verlegen antwortete Marius:

»Herr …«

Gillenormand hatte gehofft, daß Marius sich in seine Arme stürzen werde. Jetzt war er mit Marius und sich selbst unzufrieden. Er fühlte, daß er grob und Marius kalt war. Qualvoll empfand er den Widerstreit zwischen seinem weichgestimmten Innern und seiner äußerlichen Rauheit. Wieder wurde er bitter.

»Was wollen Sie also?«

Dieses also bedeutete: wenn du mich schon nicht umarmen willst. Aber Marius sah nur seinen Großvater, dessen Gesicht marmorweiß war.

»Herr …«

»Sie kommen wohl, um mich um Verzeihung zu bitten? Haben Sie begriffen, wie unrecht Sie hatten?«

Er hoffte, der Junge würde darauf eingehen. Aber Marius erschauerte. Er glaubte, man verlange von ihm einen Verrat an seinem Vater.

»Nein, mein Herr.«

»Ja, was wollen Sie denn dann?« rief der Alte wütend.

Marius trat einen Schritt näher und sagte jetzt mit schwacher, zitternder Stimme:

»Mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir!«

Dieses Wort rührte Gillenormand. Aber es kam zu spät. Der Alte stand auf, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und sah Marius an, der gebeugt vor ihm stand.

»Mitleid mit Ihnen, Herr? Ein junger Bursche bittet einen einundneunzigjährigen Greis um Mitleid? Sie stehen am Anfang des Lebens, ich am Ende! Sie gehen ins Theater, auf den Ball, ins Café, zum Billard, Sie haben Witz, gefallen den Frauen, sind hübsch; ich sitze mitten im Sommer am Kamin. Sie sind reich, denn Sie besitzen alles, was man braucht, um glücklich zu sein, ich aber bin arm wie das Alter, gebrechlich und einsam. Sie haben zweiunddreißig Zähne, einen gesunden Magen, lebhafte Augen, Kraft, Hunger, einen Wald von schwarzen Haaren, ich aber habe nicht einmal mehr weiße Haare, keine Zähne, meine Beine werden immer schwächer, und mein Gedächtnis läßt nach. So steht’s mit mir. Sie aber haben eine sonnige Zukunft vor sich, während ich in die Nacht hineinschreite. Sie sind verliebt, selbstverständlich, während mich kein Mensch mehr sehen mag, und Sie verlangen von mir Mitleid? Weiß Gott, das ist eine Situation, die Molière versäumt hat. Wenn ihr Advokaten so vor Gericht auftretet … na, alle Achtung! Zum Lachen ist das.«

»Mein Herr«, sagte Marius, »ich weiß, daß Ihnen mein Besuch unlieb ist, aber ich bin nur gekommen, Sie um etwas zu bitten, und dann gehe ich sofort wieder.«

»Sie sind ein Schafskopf!« schrie der Greis, »wer sagt denn, daß Sie gehen sollen?«

Gillenormand begriff, daß der rauhe Empfang Marius verschüchtert hatte. Da es aber seine Art war, Kummer immer sofort in Zorn umzusetzen, stieg seine Härte nur. Marius begriff ihn nicht, und das machte ihn wütend.

»Sie haben mein Haus verlassen, um, weiß der Teufel, wohin zu laufen, Sie wollten, das begreift man ja, bequemer außer Haus leben, sich amüsieren! Kein Lebenszeichen haben Sie uns gegeben! Schulden haben Sie gemacht, ohne mir zu sagen, daß ich sie bezahlen soll, haben sich wie ein Wildling benommen, und jetzt, nach vier Jahren, kommen Sie hierher und haben nichts weiter zu sagen?«

Dieser energische Versuch, seinen Enkel zärtlicher zu stimmen, brachte Marius nur zum Schweigen. Gillenormand kreuzte die Arme. Diese Gebärde bedeutete bei ihm einen Entschluß.

»Kommen wir zum Schluß«, sagte er bitter, »Sie wollen etwas von mir. Was ist es?«

»Mein Herr«, sagte Marius mit dem Gefühl eines Mannes, der in einen Abgrund stürzt, »ich will Sie um die Erlaubnis bitten, zu heiraten!«

Gillenormand schellte. Baske erschien in der Tür.

»Rufen Sie meine Tochter.«

Gleich darauf ging die Tür auf, und Fräulein Gillenormand erschien. Marius stand da, stumm und mit herabhängenden Armen, wie ein Verbrecher, der überführt worden ist. Gillenormand ging in dem Zimmer auf und ab. Endlich wandte er sich zu seiner Tochter:

»Es ist weiter nichts, nur Herr Marius. Du kannst ihm guten Tag sagen. Der Herr wünscht zu heiraten. So, das ist alles. Jetzt kannst du wieder gehen.«

Diese rauhe Sprechweise bewies, daß der Greis sehr erregt war. Die Tante sah Marius bestürzt an, schien ihn kaum zu erkennen, sagte kein Wort und verschwand auf den Befehl ihres Vaters wie ein Strohhalm vor einem Orkan. Gillenormand hatte sich an den Kamin gelehnt.

»Also heiraten wollen Sie? Mit einundzwanzig Jahren! Sie haben alles arrangiert, brauchen nur noch meine Erlaubnis einzuholen. Eine kleine Formalität … Setzen Sie sich, Herr. Also Sie wollen heiraten? Und wen, wenn man vorher fragen darf? Haben Sie einen Beruf? Vermögen? Wieviel verdienen Sie als Advokat?«

»Nichts«, sagte Marius mit fast wilder Entschlossenheit.

»Nichts? Dann haben Sie also nur die zwölfhundert Franken jährlich, die ich Ihnen gebe.«

Marius antwortete nicht.

»Ah, demnach ist wohl das Mädchen reich?«

»So reich wie ich.«

»Keine Mitgift?«

»Nein.«

»Aussichten?«

»Ich glaube kaum.«

»Ohne nichts! Und was ist der Vater?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und wie heißt Sie?«

»Fräulein Fauchelevent.«

»Fauche – was?«

»Fauchelevent.«

»Uff!«

»Herr«, schrie Marius.

»Soso«, fuhr Gillenormand fort, »einundzwanzig Jahre alt, ohne Beruf, zwölfhundert Franken Einkommen! Die Frau Baronin Pontmercy wird selbst zur Grünzeughändlerin gehen, um für zwei Sous Petersilie zu holen.«

»Mein Herr«, flehte Marius, der sich an seine letzte Hoffnung klammerte, »ich bitte und beschwöre Sie, erlauben Sie mir, das Mädchen zu heiraten.«

Der Alte begann zu lachen.

»Soso, Sie haben sich wohl gedacht: zu blöd, jetzt muß ich zu diesem alten Trottel, zu dieser lächerlichen Schabracke da laufen! Schade, daß ich nicht fünfundzwanzig Jahre alt bin! Na, ich werde ihm sagen: Alter Idiot, du bist ja todfroh, mich zu sehen, ich habe Lust zu heiraten, ich möchte ein Fräulein Soundso heiraten, die Tochter des Herrn Weißnichtwie, Schuhe habe ich nicht, ein Hemd auch nicht, aber was schadet es, ich schmeiße meine Karriere, meine Zukunft, mein Leben ins Wasser, lade mir eine Frau auf den Hals: das will ich, und du hast ja und amen zu sagen! Na, und das alte Fossil wird eben ja sagen, haben Sie sich gedacht. Ja, mein Junge, von mir aus ja, tu was du willst, wird er sagen, der alte Trottel, heirate deine Pousselevent, deine Coupelevent … nein, mein Herr, niemals! Niemals!«

An dem Ton, in dem dieses Niemals ausgesprochen wurde, erkannte Marius, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Langsam ging er, gebeugt, taumelnd fast zur Tür. Gillenormand sah ihm nach. Als Marius die Tür öffnete, sprang Gillenormand mit einem Satz herzu, faßte ihn am Kragen und riß ihn zurück. Dann drückte er ihn in einen Stuhl und rief:

»Erzähl mir die Geschichte!«

Marius war verblüfft.

»Vorwärts, erzähl mir die Liebesgeschichte! Sapristi, sind die jungen Leute heute dumm!«

»Vater …«, begann Marius.

Der Alte begann zu strahlen.

»Ja, sag ›Vater‹ zu mir, dann ist alles besser. Du hast also wirklich keinen Sou? Angezogen bist du wie ein Strolch.«

Er zog eine Lade auf, entnahm ihr eine Börse und legte sie auf den Tisch.

»Da hast du hundert Louis, kauf dir wenigstens einen Hut.«

»Vater«, fuhr Marius fort, »lieber Vater, wenn Sie wüßten, wie ich sie liebe! Sie können sich das nicht vorstellen! Das erstemal sah ich sie im Luxembourg. Ich achtete damals kaum auf sie. Dann, ich weiß selbst nicht, wie das gekommen ist, verliebte ich mich. Ach, ich bin so unglücklich geworden! Jetzt seh ich sie täglich in ihrem Hause, aber ihr Vater weiß nichts davon. Stell dir vor, sie wollen verreisen! Ich komme immer abends in den Garten. Ihr Vater will sie nach England mitnehmen, da habe ich gedacht: ich gehe zu meinem Großvater und erzähle ihm die Sache. Ich werde sonst verrückt oder springe ins Wasser. Bevor ich verrückt werde, muß ich sie unbedingt heiraten. Das ist die reine Wahrheit. Sie wohnt in einem kleinen Gartenhaus hinter einem Gitter, Rue Plumet. Es ist auf der Seite des Invalidendoms.«

Vater Gillenormand saß vergnügt vor Marius. Er genoß den Bericht seines Enkels und ergötzte sich dabei an einer Prise Tabak. Als er von der Rue Plumet sprechen hörte, ließ er den Tabak fallen.

»Rue Plumet! Warte mal, da ist doch auch eine Kaserne? Ja, ich erinnere mich schon. Dein Vetter Théodule hat mir davon erzählt. Der Lanzenreiter. Ein Mädchen? Jaja, Rue Plumet. Sie hieß früher Rue Blomet. Jetzt weiß ich alles. Von der Kleinen hinter dem Gitter habe ich auch gehört. Die reinste Pamela! Du hast also doch keinen schlechten Geschmack. Sie soll sehr propre sein. Unter uns gesagt, ich glaube, dieser Aff ’ von den Lanzenreitern hat ihr ein wenig die Kur geschnitten. Aber ich weiß nicht, wie weit er dabei gekommen ist. Übrigens egal. Man braucht ihm ja auch nichts zu glauben. Der quatscht! Marius, ich finde das durchaus richtig, daß ein Mann in deinem Alter sich verliebt. Ich ziehe die Verliebten den Jakobinern vor. Lieber sollst du hinter zwanzig Weibern herlaufen als hinter einem Robespierre. Was mich betrifft, so kann ich aufrichtig sagen, daß die Weiber die einzigen Sansculotten sind, die mir jemals gefallen haben. Die Hübschen, versteht sich. Dagegen ist nichts einzuwenden. Deine Kleine empfängt dich also ohne Wissen des Herrn Papa. Auch das ist eine bewährte Sache. Derlei hab ich auch erlebt. Nicht nur einmal. Weißt du, was man da tut? Man stellt sich nicht blöd. Man wird nicht tragisch. Man läuft nicht gleich zum Herrn Bürgermeister mit der Schärpe. Amüsiert euch, Sterbliche, aber heiratet nicht! Man geht zu Großpapa, der im Grunde genommen recht gutmütig ist und immer noch ein paar Rollen Louisdor in einer alten Lade hat, man sagt: Großpapa, so steht die Sache. Und Großpapa antwortet: Höchst einfach! Die Jugend muß voran, das Alter weicht aus. Ich war einmal jung, du wirst einmal alt werden. Du zahlst es dann deinen Enkeln zurück. Da hast du zweihundert Pistolen. Amüsier dich, mein Lieber! So muß man es machen. Verstehst du?«

Marius schüttelte den Kopf. Er war sprachlos.

Der Alte lachte, blinzelte und sagte schließlich:

»Dummkopf, nimm sie dir als Mätresse!«

Marius erblaßte.

Alles das, Rue Blomet, Pamela, Kaserne, Lanzenreiter, war ihm wie eine Phantasmagorie erschienen. Das konnte sich nicht auf Cosette beziehen, die rein war wie eine Lilie. Der Alte schwätzte. Aber als er gesagt hatte, nimm sie dir als Mätresse, hatte Marius das Gefühl, ein Degen durchbohre sein Herz. Er stand auf, nahm seinen Hut vom Boden, trat zur Tür und sagte:

»Vor fünf Jahren haben Sie meinen Vater beschimpft. Heute beschimpfen Sie meine Frau. Jetzt verlange ich nichts mehr von Ihnen, mein Herr. Adieu.«

Vater Gillenormand tat den Mund auf, breitete die Arme aus, versuchte aufzustehen. Aber bevor er ein Wort hervorbrachte, hatte die Türe sich wieder geschlossen, Marius war verschwunden.

Sechstes Buch
Wohin?

Jean Valjean

An demselben Tage, um vier Uhr nachmittags, saß Jean Valjean einsam auf einer Böschung des Marsfeldes. Er trug seinen Arbeiteranzug, eine graue Leinenhose und seine Mütze mit dem Schirm, der das halbe Gesicht verdeckte.

Mit Cosette war er jetzt glücklich, aber wenn jener Schrecken von ihm gewichen war, so hatte ein neuer vor ein oder zwei Wochen sich seiner Gedanken bemächtigt. Auf dem Boulevard hatte er Thénardier gesehen. Dank seiner Verkleidung war er von Thénardier nicht erkannt worden, aber Jean Valjean war dem Verbrecher inzwischen mehrmals begegnet und hatte sich die Gewißheit verschafft, daß Thénardier in diesem Stadtviertel lebte. Das war Grund genug, einen entscheidenden Entschluß zu fassen. Thénardier: das war die Gefahr schlechthin. Überdies war ganz Paris in Unruhe. Die politischen Wirren waren für einen Mann, der sich zu verbergen wünschte, recht unbequem, denn nur zu leicht konnten die Spitzel, wenn sie nach einem Pépin oder Morey Jagd machten, einen Jean Valjean fangen. Darum hatte er sich entschlossen, Paris und Frankreich zu verlassen und nach England überzusiedeln. Er hatte Cosette davon gesagt. Binnen acht Tagen wollte er reisen. Jetzt saß er auf der Böschung des Marsfeldes und erwog alle Schwierigkeiten, diese Reise zu bewerkstelligen und sich einen Paß zu verschaffen.

Er war von Sorgen bedrückt.

Ein unerklärlicher Vorfall hatte ihn aufgeschreckt. Als er heute morgen, noch bevor Cosette ihre Fensterläden geöffnet hatte, im Garten spazierenging, hatte er an der Mauer eine Schrift gesehen:

»16, Rue de la Verrerie.«

Sie war noch ganz frisch. Eine Brennessel, die an der Wand wuchs, hatte er weiß bestaubt gefunden. Also war diese Inschrift heute nacht an die Mauer gekommen. Eine Adresse? Eine Warnung? Auf alle Fälle waren Fremde in den Garten eingedrungen. Er erinnerte sich der seltsamen Vorkommnisse, die schon einmal das Haus beunruhigt hatten. Jedenfalls wollte er nicht mit Cosette darüber sprechen, denn er befürchtete, sie zu erschrecken.

Während er so sann, warf die Sonne einen Schatten neben ihn, jemand stand auf der Böschung. Jean Valjean wollte sich umwenden, als ihm ein vierfach gefaltetes Blatt auf die Knie fiel. Er nahm es, faltete es auseinander und fand mit großen Buchstaben folgendes Wort aufgeschrieben:

»Umziehen!«

Jean Valjean sprang auf. Schon war niemand mehr auf der Böschung. Als er sich umsah, bemerkte er einen Burschen, größer als ein Kind, kleiner als ein Mann, der in einer grauen Bluse steckte und eine staubfarbene Samthose anhatte. Der Junge schwang sich gerade über den Grenzgraben des Marsfeldes. Sehr nachdenklich ging Jean Valjean nach Hause.


Marius

Verzweifelt hatte Marius Gillenormand verlassen. Er war mit wenig Hoffnung dorthin gegangen, aber in voller Verzweiflung kehrte er zurück.

Wie alle, die einen Kummer unterdrücken wollen, begann er durch die Straßen zu laufen. Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was er gedacht hatte. Um zwei Uhr morgens kam er in Courfeyracs Zimmer und warf sich in Kleidern auf seine Matratze. Erst beim Morgengrauen schlief er ein. Als er aufwachte, standen Courfeyrac, Enjolras, Feuilly und Combeferre, eben im Begriff wegzugehen, mit dem Hut auf dem Kopf im Zimmer.

»Kommst du mit zum Begräbnis des Generals Lamarque?« fragte Courfeyrac.

Marius war es, als ob Courfeyrac chinesisch spräche.

Gleich nach den jungen Männern ging auch er weg. Die beiden Pistolen, die ihm Javert am dritten Februar gegeben hatte, steckte er ein. Sie waren noch immer geladen. Was er dachte, als er sie einsteckte, läßt sich schwer sagen.

Den ganzen Tag über irrte er umher. Es regnete manchmal, aber er merkte nichts. Bei einem Bäcker kaufte er ein Stück Brot, steckte es in die Tasche und vergaß es. Nur einen einzigen klaren Gedanken hatte er: daß er um neun zu Cosette gehen müsse. In diesem letzten Glück bestand seine Zukunft. Dann kam die Finsternis. Zuweilen hörte er, während er in den entlegenen Außenboulevards spazierenging, von der Stadt herüber ein seltsames Getöse.

»Ich glaube, man kämpft«, dachte er.

Um neun Uhr erschien er in der Rue Plumet. Als er sich dem Gitter näherte, vergaß er alles. Er hatte sie seit achtundvierzig Stunden nicht gesehen, der Gedanke, ihr jetzt wieder zu begegnen, verdrängte jede andere Empfindung und löste eine tiefe, unerhörte Freude aus.

Wie gewöhnlich, lockerte Marius die Stange im Gitter und schlich in den Garten. Cosette war nicht an dem Platz, an dem sie ihn sonst erwartete. Er drang durch das Dickicht vor und gelangte auf die Freitreppe.

»Sie wartet hier«, sagte er.

Aber sie war nicht da.

Jetzt blickte er auf und bemerkte, daß die Fensterläden verschlossen waren. Er suchte den ganzen Garten ab, fand ihn aber leer. Fast von Sinnen, lief er auf das Haus zu und klopfte an die Fensterscheiben. Jetzt scheute er die Gefahr nicht mehr, daß ihr Vater herauskäme und ihn fragte, was er hier wolle. Diese Gefahr bedeutete nichts gegen jene, die er ahnte. Und dann begann er zu rufen:

»Cosette!« schrie er, »Cosette!«

Niemand antwortete.

Niemand war im Garten, niemand im Haus.

Verzweifelt betrachtete er das Gebäude, das düster und leer war wie ein Grab. Sein Blick fiel auf die Steinbank, auf der er so oft mit Cosette gesessen hatte. Traurig kauerte er auf einer Stufe der Freitreppe nieder. Jetzt blieb ihm nur der Tod.

Plötzlich hörte er eine Stimme, die von der Straße zu kommen schien und durch die Bäume herüberdrang:

»Herr Marius!«

Er sprang auf.

»Was gibt’s?«

»Herr Marius, sind Sie da?«

»Ja.«

»Herr Marius, Ihre Freunde erwarten Sie an der Barrikade der Rue de la Chanvrerie.«

Diese Stimme war ihm nicht ganz unbekannt. Sie war heiser und rauh wie die Eponines. Marius eilte an das Gitter, riß die lockere Stange heraus und sah jemand, einen jungen Burschen, in der Dunkelheit verschwinden.

Siebentes Buch
Der 5. Juni 1832

Das Begräbnis: Anlaß zur Wiedergeburt

Im Frühjahr 1832 war Paris, obwohl die Cholera seit drei Monaten alle Tatkraft lähmte, längst bereit zur Revolution. Die Großstadt gleicht einer Kanone: wenn sie geladen ist, genügt ein Funke, und der Schuß geht los. Im Juni 1832 gab der Tod des Generals Lamarque den Funken.

Lamarque war ein Mann der Tat, und er war populär gewesen. Der Reihe nach hatte er unter dem Kaiserreich und unter der Restauration die beiden Arten von Tapferkeit bewiesen, die diesen Epochen entsprachen, die Tapferkeit auf dem Schlachtfelde und die auf der Rednertribüne. Er war ein ebenso zündender Redner wie kühner Soldat. Man fühlte in seinem Wort das erprobte Schwert. Hatte er sich als Kommandant bewährt, so war er auch ein kühner Freiheitskämpfer. Er saß zwischen der Linken und der äußersten Linken, war beim Volke beliebt, weil er für die Zukunft eintrat, und der Abgott der Menge, weil er dem Kaiser gedient hatte. Siebzehn Jahre lang hatte er um Waterloo getrauert. Als er mit dem Tode rang, drückte er den Degen an die Brust, den ihm die Offiziere der Hundert Tage geschenkt hatten. Napoléon war gestorben mit dem Wort »Armee« auf den Lippen, Lamarque mit dem Wort »Vaterland«.

Sein Tod, mit dem man bereits gerechnet hatte, wurde vom Volk als Verlust, von der Regierung als kritischer Augenblick gefürchtet. Die Trauer würde allgemein sein. Wie alle Bitterkeit, konnte sie sich leicht in eine Revolte verwandeln. Und dies geschah.

Am Abend des 4. und am Morgen des 5. Juni, der für das Begräbnis Lamarques bestimmt war, machte die Vorstadt Saint-Antoine, durch die der Kondukt geführt werden sollte, einen beunruhigenden Eindruck. In diesem wirren Straßennetz bereitete sich die Unruhe vor. Man bewaffnete sich, so gut man konnte. Tischler schleppten Schraubstöcke herbei, um »Türen zu rammen«. Einer hatte sich aus einem Haken, dessen Ende er abbrach und den er zuspitzte, einen Dolch gemacht. Ein anderer fieberte so danach, am Angriff teilzunehmen, daß er seit drei Tagen in den Kleidern schlief. Ein gewisser Jacqueline, ein regsamer Mann, stellte sich auf belebten Plätzen auf und redete die Arbeiter an, die vorbeikamen.

»Hallo, du!«

Er gab ihnen zehn Sous für Wein, pro Mann.

»Hast du Arbeit?«

»Nein.«

»Geh zu Filspierre zwischen dem Tor von Montreuil und dem von Charonne, dort bekommst du Arbeit.«

Bei Filspierre wurden Kugeln und Waffen verteilt.

Bekannte Führer waren immer auf den Beinen, rannten von einem zum andern, um ihre Getreuen zu sammeln. Bei Batélemy und Capel unterhielten sich die Krieger ganz ernsthaft folgendermaßen:

»Wo hast denn du deine Pistole?«

»Unter der Bluse. Und du?«

»Unter dem Hemd.«

Am 5. Juni also, an einem Tage, der bald Regen, bald Sonnenschein brachte, bewegte sich der Leichenzug des Generals Lamarque mit offiziellem militärischem Pomp, der wohl aus Vorsicht etwas vergrößert worden war, durch Paris. Zwei Bataillone mit verhüllten Trommeln und gesenkten Gewehren, zehntausend Nationalgardisten und die Artilleriebatterie der Nationalgarde folgten dem Sarg. Der Leichenwagen wurde von jungen Leuten gezogen. Veteranenoffiziere gingen hinterher und trugen Lorbeerzweige. Dann kam eine unzählige, seltsam wilderregte Menge: Sektionäre der »Freunde des Volkes«, die Studenten der juristischen und medizinischen Fakultät, politische Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern, die ihre Nationalfahne zeigten, Spanier, Italiener, Deutsche, Polen, schließlich Kinder mit grünen Palmzweigen, die Steinmetzen und Zimmerleute, die gerade im Streik waren, die Buchdrucker, erkennbar an ihren Papiermützen. Sie alle marschierten schreiend und aufgeregt hinter dem Sarge her, schwangen Stöcke und sogar Säbel, hielten keinerlei Ordnung. Die Kolonnen begannen Führer zu wählen. Einer, der ein Paar Pistolen ganz offen trug, schien eine Heerschau seiner Truppe abzuhalten. In den Nebenalleen der Boulevards, auf den Balkons, Bäumen, Fenstern und Dächern wimmelte es von Frauen und Kindern. Alle blickten angstvoll auf den Zug herab. Eine bewaffnete Menge zog vorüber, eine verängstigte sah zu.

Die Regierung bewahrte vorläufig ihre abwartende Haltung, hielt aber die Hand am Degen. Marschbereit konnte man auf dem Platz Ludwigs XV. vier Schwadronen Karabiniere sehen; im Quartier Latin und am Jardin des Plantes stand die Munizipalgarde, an der Halle-aux-Vins eine Schwadron Dragoner, auf dem Grèveplatz die Hälfte des zwölften Regiments leichter Reiter, die andere Hälfte an der Bastille. Bei den Cölestinern waren die sechsten Dragoner postiert, im Hof des Louvre war die Artillerie gesammelt. Die übrigen Truppen standen in den Kasernen in Bereitschaft, die Regimenter nicht zu zählen, die rings um Paris zusammengezogen waren. Die beunruhigte Staatsgewalt hielt vierundzwanzigtausend Soldaten in der Stadt und dreißigtausend in der Umgebung bereit.

In dem Leichenzug kreisten die wildesten Gerüchte. Ein Mann, der unbekannt blieb, behauptete, zwei Werkmeister, die man gewonnen habe, würden dem Volk die Tore einer Waffenfabrik öffnen. Die meisten Leute waren gleichzeitig begeistert und niedergeschlagen. Man sah in der Menge auch wahre Verbrechertypen, Leute, die es auf eine Plünderung abgesehen hatten. Wenn Sümpfe aufgewühlt werden, steigt der Kot an die Oberfläche. Eine geschickte Polizei weiß sich dieses Phänomen zunutze zu machen.

Der Zug bewegte sich mit fiebernder Langsamkeit vom Hause des Toten über die Boulevards zur Bastille. Zuweilen regnete es, aber die Menge achtete nicht darauf. Einige Zwischenfälle wurden bemerkt. Der Herzog von Fitz-James, der auf seinem Balkon stand, wurde, weil er den Hut nicht abnahm, mit Steinen beworfen. An der Porte Saint-Martin wurde ein Schutzmann durch einen Degenstich verwundet. Ein Offizier der Zwölfer sagte ganz laut: »Ich bin Republikaner!« Die Studenten des Polytechnikums brachen das Verbot ihrer Lehrer und schlossen sich dem Zug an. Man begrüßte sie mit dem Rufe: »Es lebe das Polytechnikum, es lebe die Republik!« Bei der Bastille schlossen sich Neugierige, die aus der Vorstadt Saint-Antoine herbeiströmten, dem Zuge an, und die allgemeine Erregung stieg auf den Siedepunkt.

An der Austerlitzer Brücke hielt der Zug. Es bildete sich ein Kreis um den Leichenwagen. Die Menge schwieg. Jetzt hielt Lafayette eine Rede und grüßte Lamarque. Es war ein erhabener und rührender Augenblick. Alle Köpfe wurden entblößt, alle Herzen schlugen höher. Plötzlich erschien ein schwarzgekleideter Mann zu Pferde, der eine rote Fahne trug. Andere behaupteten, es sei eine Pike gewesen, auf der eine phrygische Mütze hing. Lafayette wandte sich ab, Exelmans verließ den Leichenzug.

Die rote Fahne löste stürmische Begeisterung aus und verschwand in der Menge. Unter allgemeinem Jubel wurde der Leichenwagen über die Austerlitzer Brücke und Lafayettes Equipage auf den Quai Morland gezogen.

Unter der Menge, die Lafayette begrüßte, wurde ein Deutscher namens Ludwig Snyder (Schneider) allgemein bemerkt und begrüßt, der später, hundertjährig, starb und der 1776 unter Washington bei Trenton und unter Lafayette bei Brandywine gekämpft hatte.

Jetzt setzte sich auf dem linken Ufer die Munizipalgarde in Bewegung und sperrte die Brücke, während auf der rechten Seite die Dragoner den Quai Morland forcierten. Die Menge, die Lafayettes Wagen zog, brach in wildes Geschrei aus:

»Die Dragoner kommen!«

Im Schritt rückten die Dragoner schweigend, Pistolen und Säbel bereit, mit düsterer Miene heran.

Zweihundert Schritt vor der kleinen Brücke machten sie halt. Lafayettes Wagen fuhr ihnen entgegen, sie öffneten ihre Reihen, ließen ihn durch und schlossen sich wieder. In diesem Augenblick stieß die Menge auf die Dragoner. Frauen zogen sich zurück.

Was geschah in diesem verhängnisvollen Augenblick? Niemand vermag es zu sagen. Es war, als ob zwei Wolken aufeinanderstießen. Manche erzählen, daß vom Arsenal herüber zum Angriff geblasen wurde, andere behaupteten, ein junger Bursche habe einen Dragoner mit dem Dolch verletzt. Tatsache ist, daß plötzlich drei Schüsse fielen. Der erste tötete den Schwadronschef Cholet, der zweite eine taube Alte, die in der Rue Contrescarpe gerade das Fenster schloß, der dritte verbrannte einem Offizier die Epauletten. Eine Frau schrie: »Sie fangen zu früh an!« Plötzlich sah man drüben auf dem Quai Morland eine Schwadron Dragoner, die in der Kaserne geblieben war, mit gezückten Säbeln über den Boulevard Bourdon heranstürmen und die Menge vor sich hertreiben.

Jetzt war die Entscheidung gefallen. Der Sturm brach aus, Steine flogen, die Gewehre knatterten, viele Menschen stürzten sich in die Seine, um sich schwimmend zu retten. Man riß Pfähle aus der Erde, Pistolen knallten, schon wuchsen die Barrikaden aus dem Boden, Karabiniere eilten herbei, die Menge strömte nach allen Seiten auseinander. Überall wird geschrien: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!«

Dort flüchtet die Menge, hier leistet sie Widerstand. Die Wut trägt die Rebellion nach allen Richtungen, wie der Wind das Feuer.


Aufruhr

Noch war keine Viertelstunde vergangen, als sich bereits an etwa zwanzig Stellen von Paris ungefähr folgendes vollzogen hatte.

In der Rue Ste.-Croix de la Bretonnerie treffen sich etwa zwanzig junge Männer, die lange Bärte und langes Haar tragen, dringen in einen Laden ein, kommen gleich darauf mit einer schwarzbeflorten Trikolore heraus. An ihrer Spitze marschieren drei, von denen einer ein Gewehr, der andere einen Säbel, der dritte eine Pike trägt.

In der Rue des Nonaindières bot ein dickbäuchiger, kahler, gemütlicher Bürger den Passanten ganz offen Patronen an.

In der Rue Saint-Pierre Montmartre trugen Männer, die ihre Arme entblößt hatten, eine schwarze Fahne, auf der mit weißen Buchstaben geschrieben stand: »Die Republik oder den Tod!« Überall tauchten Fahnen auf, die in goldenen Buchstaben das Wort Sektion und eine Nummer zeigten. Eine dieser Fahnen war rot und blau mit einem schmalen weißen Streifen dazwischen.

Man stürmte am Boulevard Saint-Martin eine Waffenfabrik, ferner drei Läden von Waffenschmieden. In wenigen Minuten griffen tausend Hände nach zweihundertdreißig Gewehren (fast lauter Doppelläufern), vierundsechzig Säbeln und dreiundachtzig Pistolen. Damit möglichst viel Leute bewaffnet wären, nahm der eine ein Gewehr, der andere das Bajonett.

Am Quai de la Grève drangen bewaffnete junge Leute in Wohnungen ein, um von hier aus zu schießen. In improvisierten Werkstätten wurden Patronen fabriziert.

Auf beiden Flußufern, auf den Quais und den Boulevards, im Quartier Latin und bei den Markthallen strömten keuchend Arbeiter, Studenten und Mitglieder der Sektionen zusammen, verlasen Proklamationen und schrien Alarm. Man riß Laternenpfähle um, spannte Wagen aus, riß Pflastersteine aus der Erde, schlug Haustüren ein, entwurzelte Bäume, baute aus Fässern, Steinen, Möbeln und Brettern Barrikaden.

Man zwang die Bürger, zu helfen. Man drang in Wohnungen ein, nötigte die Frauen, Gewehre und Säbel ihrer abwesenden Männer auszuliefern, und schrieb mit Bleiweiß auf die Türen:

»Hier wurden alle Waffen requiriert.«

Manche unterzeichneten Quittungen über ausgelieferte Gewehre und Säbel und sagten:

»Holt euch die Waffen morgen vom Magistrat wieder ab.«

Schildwachen und Nationalgardisten, die man auf der Straße sah, wurden entwaffnet. Offizieren riß man die Epauletten ab.

Wir berichten alle diese Dinge langsam und der Reihe nach, doch geschahen sie gleichzeitig in allen Stadtteilen und unter ungeheurem Tumult.

Kaum war eine Stunde vergangen, als allein im Quartier der Markthallen siebenundzwanzig Barrikaden bereitstanden.

Überall und gleichzeitig wurde gearbeitet, überall wurden die Posten der Garnison aufgehoben. Um fünf Uhr abends waren die Revolutionäre Herren des Bastilleplatzes, der Lingerie und der Blancs-Manteaux. Ihre Patrouillen rückten bis zur Place des Victoires vor, bedrohten die Staatsbank und die Hauptpost. Ein Drittel von Paris war in Händen der Revolutionäre.

Gegen sechs Uhr abends war die Passage du Saumon ein Schlachtfeld. Auf der einen Seite stand die Menge, auf der anderen Militär. Durch die Gitter schoß man aufeinander. Ein Beobachter, ein junger Träumer, der Verfasser dieses Buches, der ausgegangen war, um sich den Vulkan aus der Nähe anzusehen, geriet zwischen die beiden Feuer. Um den Kugeln zu entgehen, mußte er zwischen zwei Säulen flüchten und dort in einer recht gefährlichen Lage eine halbe Stunde warten.

Bei manchen Regimentern waren die Soldaten schwankend. Dieser Umstand steigerte die allgemeine Unruhe. Die Soldaten erinnerten sich der Ovation, die ihnen im Juli 1830 wegen der Neutralität des dreiundfünfzigsten Linienregiments dargebracht worden war. Zwei furchtlose und erfahrene Offiziere führten das Kommando, der Marschall von Lobau und General Bugeau. Gewaltige Patrouillen, Bataillone von Linienregimentern, denen sich ganze Kompanien Nationalgardisten anschlossen, holten Erkundigungen in den revolutionären Stadtvierteln ein. Aber auch die Aufständischen stellten Posten aus und sandten kühn ihre Patrouillen aus den Barrikaden auf die Straße. So beobachteten sich die feindlichen Parteien. Die Regierung zögerte, obwohl sie eine Armee bereithielt. Die Nacht mußte jeden Augenblick hereinbrechen, und Saint-Merry läutete Sturm. Der Kriegsminister, der alte Marschall Soult, der bei Austerlitz gekämpft hatte, sah düster in die Zukunft. Die Tuilerien lagen einsam und verlassen da. Louis Philippe war unbeirrbar ruhig.

Achtes Buch
Ein Atom verbrüdert sich mit dem Orkan

Gavroche zieht in den Krieg

In dem Augenblick, als die Menge mit den Soldaten vor dem Arsenal zusammenstieß, sich teilte und in hundert Straßen auseinanderströmte, kam ein junger Bursche, der in Lumpen gekleidet war, die Rue Ménilmontant herabspaziert. Vor einem Trödlerladen blieb er stehen und bemerkte eine alte Pistole im Schaufenster. Er schrie der Trödlerin zu:

»Frau Dingsda, ich entleihe mir von Ihnen diese Kanone!«

Dann verschwand er mit der Pistole.

Zwei Minuten später begegnete ein Trupp verschüchterter Bürger, der durch die Rue Basse flüchtete, einem Burschen, der mutig seine Pistole schwang.

Das war Gavroche, der in den Krieg zog.

Übrigens hatte er keine Ahnung, daß er in jener verregneten Nacht seine eigenen Brüder in Schutz genommen hatte. Bei Tagesanbruch war er zu dem Elefanten zurückgekehrt, hatte die beiden Kinder aus ihrem Versteck herausgeholt, ihnen ein rasch improvisiertes Frühstück dargeboten und sie dann der Mutter anvertraut, die auch ihn aufgezogen und ernährt hatte: der Straße.

Auf dem Markt Saint-Jean, dessen Posten bereits entwaffnet war, vollzog Gavroche seine Vereinigung mit der von Enjolras, Courfeyrac, Combeferre und Feuilly geführten Truppe Aufständischer. Sie waren so ziemlich bewaffnet. Auch Bahorel und Jean Prouvaire waren zu ihnen gestoßen. Enjolras hatte eine doppelläufige Jagdflinte, Combeferre das Gewehr eines Nationalgardisten und zwei Pistolen im Gürtel, die sein knopfloser Rock immer sehen ließ, Jean Prouvaire einen alten Kavalleriekarabiner. Bahorel und Courfeyrac mußten sich mit Säbeln behelfen.

Gavroche fragte sie ruhig:

»Wohin gehen wir?«

»Komm nur mit«, sagte Courfeyrac.

Hinter Feuilly marschierte Bahorel, der eine karmesinrote Weste trug.

»Die Roten kommen!« schrie ein erschrockener Bürger.

»Die Roten! Die Roten!« äffte Bahorel. »Sonderbare Furcht, Bürger! Ich fürchte mich weder vor Klatschrosen noch vor Rotkäppchen. Überlassen Sie, Herr Bürger, die Abneigung gegen das Rote dem Hornvieh!«

Jetzt fiel sein Blick auf ein Blatt Papier, einen Fastenerlaß des Erzbischofs von Paris, der den »gläubigen Schafen« erlaubte, auch in der Fastenzeit Eier zu essen.

»Schafe! Das ist der richtige Ausdruck!« schrie Bahorel und riß den Zettel ab. Gavroche fand das sehr richtig. Er beschloß, sich mit Bahorel zu verständigen.

»Du hast unrecht, Bahorel«, sagte Enjolras. »Du hättest den Fastenerlaß in Ruhe lassen sollen, wir haben nichts mit dem Bischof zu tun, du verschwendest damit deine Zeit. Spare mit der Munition.«

»Jeder, wie er kann«, sagte Bahorel. »Diese bischöfliche Prosa geht mir auf die Nerven. Ich will Eier essen ohne Erlaubnis. Du bist einer von den Kalten, ich muß meinen Spaß haben. Übrigens verschwende ich nicht, sondern mache mir nur Bewegung. Wenn ich diesen Erlaß zerreiße, so tue ich es, beim Herkules, um meinen Appetit zu reizen.«

Eine lärmende Menge folgte ihnen: Studenten, Künstler, junge Leute, Arbeiter. Manche trugen Stöcke, manche Bajonette, einige hatten Pistolen im Gürtel. Ein Alter war darunter, der sehr bejahrt schien und keine Waffe trug. Er sah sehr nachdenklich aus. Gavroche bemerkte ihn.

»Wer ist denn das?« fragte er Courfeyrac.

»Irgendein Alter.«

Es war Mabeuf.


Der Alte

Und das kam so. Enjolras und seine Freunde befanden sich, als die Dragoner auf das Volk schossen, auf dem Boulevard Bourdon. Enjolras, Courfeyrac und Combeferre hatten die Losung ausgegeben: »Baut Barrikaden!« In der Rue Lesdigujères begegneten sie dem Alten. Er ging im Zickzack, als ob er betrunken wäre. Den Hut hielt er in der Hand, obwohl es seit dem Morgen heftig regnete. Courfeyrac hatte Vater Mabeuf erkannt. Oft hatte er Marius zu ihm begleitet. Er kannte die scheue und ängstliche Art des alten Bücherwurms und war nicht wenig erstaunt, ihm inmitten dieses Tumults zu begegnen.

»Gehen Sie nach Hause, Herr Mabeuf!«

»Warum?«

»Es gibt Krach.«

»Gut so.«

»Säbelhiebe, Gewehrschüsse, Herr Mabeuf!«

»Gut.«

»Kanonenschüsse.«

»Um so besser. Wo geht ihr hin?«

»Wir gehen die Regierung stürzen.«

»Gut!«

Und dann schloß er sich ihnen an.

Bald verbreitete sich das Gerücht, er sei ein altes Konventsmitglied, einer der »Königsmörder«.


Rekruten

Die Truppe wuchs von Augenblick zu Augenblick. In der Rue des Billets schloß sich ihnen ein hochgewachsener, bereits ergrauter Mann an, dessen strenge Miene Courfeyrac, Enjolras und Combeferre auffielen. Sie kannten ihn nicht.

In der Rue de la Verrerie kamen sie am Hause Courfeyracs vorüber.

»Das trifft sich gut«, sagte Courfeyrac, »ich habe meine Börse vergessen und meinen Hut verloren.«

Er eilte die Treppe hinauf, nahm einen alten Hut und seine Börse. Auch einen großen Koffer, den er zwischen schmutziger Wäsche verborgen hatte, schleppte er mit. Als er die Treppe hinabeilte, hielt ihn die Pförtnerin auf.

»Herr von Courfeyrac!«

»Wie heißen Sie eigentlich?« fragte Courfeyrac.

Die Pförtnerin war verblüfft. »Aber Sie kennen mich doch, ich bin die Pförtnerin. Ich heiße Mutter Veuvain.«

»Hören Sie, wenn Sie mir noch einmal Herr von Courfeyrac sagen, nenne ich Sie Madame de Veuvain. Nun, was gibt es?«

»Es ist jemand da, der Sie sprechen will.«

»Wer?«

»Weiß nicht.«

»Wo?«

»In meiner Loge.«

»Zum Teufel mit ihm!«

»Er wartet schon eine Stunde auf Sie.«

Im selben Augenblick kam ein kleiner, magerer, blasser, junger Bursche mit einem sommersprossigen Gesicht heraus, der einen zerrissenen Kittel und eine geflickte Samthose trug. Der Stimme nach hätte man ihn eher für ein Mädchen halten können.

»Wo ist Herr Marius?«

»Er ist nicht zu Hause.«

»Kommt er heute abend nach Hause?«

»Das weiß ich nicht. Ich bestimmt nicht.«

Der junge Mann sah ihn scharf an.

»Warum nicht?«

»Darum.«

»Wohin gehen Sie denn?«

»Was geht dich das an?«

»Soll ich Ihnen Ihren Koffer tragen?«

»Ich gehe auf die Barrikade.«

»Darf ich mit Ihnen kommen?«

»Wenn du willst! Die Straße ist frei, das Pflaster gehört der Welt.«

Und er rannte seinen Freunden nach.

Neuntes Buch
Corinthe

Vergnügte Vorbereitungen

Laigle aus Meaux wohnte mehr bei Joly als anderswo. Er hatte ein Heim, wie ein Vogel einen Ast. Die beiden Freunde lebten zusammen, aßen zusammen, schliefen in demselben Zimmer. Alles hatten sie gemeinsam, sogar ihre Musichetta.

Am Morgen des 5. Juni gingen sie zum Frühstück in ihre Budike »Corinthe«. Joly, der an Schnupfen litt, hatte Laigle bereits ein wenig angesteckt. Laigles Anzug war abgetragen, aber Joly kleidete sich gut.

Es war gegen neun Uhr morgens, als sie an die Tür von »Corinthe« klopften. Im ersten Stock fanden sie die Kellnerinnen Matelotte und Gibelotte.

»Austern, Käs und Schinken!« befahl Laigle.

Und sie setzten sich. Sonst waren noch keine Gäste da. Gibelotte kannte Joly und Laigle und stellte eine Flasche auf den Tisch. Als sie bei den ersten Austern waren, tauchte ein Kopf auf der Treppe auf, und eine Stimme rief:

»Schon von der Straße her habe ich euren Käse aus Brie gerochen. Hier habt ihr mich!«

Es war Grantaire.

Auch er setzte sich.

Gibelotte kannte auch ihn und stellte sogleich zwei Flaschen Wein auf.

»Trinkst du immer zwei zugleich?« fragte Laigle.

»Alle sind gescheit, nur du bist dumm«, erwiderte Grantaire. »Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der vor zwei Flaschen erschrocken wäre.« Die andern hatten begonnen zu essen. Grantaire begann zu trinken. Bald war eine halbe Flasche erledigt.

»Kommst du vom Boulevard?«

»Nein.«

»Wir haben die Spitze des Leichenzugs gesehen, Joly und ich.«

»Wie diese Straße ruhig ist«, sagte Laigle, »wer hätte gedacht, daß in Paris alles auf den Beinen ist? Hier merkt man, daß es eine Klostergegend ist.«

»Aber weil wir gerade bei den Revolutionen sind«, meinte Joly, »wißt ihr etwa, was mit Marius geworden ist?«

»Niemand weiß, in wen er verliebt ist.«

»Ach, die Liebschaften von Marius!« schimpfte Grantaire, »die kenne ich auswendig. Er ist ein nebulöser Mensch und wird irgend so etwas Dunstiges gefunden haben. Poetenrasse. Poet und Narr ist dasselbe. Das sind Ekstasen, über denen man das Küssen vergißt. Keuschheit auf Erden, Wollust im Jenseits.«

Grantaire war eben im Begriff, seine zweite Flasche zu leeren, als wieder jemand auf der Treppe erschien. Es war ein kaum zehnjähriger, zerlumpter Junge mit einem Wuschelkopf, der vom Regen troff. Er sah vergnügt aus.

Obwohl der Junge sichtlich keinen von den dreien kannte, wandte er sich ohne Zögern an Laigle aus Meaux.

»Sie sind doch Herr Bossuet?«

»Das ist mein Spitzname«, erwiderte Laigle. »Was willst du?«

»Ein großer Blonder hat mir auf dem Boulevard gesagt: Geh ins ›Corinthe‹, dort findest du Herrn Bossuet. Sag ihm von mir: A-B-C. Wahrscheinlich ist es ein schlechter Witz. Aber er hat mir zehn Sous gegeben.«

»Joly, leih mir zehn Sous«, sagte Laigle, »und du, Grantaire, rück auch zehn Sous heraus!«

So bekam der Junge einen Franken.

»Wie heißt du, Kleiner?« fragte Laigle.

»Navet, ich bin ein Freund von Gavroche.«

»Bleib bei uns, mein Junge.«

»Frühstücke mit uns«, lud ihn Grantaire ein.

»Ich kann leider nicht«, erwiderte der Knabe, »ich gehöre zum Trauerzug, ich muß ›Nieder mit Polignac!‹ schreien.«

Damit zog er ab.

Laigle sann nach.

»A-B-C bedeutet: Beerdigung Lamarques.«

»Der große Blonde ist Enjolras«, meinte Grantaire.

»Gehen wir hin?« fragte Bossuet.

»Es regnet«, erwiderte Joly. »Ich habe geschworen, mich dem Feuer auszusetzen, aber vom Regen war nie die Rede. Ich will keinen Schnupfen haben.«

»Ich bleibe auch«, sagte Grantaire, »mir ist ein Frühstück lieber als ein Leichenwagen.«

»Abstimmung ergibt, wir bleiben. Wenn es losgeht, kommen wir immer noch zurecht.«

»Ja, dann komm ich auch!« rief Joly.

Laigle rieb sich die Hände.

»Die Revolution von 1830 soll retuschiert werden«, sagte er, »die Verfassung ist dem Volk zu eng.«

»Mir vollkommen schnuppe«, erwiderte Grantaire, »ich habe nichts gegen die Regierung. Eine Krone, über die eine Schlafmütze gezogen ist, soll mir recht sein. Sie gleicht einem Gespenst mit einem Regenschirm.«

Auf der Treppe wurden rasche Schritte hörbar. Von der Straße rief man:

»Zu den Waffen!«

Laigle wandte sich um und sah in der Rue Saint-Denis Enjolras mit seinen Freunden. Gavroche folgte ihm mit seiner Pistole, Feuilly mit dem Säbel, Courfeyrac mit dem Degen, Prouvaire mit der Muskete.

Die Rue de la Chanvrerie, in der »Corinthe« lag, war kürzer als die Tragweite eines Karabiners, Bossuet legte die Hände an den Mund und schrie:

»Courfeyrac! Courfeyrac!«

Der blieb stehen, erkannte Laigle und rief:

»Was willst du?«

»Wohin?«

»Wir wollen eine Barrikade bauen!«

»Gut, bleibt hier, der Platz ist günstig.«

»Das ist wahr, Laigle«, antwortete Courfeyrac. Und die Menge besetzte die Rue de la Chanvrerie.

Wirklich eignete sich der Platz ausgezeichnet. »Corinthe« beherrschte das Winkelwerk der Sackgasse, die Rue Mondétour konnte nach beiden Seiten abgesperrt werden, so daß nur Angriffe von der Rue Saint-Denis her möglich waren. Der besoffene Bossuet hatte nicht weniger Witz bewiesen als ein nüchterner Hannibal.

Als die Menge die Straße besetzte, verbreitete sie überall Entsetzen. Bald war die Straße vollkommen von Spaziergängern gesäubert. Blitzschnell wurden allenthalben Fenster geschlossen, Türen versperrt, Läden zugeschlagen. Eine Alte, die Angst bekam, befestigte eine Matratze am Fenster, um die Kugeln aufzuhalten. Nur die Kaschemme blieb offen, und das aus dem einfachen Grunde, weil die Truppe sie besetzt hatte.

Frau Hucheloup, die Wirtin, jammerte.

In wenigen Minuten wurden zwanzig Eisenstangen, mit denen die Fenster der Gastwirtschaft vergittert waren, herausgebrochen; zehn Klafter weit wurde das Pflaster der Straße aufgerissen. Gavroche und Bahorel bemächtigten sich des Wagens eines Kalkbrenners, stürzten ihn um und rollten die Fässer herbei. Aus Pflastersteinen und leeren Fässern, die man im Keller des Wirtshauses fand, wurde die Barrikade erbaut. Matelotte und Gibelotte nahmen an den Arbeiten teil. Sie liefen hin und her, als ob sie Gäste bedienten.

Ein Omnibus, der mit zwei weißen Pferden bespannt war, bog in die Straße ein.

Bossuet sprang über die Barrikade, eilte dem Wagen entgegen und hielt ihn an. Er zwang die Passagiere, auszusteigen, half den Damen dabei, höflich wie er war, entließ den Kutscher und brachte Pferd und Wagen ein.

Im nächsten Augenblick waren die Pferde ausgespannt und wurden die Rue Mondétour hinuntergejagt. Der Omnibus war eine willkommene Vervollständigung der Barrikade.

Jetzt hatte es aufgehört zu regnen. Neue Rekruten waren gekommen. Arbeiter schleppten ein Pulverfaß herbei, einen Korb mit Vitriolflaschen und einige Karnevalfackeln, die von der letzten Feier des königlichen Geburtstags übriggeblieben waren. Die einzige Laterne, die zur Erleuchtung der Rue de la Chanvrerie diente, wurde umgerissen.

Enjolras, Combeferre und Courfeyrac leiteten das Ganze. Es wurden gleichzeitig zwei Barrikaden gebaut, die vor dem »Corinthe« nach beiden Seiten hin eine Sperre bildeten. Die höhere schloß die Rue de la Chanvrerie ab, die niedrigere die Rue Mondétour. Die letztere bestand nur aus Pflastersteinen und Fässern. Insgesamt arbeiteten etwa fünfzig Leute. Dreißig hatten Gewehre, denn halbenwegs war man in den Laden eines Waffenschmieds eingedrungen und hatte gegen Quittung gekauft.

Es war eine sonderbare Truppe. Einer trug einen kurzen Halbrock, einen Kavalleriesäbel und zwei alte Pistolen; ein anderer war in Hemdsärmeln, trug einen runden Hut und ein Pulverhorn an der Seite; ein dritter hatte sich aus grauem Papier ein Plastron gemacht und trug als Waffe eine Sattlerahle. Da war einer, der schrie:

»Wir wollen bis zum letzten Mann kämpfen und an der Spitze unserer eigenen Bajonette sterben!«

Und dieser Mann hatte gar kein Bajonett.

Ein anderer hatte seinen bürgerlichen Rock mit der Patronentasche und dem Ledergurt eines Nationalgardisten geschmückt und zeigte stolz die Aufschrift:

»Dienst der öffentlichen Ordnung.«

Viele Gewehre zeigten Legionsnummern. Man sah kaum Hüte, keine Halstücher, viele bloße Arme. Jedes Alter und jeder Typ war vertreten. Man sah blasse junge Leute, sonnenverbrannte Arbeiter. Alle waren hastig am Werk. Zwischendurch wurden allerlei Gerüchte verbreitet. Es hieß, gegen drei Uhr morgens würde man Verstärkung erhalten, ein Regiment sei gewonnen, ganz Paris werde sich erheben. Alle diese unheimlichen Dinge wurden in gemütlichem Ton besprochen. Alle diese Leute, die einander beim Namen kannten, schienen Brüder geworden zu sein. Die großen Gefahren haben oft diese schöne Wirkung, auch die Brüderlichkeit derer, die einander nicht kennen, ans Licht zu bringen.

In der Küche war ein Feuer angemacht worden; das Zinngeschirr des Wirtshauses, Kannen, Löffel und Gabeln, wurde eingeschmolzen. Man trank inmitten des ganzen Wirrwarrs. Im Billardsaal saßen Mutter Hucheloup, Matelotte und Gibelotte, jede nach ihrer Art vom Schrecken verändert: die eine stumpf, die andere außer Atem, die dritte erheitert; sie zerrissen alte Stoffetzen und zupften Scharpie. Der hochgewachsene Mann, der sich der Truppe an der Ecke der Rue des Billets angeschlossen hatte und den Courfeyrac, Combeferre und Enjolras bemerkt hatten, machte sich an der kleineren Barrikade nützlich. Gavroche arbeitete an der größeren mit. Was den jungen Mann betrifft, der Courfeyrac in seinem Hause erwartet und nach Marius befragt hatte, so war er ungefähr in dem Augenblick, als der Omnibus umgerissen wurde, verschwunden.

Gavroche war begeistert. Fieberhaft arbeitete er mit. Er lief hin und her, sprang bald von der Barrikade herunter, stieg wieder hinauf, tobte und lachte. Er feuerte die Trägen an, ließ den Nichtstuern keine Ruhe, fiel den Nachdenklichen auf die Nerven, belustigte die einen, machte die andern wütend, ärgerte einen Studenten, brachte einen Arbeiter in Rage.

»Vorwärts«, schrie er, »Pflastersteine her! Fässer! Alles, was es gibt! Einen Bottich Schutt, um dieses Loch da zu verstopfen. Uff, eure Barrikade ist zu klein! Sie muß höher werden! Schmeißt alles drauf, was ihr findet! Reißt diese alte Baracke da ein! Für eine Barrikade kann man alles brauchen. Seht doch, die Glastür!«

Einige der Arbeiter erhoben Einspruch.

»Eine Glastür? Was soll man denn mit einer Glastür anfangen, du Dreikäsehoch?«

»Eine Glastür paßt sehr gut zu einer Barrikade«, antwortete Gavroche. »Sie hindert nicht, daß man angegriffen wird, aber sie stört den, der sie stürmen will. Ihr habt wohl nie in einem Garten Äpfel geklaut, dessen Mauern mit Glasscherben besteckt waren? Eine Glastür, die wird den Nationalgardisten, wenn sie die Barrikade hinaufsteigen wollen, gehörig die Hühneraugen operieren! Aber euch läßt natürlich wieder die Phantasie im Stich!«

Im übrigen war er untröstlich, daß seine Pistole keinen Hahn hatte.

»Ein Gewehr! Ich will ein Gewehr! Warum gibt man mir keines?«

»Dir ein Gewehr?« fragte Combeferre.

»Warum nicht?« meinte Gavroche, »1830 habe ich auch eines gehabt, als wir mit Karl X. ein Hühnchen zu rupfen hatten.«

Enjolras zuckte die Achseln.

»Wenn alle Männer eines haben, bekommen auch die Kinder welche ab.«

Gavroche wandte sich stolz ab und antwortete:

»Wenn du vor mir fällst, nehm ich deines.«


Der Rekrut aus der Rue des Billets

Schon war es tiefe Nacht. Aber es ereignete sich nichts. Wohl hörte man verworrenen Lärm und zuweilen das Knattern der Gewehre, aber aus der Ferne. Dieser Aufschub bewies, daß die Regierung ihre Kräfte sammelte. Die fünfzig mußten sich auf sechzigtausend Feinde gefaßt machen.

Enjolras empfand diese Ungeduld vor dem Ereignis, die den starken Seelen bekannt ist. Er suchte Gavroche auf, der in das Gastzimmer gegangen war, um im spärlichen Licht zweier Kerzen am Kugelgießen teilzunehmen. Viel Licht durfte nicht gebrannt werden, um in den oberen Stockwerken dem Gegner kein Ziel zu geben.

Doch war die Aufmerksamkeit Gavroches nicht gerade den Kugeln gewidmet.

Der Mann aus der Rue des Billets war eingetreten und hatte sich an den Tisch gesetzt. Er hielt sein Gewehr zwischen den Beinen. Gavroche, von tausend anderen amüsanten Dingen abgelenkt, hatte ihn bisher wenig beachtet.

Wer indessen den Mann studiert hätte, dem wäre ohne Zweifel aufgefallen, daß er nicht nur die Erbauung der Barrikade, sondern auch die einzelnen Insurgenten mit seltsamer Aufmerksamkeit betrachtete; jetzt allerdings, im Gastzimmer, schien er sich zu erholen und die Vorgänge ringsum wenig zu beachten. Der Straßenjunge näherte sich dem Unbekannten und schlich auf den Zehenspitzen, als ob er ihn nicht aufwecken wollte, herbei. Plötzlich zeigte sein Gesicht zwei Falten, die Staunen und Verwunderung ausdrückten.

Er hatte etwas gesehen.

In diesem Augenblick trat Enjolras ein.

»Sehen Sie den Großen da?« fragte Gavroche leise.

»Nun?«

»Das ist ein Spitzel.«

Enjolras trat zur Seite und sprach einige Worte mit einem Hafenarbeiter, der in der Ecke stand. Der ging hinaus und kam gleich darauf mit drei anderen zurück. Die vier Lastträger, breitschultrige Kerle, stellten sich hinter dem Tisch auf. Sie sahen aus, als ob sie sich sofort auf den Mann aus der Rue des Billets stürzen wollten.

Enjolras trat auf ihn zu.

»Wer sind Sie?«

Der Mann fuhr auf. Er bohrte seinen Blick in Enjolras’ klare Augen und schien seinen Gedanken erraten zu haben. Dann lächelte er verächtlich und entschlossen zugleich.

»Ich sehe schon, was los ist«, sagte er. »Nun gut, ja.«

»Sind Sie ein Spitzel?«

»Ich bin Polizeiagent.«

»Sie heißen?«

»Javert.«

Enjolras gab den vier Männern ein Zeichen.

Man band Javert die Arme auf den Rücken und fesselte ihn an den Pfeiler der Gaststube.

Gavroche hatte die Szene schweigsam und mit dem Kopfe nickend verfolgt. Jetzt trat er zu Javert und sagte:

»Die Maus hat die Katze gefangen.«

Javert bewahrte die unerschrockene Ruhe eines Mannes, der nie gelogen hat.

»Er ist ein Spitzel«, erklärte Enjolras Courfeyrac, Bossuet und Joly, die herbeigeeilt waren. Und zu Javert gewendet, fuhr er fort:

»Sie werden zehn Minuten vor der Erstürmung der Barrikade erschossen.«

»Warum nicht gleich?« fragte Javert stolz.

»Wir sparen Munition.«

»Dann erledigen Sie die Sache mit dem Messer.«

»Spitzel«, sagte Enjolras, »wir sind Richter und nicht Mörder!«

Zehntes Buch
Die Großtaten der Verzweiflung

Von der Rue Plumet ins Quartier Saint-Denis

Die Stimme, die Marius in der Dunkelheit zur Barrikade gerufen hatte, war ihm wie ein Befehl des Schicksals erschienen. Er wollte sterben – schon bot sich die Gelegenheit. Er klopfte an das Tor des Grabes, eine Hand aus dem Schattenreich warf ihm den Schlüssel zu.

Rasch lief er weg. Zufällig war er bewaffnet, denn er hatte Javerts Pistolen bei sich.

Marius bog aus der Rue Plumet in den Boulevard ein, überquerte die Esplanade und die Invalidenbrücke, die Champs Elysées und den Platz Ludwigs XV. So erreichte er die Rue de Rivoli. Die Läden waren geöffnet, in den Arkaden brannte Licht. Frauen erledigten ihre Einkäufe, Gäste löffelten Eis im Café Laiter und aßen kleine Kuchen in der Pâtisserie Anglaise. Vom Hôtel Meurice fuhren Postkutschen in vollem Galopp ab.

Marius ging durch die Passage Delorme in die Rue Saint-Honoré. Hier waren die Läden geschlossen, die Krämer standen vor den halboffenen Türen und debattierten; doch brannten die Straßenlaternen, und in den Fenstern war, wie gewöhnlich, Licht. Auf dem Platz des Palais-Royal stand Kavallerie.

Je weiter sich Marius vom Palais-Royal entfernte, um so weniger beleuchtete Fenster fand er. Hier waren alle Läden geschlossen, doch zeigten sich viele Menschen auf der Straße. Man sah niemand sprechen, aber ein dumpfes Stimmengewirr war zu vernehmen.

Am Eingang der Rue des Prouvaires staute sich die Menge. Man sah Gewehrpyramiden, Bajonette, biwakierende Soldaten. Hier hörte aller Verkehr auf. Hier herrschte die Armee.

Marius zwängte sich mit der Entschlossenheit eines Verzweifelten durch die Menge und drang vor. Man rief ihn an, aber er ging weiter. Quer durch das Nachtlager der Soldaten, auf einem Umweg, erreichte er endlich die Rue de Béthisy und näherte sich den Hallen. Hier gab es längst keine Laternen mehr. Er durchschritt jetzt gewissermaßen den Bannkreis der Truppen. Hier begegnete er weder Soldaten noch Zivilisten. Alles lag in tiefster Einsamkeit. Ihn schauerte vor Kälte. In eine Straße eindringen hieß in einen Keller hinabsteigen.

Jetzt kamen Laufende an ihm vorbei. Waren es Männer, Frauen? Bevor er etwas gesehen hatte, war alles vorüber.

Endlich gelangte er zu einem Gäßchen, das er für die Rue de la Poterie hielt. In der Mitte stieß er auf ein Hindernis. Er streckte die Arme aus.

Es war ein umgestürzter Karren. Eine von den Erbauern wieder verlassene Barrikade. Marius überstieg sie. Als er in die Rue du Contrat social gelangte, pfiff eine Gewehrkugel an seinem Kopf vorbei und blieb in einem kupfernen Barbierbecken stecken.

Dieser Schuß war das einzige Lebenszeichen, das er empfing. Von da an sah und hörte er nichts mehr.

Und doch ging Marius weiter in die Finsternis hinein.


Knapp vor dem Ziel

Marius erreichte die Markthallen. Hier herrschte Totenstille und vollkommene Finsternis. Eisige Ruhe des Grabes schien aus der Erde aufgestiegen zu sein. Ein roter Schimmer hob die Silhouette der Dächer vom Hintergrunde ab. Das war der Widerschein der Fackeln, die auf der Barrikade des »Corinthe« brannten. Dahin lenkte Marius seine Schritte. Die Schildwache der Insurgenten in der Rue des Prêcheurs bemerkte ihn nicht. Er fühlte, daß er dem Ziele nahe war, und schlich auf den Fußspitzen weiter. Er erreichte die Rue Mondétour, die einzige Verbindung mit der Außenwelt, die Enjolras offengelassen hatte.

Jetzt konnte er hinter einer formlosen Wand schimmernde Windlichter und Männer sehen, die, das Gewehr auf den Knien, dasaßen. Das war die Innenseite der Barrikade. Nun hatte Marius nur mehr einen Schritt zu tun.

Aber der unglückliche junge Mann setzte sich auf einen Stein, kreuzte seine Arme und begann nachzudenken. Er dachte an seinen Vater, der ein so stolzer Soldat gewesen war und die Grenzen der Republik verteidigt, später unter dem Kaiser Genua, Alessandria, Mailand, Turin, Madrid, Wien, Dresden, Berlin und Moskau gesehen hatte. Auf all den Schlachtfeldern Europas hatte er Tropfen jenes Blutes verspritzt, das auch er, Marius, in seinen Adern fühlte.

Nun war auch für ihn der Tag herangekommen, da er unerschrocken, kühn und tapfer sein sollte, den Kugeln Widerstand leisten, seine Brust den Bajonetten darbieten, sein Blut vergießen, den Tod suchen mußte. Aber sein Schlachtfeld war die Straße, und der Krieg, den er führen würde, war der Bürgerkrieg.

Aber was bedeutete dieses Wort Bürgerkrieg? Gibt es einen Krieg gegen Fremde? Ist nicht jeder Krieg zwischen Menschen ein Bruderkrieg? Nur der Zweck rechtfertigt den Kampf, und darum gibt es diese Unterscheidung nicht: Krieg gegen den Feind, Krieg gegen den Mitbürger. Es gibt nur ungerechten Krieg und gerechten. Bis zu dem Tag, da der große Bund aller Menschen geschlossen ist, wird jeder Kampf für die Zukunft und gegen die Vergangenheit, die nicht weichen will, notwendig sein. Wer darf einen solchen Kampf tadeln? Schändlich ist nur der Krieg, in dem der Degen wider das Recht, den Fortschritt, die Wahrheit, die Zivilisation streitet. Ob Krieg nach innen oder außen, ein solcher Krieg ist immer verächtlich, immer ein Verbrechen.

Von Saint-Merry herüber schlug es zehn Uhr.

Enjolras und Combeferre saßen, den Karabiner in der Hand, bei der Lücke der großen Barrikade. Sie sprachen nicht, sie lauschten nur, ob nicht ein dumpfes Geräusch aus der Ferne den Anmarsch des Gegners verkünde.

Plötzlich hörten sie laute Schritte. Jemand kletterte wie ein Clown über den umgestürzten Omnibus – und atemlos sprang Gavroche herunter.

»Mein Gewehr«, schrie er, »sie kommen!«

Gleichzeitig tauchten auch die Schildwachen auf, die in der Rue de la Petite-Truanderie ausgestellt waren.

Allsogleich war jeder auf seinem Posten.

Dreiundvierzig Insurgenten, unter denen sich Enjolras, Combeferre, Courfeyrac, Bossuet, Joly, Bahorel und Gavroche befanden, knieten auf der großen Barrikade und hielten ihre Gewehre schußbereit. Sechs andere hatten sich unter dem Kommando Feuillys an den Fenstern des »Corinthe« postiert und hielten das Gewehr an der Wange.

So vergingen einige Augenblicke. Endlich verkündete das Geräusch vieler schwerer Schritte von Saint-Leu herüber, daß der Feind anmarschierte.

Es schwoll an, kam langsam und ohne Pause näher, gleichmäßig und furchtbar. Nichts anderes war zu hören. Es war, als ob eine Statue aus Stein näher stampfe. Plötzlich wurde es still. Es war, als ob man den Atem der Tausende hörte. Doch sah man immer noch nichts, konnte nur in der Dunkelheit ganz schwach das metallische Schimmern der Bajonette und Gewehrläufe im Widerschein der Fackeln erkennen.

Eine kurze Zeit verstrich. Beide Parteien schienen zu warten. Jetzt gellte aus der Finsternis, doppelt unheimlich, da man den Rufer nicht sah, eine Stimme auf:

»Wer da?«

Und zugleich hörte man, wie die Gewehre schußbereit gemacht wurden.

»Die französische Revolution!« rief Enjolras mit einer Stimme, die vor Stolz zitterte.

»Feuer!«

Ein Blitz erhellte die Fassaden der Straße für einen Moment. Gleich darauf ein furchtbarer Krach. Die rote Fahne fiel. Die Salve war so dicht gewesen, daß die Deichsel des Omnibusses, die als Fahnenstange diente, zersplitterte.

»Kameraden!« schrie Courfeyrac, »verschwendet nicht die Munition! Schießt erst, wenn sie vordringen!«

»Zuerst müssen wir die Fahne wieder aufrichten!« rief Enjolras.

Man hörte das Geräusch des Ladens vieler Gewehre.

»Wer hat hier Mut?« fragte Enjolras, »wer will die Fahne wieder aufpflanzen?«

Keiner antwortete. In diesem Augenblick, eben vor der zweiten Salve, auf die Barrikade hinaufzusteigen, bedeutete den unzweifelhaften Tod. Selbst der Tapferste zögert, sich dem sichersten Tod auszuliefern. Auch Enjolras zitterte.

»Meldet sich keiner?« fragte er noch einmal.


Die Fahne

Seit die Insurgenten »Corinthe« besetzt hatten und die Barrikade aufrichteten, hatte keiner mehr auf Vater Mabeuf geachtet. Der Greis war aber bei der Truppe verblieben. Er hatte sich im Gästezimmer des ersten Stockwerks neben den Ladentisch gesetzt. Wie vernichtet blieb er hier sitzen. Er schien weder auf die andern zu achten noch zu denken. Courfeyrac und die andern hatten ihn zwei- oder dreimal angeredet, hatten ihm die Gefahren auseinandergesetzt und geraten, sich zurückzuziehen, aber er schien nicht darauf zu hören. Achtete man nicht auf ihn, so bewegte er die Lippen, als ob er spräche, richtete man aber das Wort an ihn, so schwieg er, und seine Augen waren wie die eines Toten. Einige Stunden vor dem Angriff hatte er diese Stellung eingenommen, in der er noch immer dasaß, beide Fäuste auf die Knie gestützt, den Kopf vorgeneigt, als ob er in einen Abgrund schaue. Nichts konnte ihn aus dieser Haltung aufscheuchen. Als alle an ihren Platz eilten, um zu kämpfen, war er mit Javert und einem Wachtposten allein zurückgeblieben. Erst der gewaltige Krach der ersten Salve schien ihn zu wecken. Er stand jäh auf, eilte hinaus, und als Enjolras seine Frage wiederholte: »Meldet sich keiner?«, erschien er auf der Schwelle. Sein Auftauchen machte großen Eindruck.

»Das Konventsmitglied! Der Abgeordnete!« wurde gerufen.

Wahrscheinlich hörte er diese Rufe nicht. Mit einer fast religiösen Scheu traten die andern beiseite, während er auf Enjolras zutrat, die Fahne ergriff und mit zitterndem Kopf, aber festem Schritt die Barrikade erstieg.

Jetzt war er auf der Höhe der Barrikade angelangt. Es war, als ob der Geist von 1793 aus dem Grabe auferstanden wäre und die Fahne der Revolution wieder entfaltete. Er rief:

»Es lebe die Revolution! Es lebe die Republik! Brüderlichkeit! Gleichheit! Freiheit und Tod!«

Vom Feinde herüber hörte man jetzt ein leises Murmeln. Es klang, als ob ein Priester hastig ein Gebet hersage. Offenbar war es der Polizeikommissar, der nach der Vorschrift des Gesetzes die formale Aufforderung zur Übergabe an die Revolutionäre richtete.

Wieder wurde gerufen:

»Zurück!«

Vater Mabeuf schwang seine Fahne und wiederholte:

»Es lebe die Republik!«

»Feuer!«

Der Greis fiel auf die Knie, richtete sich noch einmal auf, die Fahne fiel aus seiner Hand, dann stürzte er rücklings, steif wie ein Brett, zu Boden.

Eine jener Regungen, die sogar den Selbsterhaltungstrieb ausschalten, bemächtigte sich der Insurgenten, sie traten in ehrfürchtiger Rührung zu dem Toten.

»Was waren das doch für Menschen, diese Königsmörder von damals!« rief Enjolras.

Courfeyrac beugte sich zu ihm herab.

»Unter uns gesagt, ich möchte die Begeisterung nicht trüben, aber der Alte war alles andere als ein Königsmörder. Ich kannte ihn. Er hieß Vater Mabeuf. Was heute mit ihm los war, weiß ich nicht, sonst war er ein braver Philister. Sieh doch den Kopf an.«

»Das Gesicht eines Philisters, aber das Herz eines Brutus«, antwortete Enjolras.

Er beugte sich über den Toten und küßte seine Stirn. Dann zog er ihm vorsichtig, als ob er ihm weh zu tun fürchte, den Rock aus, zeigte den Leuten die blutigen Risse und sagte:

»Das ist jetzt unsere Fahne!«


Gavroche hätte lieber Enjolras’ Karabiner annehmen sollen

Man breitete einen schwarzen Schal der Witwe Hucheloup über Mabeuf. Sechs Mann machten aus ihren Gewehren eine Bahre und trugen ihn barhäuptig und in feierlicher Langsamkeit in die Gaststube.

Als sie den Toten an Javert vorübertrugen, der noch immer seine Ruhe bewahrte, sagte Enjolras:

»Du kommst jetzt gleich dran!«

Der kleine Gavroche war allein auf der Barrikade geblieben, um den Feind zu beobachten. Ihm schien, die Gegner schlichen leise näher.

»Vorsicht!« schrie er plötzlich.

Alle stürzten hinaus: Courfeyrac, Enjolras, Jean Prouvaire, Combeferre, Joly, Bahorel, Bossuet. Es war auch höchste Zeit. Knapp vor der Barrikade sah man die Bajonette des Feindes. Hochgewachsene Munizipalgardisten kletterten auf den Omnibus, andere drängten den Straßenjungen, der sich zurückzog, aber nicht floh, aus seiner Lücke.

Es war ein kritischer Augenblick.

In der nächsten Sekunde konnte die Barrikade verloren sein.

Bahorel stürzte sich auf den ersten Munizipalgardisten und schoß ihn nieder. Ein zweiter stach Bahorel mit dem Bajonett in die Brust. Ein anderer hatte Courfeyrac, der um Hilfe schrie, zu Boden geworfen. Ein Ungeheuer von Gardist trieb Gavroche mit dem Bajonett vor sich her. Der Junge hob mit seinen schwachen Armen Javerts gewaltiges Gewehr, zielte kühn auf den Riesen und drückte ab. Aber – Javert hatte nicht geladen. Der Gardist lachte laut und holte zum Stoß aus.

Bevor das Bajonett Gavroche berührte, fiel dem Soldaten das Gewehr aus der Hand. Ein Schuß hatte ihn in die Stirne getroffen, er fiel auf den Rücken. Eine zweite Kugel streckte den andern Gardisten nieder, der Courfeyrac zu Fall gebracht hatte. Es war Marius, der auf der Barrikade erschien.

Jetzt war Marius unbewaffnet: nachdem er die beiden Pistolen verschossen hatte, warf er sie von sich. Aber im selben Augenblick bemerkte er in der Tür der Gaststube ein Pulverfaß.

Er wandte sich eben halb um, als ein Soldat auf ihn anlegte. Im selben Augenblick griff eine Hand nach der Mündung des Gewehrlaufs. Der junge Arbeiter in Samthosen war wieder aufgetaucht. Die Kugel ging los, durchbohrte die Hand, erreichte aber Marius nicht. Inmitten des Pulverdampfs konnte man alles nur flüchtig übersehen. Schon war Marius in die Tür getreten. Die verblüfften Insurgenten sammelten sich. Enjolras schrie:

»Halt, nicht blind schießen!«

In der Tat wäre es bei der allgemeinen Verwirrung möglich gewesen, daß die Leute aufeinander schossen. Die meisten hatten sich bereits an die Fenster des ersten Stockwerks zurückgezogen und bedrohten von dort die Angreifer.

Alles geschah ohne Überstürzung, mit seltsamer Ruhe. Jetzt waren beide Parteien schußbereit. Man stand einander auf Rufweite gegenüber. In dem Augenblick, als geschossen werden sollte, erhob ein Offizier mit großen Epauletten den Degen und rief:

»Ergebt euch!«

»Feuer!« rief Enjolras.

Beide Parteien schossen gleichzeitig. Alles tauchte in dem Pulverdampf unter. Stöhnen und Schreien von Verwundeten und Sterbenden wurde laut.

Als der Rauch sich verzog, sah man auf beiden Seiten die Kämpfer dabei, ihre Waffen neu zu laden.

Im selben Augenblick schrie eine Stimme:

»Zurück, oder die Barrikade fliegt in die Luft!«

Marius hatte das Pulverfaß hervorgeholt und im Schutz des Rauches bis zu der Stelle geschleppt, wo die Fackeln brannten. Dann hatte er die Fackel ergriffen, das Faß eingeschlagen und drohte jetzt alles in die Luft zu sprengen.

»Zurück, oder die Barrikade fliegt in die Luft!«

Nach dem Greis war Marius die zweite Heldengestalt der jungen Revolution.

»Du fliegst selber auch in die Luft!« schrie ein Sergeant.

»Ich auch«, antwortete Marius.

Und er näherte die Fackel dem Faß.

Schon war niemand mehr auf der Barrikade. In wilder Flucht zogen sich die Angreifer zurück, ohne ihre Toten und Verwundeten mitzunehmen. Schon waren sie im Dunkel der Nacht verschwunden. Es hieß: »Rette sich, wer kann!«

Die Barrikade war vom Feinde gesäubert.


Tod des Dichters Jean Prouvaire

Alle umringten Marius. Courfeyrac fiel ihm um den Hals. »Da bist du ja!«

»Das ist wirklich ein Glück, daß du gekommen bist!« rief Courfeyrac.

»Und im rechten Augenblick!« rief Bossuet.

»Ohne dich wäre ich schon tot«, erklärte Courfeyrac.

»Und ich hätte auch einen kalten Hintern«, erklärte Gavroche.

»Wo ist euer Führer?« fragte Marius.

»Du bist es«, erwiderte Enjolras.

Die Angreifer verhielten sich jetzt ruhig. Vielleicht warteten sie auf neue Befehle oder Verstärkung. Die Revolutionäre stellten wieder Schildwachen aus, und einige, Studenten der Medizin, machten sich daran, die Verwundeten zu verbinden.

Plötzlich aber verdüsterte eine bestürzende Entdeckung die allgemeine Freude über die befreite Barrikade.

Es wurde zum Appell gerufen. Einer der Revolutionäre fehlte. Es war einer der wertvollsten, einer der kühnsten: Jean Prouvaire. Man suchte ihn unter den Verwundeten, unter den Toten, aber er war nicht da. Offenbar war er gefangen worden.

Combeferre sagte zu Enjolras:

»Sie haben unseren Freund, wir haben ihren Agenten. Liegt dir was daran, daß der Spitzel umgebracht wird?«

»Ja, aber Jean Prouvaires Leben ist mir lieber.«

»Gut, dann binde ich mein Taschentuch an mein Gewehr, gehe als Parlamentär hinüber und schlage ihnen einen Tausch vor.«

»Horch!« rief Enjolras und legte seine Hand auf Combeferres Arm.

Von drüben klang ein Waffenklirren herüber. Dann hörte man eine Männerstimme rufen:

»Es lebe Frankreich! Es lebe die Zukunft!«

Ein Aufblitzen, ein Krach, Schweigen.

»Sie haben ihn erschossen!« rief Combeferre.

Enjolras wandte sich zu Javert:

»Deine Freunde haben dein Urteil gesprochen.«


Der Todeskampf

Eine Besonderheit dieser Art von Krieg besteht darin, daß die Barrikaden fast immer von vorne angegriffen werden. Die Angreifer vermeiden es zumeist, die gegnerischen Stellungen zu umgehen, da sie einen Hinterhalt fürchten. Nur ungern dringen sie in winkelige Seitengassen ein. Darum war auch alle Aufmerksamkeit der Revolutionäre auf die Hauptbarrikade gerichtet, die ja am meisten bedroht war und auf der der Endkampf stattfinden mußte. Nur Marius dachte an die kleine Barrikade und ging dahin. Sie lag vollkommen verlassen da und war nur von einem Lampion bewacht, der sein zitterndes Licht auf das Pflaster warf. Die Rue Mondétour lag in tiefer Stille da.

Nachdem Marius sich davon überzeugt hatte, wollte er auf die Barrikade zurückkehren. Plötzlich hörte er in der Dunkelheit leise seinen Namen rufen.

»Herr Marius!«

Es war dieselbe Stimme, die er vor kaum zwei Stunden in der Rue Plumet gehört hatte. Doch klang sie jetzt nur mehr wie ein Hauch. Er blickte um sich, sah aber nichts. Schon glaubte er sich getäuscht zu haben, als dieselbe Stimme wieder rief. Diesmal konnte er nicht irren.

»Zu Ihren Füßen!« flüsterte die Stimme.

Er blickte zu Boden und sah eine Gestalt, die sich mühsam auf der Erde näher bewegte. Der schwache Schein des Lampions ließ ihn eine Arbeiterbluse, zerrissene Samthosen, bloße Füße und eine Blutlache erkennen. Jetzt tauchte ein blasses Gesicht auf.

»Erkennen Sie mich nicht?«

»Nein.«

»Eponine.«

Marius beugte sich lebhaft vor. Es war in der Tat das unglückliche Mädchen. Sie hatte sich als Mann verkleidet.

»Wie kommen Sie hierher? Was tun Sie hier?«

»Ich sterbe.«

Es gibt Worte und Ereignisse, die uns selbst in tiefster Niedergeschlagenheit wachrufen. Marius fuhr auf.

»Sie sind verwundet! Warten Sie, ich trage Sie in das Gastzimmer! Man wird Sie verbinden. Ist es eine schwere Verwundung? Wie muß ich Sie anfassen, um Ihnen nicht weh zu tun? Mein Gott, warum sind Sie hierhergekommen?«

Er wollte sie in seine Arme nehmen, um sie aufzuheben.

Sie schrie leise auf.

»Habe ich Ihnen weh getan?« fragte er.

»Etwas.«

Jetzt sah er ihre Hand und gewahrte in der Mitte ein schwarzes, blutiges Loch.

»Was haben Sie da?«

»Durchschossen.«

»Aber wieso?«

»Haben Sie gesehen, wie ein Soldat auf Sie anlegte?«

»Ja, ich sah auch die Hand vor der Mündung.«

»Es war meine.«

Marius fuhr zusammen.

»Armes närrisches Kind! Aber diese Wunde ist nicht gefährlich, wir können von Glück sagen! Ich werde Sie auf das Bett tragen. Man wird Sie verbinden. An einer durchschossenen Hand stirbt man nicht.«

»Die Kugel ist durch die Hand gegangen, hat den Körper durchbohrt und ist im Rücken wieder herausgekommen, es hat keinen Sinn, daß Sie mich forttragen. Aber ich will Ihnen sagen, wie Sie mich besser verbinden können als der Wundarzt. Setzen Sie sich hier auf diesen Stein.«

Er gehorchte. Sie legte ihren Kopf auf seine Knie und sagte:

»Jetzt ist mir gut, ich habe keine Schmerzen mehr.«

Einen Augenblick lang schwieg sie, dann sah sie Marius an.

»Wissen Sie auch, Herr Marius, es tat mir weh, daß Sie in diesen Garten gingen. Es war dumm. Ich selbst hatte Ihnen doch dieses Haus gezeigt, und schließlich mußte ich mir doch sagen, daß ein junger Mann wie Sie …«

Sie zögerte, dann fuhr sie mit herzzerreißendem Lächeln fort:

»Sie fanden mich häßlich, nicht wahr? Ach, auch Sie sind verloren. Hier kommt niemand mit dem Leben davon. Und ich habe Sie hierhergeführt! Auch Sie sterben hier, das weiß ich wohl. Und doch habe ich, als einer auf Sie anlegte, meine Hand vor die Mündung des Gewehrs gehalten. Dann bin ich hierhergekrochen. Ich erwartete Sie. Immer dachte ich: kommt er denn nicht? Wenn Sie wüßten, wie weh es tat! Ich biß in meine Bluse vor Schmerz. Jetzt aber ist mir wohl. Erinnern Sie sich noch an den Tag, als ich in Ihr Zimmer kam und mich in Ihrem Spiegel besah? Und dann an den Tag, an dem ich Sie auf dem Boulevard traf, wie die Vögel damals sangen! Sie gaben mir fünf Franken, aber ich wollte Ihr Geld nicht. Haben Sie die Münze wenigstens aufgehoben? Sie sind nicht reich. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, Sie sollten sie aufheben. Es war sehr schönes Wetter damals, und man fror nicht. Erinnern Sie sich? Oh, ich bin glücklich, denn jetzt sterben wir alle.«

Schmerzlich bewegt betrachtete Marius das unglückliche Geschöpf.

»Ach«, stöhnte sie jetzt, »es fängt wieder an. Ich ersticke!«

Sie biß in ihre Bluse, und ihre Beine streckten sich aus.

Sie hielt ihr Gesicht nahe an Marius’ Kopf.

»Hören Sie«, sagte sie, »ich will Sie nicht betrügen. Ich habe einen Brief für Sie in der Tasche, seit gestern schon. Jemand hat mich gebeten, ihn zur Post zu bringen. Ich habe ihn aber behalten. Ich wollte nicht, daß dieser Brief sie erreicht.«

Krampfhaft griff sie nach Marius’ Hand. Er fühlte in ihrer Tasche den Brief.

»Nehmen Sie ihn«, sagte sie.

Jetzt schien sie befriedigt.

»Und versprechen Sie mir …«

»Was?«

»Versprechen Sie es mir!«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Sie sollen mich auf die Stirn küssen, wenn ich tot bin. Ich werde es fühlen.«

Sie ließ den Kopf auf seine Knie zurückfallen, und ihre Augenlider schlossen sich. Nach einiger Zeit blickte sie wieder auf und sagte in einem Ton, dessen sanfter Klang aus einer anderen Welt zu kommen schien:

»Wissen Sie, Herr Marius, ich glaube fast, ich war ein wenig verliebt in Sie.«

Noch einmal versuchte sie zu lächeln, dann starb sie.


Gavroche als Berechner von Entfernungen

Später erst, in der Gaststube, las Marius den Brief. Er war gerichtet »an Herrn Marius Pontmercy, bei Herrn Courfeyrac, Rue de la Verrerie Nr. 16« und lautete folgendermaßen:

»Mein Geliebter, ach, Vater will, daß wir sofort abreisen. Heute abend werden wir nach der Rue de l’Homme Armé Nr. 7 übersiedeln. In acht Tagen sind wir in London.

4. Juni

Cosette.«

Eponine hatte alles bewerkstelligt. Von irgendeinem jungen Burschen, der es amüsant fand, sich als Mädchen zu verkleiden, erhielt sie ein Gewand. Sie war es gewesen, die Jean Valjean auf dem Champ de Mars ausfindig machte und ihm diese Warnung zusteckte: »Umziehen!« In der Tat war Jean Valjean sofort nach Hause gegangen und hatte zu Cosette gesagt: »Wir ziehen heute aus und gehen mit Toussaint nach der Rue de l’Homme Armé. Wir müssen binnen einer Woche in London sein.«

In ihrem Kummer hatte Cosette sofort zwei Zeilen an Marius geschrieben. Aber wie sollte sie den Brief zur Post bringen? Sie ging nie allein aus, und Toussaint hätte, über einen derartigen Auftrag erstaunt, das Schreiben Herrn Fauchelevent gezeigt. Noch schwankte sie, da bemerkte sie am Gitter die als Mann verkleidete Eponine, die unaufhörlich den Garten umschlich. Cosette hatte »diesen jungen Arbeiter« herbeigerufen, hatte ihm fünf Franken gegeben und gebeten, er solle den Brief bestellen. Sofort hatte Eponine den Brief in die Tasche gesteckt. Am Morgen des 5. Juni war sie zu Courfeyrac gegangen, um Marius zu suchen. Das tat sie nicht, um ihm etwa den Brief zu bringen, sondern – was jeder Eifersüchtige begreifen wird – um ihn zu sehen. Sie hatte Marius oder wenigstens Courfeyrac abgepaßt. Als er ihr sagte, daß er zu den Barrikaden eile, war ihr ein Gedanke gekommen. Sie war gewiß, daß Marius in seiner Verzweiflung dem Ruf seiner Freunde gern folgen würde, und beschloß, ihn zu der Barrikade zu locken. Ihre Rechnung erwies sich als richtig. So war auch sie nach der Rue de la Chanvrerie zurückgekehrt und mit der tragischen Freude im Herzen gestorben, daß nun auch keine andere Marius gewinnen würde.

Er bedeckte jetzt Cosettes Brief mit Küssen. Sie liebte ihn also doch! Einen Augenblick dachte er, nun sei es sinnlos, zu sterben. Gleich darauf aber fiel ihm ein, daß sie ja verreise. Ihr Vater nahm sie nach England mit, und sein Großvater weigerte sich, in diese Ehe einzuwilligen. Das Schicksal war unabänderlich.

Jetzt, dachte er, blieben ihm nur noch zwei Pflichten zu erfüllen. Er mußte Cosette von seinem Tode benachrichtigen und Thénardiers Sohn, den Bruder Eponines, retten.

Er hatte sein Portefeuille bei sich. Rasch riß er ein Blatt heraus und schrieb mit dem Bleistift folgende Zeilen:

»Wir können nicht heiraten. Ich habe meinen Großvater darum gebeten, aber er hat meine Bitte abgewiesen. Ich besitze nichts, und auch du bist arm. Sofort bin ich zu dir geeilt, habe dich aber nicht mehr gefunden. Du weißt, daß ich dir mein Ehrenwort gegeben habe, und ich halte es. Ich liebe dich und will sterben. Wenn du diese Zeilen liest, wird meine Seele bei dir sein und dir zulächeln.«

Er faltete das Blatt zusammen, griff nach dem Portefeuille und schrieb auf das erste Blatt:

»Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meinen Leichnam zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6.«

Dann steckte er das Portefeuille in die Tasche und rief Gavroche.

»Willst du mir einen Dienst tun?«

»Jeden beliebigen.«

»Nimm diesen Brief, verlasse sofort die Barrikade und bring ihn morgen früh an seine Adresse.«

»Aber inzwischen kann die Barrikade verlorengehen!«

»Allem Anschein nach wird die Barrikade heute nicht mehr angegriffen. Vor morgen mittag wird sie auch nicht fallen.«

In der Tat schienen die Belagerer denen in der Barrikade eine längere Frist zu geben. Solche Unterbrechungen sind im Straßenkampf bei Nacht üblich.

»Wenn ich aber Ihren Brief morgen früh besorge?«

»Das wird zu spät sein. Wir werden gewiß umstellt, morgen früh kann keiner mehr heraus noch herein. Geh gleich.«

Gavroche fand keine Antwort und kratzte sich unschlüssig hinterm Ohr. Plötzlich schien er mit sich einig zu werden.

»Gut«, sagte er.

Und er lief zur Rue Mondétour.

Ein Gedanke, den er nicht geäußert hatte, um nicht Marius’ Widerspruch zu erregen, hatte seinen Entschluß reifen lassen. Es war noch nicht Mitternacht. Die Rue de l’Homme Armé war nicht weit. Er konnte den Brief bestellen und noch im Schutz der Dunkelheit zurückkehren.

Elftes Buch
Die Rue de l’Homme Armé

Das verräterische Löschblatt

Am Abend desselben 5. Juni war Jean Valjean mit Cosette und Toussaint nach der Rue de l’Homme Armé verzogen.

Cosette hatte das Haus in der Rue Plumet nicht widerstandslos verlassen. Zum erstenmal hatte sie ihren Willen dem Jean Valjeans entgegengesetzt, hatte sich nicht gewehrt, aber widersprochen. Doch war der Greis unbeugsam geblieben. Der Rat eines Unbekannten, er solle umziehen, hatte tief auf ihn gewirkt. Cosette mußte sich seinem Willen unterwerfen.

Beide waren schweigend in der Rue de l’Homme Armé eingezogen, jeder von besonderen Gedanken in Anspruch genommen. Jean Valjean war so unruhig, daß er die Traurigkeit Cosettes nicht bemerkte, Cosette so traurig, daß sie Jean Valjeans Unruhe nicht gewahrte.

Die neue Wohnung in der Rue de l’Homme Armé lag in einem Hinterhof, im zweiten Stock, und bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Speisezimmer, einer Küche und einer Kammer mit einem Gurtbett für Toussaint. Das Speisezimmer diente zugleich als Vorraum und trennte die beiden Schlafzimmer.

Kaum war Jean Valjean in der Rue de l’Homme Armé eingezogen, als seine Angst wich. Übrigens haben stille Aufenthaltsorte die Eigentümlichkeit, den Geist mechanisch zu beruhigen. Die Einwohner dieser entlegenen Straßen sind friedliche Leute.

Jean Valjean atmete auf. Wer würde ihn hier wiederfinden?

Er schlief ruhig. Die Nacht ist eine gute Ratgeberin und zumal eine Bringerin des Friedens. Am nächsten Morgen erwachte er fast heiter. Er fand das scheußlich eingerichtete Speisezimmer entzückend, rühmte den runden Tisch, das Büfett mit dem Spiegel und den wurmstichigen Lehnstuhl, auf den Toussaint einige Gepäckstücke gelegt hatte. In einem der Koffer lag Jean Valjeans Nationalgardistenuniform.

Cosette hatte sich von Toussaint eine Tasse Bouillon bringen lassen und war am Abend nicht mehr erschienen. Gegen fünf Uhr des nächsten Tages erhielt Toussaint den Auftrag, ein Huhn anzurichten, das Cosette aus Teilnahme für ihren Vater sogar prüfte. Dann schützte sie Migräne vor, sagte Jean Valjean gute Nacht und zog sich zurück. Jean Valjean aß mit Appetit und gewann sichtlich seine Ruhe und Heiterkeit wieder.

Während dieser Mahlzeit hörte er die Berichte Toussaints über die Kämpfe in Paris. Aber er war so sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß er nicht hinhörte.

Während er so im Zimmer auf und ab ging, fiel sein Blick auf etwas Sonderbares. In dem schrägen Spiegel über dem Büfett las er folgende Worte:

»Mein Geliebter, ach, Vater will, daß wir sofort abreisen. Heute abend werden wir nach der Rue de l’Homme Armé Nr. 7 übersiedeln. In acht Tagen sind wir in London.

4. Juni

Cosette.«

Entsetzt blieb Jean Valjean stehen.

Cosette hatte, als sie in die neue Wohnung kam, ihre Schreibmappe mit dem Löschblatt auf das Büfett gelegt und in ihrem Kummer hier liegenlassen, ohne zu bemerken, daß das Löschpapier unter den Spiegel zu liegen kam. Auf dem Blatt war ihr Brief an Marius abgedrückt.

So entstand, was man in der Geometrie ein symmetrisches Bild nennt. Die Schrift, schon auf dem Löschblatt verkehrt, wurde in dem Spiegel in ihre ursprüngliche Form zurückreflektiert.

Der Tatbestand war einfach und doch niederschmetternd.

Jean Valjean las noch einmal die wenigen Zeilen durch, konnte es nicht fassen. Das war unmöglich – er war offenbar das Opfer einer Sinnestäuschung. Etwas Derartiges gab es nicht.

Allmählich wurde es ihm klar. Er sah das Löschpapier an und gewann wieder den Sinn für die Wirklichkeit. Fieberhaft betrachtete er das unverständliche und bizarre Gekritzel, diese sinnlosen Zeichen. Das bedeutet nichts, dachte er, das ist keine Schrift. Und er atmete erleichtert auf. Wer kennt nicht diese unsinnigen Versuche, sich an einen Trost zu klammern, solange nicht alle Illusionen erschöpft sind!

Jetzt hielt er das Löschblatt in der Hand und betrachtete es, sinnlos-glücklich, ja, nahe daran, über die Täuschung, der er zum Opfer gefallen war, zu lachen. Plötzlich fiel sein Blick wieder in den Spiegel, er hatte dieselbe schreckliche Vision wie erst. Mit furchtbarer Klarheit sprangen ihm die Lettern ins Auge.

Taumelnd ließ Jean Valjean das Blatt fallen und warf sich in den alten Lehnstuhl, der neben dem Büfett stand. Es war unwiderruflich wahr, Cosette hatte an jemand geschrieben.

Unter allen Qualen, die ihm sein Schicksal jemals auferlegt hatte, war diese die furchtbarste – er fühlte, wie alle längst vernarbten Wunden in ihm aufbrachen. Ach, die höchste, die einzige Prüfung, die wir zu bestehen haben, ist der Verlust des Gegenstandes unserer Liebe.

Jetzt warf er einen tiefen Blick in sein Inneres, und das Gespenst des Hasses tauchte vor seinem Auge auf.

Toussaint trat ein. Jean Valjean stand auf und fragte:

»Wo ist es denn?«

Toussaint war verblüfft und fand keine Antwort.

»Was denn?« fragte sie nur.

»Haben Sie mir nicht eben erst gesagt, daß in den Straßen gekämpft wird?«

»Ach ja, gnädiger Herr, bei Saint-Merry.«

Es gibt mechanische Regungen, die aus tiefen und sogar unbewußten Gedanken hervorgehen, ohne daß wir sie zu registrieren vermögen. Offenbar einer solchen Regung gehorchend, fand sich Jean Valjean fünf Minuten später auf der Straße.

Er war barhäuptig und saß auf dem Prellstein vor seinem Hause. Er schien zu horchen. Schon war es Nacht.


Ein Straßenjunge kämpft gegen Laternen

Wie lange blieb er so? Was ging in ihm vor? War er gebeugt bis zur Erde, oder konnte er sich selbst wieder aufrichten?

Die Straße lag verlassen da. Einige Bürgersleute, die nach Hause strebten, gewahrten ihn kaum. In Zeiten der Gefahr ist die allgemeine Losung: Jeder für sich! Der Laternenanzünder kam zur üblichen Zeit und steckte die Laterne vor Haus Nr. 7 an. Dann ging er wieder. Wenn er Jean Valjean im Schatten bemerkt hätte, gewiß hätte er ihn nicht für ein lebendes Wesen gehalten. Noch immer hörte man die Sturmglocke und aus der Ferne Getöse. Zwischendurch klang von Saint-Paul die Glocke herüber, die friedlich, behäbig und ohne Hast elf Uhr anzeigte.

Jean Valjean rührte sich noch immer nicht.

Doch hörte er um diese Zeit von den Hallen herüber eine Gewehrsalve, der kurz nachher eine lautere folgte. Das war der Sturm auf die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie. Der Krach war in der stumpfen, nächtlichen Stille doppelt unheimlich. Jean Valjean zitterte. Er stand auf, sah nach der Richtung, aus der das Geräusch herübergekommen war, setzte sich wieder, kreuzte die Arme und ließ den Kopf auf die Brust herabsinken.

Brütend ließ er seinen Gedanken freien Lauf.

Jetzt blickte er auf. Schritte kamen näher. Im Licht der Laterne sah er ein junges, blasses, fröhliches Gesicht. Gavroche war in der Rue de l’Homme Armé erschienen.

Er schien zu suchen. Jean Valjean hatte er bemerkt, doch schenkte er ihm keine Beachtung.

Erst hatte er in die Höhe gesehen, sich auf die Zehenspitzen gestellt, Tore und Fenster betastet. Alle waren versperrt und verriegelt. Nachdem er solchermaßen fünf oder sechs verrammelte Hauseingänge geprüft hatte, zuckte er die Achseln und äußerte zur Sache:

»Hol’s der Teufel!«

Wieder starrte er in die Höhe.

Jean Valjean wäre einen Augenblick vorher in seiner seelischen Verfassung außerstande gewesen, mit einem Menschen zu sprechen, ja auch nur zu antworten; doch fühlte er sich unwiderstehlich zu diesem Jungen hingezogen.

»Was hast du denn, Kleiner?«

»Nichts als Hunger«, erwiderte Gavroche eindeutig. Dann aber fügte er hinzu: »Selber Zwerg!«

Jean Valjean griff in die Tasche und zog ein Fünffrankenstück heraus.

Gavroche, der wie eine Bachstelze niemals ruhig bleiben konnte, hatte inzwischen einen Stein aufgehoben. Die Laterne tat seinem Auge weh.

»Ihr habt ja noch Laternen hier«, sagte er. »Ihr müßt mit der Mode mitgehen, Freunde. Das verstößt ja gegen die öffentliche Ordnung. Wir wollen sie gleich einkitschen.«

Und er warf den Stein in die Laterne, die klirrend zerbrach. Erschrockene Bürger erschienen an den Fenstern und riefen einander zu:

»Dreiundneunzig ist wieder da!«

Das Licht schwankte und erlosch. Jetzt lag die Straße vollständig im Dunkel.

»So ist’s recht, alte Straße«, sagte Gavroche, »setz dir nur die Nachtmütze auf!«

Jean Valjean trat zu Gavroche.

»Armer Kerl«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche. »Er hat nichts zu essen«, und er drückte ihm das Fünffrankenstück in die Hand.

Gavroche hob erstaunt die Nase. Er sah, daß die Münze von Silber war. Fünffrankenstücke kannte er nur vom Hörensagen, aber ihr Ruf war auch in seinen Kreisen gut, und er fand es angenehm, eines zu besitzen.

Dann wandte er sich zu Jean Valjean, hielt ihm die Münze wieder hin und sagte großartig:

»Bourgeois, ich will lieber Laternen einkitschen. Nehmen Sie wieder Ihren Batzen zurück. Mich besticht man nicht. Der Adler da hat fünf Klauen, aber mich soll er nicht kratzen.«

»Hast du eine Mutter?« fragte Jean Valjean.

»Vielleicht mehr Mama als Sie.«

»Gut, dann bring das Geld deiner Mutter.«

Gavroche war gerührt. Auch bemerkte er, daß der Mann, mit dem er da sprach, keinen Hut aufhatte, und das flößte ihm Vertrauen ein.

»Also Sie geben mir das nicht, um mich vom Laterneneinschmeißen abzuhalten?«

»Wirf so viele ein, wie du willst.«

»Sie sind ein Ehrenmann«, antwortete Gavroche und steckte das Fünffrankenstück in die Tasche.

Er war zutraulicher geworden.

»Sind Sie aus der Straße hier?«

»Ja. Warum?«

»Können Sie mir Nr. 7 zeigen?«

»Was willst du in Nr. 7?«

Der Junge fürchtete, er habe schon zuviel gesagt, und antwortete nur:

»Allerhand.«

Jetzt hatte Jean Valjean einen Gedanken. Die Angst läßt manchmal ein seltsames Licht in uns aufflammen.

»Bringst du mir den Brief, auf den ich warte?«

»Nein, Sie sind doch keine Frau.«

»Der Brief ist an Fräulein Cosette gerichtet, nicht wahr?«

»Cosette? Ja, ich glaube, sie hatte so einen albernen Namen.«

»Nun, dann bin ich es, dem du den Brief geben sollst.«

»Dann wissen Sie wohl auch, daß ich von der Barrikade komme?«

»Gewiß doch.«

Gavroche griff in die Tasche und zog das gefaltete Papier heraus. Dann grüßte er militärisch.

»Respekt vor dieser Depesche, sie kommt von der provisorischen Regierung!«

»Gut.«

Gavroche hielt das Papier fest.

»Bilden Sie sich nur ja nicht ein, daß das ein Liebesbrief ist. Er ist an eine Frau gerichtet, aber er gilt dem Volke. Wir prügeln uns untereinander, aber das weibliche Geschlecht achten wir.«

»So gib schon!«

Gavroche reichte den Brief Jean Valjean.

»Und beeilen Sie sich, Herr Dingsda, denn Fräulein Cosette wartet schon! Antwort ist unnötig. Wenn Sie zu uns gelangen wollen, werden Sie in einen recht unverdaulichen Kuchen beißen. Dieser Brief kommt von der Barrikade in der Rue de la Chanvrerie, zu der ich jetzt zurückkehre. Guten Abend, Bürger!«

Einige Augenblicke nachher hörte man bereits aus der Ferne lautes Klirren. Gavroche spazierte durch die Rue du Chaume.


Während Cosette und Toussaint schlafen

Jean Valjean trat mit dem Brief Marius’ in das Haus.

Er tastete sich die Treppe hinauf, öffnete leise seine Tür, lauschte, stellte fest, daß Cosette und Toussaint offenbar schliefen, und brauchte – so sehr zitterten seine Hände – drei oder vier Streichhölzer, um Licht anzuzünden.

In Augenblicken solcher Erregungen liest man nicht, sondern verschlingt gewissermaßen das Papier, verschluckt es wie ein Opfer, überspringt den Anfang und hastet dem Ende zu.

In Marius’ Brief an Cosette sah Jean Valjean nur die Worte:

»… wenn du dies liest, wird meine Seele bei dir sein …«

Eine furchtbare Freude ergriff ihn. Einen Augenblick stand er wie betäubt unter dem jähen Wechsel der Empfindungen. Fast trunken vor Entzücken starrte er den Brief an. Das Herrlichste, den Tod des Gehaßten, hatte er vor sich.

Es war also zu Ende. Rascher war diese Sache zum Abschluß gekommen, als er gehofft hatte. Der Fremde, der in sein Schicksal eingegriffen, verschwand wieder. Verschwand freiwillig, aus eigener Kraft. Ohne daß er, Jean Valjean, etwas dazu tat. Vielleicht war jener Feind in diesem Augenblick schon tot.

Das Fieber hat seine eigene Art, Dinge zu berechnen.

Nein, tot konnte er noch nicht sein. Der Brief war offenbar in der Absicht geschrieben, am nächsten Tag in Cosettes Hände zu gelangen. Seit den zwei Salven, die Jean Valjean zwischen elf Uhr und Mitternacht gehört hatte, war nichts mehr vorgefallen. Vor Tagesanbruch würde die Barrikade nicht mehr ernsthaft angegriffen werden, aber immerhin, ein Mensch, der sich in diesen Kampf eingelassen hatte, war schon verloren.

Jean Valjean fühlte sich befreit. Er würde also mit Cosette allein bleiben. Der Nebenbuhler wich. Wieder war das Tor der Zukunft geöffnet. Er brauchte ja diesen Brief nur bei sich zu behalten. Cosette würde nie erfahren, was aus »diesem Menschen« geworden war. Jean Valjean brauchte die Dinge nur ihren Lauf nehmen zu lassen.

Er stieg hinab und weckte den Portier.

Eine Stunde später ging Jean Valjean in seiner Nationalgardistenuniform und vollkommen bewaffnet aus. Der Portier hatte in der Nachbarschaft alles aufgetrieben, was zur Ausrüstung noch gefehlt hatte.

Jean Valjean marschierte in der Richtung auf die Hallen zu.

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