Zweiter Teil Cosette

Erstes Buch
Der Kreuzer »Orion«

Nr. 24 601 wird Nr. 9 430

Jean Valjean war wieder gefangen worden.

Man wird uns Dank wissen, wenn wir die peinlichen Einzelheiten dieses Vorfalls nur flüchtig streifen. Darum beschränken wir uns darauf, zwei Zeitungsnotizen wiederzugeben.

Sie sind ein wenig summarisch gehalten. Aber man möge bedenken, daß es damals noch keine »Gazette des Tribunaux« gab.

Die erste Notiz entnehmen wir dem »Drapeau blanc«. Sie ist datiert vom 25. Juli 1823.

»Ein Arrondissement des Pas-de-Calais wurde soeben Schauplatz eines ungewöhnlichen Vorfalls. Ein im Departement Unbekannter, ein gewisser Madeleine, hatte im Laufe der letzten Jahre vermittels eines neuen Verfahrens eine alte Lokalindustrie, die Fabrikation von Jett und schwarzem Glas, bedeutend gehoben. Damit hatte er seinen und, wir müssen es offen zugeben, des Arrondissements Wohlstand begründet. In Anerkennung seiner Verdienste war er zum Bürgermeister ernannt worden. Die Polizei hat festgestellt, daß dieser Madeleine ein alter Galeerensträfling ist, ein gewisser Jean Valjean, der 1796 wegen Diebstahls verurteilt wurde. Jean Valjean ist wieder dem Bagno zugeführt worden. Vor seiner Verhaftung scheint es ihm gelungen zu sein, einen Betrag von über einer halben Million, den er bei Laffitte deponiert hatte, abzuheben, Geld, das er allem Anschein nach durchaus ehrlich erworben hatte. Es war nicht zu ermitteln, wo Jean Valjean diese Summe verborgen hat, bevor er wieder nach Toulon gebracht wurde.«

Der zweite Artikel, etwas ausführlicher, erschien unter dem gleichen Datum im »Journal de Paris«.

»Ein entlassener Bagnosträfling, ein gewisser Jean Valjean, erschien unlängst vor den Assisen von Var unter Umständen, die geeignet waren, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Es war diesem Verbrecher gelungen, die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen. Er hatte seinen Namen gewechselt und war schließlich sogar zum Bürgermeister einer Kleinstadt im Norden ernannt worden. Dort hatte er ein recht einträgliches Geschäft gegründet. Seine Entlarvung und Verhaftung ist dem unermüdlichen Eifer des Ministeriums zu danken. Zur Konkubine hatte er eine öffentliche Dirne, die bei seiner Festnahme vor Schreck starb. Der Verbrecher, der mit herkulischen Kräften ausgestattet ist, fand ein Mittel zu entspringen; aber schon drei oder vier Tage später konnte ihn die Polizei wieder aufgreifen, eben als er in Paris in die Postkutsche stieg, die den Verkehr der Hauptstadt mit Montfermeil (Seine-et-Oise) vermittelt. Man sagt, daß er sich diese drei oder vier Tage der Freiheit zunutze gemacht hat, um wieder in den Besitz einer beträchtlichen Summe zu gelangen, die er bei einem unserer größten Bankiers hinterlegt hatte. Diese Summe wird mit sechs- oder siebenhunderttausend Franken angegeben. Nach dem Anklageakt soll er das Geld an einem nur ihm bekannten Ort verborgen haben; in der Tat hat man es nicht wieder auffinden können. Jedenfalls ist der besagte Jean Valjean den Assisen des Departements Var vorgeführt worden. Der Bandit verzichtete darauf, sich zu verteidigen. Das Gericht konnte den Beweis erbringen, daß er seine Räubereien in Gemeinschaft mit andern vollbracht hat und Mitglied einer Räuberbande im Süden war. Demgemäß ist Jean Valjean, schuldig befunden, zum Tode verurteilt worden. Der Verbrecher hat darauf verzichtet, Nichtigkeitsbeschwerde zu erheben. Seine Majestät haben in ihrer unerschöpflichen Güte geruht, diese Strafe in lebenslänglichen Dienst auf den Galeeren umzuwandeln. Jean Valjean ist unverzüglich dem Bagno zu Toulon zugeführt worden.«

Unsere Leser haben nicht vergessen, daß Jean Valjean in Montreuil sur Mer zu den Kirchenbesuchern gezählt hatte. Nur so ist es zu erklären, daß einige Journale, unter anderm der »Constitutionnel«, diese Strafumwandlung für einen Triumph der kirchlichen Partei erklärten.

Jean Valjean bekam eine neue Nummer. Er hieß jetzt im Bagno 9 430.

Übrigens wollen wir, um nicht noch einmal darauf zurückkommen zu müssen, feststellen, daß mit Herrn Madeleine auch der Wohlstand von Montreuil sur Mer verschwand. Nach seinem Sturz kam es zu einer sehr egoistischen Teilung, einer Zerstückelung des blühenden Werks, wie derlei sich in der menschlichen Gesellschaft tagtäglich vollzieht, obwohl die Geschichte nur einen einzigen solchen Fall, die Aufteilung des alexandrinischen Reichs, notiert hat. Wenn sich damals die Unterführer zu Königen gekrönt hatten, so wollten jetzt die Werkmeister Fabrikanten werden. Wilde Konkurrenz war die Folge. Madeleines geräumige Werkstätten wurden geschlossen, die Bauten verfielen, die Arbeiter zerstreuten sich. Manche verließen die Stadt, andere gingen zu anderen Beschäftigungen über. Alles wurde klein, statt zu wachsen. Es fehlte an einem Zentrum. Madeleine hatte alles geleitet. Sobald er gefallen war, zog jeder an seinen Seilen – dem Geist der Organisation folgte der des eifersüchtigen Wettstreits, dem der freudigen Zusammenarbeit der der Mißgunst. Die von Madeleine angeknüpften Verbindungen rissen ab. Schließlich wurden die Produkte verfälscht, das Vertrauen der Konsumenten ging verloren; der Absatz sank, es gingen keine Aufträge mehr ein. Die Löhne fielen, Arbeitslosigkeit war die Folge, der Bankrott das Ende. Alles verfiel.


Boulatruelle

Kurze Zeit nachdem der Sträfling Jean Valjean sich, wie das Ministerium in Erfahrung brachte, in der Gegend von Montfermeil herumgetrieben hatte, wurde in eben jenem Dorf beobachtet, daß ein alter Straßenarbeiter, ein gewisser Boulatruelle, sich im Walde auffällig zu schaffen mache. Es hieß im Dorf, Boulatruelle habe im Bagno gesessen. Er wurde von der Polizei beobachtet, und da er nirgends Arbeit fand, wurde er von der Verwaltungsbehörde als Straßenarbeiter auf der Strecke zwischen Gagny und Lagny beschäftigt.

Dieser Boulatruelle war in der Gegend nicht wohlgelitten; er war allzu höflich, allzu bescheiden, allzu rasch bereit, jedermann zu grüßen oder den Gendarmen höflich zuzulächeln. Offenbar war er mit einer Räuberbande im Komplott und im Ernstfall durchaus geneigt, jemand des Nachts zu überfallen. Zu seinen Gunsten war nur zu sagen, daß er ein Säufer war.

Nun war folgendes beobachtet worden:

Seit einiger Zeit entfernte sich Boulatruelle früh am Tage von seiner Beschäftigung, die Straße zu pflastern und in Ordnung zu halten; dann ging er mit einem Spaten in den Wald. Man sah ihn des Abends auf einsamen Lichtungen, beobachtete ihn in entlegenen Dickichten, wie er offenbar etwas suchte, zuweilen sogar Löcher grub. Brave Frauen, die ihm begegneten, hielten ihn schlankweg für Beelzebub; erkannten sie dann Boulatruelle, so waren sie durchaus nicht etwa beruhigt. Auch schien es, daß ihm solche Begegnungen unlieb waren. Augenscheinlich suchte er sich zu verbergen und wollte seine Sache unerkannt betreiben.

Im Dorfe wurde gesagt, es sei nicht mehr daran zu zweifeln, daß dem Boulatruelle der Teufel erschienen sei. Darum suche er jetzt. So ein Lumpenkerl ist imstande, noch sein Glück zu machen, wurde vermutet. Anhänger Voltaires meinten: wird Boulatruelle den Teufel fangen, oder der Teufel Boulatruelle? Alte Frauen bekreuzigten sich eifrig.

Schließlich hörten Boulatruelles geheimnisvolle Arbeiten im Walde auf, er betreute wieder regelmäßig seine Straße. Niemand sprach weiter von der Sache.

Einige Leute allerdings blieben neugierig, dachten, es gehe hier wohl nicht um die fabelhaften Schätze aus dem Märchen, vielleicht aber um eine recht solide Sache, eine bessere als Wechsel auf des Teufels Bank; der Straßenarbeiter habe vielleicht ein Geheimnis zur Hälfte aufgedeckt. Am lebhaftesten interessiert waren der Schulmeister und der Gastwirt Thénardier, der aller Welts Freund war und darum auch Boulatruelle nicht mied.

Eines Abends meinte der Schulmeister, in früheren Zeiten würde sich die Justiz doch wohl mit der Frage beschäftigt haben, was dieser Boulatruelle im Walde treibe. Und damals hätte man ihn schon zum Reden gebracht, man hätte eine geeignete Tortur angewendet, und, falls Boulatruelle noch immer widerstanden hätte, die Befragung durch das Wasser gewählt.

»Nun, dann wählen wir die Befragung durch den Wein«, meinte Thénardier.

Man setzte sich zusammen und ließ den alten Arbeiter saufen. Er trank furchtbar – und sprach wenig. Er verband den Durst eines Wanderers in der Wüste mit der Verschwiegenheit eines Richters.

Aber man drang in ihn, entlockte ihm einzelne dunkle Worte, und schließlich konnten Thénardier und der Schulmeister sich etwa folgenden Sachverhalt zusammenreimen.

Als Boulatruelle sich eines Morgens auf seinen Arbeitsplatz begeben hatte, war er zu seiner Verwunderung an einer entlegenen Stelle, im Gestrüpp, auf eine Schaufel und eine Hacke gestoßen. Es sah ganz so aus, als ob dieses Gerät dort versteckt worden sei. Doch hatte er geglaubt, es gehöre vielleicht Vater Six-Foures, dem Wasserträger, und hatte sich darüber keine Gedanken gemacht. Am Abend desselben Tages aber hatte er, hinter einem Baume stehend – und ohne selbst gesehen zu werden –, einen Menschen bemerkt, der nicht aus dem Dorfe war, den er, Boulatruelle, aber recht gut kannte, wie Thénardier behauptete, also ein Kamerad aus dem Bagno. Dieser Mann sei in das dichteste Dickicht des Waldes eingedrungen. Boulatruelle wollte um keinen Preis den Namen nennen. Dieser Mann trug irgend etwas Viereckiges, vielleicht eine große Schachtel oder eine kleine Truhe. Jetzt war Boulatruelle verwundert gewesen. Doch kam ihm erst nach sieben oder acht Minuten der Gedanke, er solle dem »Betreffenden« nachgehen. Es war zu spät, der war schon verschwunden, und als Nacht war, konnte Boulatruelle ihn nicht mehr finden. Er beschloß also, am Waldrand zu warten. Der Mond schien. Zwei oder drei Stunden später sah Boulatruelle seinen Mann wieder aus dem Wald kommen, diesmal ohne die kleine Truhe, aber mit Spaten und Hacke. Boulatruelle war gar nicht auf den Einfall gekommen, den Mann anzureden, denn seiner Behauptung nach war dieser wohl dreimal stärker als er und überdies mit einer Hacke bewaffnet; sobald er ihn erkannte oder sich von ihm erkannt wußte, würde er gewiß zuschlagen. Man kann sagen: Rührendes Gefühl des alten Kameraden, der seinen Freund nach langer Zeit wiedersieht. Nun, Hacke und Schaufel waren für Boulatruelle ein Fingerzeig. Schon am nächsten Morgen drang er selbst in das Gestrüpp ein, und da er weder Hacke noch Schaufel wiederfand, glaubte er, an diesem Platze sei wohl etwas vergraben worden. Nun war der Koffer zu klein gewesen, um einen Leichnam zu enthalten. Demnach war er mit Geld gefüllt. Darum hatte Boulatruelle sich auf die Suche gemacht. Er hatte den ganzen Wald durchgewühlt, aber vergeblich. Er hatte nichts gefunden.


Die Kette bricht nicht auf den Hammerschlag

Gegen Ende Oktober des Jahres 1823 sahen die Einwohner von Toulon nach einem schweren Sturm den Kreuzer »Orion« in ihren Hafen einlaufen, der später in Brest als Schulschiff verwendet wurde, damals aber noch zum Mittelmeergeschwader zählte.

Die Einfahrt eines Kriegsschiffs in einen Hafen ruft immer eine Menge auf die Quais. Dieser Anblick hat stets etwas Großes, und die Menge liebt das Große.

Nun, der »Orion« war seit langer Zeit krank gewesen. Während langer Fahrten hatten sich ganze Muschelbänke um seinen Kiel gelagert, so daß seine Geschwindigkeit wohl auf die Hälfte ihres ursprünglichen Standes herabgesunken war. Darum hatte man ihn schon im Vorjahre trockengelegt, war aber dann später doch genötigt gewesen, ihn wieder in See stechen zu lassen. Jetzt war ein Leck entstanden, und infolge dieser Havarie war der »Orion« nach Toulon zurückgekommen.

Er war am Arsenal vor Anker gegangen. Bald wurde an seiner Wiederherstellung gearbeitet. Wenigstens am Steuerbord war der Rumpf unverletzt, doch hatten sich einige Verkleidungen abgelöst, so daß man, wie das üblich ist, die Luken öffnen mußte, um Luft eindringen zu lassen und die Austrocknung zu beschleunigen.

Eines Morgens nun war die neugierige Menge Zeugin folgenden Vorfalls:

Die Mannschaft war gerade damit beschäftigt, die Segel festzumachen. Da verlor der Marsgast, der eben dabei war, das Hauptmarssegel über Steuerbord hochzuziehen, das Gleichgewicht. Man sah ihn taumeln, die Menge auf dem Arsenalquai schrie auf, kopfüber stürzte der Mann mit ausgestreckten Armen in die Tiefe; halbenwegs bekam er zuerst mit einer, dann mit beiden Händen die falsche Pertleine zu fassen und blieb hängen. Tief unter ihm das Meer. In seinem Fall hatte er die Pertleine zum Schwingen gebracht. Er hing am Ende des Taues und schaukelte in der Luft.

Ihm zu Hilfe zu eilen, bedeutete, sich einer furchtbaren Gefahr aussetzen. Keiner der Matrosen, die übrigens ausnahmslos neugepreßte Fischer aus dem Küstenland waren, wagte, sich dieser Aufgabe zu unterziehen. Schon ermüdete der Marsgast, man konnte sein angstverzerrtes Gesicht, seine Erschöpfung erkennen. Seine Arme zitterten in furchtbarer Anstrengung. Jeder Versuch, sich hochzuziehen, verschlimmerte nur die Schaukelbewegung der Pertleine. Er schrie nicht, weil er befürchtete, Kraft zu verlieren. Jeden Augenblick mußte er fallen, und schon wandten alle die Augen ab, um ihn nicht im Sturz zu sehen. Es gibt Augenblicke, in denen das Ende eines Stricks, der Zweig eines Baumes ein Leben hält, und es ist furchtbar, ein Lebewesen abreißen und fallen zu sehen wie eine reife Frucht.

Plötzlich bemerkte man einen Mann, der mit der Gewandtheit einer Tigerkatze den Mast hinaufkletterte. Er trug die rote Kleidung des Sträflings; seine grüne Mütze ließ erraten, daß er ein »Lebenslänglicher« war. Auf der Höhe des Marssegels angelangt, verweilte er einen Augenblick; ein Windstoß trug ihm die Kappe fort, und man sah, daß er weiße Haare hatte.

In der Tat hatte sich sofort nach dem Unfall ein Sträfling, der an Bord Bagnodienst tat, an den Wachtoffizier gewandt und inmitten des Zögerns und der Verwirrung der ganzen Besatzung um die Erlaubnis gebeten, sein Leben riskieren und den Marsgast retten zu dürfen. Auf einen bejahenden Wink des Offiziers hatte er mit einem Hammerschlag die Kette, die sein Fußgelenk umschloß, zerschmettert, einen Strick ergriffen und war bis zu den Rahen emporgeklettert. Niemand beachtete in diesem Augenblick die Leichtigkeit, mit der er die Kette zerschlagen hatte. Erst später erinnerte man sich dieses Umstandes.

Im nächsten Augenblick, wie gesagt, war er auf den Rahen. Er hielt einen Augenblick inne und maß mit den Augen den Abstand. Diese Sekunden – der Wind schaukelte inzwischen den Marsgast am Ende des Taues – schienen den Zuschauern am Quai wie Jahrhunderte. Endlich blickte der Sträfling zum Himmel auf und tat einen Schritt vor. Die Menge atmete auf. Er lief die Rahen lang. An der Spitze angekommen, bückte er sich, band das eine Ende des mitgebrachten Seiles fest und ließ das andere in die Tiefe fallen. Im nächsten Moment kletterte er an diesem Seil hinab, zum unaussprechlichen Entsetzen der Zuschauer, die jetzt zwei Menschen über dem Abgrund hängen sahen.

Man mußte ihn, wenn man ihn so herabklettern sah, für eine Spinne halten, die eine Fliege fängt – nur brachte diese Spinne das Leben, nicht den Tod. Zehntausend Blicke waren auf die beiden gerichtet. Kein Schrei, kein Wort, nicht einmal ein Wimpernzucken … alle hielten den Atem an, als ob sie fürchten müßten, der geringste Hauch könne die beiden Gefährdeten vernichten.

Endlich hatte der Sträfling den Matrosen erreicht. Es war auch die höchste Zeit; eine Minute später hätte der Mann sich, erschöpft und verzweifelt, in den Abgrund fallen lassen. Der Sträfling band ihn an dem Seil fest, an dem er sich selbst mit der einen Hand hielt, während er mit der anderen arbeitete. Schließlich sah man ihn wieder zu den Rahen emporklettern und den Matrosen nachziehen. Er ließ ihn dort einen Augenblick aufatmen, um Kräfte zu sammeln, nahm ihn dann in die Arme und trug ihn bis nach dem Mars, wo er ihn den Händen seiner Kameraden übergab.

Die Menge brach in stürmischen Beifall aus. Alte Kerkermeister hatten Tränen in den Augen, Frauen sanken einander in die Arme, alle verlangten in höchster Erregung, der Held solle begnadigt werden.

Dieser hatte sich angeschickt, wieder hinabzusteigen, um sich sofort wieder an die Kette legen zu lassen. Vielleicht um rascher zu sein, ließ er sich an dem Mast hinab, bis er zur nächsten Rahe kam und lief an dieser entlang. Alle Augen folgten ihm. Es gab einen Augenblick der Besorgnis. Sei es, daß er übermüdet war, sei es, daß ihm schwindelte, man glaubte ihn zögern und fallen zu sehen. Plötzlich gellte ein einziger Schrei aus der Menge auf: der Sträfling fiel ins Meer.

Der Sturz war gefährlich. Die Fregatte »Algeciras« war neben dem »Orion« vor Anker gegangen; der unglückliche Galeerensträfling war also zwischen diese beiden Schiffe gefallen. Man mußte befürchten, daß er, auftauchend, unter eines der beiden geraten würde. Eilig sprangen vier Mann in ein Boot. Die Menge feuerte sie an, wieder peitschte die Angst alle Geister. Aber der Mann tauchte nicht an der Oberfläche auf. Er war im Meere versunken, ohne eine Spur zu hinterlassen, als ob er in eine Tonne Öl gefallen wäre. Man suchte nach ihm, vergeblich. Bis Abend wurden die Bemühungen fortgesetzt, aber auch seine Leiche konnte nicht geborgen werden.

Am nächsten Tag widmete das »Journal de Toulon« diesem Vorfall einige Zeilen:

17. November 1823.

Gestern fiel ein Sträfling, der an Bord des »Orion« Dienst tat, nachdem er einem Matrosen Hilfe gebracht hatte, ins Meer und ertrank. Die Leiche konnte nicht geborgen werden. Man nimmt an, daß sie an den Pfeilern des Arsenals hängengeblieben ist. Dieser Mann war im Register unter Nr. 9 430 eingetragen und hieß Jean Valjean.

Zweites Buch
Einlösung eines Versprechens, das der Toten gegeben wurde

Wassermangel in Montfermeil

Montfermeil liegt zwischen Livry und Chelles, am Südrand des Plateaus zwischen Ourq und Marne. Heutzutage ist es ein recht stattlicher und hübscher Platz, in dem es nicht an schönen Villen und Sonntags an Ausflüglern fehlt. 1823 aber gab es dort weder weiße Häuser noch vergnügte Bürgersleute; damals war Montfermeil ein Dorf, das im Walde verloren lag. Wohl gab es einige Landhäuser aus dem 18. Jahrhundert, erkennbar an ihrem vornehmen Aussehen, ihren Gußeisenbalkons und hohen Fenstern, aber darum war der Ort doch nur ein Dörfchen. Noch hatten ihn die reichen Tuchhändler, die sich zur Ruhe setzen, nicht entdeckt. Ruhig und gefällig lag er da, ohne Verkehr, ein Platz, an dem es sich billig, einsam und gemächlich leben läßt. Nur fehlte es wegen des hochgelegenen Plateaus an Wasser.

Es mußte von ziemlich weit herbeigeschafft werden. Das Ende des Dorfes, das gegen Gagny hin liegt, bezieht sein Wasser aus den prächtigen Teichen, die im Walde liegen; das andere, rings um die Kirche und gegen Chelles hin, mußte sich das Trinkwasser aus einer kleinen Quelle beschaffen, die, etwa eine Viertelstunde von Montfermeil entfernt, an der Cheller Straße lag.

Daher kam es, daß die Wasserversorgung oft recht schwierige Aufgaben stellte. Die vornehmen Haushalte, die Aristokratie von Montfermeil, zahlten einen Liard für den Scheffel Wasser und ließen es von einem Mann heranschaffen, der sich nur dieser Aufgabe widmete und mit der Wasserversorgung von Montfermeil etwa acht Sous täglich verdiente. Aber der gute Mann arbeitete im Sommer nur bis sieben Uhr abends, im Winter gar nur bis fünf, so daß, wer bei Einbruch der Nacht kein Wasser im Hause hatte, entweder selbst welches holen oder sich den Durst verkneifen mußte.

Das war der Schrecken dieses armen Geschöpfs, das unsere Leser gewiß nicht vergessen haben, der kleinen Cosette. Man erinnert sich, daß Cosette den Thénardiers doppelt nützlich war, denn einerseits mußte ihre Mutter Kostgeld bezahlen, andererseits leistete das Kind Dienste. Als nun die Mutter mit ihren Zahlungen in Verzug geriet, behielten, wie in den vorigen Kapiteln auseinandergesetzt worden ist, die Thénardiers Cosette. Sie ersetzte ihnen eine Magd. Darum auch hatte sie, wenn es an Wasser fehlte, welches zu besorgen. Und da das Kind sich nicht wenig davor fürchtete, des Nachts zu jener Quelle zu gehen, achtete es um so aufmerksamer darauf, daß das Wasser schon des Tages im Hause nicht ausging.

Weihnachten des Jahres 1823 waren für Montfermeil besonders glänzend. Der Winter hatte mild eingesetzt. Noch hatte es nicht geschneit. Pariser Akrobaten hatten von dem Bürgermeister die Erlaubnis erhalten, in der Hauptstraße des Dorfes Buden aufzustellen, und eine Menge wandernder Händler hatte von der gleichen Erlaubnis Gebrauch gemacht und auf dem Kirchplatz, ja bis zur Bäckergasse hinab, wo die Thénardiers ihre Wirtschaft betrieben, Hökerbuden aufgestellt. So kam Leben in die Gastwirtschaften und Budiken, und das liebe Dörfchen sah fröhliche und erregte Tage.

Am Weihnachtsabend saßen mehrere Männer, Fuhrleute und Hausierer, an dem mit vier oder fünf Kerzen bestellten Tische des Gastzimmers. Es war ein Speiseraum, wie ihn alle Budiken dieser Art aufweisen. Tische, Zinnkrüge, Flaschen, Trinker und Raucher; wenig Licht, viel Lärm. Die Thénardier überwachte das Abendbrot, das noch an einem hellen Feuer schmorte. Herr Thénardier trank mit seinen Gästen und bestritt die Kosten des politischen Gesprächs.

Cosette befand sich an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, sie hockte unter dem Küchentisch neben dem Kamin. Ihre Kleider waren zerlumpt, an den nackten Füßen hatte sie Holzpantinen. Im Schein des Kaminfeuers strickte sie an Wollstrümpfen, die für die kleinen Töchter der Thénardiers bestimmt waren. Aus einem Nebenzimmer hörte man das Lachen und Scherzen zweier Kinderstimmen. Das waren Eponine und Azelma.

Im Kaminwinkel hing auf einem Nagel eine Karbatsche.

Zuweilen übertönte der Schrei eines kleinen Kindes, das in einem anderen Raum des Hauses untergebracht sein mochte, den Lärm in der Gaststube. Das war der kleine Knabe, den die Thénardier in einem der vorigen Winter bekommen hatte, »ohne zu wissen warum, offenbar als Wirkung der Kälte«, wie sie sagte. Er war jetzt etwa drei Jahre alt. Die Mutter hatte ihn genährt, aber sie konnte ihn nicht leiden. Wenn das Geschrei unerträglich wurde, sagte Thénardier wohl zu ihr:

»Dein Junge jault schon wieder. Sieh doch nach, was er will.«

»Ach laß doch«, antwortete die Mutter, »er langweilt mich.«

Und der vernachlässigte Kleine jammerte in der Dunkelheit weiter.


Vervollständigung zweier Porträts

Wir haben bisher die Thénardiers gewissermaßen nur im Profil gezeigt. Jetzt ist es an der Zeit, sich wieder mit diesem würdigen Paar zu beschäftigen und es von allen Seiten zu betrachten.

Thénardier hatte die Fünfzig überschritten. Frau Thénardier mochte bald Vierzig erreichen. Aber da Frauen mit vierzig ebenso weit sind wie Männer mit fünfzig, konnte man sagen, die beiden seien gleich alt.

Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch an die erste Schilderung dieser Frau, einer großen, blonden, geröteten, vierschrötigen Person. Sie besorgte die ganze Wirtschaft, hielt die Zimmer instand, führte die Küche. Ihre einzige Bediente war Cosette: das Mäuschen im Dienste eines Elefanten. Alles zitterte, wenn die Thénardier sprach, Fensterscheiben, Möbel und Menschen. Ihr breites, mit Sommersprossen übersätes Gesicht glich einem Sieb. Auch hatte sie einen Bart. Sie sah aus wie ein Schwerathlet, der sich als Mädchen verkleidet hat. Fluchen konnte sie prachtvoll, und sie rühmte sich, daß sie eine Nuß mit der Faust sprengen konnte. Wenn sie nicht ihre Romane gelesen hätte – wovon eine gewisse Geziertheit und Zimperlichkeit ihres Wesens herrührte –, wäre wohl niemand darauf verfallen, sie für ein Weib zu halten. Hörte man sie reden, so dachte man: ein Gendarm. Sah man sie trinken, sagte man wohl: ein Fuhrmann. Malträtierte sie Cosette, so dachte man: ein Henker.

Wenn sie schlief, stand stets ein Zahn aus ihrem Munde hervor.

Thénardier war ein kleiner, magerer, schwächlich aussehender Mann, der krank zu sein schien; dabei fühlte er sich glänzend, sogar seine Krankheit war nur Betrug. Er pflegte vorsichtshalber immer zu lächeln und war zu fast allen Leuten höflich, sogar zu dem Bettler, dem er einen Pfennig verweigerte. In seinem Blick war etwas von einem Marder, und dem Gesicht nach hätte man ihn für einen Schriftsteller halten können. Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Bildnissen des Abbé Delille fiel auf. Bei den Fuhrleuten kehrte er den großen Trinker heraus. Noch nie hatte ihn jemand unter den Tisch trinken können; er rauchte aus einer großen Pfeife.

Unter einer Bluse trug er ein schwarzes Gewand. Gern wollte er für literarisch gebildet gelten und kehrte den Materialisten heraus. Oft berief er sich auf irgendwelche große Namen, wenn er einen eigenen Gedanken bekräftigen wollte, nannte Voltaire, Raynal, Parny und seltsamerweise auch den heiligen Augustinus. Er behauptete fest und steif, er habe eine Weltanschauung. Er war halb Philosoph, halb Schurke. Wie unsere Leser sich erinnern, behauptete er, gedient zu haben. Weitschweifig erzählte er, wie er bei Waterloo als Sergeant der Sechser allein gegen eine Eskadron Totenkopfhusaren gekämpft hätte; und schließlich hatte er im Feuer einer Kugelspritze mit seinem Leibe einen gefährlich verwundeten General gedeckt und gerettet. Daher rührte auch die Darstellung auf seinem Wirtshausschild und der Name seiner Kaschemme, die »Wirtshaus des Sergeanten von Waterloo« hieß. Tatsache ist, daß er am 18. Juni 1815 bei Waterloo als Leichenfledderer einen Stabsoffizier, einen gewissen Pontmercy, bestohlen, und, als dieser zu Bewußtsein gekommen war, zur Meinung gebracht hatte, er sei sein Retter.

Er war liberal, bonapartistisch gesinnt. Er hatte sich an dem Volksbegehren für das Asyl beteiligt. Im Dorf hieß es, er sei in einem Priesterseminar erzogen.

Unserer Meinung nach war er in Holland zum Kellner ausgebildet worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er ein Flamländer aus Lille, der in Paris den Franzosen, in Brüssel den Belgier spielte: stets nach beiden Seiten hin gedeckt. Was seine Heldentaten betrifft, so übertrieb er wohl. Das Abenteuer war sein Lebenselement. In Wirklichkeit hatte er an jenem Junitage 1815 zu den Fledderern und Marketendern gehört, die jedem verkauften, jeden bestahlen und hinter jeder Truppe herliefen, meist mit dem guten Instinkt für den Sieger. Dieser Feldzug hatte ihm, wie er sich ausdrückte, Quibus eingebracht, und damit hatte er seine Gastwirtschaft in Montfermeil gegründet.

Aber Quibus, gestohlene Börsen und Uhren, goldene Ringe und silberne Kreuze, der Ertrag eines Schlachtfeldes, reichte nicht aus, um es wirklich weiterzubringen. Thénardier hatte im Jahre 1823 etwa fünfzehnhundert Franken Schulden angesammelt, und die Sorgen drohten ihn zu verschlingen.


Wein für Menschen, Wasser für die Pferde

Vier neue Gäste waren eingetreten.

Cosette war in trübsinniges Nachdenken versunken; denn obwohl sie erst acht Jahre zählte, hatte sie schon so viel durchgemacht, daß sie düster wie eine Greisin zu grübeln verstand.

Ihr eines Auge war von einem Faustschlage der Thénardier blau angelaufen, was jener liebenswürdigen Frau Gelegenheit gegeben hatte, zu äußern, die Kleine sehe doch wirklich allzu häßlich aus.

Cosette dachte darüber nach, daß es jetzt Nacht sei, pechschwarze Nacht, und daß die Karaffen und Krüge in den Zimmern der Neuankömmlinge wohl gefüllt werden müßten; und daß kein Wasser mehr im Zuber war.

Eine gewisse Beruhigung bereitete es ihr, daß im Hause Thénardier nicht viel Wasser getrunken wurde. An Durst fehlte es den Leuten ja nicht, die hier vorbeikamen, aber sie hielten sich doch lieber an den Weinkrug als an die Wasserflasche. Wer hier inmitten so vieler Weintrinker ein Glas Wasser verlangt hätte, wäre für einen Tropf gehalten worden.

Und doch gab es einen Augenblick, in dem das Mädchen zitterte. Das war, als die Thénardier den Deckel von einer Kasserolle hob, die auf dem Herd stand, ein Glas nahm und rasch zu dem Zuber trat. Sie drehte den Hahn auf, und das Kind, das den Kopf gehoben hatte, beobachtete scharf den dünnen Faden Wassers, der auslief. Das Glas wurde nur zur Hälfte gefüllt.

»Holla, kein Wasser mehr!« hatte die Thénardier gesagt. Das Kind atmete nicht.

»Ach was«, sagte die Thénardier und prüfte ihr halbgefülltes Glas, »es wird auch so gehen.«

Cosette wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, aber eine Viertelstunde lang klopfte ihr Herz, als ob es zerspringen sollte.

Zuweilen tat einer der Trinker einen Blick auf die Straße hinaus und rief etwa:

»Finster wie in einem Backofen!« oder: »In eine solche Finsternis getraut sich wohl nur eine Katze ohne Laterne.«

Dann begann Cosette von neuem zu zittern.

Jetzt trat einer der Hausierer in die Gaststube und sagte ärgerlich:

»Mein Pferd hat kein Wasser bekommen!«

»Doch«, sagte die Thénardier.

»Und ich sage Ihnen, daß es keines bekommen hat, Frau«, antwortete der Hausierer.

Cosette war unter dem Tisch hervorgekrochen.

»Doch, Herr«, rief sie, »das Pferd hat getrunken, einen ganzen Eimer voll. Ich selbst habe ihm den Eimer gebracht.«

Cosette log.

»Was, du kleiner Däumling, du lügst ja schon wie eine Große!« rief der Hausierer, »ich sage dir, daß das Pferd kein Wasser bekommen hat, freche Range! Es hat eine Art zu schnaufen, wenn es kein Wasser bekommen hat, die ich sehr wohl kenne.«

Mit einer Stimme, die vor Angst heiser war, bestand Cosette darauf:

»Doch, es hat getrunken.«

»Schluß!« rief der Hausierer wütend, »mein Pferd muß Wasser kriegen, mehr ist darüber nicht zu sagen.«

Cosette kroch wieder unter den Tisch.

»Natürlich«, sagte die Thénardier, »wenn das Tier kein Wasser gekriegt hat, so muß es jetzt welches kriegen.«

Sie blickte um sich.

»Wo ist denn die Kleine?«

Sie bückte sich und sah Cosette, die sich unter dem Tisch fast zwischen den Beinen der anderen Zecher verkrochen hatte.

»Willst du wohl hervorkommen!« schrie sie.

Cosette tauchte aus dem Loch auf, in dem sie sich verborgen hatte.

»Nun, du Wechselbalg, hol Wasser für das Pferd!«

»Aber es ist doch kein Wasser mehr da«, sagte Cosette schwach.

Die Thénardier riß die Türe auf.

»Nun, dann hol’ welches.«

Cosette ließ den Kopf hängen, dann holte sie aus der Kaminecke einen leeren Zuber. Er war größer als sie, das Kind hätte sich bequem hineinsetzen können.

Die Thénardier trat wieder an den Herd und kostete mit einem Holzlöffel aus der Kasserolle.

»Das ist ganz gut«, murmelte sie, »das kann gar nicht schaden. Ich glaube, ich hätte meine Zwiebel passieren können.«

Sie zog eine Lade auf und suchte zwischen Kleingeld, Pfeffer und Schalotten eine Münze heraus.

»Da, du Assel, am Rückweg holst du vom Bäcker ein großes Brot. Hier sind fünfzehn Sous.«

Cosette hatte eine kleine Tasche in ihrer Schürze; wortlos nahm sie die Münze und steckte sie ein.

Dann blieb sie stehen, den Zuber in Händen, spähte durch die offene Tür hinaus. Es war, als ob sie von irgendwo Hilfe erwartete.

»Los, was stehst du noch da!« schrie die Thénardier.

Cosette ging.


Eine Puppe erscheint auf der Szene

Auf dem Wege zur Kirche waren die Hökerbuden in langer Zeile aufgereiht. Da die Stunde des Gangs zur Mette bevorstand, waren in zahlreichen Lampions Kerzen angezündet, was der Straße, wie der Schulmeister von Montfermeil sagte, ein magisches Aussehen gab. Dafür war kein Stern am Himmel zu sehen.

Die letzte der Buden, die gerade Thénardiers Tür gegenüberstand, hatte allerlei bunte Flitter, Glassachen und glitzerndes Blechzeug ausgestellt. In der vordersten Reihe aber stand eine ungeheure, fast zwei Fuß hohe Puppe, die in ein rosa Kreppkleidchen gehüllt war, ein Goldhäubchen auf dem Kopf trug, Emailleaugen und echte Haare hatte. Den ganzen Tag über war dieses Wunder die Augenweide aller zehnjährigen Mädchen von Montfermeil gewesen, ohne daß sich auch nur eine einzige Mutter gefunden hätte, die so reich oder so verschwenderisch war, ihrem Kinde ein solches Geschenk zu machen. Eponine und Azelma hatten Stunden damit verbracht, sie anzuschauen, und auch Cosette hatte ihr einen, wir müssen es der Wahrheit halber feststellen, flüchtigen Blick zugeworfen.

Als Cosette nun aus dem Hause trat, bedrückt und niedergeschlagen, wie sie war, konnte sie es sich doch nicht verkneifen, dieser herrlichen Puppe, der »Dame«, wie sie sie nannte, einen Blick zu gönnen. Wie versteinert blieb das arme Kind stehen. Aus der Nähe hatte sie dieses Wunderwerk noch nicht gesehen. Für sie war die Hökerbude ein Palais, die Puppe eine Vision. Sie war Pracht, Reichtum, Glück, sie erschien diesem armen, von düsterem Elend niedergedrückten Kind wie ein schimärisch strahlendes Wesen. Cosette maß mit dem naiven und zugleich traurigen Eifer der Kindheit die Kluft, die sie von dieser Puppe trennte. Sie begriff, daß man Königin oder mindestens Prinzessin sein müßte, um so etwas besitzen zu dürfen. Sie betrachtete das schöne rosa Kleidchen, das herrliche Haar und dachte: wie glücklich muß diese Puppe sein!

Sie konnte die Augen nicht von der Zauberbude abwenden. Je mehr sie hinsah, um so rätselhafter war der Bann. Sie glaubte einen Blick in das Paradies zu tun. Hinter der großen waren noch andere Puppen, die Feen und Genien glichen. Der Krämer, der hinten in der Bude auf und ab ging, schien ihr etwa wie der himmlische Vater.

In ihrer Verzückung vergaß sie alles, sogar den Auftrag, den sie erhalten hatte. Plötzlich aber rief die rauhe Stimme der Thénardier sie zur Wirklichkeit:

»Bist du noch nicht fort, Faulpelz! Na, warte nur! Was hast du dort zu suchen? Vorwärts, Balg!«

Die Thénardier hatte einen Blick auf die Straße hinausgeworfen und hatte die verzückte Cosette gesehen. Nun rannte die Kleine mit ihrem Zuber, so rasch sie konnte, in die Nacht hinaus.


Die Kleine allein

Da die Gastwirtschaft der Thénardiers in jenem Teil des Dorfes lag, der um die Kirche gruppiert ist, mußte Cosette das Wasser aus der Quelle am Wege nach Chelles holen.

Sie sah sich keine von den Buden mehr an. Solange sie in der Bäckergasse und in der Nähe der erleuchteten Buden war, deren Lampions ihr Licht auf den Weg warfen, ging es gut; bald aber wurde es rings um sie dunkel. Ihr wurde bang zumute, sie begann den Zuber heftig an seinem Henkel zu schwenken. So entstand ein Geräusch, das ihr Gesellschaft leistete.

Je weiter sie ging, um so undurchdringlicher wurde die Finsternis. Jetzt war kein Mensch mehr auf den Straßen. Solange zu beiden Seiten noch Häuser oder wenigstens Gartenmauern waren, blieb sie ziemlich tapfer. Hier und da sah sie durch verschlossene Fensterläden den Schimmer einer brennenden Kerze. Das war Leben, Licht und flößte ihr Mut ein. Je weiter sie aber in die Finsternis vordrang, um so langsamer wurde ihr Schritt. Und als sie das letzte Haus erreicht hatte, blieb Cosette stehen.

Es war ihr schon schwer genug gefallen, an der letzten erleuchteten Bude vorbeizukommen. Nun auch das letzte Haus hinter sich zu lassen, war schier unmöglich. Sie stellte den Zuber auf den Boden, vergrub ihre Finger in den Haaren und begann langsam sich am Kopf zu kratzen, eine Geste, die bei Kindern Unentschiedenheit bedeutet. Was sie da vor sich sah, war nicht mehr Montfermeil, das waren die Felder, eine schwarze, öde Wüstenei. Verzweifelt spähte sie in die Dunkelheit hinaus, in der es keine Menschen mehr gab, wohl aber Tiere, vielleicht auch Gespenster. Sie konnte die Tiere im Grase hören, in den Baumwipfeln sah sie deutlich die Gespenster. Da nahm sie ihren Zuber auf, die Furcht flößte ihr Mut ein.

»Ach was«, sagte sie, »ich werde sagen, daß kein Wasser mehr da war.«

Kurz entschlossen kehrte sie nach Montfermeil zurück.

Aber sie war keine hundert Schritte gegangen, da blieb sie schon stehen und begann wieder sich am Kopf zu kratzen. Jetzt sah sie die Thénardier, dieses scheußliche Weib mit dem Hyänenmaul und den wutflammenden Augen. Kläglich blickte sie um sich. Was tun? Wohin gehen? Vor ihr das Gespenst der Thénardier, hinter ihr die bösen Geister der Nacht und des Waldes. Sie entschied sich gegen die Thénardier. Wieder nahm sie die Richtung zur Quelle und begann zu laufen. Laufend verließ sie das Dorf, laufend durchquerte sie den Wald, sah und hörte nichts. Als ihr der Atem ausging, blieb sie nicht stehen, sondern ging wenigstens im Schritt weiter.

Sie hatte große Lust zu weinen.

Das nächtliche Weben des Forstes hüllte sie ein. Sie wagte keinen Gedanken zu fassen, wagte nicht, um sich zu blicken.

Vom Waldrand bis zur Quelle hatte sie sieben oder acht Minuten zu gehen. Cosette kannte den Weg gut genug, mußte sie ihn doch täglich mehrmals zurücklegen. Sie verirrte sich nicht. Ein Instinkt führte sie. Obwohl sie nicht aufblickte, aus Furcht, in den Zweigen oder im Gestrüpp etwas zu sehen, ging sie den richtigen Weg. Sie erreichte die Quelle.

Es war ein etwa zwei Fuß tiefes, natürliches Becken, ringsum moosbewachsen. Murmelnd schoß das Wasser hervor.

Cosette nahm sich nicht einmal die Zeit, aufzuatmen. Es war stockfinster. Aber sie kannte sich ja hier aus. Mit der Linken tastete sie nach einer jungen, über das Wasser geneigten Eiche, die ihr gewöhnlich als Stützpunkt diente, griff einen Ast, hing sich daran, beugte sich vor und tauchte den Zuber ins Wasser. Die Erregung verdreifachte ihre Kräfte. Während sie so über das Wasser gebeugt war, bemerkte sie nicht, daß der Inhalt ihrer Schürzentasche hineinfiel. Das Fünfzehnsousstück war verloren. Cosette bemerkte es nicht. Sie zog den fast gefüllten Eimer hoch und stellte ihn ins Gras.

Jetzt bemerkte sie, daß sie erschöpft war. Gern wäre sie sofort zurückgelaufen, aber die Mühe, den Zuber hochzuziehen, hatte ihr alle Kraft genommen. Sie mußte sich einen Augenblick niedersetzen. Gebückt hockte sie im Grase.

Sie schloß die Augen und schlug sie wieder auf, ohne zu wissen warum; sie konnte nicht anders. Das Wasser neben ihr, von der Bewegung aufgescheucht, zog Kreise, die Schlangen glichen. Der Himmel über ihr war mit schwarzen Wolken überzogen, die Rauchsäulen ähnlich waren. Die Dunkelheit schien sich über sie zu beugen, nach ihr zu greifen.

Jupiter ging gerade unter. Das Kind sah mit erschreckten Augen diesen großen Stern, den sie nicht kannte und der ihr Furcht einflößte. Der Planet stand knapp über dem Horizont und schimmerte durch eine dichte Nebelschicht unheimlich groß. Man hätte ihn für eine blutige Wunde halten können.

Kalter Wind strich über die Ebene hin. Nur das Rascheln der Blätter war zu vernehmen. Etwas bemächtigte sich des Kindes, fürchterlicher als Furcht. Eisiger Schauer erfaßte sie. Ihr Blick fiel auf den Zuber, wieder kam ihr die Angst vor der Thénardier zu Hilfe. Mit beiden Händen umklammerte sie den Henkel. Mühsam hob sie das Gefäß hoch. Sie tat etwa ein Dutzend Schritte, aber der Zuber war zu schwer, sie mußte ihn wieder absetzen. Nachdem sie Atem geschöpft hatte, hob sie ihn wieder auf und lief diesmal eine etwas größere Strecke. Noch einmal mußte sie stehenbleiben. Wieder einige Sekunden Ruhe. Vorgebeugt, den Kopf gesenkt wie eine Greisin, machte sie sich wieder auf den Weg. Das Gewicht des Zubers zerrte an ihren mageren Ärmchen. Tief gruben sich die Henkel des Eimers in ihre kleinen, feuchten Hände. Von Zeit zu Zeit mußte sie stehenbleiben, und jedesmal schwippte Wasser über den Rand des Zubers und benäßte ihre nackten Beine.

Ihr Keuchen klang wie ein qualvolles Röcheln. Schluchzen schnürte ihre Kehle zu. Aber sie wagte nicht, zu weinen, so sehr fürchtete sie, sogar aus der Ferne, die Thénardier. Es war ihre Gewohnheit, sich immer vorzustellen, diese Frau wäre zugegen.

Rasch konnte sie auf diese Weise nicht vorwärtskommen, mochte sie ihre Ruhepausen noch so sehr kürzen und jedesmal bis zur Erschöpfung weiterlaufen! Mit Angst und Entsetzen wurde sie sich bewußt, daß sie eine Stunde brauchen würde, um so nach Montfermeil zurückzukommen, und daß die Thénardier sie schlagen würde. Diese Angst paarte sich mit dem Grauen vor der nächtlichen Einsamkeit im Walde. Sie war müde zum Umsinken, als sie den Wald noch nicht hinter sich hatte. Unter einem alten Kastanienbaum machte sie eine letzte, längere Station, dann sammelte sie all ihre Kräfte und begann tapfer gegen das Dorf zuzuschreiten.

In diesem Augenblick fühlte sie, wie der Eimer plötzlich leicht wurde. Eine Hand, die ihr ungeheuer groß schien, hatte den Henkel ergriffen. Sie blickte auf. Etwas Großes, Schwarzes ging in der Finsternis neben ihr. Es war ein Mann, der hinter ihr hergekommen war und den sie nicht gehört hatte. Wortlos hatte er den Henkel des Zubers ergriffen.

Es gibt einen Instinkt, der bei der ersten Begegnung das Richtige weist.

Das Kind fürchtete sich nicht.


Vielleicht ist Boulatruelle doch klug

Am Nachmittag desselben Weihnachtstages 1823 durchschritt ein Mann langsam den entlegensten Teil des Boulevard de l’Hôpital in Paris. Dieser Mann sah aus wie einer, der eine Wohnung sucht, und er schien die bescheidensten Häuser dieses dürftigen Stadtviertels zu bevorzugen.

Der Leser wird beizeiten erfahren, daß dieser Mann wirklich ein Zimmer in jener Gegend gemietet hatte.

Seiner Kleidung wie auch seiner ganzen Persönlichkeit nach war er der Typus dessen, was man »bettelarm, aber anständig« nennt: äußerste Armut mit peinlichster Sauberkeit verbunden. Das ist eine seltene Mischung, die klugen Beobachtern doppelte Achtung einflößt und beweist, daß, wer sich so trägt, ebenso würdig wie arm ist. Der Mann trug einen sehr alten und stark abgebürsteten runden Hut, einen Rock aus grobem, ockergelbem Tuch, der schon fadenscheinig war, eine Weste mit ungeheuerlichen Taschen, schwarze Hosen, die bereits an den Knien grau geworden waren, schwarze Wollstrümpfe und derbe Schuhe mit kupfernen Schnallen. Man hätte ihn für einen alten Hauslehrer einer guten Familie halten können. An seinem weißen Haar, seiner gefurchten Stirn, seinen blassen Lippen und seinem Gesicht, das Kummer und Lebensmüdigkeit erkennen ließ, hätte man den Sechziger ausmachen können, doch ließen sein sicherer, wenn auch bedächtiger Gang, seine entschiedenen Bewegungen erkennen, daß er kaum fünfzig zählte. Die Falten auf seiner Stirn waren gut gezogen und konnten einen aufmerksamen Beobachter für ihn einnehmen. Seine Lippen wurden von einer scharfen Falte umrahmt, die auf Strenge schließen ließ, aber Demut bedeutete. In der Tiefe seines Blickes war eine düstere Ruhe. In der Linken trug er ein in ein Tuch verknotetes Paket. Die Rechte stützte sich auf einen Stock, den er wohl selbst aus einer Hecke geschnitten hatte.

Der Boulevard war wenig belebt, zumal zu dieser winterlichen Zeit. Doch schien unser Mann, wenn auch unauffällig, selbst diese wenigen eher zu meiden, als zu suchen.

Gegen Viertel fünf, mit Einbruch der Dunkelheit, kam er an dem Theater der Porte-St.-Martin vorüber, wo an diesem Tage »Die beiden Sträflinge« gegeben wurden. Das Programm, von den Theaterlampen erleuchtet, interessierte ihn offenbar, denn obwohl er jetzt rasch ging, blieb er einen Augenblick stehen, um es zu lesen. Eine Sekunde später bog er in die Sackgasse la Planchette ein und näherte sich dem Postbüro der Strecke nach Lagny. Die Postkutsche mußte um halb fünf abfahren. Die Pferde waren schon angespannt, und die Passagiere, von dem Postillon herbeigerufen, kletterten eilig die hohe Eisentreppe zu den Decksitzen empor.

»Haben Sie noch einen Platz frei?« fragte der Mann.

»Einen einzigen, gleich hier neben mir, auf dem Kutschbock.«

»Ich nehme ihn.«

»Steigen Sie auf.«

Bevor die Postkutsche sich in Bewegung setzte, warf der Postillon einen Blick auf die dürftige Kleidung seines Passagiers und den geringen Umfang seines Gepäcks; er verlangte sein Geld im voraus.

»Fahren Sie bis Lagny?« fragte er.

»Ja.«

Der Reisende bezahlte bis Lagny.

Das Gefährt setzte sich in Bewegung. Nachdem man das Weichbild der Stadt verlassen hatte, wollte der Kutscher eine Unterhaltung anknüpfen, aber der Reisende antwortete einsilbig. So mußte der Kutscher sich damit begnügen, vor sich hin zu pfeifen und den Pferden kräftige Flüche zuzurufen.

Bald wurde es kalt, der Kutscher hüllte sich in seinen Mantel. Der Reisende schien nichts zu spüren. So kam man durch Bournay und Neuilly sur Marne.

Gegen sechs Uhr abends war man in Chelles. Der Kutscher hielt an, um seine Pferde verschnaufen zu lassen.

»Ich steige hier ab«, sagte der Fremde. Damit nahm er Bündel und Stock und sprang aus dem Wagen.

Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

In die Gastwirtschaft, vor der die Postkutsche hielt, war er nicht eingetreten.

Als der Wagen einige Minuten später in der Richtung nach Lagny weiterfuhr, begegnete man dem Unbekannten nicht auf der Chaussee nach Chelles.

Der Kutscher wandte sich nach den Passagieren im Innern des Wagens um.

»Der Mann ist nicht von hier, ich kenne ihn nicht. Sieht aus, als ob er keinen Sou besäße. Aber ihm liegt nichts an Geld, er zahlt bis Lagny und steigt in Chelles aus. Es ist Nacht, alle Häuser sind verschlossen. Er war nicht in der Herberge, und hier ist er auch nicht. Offenbar ist er in den Erdboden verschwunden.«

Nun, der Reisende war nicht verschwunden, aber er hatte hastig in der Dunkelheit die Hauptstraße von Chelles durchschritten und war dann vor der Kirche in den Seitenweg eingebogen, der nach Montfermeil ging; offenbar kannte er doch die Gegend.

Rasch schritt er aus. An der Stelle, wo sein Weg die alte Allee von Gagny nach Lagny kreuzt, hörte er Stimmen. Rasch trat er in den Straßengraben und wartete, bis die Passanten vorüber waren. Diese Vorsicht war übrigens überflüssig, denn die Dezembernacht war, wie wir schon gesagt haben, außerordentlich dunkel. Man sah kaum zwei oder drei Sterne am Himmel.

Jetzt begann der Weg anzusteigen. Der Unbekannte setzte aber den Weg nach Montfermeil nicht fort; er wandte sich zur Rechten und erreichte mit großen Schritten querfeldein den Wald.

Aufmerksam spähte er durch den Nebel und betrachtete die Bäume, als ob er sich zurechtfinden wolle. Er ging jetzt langsamer, Schritt für Schritt, wie wenn er einen geheimnisvollen Weg suchen wollte, den nur er kannte. Einen Augenblick lang blieb er unentschlossen stehen. Schließlich tastete er sich zu einer Lichtung durch, in der ein Haufen Steine lag. Lebhaft trat er näher. Nur einige Schritte von dem Steinhaufen entfernt, stand ein dicker Baum, der mit Auswüchsen, gleichsam den Warzen der Pflanzen, bedeckt war. Der Fremde streichelte die Rinde, als ob er diese Auswüchse wiederzuerkennen suchte.

Gegenüber diesem Baum, einer Esche, stand ein Kastanienbaum, dessen Rinde sich abschälte; man hatte ihm darum eine Zinkmanschette gegeben. Der Fremde stellte sich auf die Zehenspitzen und betastete das Metallstück.

Eine Weile lang ging er zwischen dem Baum und dem Stein hin und her, prüfte den Boden, ob er nicht jüngst aufgewühlt worden sei. Dann suchte er sich zu orientieren und setzte seinen Marsch durch den Wald fort.


Cosette geht mit dem Unbekannten durch die Nacht

Sie empfand, wir sagten es schon, keine Furcht.

Der Mann redete sie an. Seine Stimme war tief und leise.

»Kind«, sagte er, »das ist nicht leicht, was du da trägst.« Cosette blickte auf und antwortete:

»Ja, guter Herr.«

»Gib her, ich trag es für dich.«

Cosette ließ den Zuber los. Der Mann ging neben ihr her.

»Wirklich verdammt schwer«, murmelte er. »Wie alt bist du, Kleine?«

»Acht Jahre, guter Herr.«

»Und kommst du weit her damit?«

»Von der Quelle im Wald.«

»Und wie weit gehst du noch?«

»Eine gute Viertelstunde von hier.«

Eine Zeitlang blieb der Fremde wortlos.

»Demnach hast du also keine Mutter?« fragte er schließlich unvermittelt.

»Ich weiß nicht«, sagte das Kind.

Der Mann blieb stehen, setzte den Eimer auf den Boden, beugte sich über das Kind und legte seine beiden Hände auf ihre Schultern; er bemühte sich, in der Finsternis ihr Gesicht zu sehen.

Im schwachen Licht der Sterne war das magere, klägliche Gesicht Cosettes undeutlich zu erkennen.

»Wie heißt du?«

»Cosette.«

Es war, als ob ein elektrischer Schlag den Mann treffe. Er sah sie noch einmal an, griff dann wieder nach dem Zuber und begann zu gehen.

»Wo wohnst du?« fragte er nach einiger Zeit.

»In Montfermeil.«

»Gehen wir hier richtig?«

»Ja, guter Herr.«

Nach einer Pause begann er wieder zu fragen:

»Wer schickt dich denn um diese Zeit nach Wasser in den Wald?«

»Frau Thénardier.«

Offenbar suchte der Mann seine Erregung zu verbergen, aber seine Stimme zitterte eigentümlich.

»Wer ist denn das, diese Frau Thénardier?«

»Meine Gnädige«, sagte das Kind. »Sie hat die Wirtschaft.«

»Die Wirtschaft? Nun, ich werde heute nacht dort schlafen. Führe mich!«

»Wir sind gerade auf dem Wege dahin.«

Der Mann ging ziemlich rasch, aber Cosette folgte ihm mühelos. Sie fühlte sich jetzt nicht mehr müde. Mehrmals blickte sie ruhig und vertrauensvoll zu ihm auf. Man hatte sie nicht gelehrt, zur Vorsehung aufzublicken und zu beten. Doch empfand sie jetzt etwas wie Hoffnung oder Freude.

So verstrichen einige Minuten.

Der Mann begann wieder zu fragen:

»Hat denn Frau Thénardier keine Magd?«

»Nein.«

»Also bist du allein?«

»Ja, guter Herr.«

Wieder folgte eine Pause.

»Eigentlich, sie hat ja die zwei Mädchen«, begann diesmal Cosette.

»Welche Mädchen?«

»Ponine und Zelma.«

So kürzte das Kind die romantischen Namen ab, die der Thénardier so teuer waren.

»Wer ist das, Ponine und Zelma?«

»Das sind die Fräuleins von Frau Thénardier; ihre Töchter.«

»Und was tun die beiden?«

»Oh, sie haben schöne Puppen, Goldsachen, alles mögliche. Sie spielen und unterhalten sich.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja, guter Herr.«

»Und du?«

»Ich arbeite. Manchmal, wenn die Arbeit zu Ende ist und wenn man es mir erlaubt, unterhalte ich mich auch.«

»Wie machst du das?«

»Wie es geht. Ich habe nicht viel Spielzeug. Ponine und Zelma wollen nicht, daß ich mit ihren Puppen spiele. Ich habe einen Bleisäbel, so lang«, und sie zeigte den kleinen Finger.

»Schneidet er denn?«

»Doch, guter Herr, Salat und Köpfe von Fliegen.«

Sie erreichten das Dorf. Cosette führte den Fremden durch die Straßen. Sie kamen auch an der Bäckerei vorüber, aber Cosette dachte nicht an das Brot, das sie mitbringen sollte. Der Mann hatte aufgehört zu fragen und schwieg dumpf. Als sie aber die Kirche hinter sich hatten, bemerkte er die Hökerbuden und fragte:

»Ist denn hier Jahrmarkt?«

»Nein, guter Herr, Weihnachten.«

Sie näherten sich jetzt der Herberge. Scheu berührte Cosette seinen Arm.

»Guter Herr …?«

»Nun?«

»Wir sind jetzt gleich zu Hause.«

»Ja, und?«

»Wollen Sie mir jetzt den Zuber geben?«

»Warum?«

»Wenn Frau Thénardier sieht, daß man ihn mir getragen hat, prügelt sie mich.«

Der Mann gab ihr den Zuber. Im nächsten Augenblick standen die beiden vor dem Eingang der Herberge.


Unannehmlichkeit, einen Armen bei sich aufzunehmen, der vielleicht reich ist

Cosette konnte sich nicht enthalten, einen Blick nach der großen Puppe zu werfen, die noch immer in der Schaubude hellbeleuchtet stand, dann klopfte sie. Es wurde geöffnet. Die Thénardier stand mit der Kerze in der Hand auf der Schwelle.

»Ah, da bist du ja, kleines Aas! Du hast ja schön lang gebraucht! Wo hast du dich denn herumgetrieben, Fratz?«

»Da ist ein Herr, der hier schlafen will«, sagte Cosette zitternd.

Sofort wechselte die Thénardier ihre Miene, wurde liebenswürdig, wie das bei den Gastwirten üblich ist, und faßte den Fremden ins Auge.

»Ist das der Herr?«

»Ja, Frau«, sagte der Mann und führte die Hand zum Hute.

Reiche Reisende pflegen nicht so höflich zu sein. Diese Gebärde, des weiteren auch der kurze Blick, den die Thénardier auf Kleidung und Gepäck des Fremden warf, ließ die liebenswürdige Miene wieder verschwinden, und sie sagte trocken:

»Treten Sie ein, guter Mann.«

Der »gute Mann« folgte. Die Thénardier warf ihm einen zweiten Blick zu, prüfte den Rock, der schon ganz fadenscheinig war, bemerkte, daß der Hut bereits die Form verloren hatte, und wandte sich dann mit einem Zwinkern und Rümpfen der Nase zu ihrem Mann, der noch immer mit den Fuhrleuten zechte. Thénardier antwortete mit einem kaum merklichen Wink des Zeigefingers und zugleich mit einem verächtlichen Herabziehen der Mundwinkel; das bedeutete in diesem Falle: Herr Habenichts!

Jetzt wandte sich die Thénardier wieder dem Fremden zu.

»Ich habe leider keine Schlafstelle mehr frei, guter Mann.«

»Bringen Sie mich unter, wo immer Sie wollen, auf dem Boden oder im Stall. Ich werde so viel zahlen wie für ein Zimmer.«

»Kostet vierzig Sous.«

»Gut, vierzig Sous.«

»Nun denn, von mir aus.«

»Vierzig Sous«, sagte ein Kutscher leise zu Thénardier, »das ist doch zuviel? Es kostet doch nur einen Franken!«

»Für den zwei«, erwiderte die Thénardier in gleichem Ton. »Ganz Arme nehme ich billiger nicht an.«

»Das ist ganz richtig«, fügte ihr Gatte freundlich hinzu, »das schadet dem Hause, wenn man solche Gäste hat.«

Inzwischen hatte der Mann sein Bündel und seinen Stock abgelegt und an einem Tisch Platz genommen; Cosette beeilte sich, eine Flasche Wein und ein Glas vor ihn hinzustellen. Der Hausierer, der Wasser für sein Pferd verlangt hatte, ging in den Stall. Jetzt nahm Cosette ihren Platz unter dem Küchentisch wieder ein und griff nach der Strickerei.

Der Fremde hatte kaum an dem Wein genippt; mit seltsamer Teilnahme betrachtete er das Kind.

Cosette war häßlich. Wenn sie glücklich gewesen wäre, hätte sie ein hübsches Kind sein können. Wir haben das traurige kleine Geschöpf schon gezeichnet. Sie war mager und blaß, sah trotz ihrer acht Jahre kaum wie sechs Jahre alt aus. Ihre großen, tiefliegenden Augen waren vom Weinen fast erloschen. Ihre Mundwinkel waren gekrümmt, wie man es bei Menschen findet, die viel Angst ausstehen, zumal bei Verurteilten und unheilbar Kranken. Ihre Hände waren von Frostbeulen entstellt. Das Kaminfeuer, dessen Licht auf die Kleine fiel, hob die scharf vorspringenden Knochen deutlich hervor und betonte die Magerkeit des armen Geschöpfs. Da das Kind immer fror, hatte es sich daran gewöhnt, die beiden Knie gegeneinander zu pressen. Seine Kleidung bestand aus einem elenden Fetzen, der im Sommer Mitleid, im Winter Grauen erregen mußte. Sie hatte nur ein zerschlissenes Stück Leinen auf dem Leibe, kein Stückchen Wolle. Stellenweise kam die bloße Haut zum Vorschein, und man konnte die blauen und schwarzen Flecken erkennen, die von Frau Thénardiers Mißhandlungen herrührten. Die nackten Beine waren gerötet. Die ganze Erscheinung des Kindes, sein Gehaben, der Klang seiner Stimme, die langen Pausen zwischen den Worten, sein Blick, jede Geste, alles verriet den einzigen Trieb, der das unglückliche Wesen beherrschte – die Furcht.

Alles an ihr war Furcht; die Furcht ließ Cosette die Ellbogen an die Hüften pressen und die Fersen an sich ziehen, den Atem anhalten und eine Haltung einnehmen, in der sie möglichst wenig Raum brauchte. In der Tiefe ihrer Augen lag Verwunderung und Schrecken.

Der Mann in dem gelben Rock ließ sie nicht aus den Augen.

Plötzlich rief die Thénardier:

»Nun, und das Brot?«

Wie immer, wenn die Thénardier laut sprach, kam Cosette unter dem Tisch hervor. Sie hatte das Brot vollständig vergessen. So zog sie sich in die Verteidigungsstellung aller verängstigten Kinder zurück – sie log.

»Der Bäcker hatte schon geschlossen.«

»Dann mußtest du anklopfen.«

»Ich habe geklopft, aber er hat nicht geöffnet.«

»Ich werde ihn morgen fragen, ob das wahr ist. Wenn du gelogen hast, so sollst du etwas zu spüren bekommen. Jetzt gib mir die fünfzehn Sous zurück.«

Cosette griff in die Tasche und wurde totenblaß. Die fünfzehn Sous waren nicht mehr da.

»Vorwärts«, schrie die Thénardier, »hast du gehört!«

Cosette wandte ihre Tasche um. Nichts. Wo mochte die Münze hingekommen sein? Die Kleine brachte kein Wort über die Lippen. Sie war wie zu Stein erstarrt.

»Hast du es vielleicht verloren?« schrie die Thénardier, »oder willst du es mir stehlen?«

Und sie streckte die Hand nach der Karbatsche aus, die in der Kaminecke hing.

Jetzt fand Cosette die Kraft zu schreien.

»Nein, ich tu’s nicht wieder!«

Schon hatte die Thénardier die Karbatsche in der Hand.

Der Mann in dem gelben Rock hatte in seine Westentasche gegriffen, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Übrigens waren die anderen Gäste mit Trunk und Spiel beschäftigt und kümmerten sich nicht um das, was vorging.

Cosette drückte sich angstvoll in die Kaminecke und suchte ihre armen halbnackten Glieder nach Möglichkeit zu decken. Die Thénardier holte aus.

»Einen Augenblick, Frau«, sagte der Mann, »aber da ist der Kleinen eben etwas aus der Tasche gefallen und unter den Tisch gerollt. Vielleicht ist es die Münze, die Sie suchen?«

Er bückte sich und schien nach etwas zu greifen.

»Richtig, da ist es«, sagte er und reichte die Münze der Thénardier.

»Allerdings …«

Cosette kroch unter den Tisch zurück, in »ihren Winkel«, wie es die Thénardier nannte; ihr großes Auge war erstaunt auf den Fremden gerichtet und nahm einen Ausdruck an, den es bisher nicht gekannt hatte.

»Wollen Sie nicht etwas essen?« fragte die Thénardier den Gast.

Er antwortete nicht. Offenbar dachte er tief nach.

Eine Tür ging auf, Eponine und Azelma traten ein.

Die Kleinen waren wirklich hübsch und glichen eher Bürgermädchen als Bauerntöchtern; die eine hatte glänzendes, kastanienbraunes Haar, die andere lange, schwarze Zöpfe, die auf den Rücken herabhingen; beide waren lebhaft, sauber, frisch, und es war eine Freude, sie anzuschauen. Sie waren warm und so geschickt gekleidet, daß die Dicke des Wollstoffs nicht ungeschmeidig wirkte. Auch bewies das sichere Auftreten der Kinder, daß sie nicht schüchtern waren. Als sie eintraten, hatte die Thénardier mürrisch, aber doch voll zärtlicher Liebe gesagt:

»Ach, da seid ihr ja wieder!«

Dann hob sie eine nach der andern auf den Schoß, strich ihnen die Haare aus dem Gesicht, glättete die Schleifen und setzte sie sanft, wie es nur Mütter tun, wieder auf die Erde.

Die beiden Mädchen hatten eine Puppe mitgebracht, mit der sie aufs anmutigste spielten. Zuweilen blickte Cosette von ihrer Strickarbeit auf, ihr Blick war düster.

Eponine und Azelma achteten nicht darauf. Für sie war Cosette wie ein Hund. Diese drei Mädchen zählten zusammen keine vierundzwanzig Jahre, und doch waren sie schon eine Kopie der menschlichen Gesellschaft: hier Neid – hier Verachtung.

Die Puppe der Schwestern Thénardier sah recht abgerissen und alt aus, nichtsdestoweniger mußte sie Cosette bewunderungswürdig erscheinen, da sie doch in ihrem Leben niemals, wenn wir das Kinderwort gebrauchen wollen, eine richtige Puppe besessen hatte.

Plötzlich bemerkte die Thénardier, die in der Gaststube auf und ab ging, daß Cosette nicht arbeitete, sondern den beiden spielenden Mädchen zusah.

»So arbeitest du!« schrie sie. »Ich werde dich mit der Karbatsche arbeiten lehren!«

Ohne aufzustehen, wandte sich der Fremde der Thénardier zu.

»Lassen Sie sie doch spielen«, sagte er fast ängstlich.

Von einem Reisenden, der eine Hammelkeule und zwei Flaschen Wein bestellt hätte und nicht wie ein elender Schnorrer aussah, hätte dieser Wunsch einen Befehl bedeutet. Aber daß einer mit einem verbeulten Hut und einem abgeschabten Rock etwas wolle, glaubte die Thénardier nicht dulden zu dürfen. Darum sagte sie grob:

»Sie hat zu arbeiten, denn sie ißt ja auch. Ich ernähre sie nicht, damit sie faulenzt.«

»Was arbeitet sie denn da?« fragte der Fremde mit einer sanften Stimme, die nicht zu seinen Lastträgerschultern paßte.

»Strümpfe, wenn es Ihnen paßt«, antwortete die Thénardier. »Strümpfe für meine Töchter, die keine mehr haben und bald nackt laufen müssen.«

Der Fremde streifte die rotgefrorenen Beinchen Cosettes mit einem Blick und fuhr fort:

»Wie lange braucht sie, um solch ein Paar fertigzustricken?«

»Bei ihrer Faulheit gewiß drei oder vier Tage.«

»Und was mag ein solches Paar Strümpfe wert sein, wenn es fertig ist?«

Die Thénardier warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Mindestens dreißig Sous.«

»Würden Sie es mir für fünf Franken ablassen?«

»Himmelherrgott!« rief einer der Fuhrleute, »für fünf Franken? Denke wohl! Für fünf Plemper!«

Jetzt glaubte Thénardier, ein Wort zur Sache sagen zu müssen.

»Nun, mein Herr, wenn es Ihre Laune will, sollen Sie dies Paar Strümpfe für fünf Franken haben. Wir schlagen unseren Gästen nicht gern etwas ab.«

»Aber das Geld muß gleich bezahlt werden«, sagte die Thénardier kurz und entschieden.

»Ich kaufe also dieses Paar Strümpfe«, erwiderte der Mann, zog ein Fünffrankenstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Hier ist das Geld.«

Dann wandte er sich an Cosette:

»Jetzt gehört deine Arbeit mir. Geh spielen, mein Kind!«

Thénardier trat an den Tisch und nahm wortlos das Fünffrankenstück. Seine Frau fand ihre Sprache nicht wieder. Sie biß sich in die Lippen, und ihr Gesicht verriet Haß.

Cosette zitterte, aber sie wagte doch zu fragen:

»Darf ich spielen?«

»Spiel schon!« schrie die Thénardier wütend.

»Danke«, flüsterte die Kleine.

Ihr Mund dankte der Wirtin, aber ihre kleine Seele wandte sich dem Fremden zu.

Thénardier hatte sich wieder an den Tisch der Zecher gesetzt. Seine Frau flüsterte ihm ins Ohr:

»Wer mag der Gelbe sein?«

»Ich habe Millionäre gesehen«, erwiderte Thénardier patzig, »die Röcke wie diesen anhatten.«

Cosette hatte ihren Strumpf beiseite gelegt, war aber auf ihrem Platz verblieben. Sie rührte sich immer so wenig als möglich. Aus einer Schachtel, die hinter ihr stand, hatte sie einige alte Tuchlappen und einen kleinen Bleisäbel genommen.

Eponine und Azelma achteten nicht darauf, was vorging. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einer sehr wichtigen Maßnahme, sie hatten sich der Katze bemächtigt. Die Puppe war weggelegt worden, und Eponine, die Ältere, versuchte das Kätzchen, sosehr es sich auch sträubte und sosehr es miaute, in eine Menge kleiner roter und blauer Lappen zu wickeln. Während sie diese ernste und schwierige Arbeit vollbrachte, erklärte sie in dieser süßen und liebenswürdigen Sprache der Kinder, deren Anmut ebenso unnachahmlich ist wie der Glanz der Flügel eines Schmetterlings, den Zweck ihres Werkes:

»Siehst du, diese Puppe ist lustiger als die andere. Sie bewegt sich, sie schreit, sie ist sogar warm. Verstehst du, wir wollen mit ihr spielen. Sie ist meine Tochter, ich bin eine Dame. Ich komme zu dir zu Besuch, und du siehst sie. Da merkst du, daß sie einen Schnurrbart hat, und tust erstaunt. Hernach siehst du die Ohren und den Schwanz und staunst noch mehr. Und du sagst: Mein Gott, und ich sage darauf: Ja, Madame, das ist meine Tochter, und ich habe sie so bekommen. Heute sind die kleinen Mädchen so.«

Azelma hörte diesen Vorschlag Eponines mit Begeisterung.

Inzwischen hatten die Zecher begonnen, ein zotiges Lied zu singen, und sie brüllten so laut, daß die Decke davon zitterte. Thénardier stimmte ein und feuerte sie an.

Wie die Vögel aus allem ein Nest zustande bringen, machen Kinder aus den unmöglichsten Dingen eine Puppe. Während Eponine und Azelma die Katze als Fräulein herausputzten, bekleidete Cosette ihren Säbel. Dann nahm sie ihn auf den Arm und wiegte ihn in den Schlaf.

Die Thénardier war wieder zu dem Gelben zurückgekehrt. Mein Mann hat recht, dachte sie, vielleicht ist der Kerl ein Rothschild. Die Reichen sind oft so schrullig!

»Mein Herr …«, sagte sie.

Auf diese Anrede wandte sich der Fremde um. Bisher hatte die Thénardier ihn »guter Mann« angeredet.

»Sehen Sie, mein Herr«, fuhr sie fort und setzte ihre süßlichste Miene auf, die noch abstoßender wirkte als ihre wütende, »ich will ja gern, daß das Kind spielt, ich hab gar nichts dagegen, aber es geht doch nur einmal, weil Sie freigebig sind. Verstehen Sie, die hat nichts, darum muß sie arbeiten.«

»Ach, sie ist wohl nicht Ihr Kind?«

»Beileibe nein, Herr, es ist eine kleine Arme, die wir aus purem Mitleid aufgenommen haben. Und ein wenig blöd ist das Kind auch. Wahrscheinlich hat es Wasser im Kopf. Sehen Sie nur den großen Kopf an! Wir tun für sie, was wir können, aber wir sind nicht reich. Da ist es leicht, Briefe in ihre Heimat zu schreiben, man kriegt doch keine Antwort. Schon sechs Monate! Die Mutter muß gestorben sein.«

»So«, meinte der Mann und versank wieder in seine träumerische Stimmung.

»An der Mutter war auch nicht viel«, fuhr die Thénardier fort. »Sie hat das Kind im Stich gelassen.«

Während dieses Gesprächs hatte Cosette, der ein Instinkt zu sagen schien, daß von ihr die Rede war, kein Auge von der Thénardier gewandt. Vielleicht schnappte sie das eine oder andere Wort auf.

Endlich gab der »Millionär« dem Drängen der Wirtin nach und willigte darein, ein Abendbrot zu bestellen.

»Was befehlen der Herr?«

»Brot und Käse.«

Er ist doch ein Schnorrer, dachte die Thénardier.

Die Trinker waren noch immer bei ihrem Gesang, und auch Cosette summte unter dem Tisch vor sich hin. Plötzlich stockte sie. Sie hatte sich umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen Thénardiers, die zugunsten der Katze vernachlässigt worden war und am Boden lag.

Sie ließ ihren Säbel fallen, der doch immer nur ein halbes Kind abgeben konnte, und blickte zunächst scheu um sich. Die Thénardier stand bei ihrem Mann und flüsterte, Ponine und Zelma spielten mit der Katze, die Gäste soffen und grölten; niemand achtete auf sie. Es hieß keinen Augenblick verlieren. Sie kroch auf Händen und Füßen unter ihrem Tisch hervor, versicherte sich noch einmal, daß niemand aufpaßte, glitt dann rasch zu der Puppe hin und ergriff sie. Im nächsten Augenblick war sie wieder auf ihrem Platz; sie hatte sich so gesetzt, daß ihr Schatten auf die Puppe fiel. Das Vergnügen, mit einem so köstlichen Gegenstand zu spielen, war für sie offenbar so außerordentlich, daß sie sich mit höchstem Eifer daranmachte.

Niemand hatte sie bemerkt, nur der Fremde, der langsam sein dürftiges Mahl verzehrte, beobachtete sie.

Dieses Glück dauerte fast eine Viertelstunde. Aber so vorsichtig Cosette auch gewesen war, sie bemerkte nicht, daß ein Fuß der Puppe aus dem Schatten hervorstand und daß das Feuer des Kamins grell darauf fiel. Dieser hellbeleuchtete, rosige Fuß lenkte schließlich auch Azelmas Blicke auf sich, und sie sagte zu Eponine:

»Aufgepaßt!«

Verblüfft hielten die beiden Kleinen in ihrem Spiel inne. Cosette hatte gewagt, ihre Puppe anzugreifen.

Eponine stand auf und ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter. Sie zupfte die Thénardier am Rock.

»Laß mich in Ruhe«, sagte diese. »Was willst du denn?«

»Sieh doch, Mutter!«

Und sie deutete auf Cosette.

Das Kind, von dem Genuß dieses seltenen Besitzes ganz berauscht, merkte nichts.

Das Gesicht der Thénardier nahm einen wütenden Ausdruck an. Ihr beleidigter Stolz war noch wilder als ihr Zorn. Cosette hatte sich unterstanden, den ungeheuerlichen Abstand nicht zu wahren, der sie von der Familie ihrer Brotherren trennte. Sie hatte die Puppe der Fräulein angetastet. Eine Zarin, die einen Muschik dabei ertappt, wie er das blaue Ordensband des Zarewitsch probiert, könnte nicht tiefer empört sein.

Heiser vor Wut schrie sie:

»Cosette!«

Cosette nahm die Puppe und legte sie mit einer Gebärde, in der Verzweiflung und Bewunderung lag, wieder auf den Boden. Dann aber tat sie, was sie diesen ganzen an Aufregungen so reichen Tag über nicht getan hatte, weder auf dem Wege durch den Wald, noch als sie das Geld verlor, noch als die Karbatsche drohte – sie brach in Tränen aus.

Der Fremde war aufgestanden.

»Was gibt’s denn?« fragte er.

»Sehen Sie es denn nicht?!« rief die Thénardier und deutete auf das Corpus delicti, das zu Cosettes Füßen lag.

»Was denn?«

»Dieses Bettelkind hat sich unterstanden, die Puppe meiner Kinder anzufassen.«

»Darum all der Lärm? Was ist denn dabei, wenn sie mit dieser Puppe spielt?«

»Mit ihren dreckigen Fingern hat sie sie angegriffen, mit ihren scheußlichen Händen«, schimpfte die Thénardier.

Cosette schluchzte nur noch lauter.

»Ruhig, du!« schrie die Thénardier.

Der Fremde trat zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Diese Abwesenheit des Beschützers der Kleinen machte die Thénardier sich zunutze, um Cosette unter dem Tisch einen Tritt zu versetzen, der das arme Kind laut aufschreien ließ.

Gleich darauf ging die Türe wieder auf, und der Fremde kehrte zurück; in den Händen hielt er die märchenhafte Puppe, von der wir schon gesprochen haben und die seit diesem Morgen das Entzücken aller Kinder des Dorfes war. Er stellte sie vor Cosette hin und sagte:

»Da, sie ist für dich.«

Cosette blickte auf; sie hatte den Fremden mit der Puppe wie eine aufgehende Sonne angestarrt, hörte sprachlos die unfaßlichen Worte »sie ist für dich« – und jetzt verkroch sie sich, zog sich ängstlich unter den Tisch zurück.

Sie weinte nicht mehr; vielleicht wagte sie kaum mehr zu atmen.

Die Thénardier, Eponine und Azelma waren starr. Sogar die Zecher waren aufmerksam geworden. Eine feierliche Stille herrschte in der Kaschemme.

Wieder begann die Thénardier nachzudenken. Wer mochte nur dieser Alte sein? Ein Armer? Ein Millionär? Oder eine Mischung aus beiden, ein Gauner?

Das Gesicht ihres Mannes nahm jenen Ausdruck an, der im Antlitz des Menschen die Vorherrschaft gewinnt, sobald sein tierischer Instinkt durchbricht. Der Kaschemmenwirt betrachtete bald die Puppe, bald den Fremden. Er schien zu wittern. Es dauerte nur eine Sekunde. Dann trat er zu seiner Frau und flüsterte:

»Das Zeug kostet mindestens dreißig Franken. Keine Dummheiten! Der Mann muß in Watte gewickelt werden.«

Plumpe Charaktere haben mit naiven gemeinsam, daß sie keine Übergänge kennen.

»Na, Cosette«, sagte die Thénardier in dem süßlichsten Ton, dessen sie fähig war, »willst du denn das Püppchen nicht nehmen?«

Endlich wagte Cosette sich aus ihrem Schlupfwinkel heraus.

»Kleinchen«, ermunterte sie die Thénardier zärtlich, »der Herr schenkt dir eine Puppe. Nimm sie doch, sie gehört dir.«

Cosette betrachtete das Wunderding fast mit Schrecken. Noch war ihr Gesicht mit Tränen benetzt, aber ihre Augen leuchteten jetzt auf wie der Himmel bei Sonnenaufgang. Was sie empfand, war nicht anders, als wenn man ihr unvermittelt gesagt hätte: Kleine, du bist die Königin von Frankreich.

Und doch schien sie zu befürchten, der Blitz müsse sie treffen, wenn sie nach dieser Puppe griff.

Endlich wagte sie sich näher und murmelte schüchtern:

»Darf ich?«

Der Fremde nickte Cosette zu und legte die Hand der Puppe in die ihre. Sofort zog sich das Kind zurück, als ob »die Dame« sie verbrennen müßte, und blickte verlegen zu Boden. Um aufrichtig zu sein, müssen wir sogar hinzufügen, daß sie dabei die Zunge aus dem Mund hängen ließ. Plötzlich griff sie nach der Puppe und sagte:

»Ich will sie Katherine nennen.«

Es sah bizarr genug aus, wie dieses Kind in elenden Lumpen nach der Puppe in rosa Musselin griff.

»Darf ich sie auf einen Stuhl setzen?« fragte sie.

»Doch, mein Kind«, antwortete die Thénardier.

Jetzt war es an Eponine und Azelma, neidische Blicke zu werfen. Cosette setzte Katherine auf einen Stuhl, hockte dann vor ihr auf dem Boden nieder und betrachtete sie in ehrfürchtigem Staunen.

»Spiel doch, Cosette«, sagte der Fremde.

»Ich spiele ja.«

Die Thénardier empfand es unerträglich, diese Szene weiter mit anzusehen. Darum bat sie den Fremden um die Erlaubnis, ihre Kinder und auch Cosette zu Bett zu schicken, »denn die Kleine hat sich heute sehr geplagt«, wie sie mütterlich hinzufügte.

Der Fremde hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und versank in nachdenkliches Träumen. Die Zecher waren von ihm abgerückt und sangen nicht mehr. Aus der Ferne betrachteten sie ihn mit respektvoller Scheu. Dieser Sonderling, der so elend angezogen war, die Fünffrankenstücke aber so locker in der Tasche sitzen hatte, war gewiß eine unheimliche Erscheinung.

Stunden verstrichen. Die Mette war vorüber, der Nachtwächter hatte Schlafenszeit ausgerufen, die Zecher waren gegangen, und die Kneipe war geschlossen worden. Schon war das Feuer im Kamin erloschen, aber der Fremde saß noch immer in der gleichen Stellung an seinem Platz. Von Zeit zu Zeit wechselte er den Arm, auf den er sich stützte. Aber er hatte, seit Cosette nicht mehr da war, kein Wort gesprochen.

Die Thénardiers waren, sei es aus Höflichkeit, sei es aus Neugierde, in der Gaststube geblieben.

»Will er so die Nacht verbringen?« murrte die Thénardier. Als es zwei Uhr schlug, gab sie sich besiegt und sagte zu ihrem Gatten:

»Ich gehe schlafen. Tu du, was du willst.«

Der Gatte setzte sich an einen Tisch in der Ecke, zündete eine Kerze an und begann den »Courier Français« zu studieren.

Wieder verging eine gute Stunde. Der wackere Wirt hatte seine Zeitung bereits dreimal vom Datum bis zum Druckvermerk durchstudiert. Noch immer rührte sich der Fremde nicht.

Thénardier hüstelte, räusperte sich, schneuzte sich, knarrte mit seinem Stuhl; vergebens.

Er ist wohl eingeschlafen, dachte er.

Endlich nahm er seine Mütze ab, trat vorsichtig näher und fragte:

»Wollen der Herr sich nicht zur Ruhe begeben?«

Sich zur Ruhe begeben schien ihm vornehmer als schlafen gehen. Schlafen gehen klang so vertraulich, ja sogar familiär. Sich zur Ruhe begeben ist ein Luxus und setzt Respekt voraus. Es ist einer von jenen Ausdrücken, der die mystische Macht besitzt, sich am nächsten Tag auf der Rechnung geltend zu machen. Ein Zimmer, in das man schlafen geht, kostet zwanzig Sous, ein Zimmer, in das man sich zur Ruhe begibt, zwanzig Franken.

»Ach ja«, sagte der Fremde, »Sie haben recht. Wo ist Ihr Stall?«

»Ich werde den Herrn führen«, sagte Thénardier lächelnd.

Er nahm das Licht, der Fremde ergriff sein Bündel und seinen Stock; dann führte Thénardier ihn in ein Zimmer in der ersten Etage, das mit erstaunlichem Luxus eingerichtet war; die Möbel waren aus Mahagoni, das gewaltige Doppelbett von einem Himmel überdacht.

»Was soll das?« fragte der Reisende.

»Es ist unser Brautzimmer«, sagte der Wirt, »wir bewohnen es jetzt nicht. Ich vergebe es höchstens drei- oder viermal im Jahre.«

»Der Stall wäre mir ebenso recht gewesen«, erwiderte der Fremde brüsk. Doch schien Thénardier diese wenig verbindliche Äußerung zu überhören. Er zündete zwei neue Wachslichter an, die auf dem Kamin standen. Im Alkoven brannte ein lebhaftes Feuer.

Auf dem Kamin stand unter einer Glasglocke der Kopfputz einer Frau, Silberdraht und Orangenblüten.

»Was ist denn das?« fragte der Fremde.

»Der Brautkranz meiner Frau.«

Der Fremde betrachtete das Schaustück mit einem Blick, der zu sagen schien: Dieses Ungeheuer ist also einmal Jungfrau gewesen!

Übrigens log Thénardier. Als er dieses Haus gemietet hatte, um eine Herberge daraus zu machen, war dieses Zimmer schon so eingerichtet gewesen, er hatte es mit allen Möbeln und auch dem Brautschmuck gekauft, wobei er vielleicht dachte, dieser Schmuck würde seiner Gattin ein Air von zarter Anmut verleihen und dem ganzen Haus etwas von jener, wie es die Engländer nennen, Wohlanständigkeit geben.

Als der Gast sich umwandte, war der Wirt verschwunden. Thénardier hatte sich diskret zurückgezogen, ohne auch nur gute Nacht zu wünschen. Er wollte einen Gast nicht mit respektloser Herzlichkeit behandeln, dem er morgen eine halsabschneiderische Rechnung zu präsentieren gedachte.

Als der Gastwirt in sein Zimmer trat, fand er seine Frau bereits im Bett. Sie schlief noch nicht. Beim Geräusch seiner Schritte wandte sie sich um und sagte:

»Und daß du es gleich weißt, morgen schmeiß ich Cosette hinaus!«

»Soso«, antwortete Thénardier kalt. Weitere Reden wurden zwischen den beiden nicht ausgetauscht, und einige Minuten später war die Kerze ausgelöscht.

Der Fremde seinerseits setzte sich, nachdem der Wirt gegangen war, in einen Lehnstuhl und blieb eine Weile nachdenklich. Dann zog er seine Schuhe aus, nahm eine der beiden Kerzen, verlöschte die andere, öffnete die Tür und ging hinaus. Er kam durch den Korridor bis zur Treppe. Hier hörte er ein schwaches Geräusch, das wie der Atem eines Kindes klang. Diesem Geräusch folgte er und gelangte zu einem dreieckigen Verschlag, der unter den Stufen der Treppe zwischen alten Körben, zerbrochenem Geschirr, Spinnweben und Staub freigelassen war; wenn man einen zerschlissenen Sack voll Stroh ein Bett nennen will, so lag hier ein Bett, und darin schlief Cosette.

Er beugte sich über sie und betrachtete sie.

Sie schlief tief. Ihre Lumpen hatte sie nicht abgelegt. Im Winter schlief sie immer bekleidet, um weniger zu frieren.

Die Puppe, deren große glänzende Augen offenstanden und im Finstern leuchteten, hielt sie an sich gedrückt. Von Zeit zu Zeit stieß sie einen schweren Seufzer aus, als ob sie aufwachen wollte. Neben ihrem Bett stand nur einer ihrer Holzschuhe.

Eine offene Tür neben Cosettes Verschlag gab den Eintritt in ein ziemlich geräumiges Zimmer frei. Im Hintergrund sah man durch die Glastüre zwei kleine, weißüberzogene Bettchen. Hier schliefen Azelma und Eponine.

Der Fremde trat ein. Er bedachte, daß dieses Zimmer an den Schlafraum der Thénardier grenzen mochte und wollte sich eben zurückziehen, als sein Blick auf den Kamin fiel, einen dieser ungeheuerlichen Herbergskamine, in denen zumeist nur ein kleines Feuerchen brennt und die so kalt aussehen. In diesem war kein Feuer, nicht einmal eine Spur von Asche, aber etwas anderes zog die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich: zwei kleine, niedliche Kinderschuhe von verschiedener Größe. Er erinnerte sich der uralten, reizenden Sitte, daß die Kinder am Weihnachtstage einen Schuh in den Kamin stellen, in den dann eine gute Fee ein Geschenk für sie legen soll. Eponine und Azelma hatten nicht versäumt, so zu tun, und hatten jede einen ihrer Schuhe in den Kamin gestellt.

Der Fremde beugte sich vor.

Die Fee, ihre Mutter, war schon dagewesen; in jedem der Schuhe funkelte ein neues Zehnsousstück.

Eben wollte der Fremde sich wieder zurückziehen, als er abseits, in einem dunklen Winkel des Kamins, einen anderen Gegenstand bemerkte. Es war ein schmutziger, grober Holzschuh. Cosette hatte in jenem rührenden Zutrauen der Kinder, das oft getäuscht, nie gänzlich entmutigt wird, auch ihre Pantine in den Kamin gestellt.

Wie süß und erhaben ist doch die Hoffnungsbereitschaft eines Kindes, das nur die Verzweiflung kennengelernt hat!

Der Holzschuh war leer.

Bevor der Fremde leise in sein Zimmer zurückkehrte, griff er in seine Westentasche, zog einen Louisdor hervor und steckte ihn in Cosettes Pantine.


Thénardier am Werk

Am nächsten Morgen, wohl zwei Stunden vor Sonnenaufgang, saß Herr Thénardier bei einer Kerze im Gastzimmer, hielt eine Feder in der Hand und bereitete die Rechnung von dem Herrn im gelben Rock vor.

Seine Frau stand hinter ihm, beugte sich vor und folgte seiner Schrift mit den Augen. Die beiden wechselten kein Wort. Der eine schwieg aus tiefer Nachdenklichkeit, die andere wohl aus jener frommen Andacht, mit der der Menschengeist dem Wunder gegenübersteht.

Nach einer guten Viertelstunde vollbrachte Thénardier folgendes Meisterwerk:


Rechnung für den Herrn von Nr. 1:

Abendbrot 3 Franken,

Zimmer 10 ”

Beleuchtung 5 ”

Beheizung 4 ”

Bedienung 1 ”

Summa: 23 Franken.


Statt Bedienung war geschrieben Bedinnung.

»Dreiundzwanzig Franken!« rief Frau Thénardier mit einer Begeisterung, der eine gewisse Bedenklichkeit beigemischt war.

Wie alle großen Künstler, war Thénardier mit seinem Werk nicht zufrieden.

»Noch immer zu wenig«, murrte er. Seine Miene glich der Castlereaghs, der auf dem Wiener Kongreß die Kriegsschulden Frankreichs festsetzt.

»Herr Thénardier, du hast ganz recht. So muß man’s machen«, murmelte die Frau, die sich der Puppe erinnerte. »Nur fürchte ich, er wird’s nicht bezahlen.«

Mit kaltem Lächeln erwiderte Thénardier:

»Er wird bezahlen.«

Dieses Lachen war ein Zeichen höchster Sicherheit. Was so gesagt wurde, mußte stimmen. Die Frau machte auch keine Einwendungen mehr. Sie rückte die Stühle zurecht, während ihr Mann in der Stube auf und ab ging.

»Ich habe fünfzehnhundert Franken Schulden«, sagte er.

»Vergiß aber nicht«, sagte die Frau, »daß ich heute Cosette fortjage. Dieses Scheusal! Wenn ich ihre Puppe sehe, werde ich rasend. Ich möchte lieber Ludwig XVIII. heiraten, als sie einen Tag länger unter meinem Dach dulden.«

Thénardier steckte seine Pfeife an und sagte zwischen zwei Zügen:

»Du bringst dem Mann die Rechnung.«

Damit ging er.

Kaum war er draußen, als der Fremde eintrat. Thénardier tauchte sofort wieder in der halboffenen Tür auf. Der Gelbe, der ihn wohl nicht gesehen hatte, trug Stock und Bündel in der Hand.

»So früh schon auf den Beinen?« fragte die Thénardier. »Wollen der Herr uns schon verlassen?«

Dabei drehte sie verlegen die Rechnung in den Händen und kniff mit ihren Nägeln das Blatt. Ihr Gesicht zeigte zwei Gefühle, die ihr ganz fremd waren, Schüchternheit und Bedenken. Offenbar schien es ihr gewagt, einem Gast, der so ärmlich aussah, eine solche Rechnung zu präsentieren.

Der Fremde dagegen sah nachdenklich und zerstreut aus.

»Ja, ich gehe.«

»Hat denn der Herr nicht Geschäfte in Montfermeil?«

»Nein, ich bin nur auf der Durchreise. Was bin ich Ihnen schuldig?«

Wortlos reichte sie ihm die Rechnung.

Der Fremde entfaltete das Blatt und sah es an; aber seine Gedanken weilten offenbar anderswo.

»Machen Sie denn gute Geschäfte hier in Montfermeil?« fragte er plötzlich.

»Es geht, mein Herr«, erwiderte sie erstaunt, keine Abfuhr zu bekommen. »Allerdings, die Zeiten sind schwer«, fuhr sie klagend fort. »Bürgerliche Herrschaften kommen so selten zu uns. Alles kleine Leute. Wenn wir öfters reiche und freigebige Gäste wie Sie hätten … die Ausgaben sind so groß. Die Kleine zum Beispiel, was das kostet, man könnte den Kopf verlieren.«

»Welche Kleine?«

»Nun, die Kleine, Sie wissen doch, Cosette.«

»Ach so.«

»Man verdient nichts, aber Steuern soll man bezahlen, Gewerbesteuer, Einkommensteuer, Gemeindesteuern für Türen und Fenster, Pachtsteuer! Der Herr weiß, wie unersättlich die Regierung ist. Und dann habe ich doch auch meine Töchter. Anderer Leute Kinder zu ernähren, habe ich wirklich nicht nötig.«

Mit einer Stimme, die gleichgültig klingen sollte, aber doch zitterte, fragte der Fremde:

»Wenn man sie Ihnen wegnähme?«

Das gerötete Gesicht der Wirtin strahlte.

»Ach, guter Herr, nehmen Sie sie doch, nehmen Sie sie gleich mit, wickeln Sie sie in Zucker und Butter und seien Sie von der Heiligen Jungfrau und allen Heiligen im Paradies gesegnet!«

»Abgemacht!«

»Sie wollen sie sofort mitnehmen?«

»Sofort, rufen Sie sie.«

»Cosette!« schrie die Thénardier.

»Inzwischen kann ich ja die Rechnung bezahlen. Wieviel macht es?«

Er warf einen Blick auf die Rechnung und konnte eine Bewegung des Erstaunens nicht unterdrücken. »Dreiundzwanzig Franken?«

Dieser Satz schloß mit einem Rufzeichen und einem Fragezeichen.

Doch die Thénardier hatte sich inzwischen gefaßt. Ruhig erwiderte sie:

»Ja doch, mein Herr, dreiundzwanzig Franken.«

Der Fremde legte fünf Fünffrankenstücke auf den Tisch.

»Holen Sie die Kleine«, sagte er.

In diesem Augenblick trat Thénardier vor und sagte:

»Der Herr hat sechsundzwanzig Sous zu bezahlen.«

»Sechsundzwanzig Sous?« fragte die Frau.

»Zwanzig für das Zimmer und sechs für das Abendbrot. Und was die Kleine betrifft, muß ich mit dem Herrn noch sprechen. Laß uns allein.«

Die Thénardier hatte eine jener Ahnungen, die blitzhaft in einem wachen Gehirn auftauchen. Sie spürte, daß jetzt der Star die Bühne betrat, und ging wortlos hinaus.

Als die beiden allein waren, bot Thénardier dem Fremden einen Stuhl an. Dieser setzte sich, während Thénardier stehenblieb; sein Gesicht drückte Gutmütigkeit und Einfalt aus.

»Ich möchte Ihnen nur sagen, mein Herr«, begann er, »daß ich dieses Kind von Herzen gern habe. Es ist komisch, aber man gewöhnt sich an so etwas. Was soll dieses Geld da? Nehmen Sie doch die Fünffrankenstücke weg. Wahrhaftig, ich mag die Kleine schrecklich gern!«

»Wen?«

»Na, die kleine Cosette. Sie wollen sie uns wegnehmen? Nun, ich will mit Ihnen ganz offen sprechen, so aufrichtig, wie Sie ein Ehrenmann sind. Ich kann das nicht zugeben. Sie würde mir fehlen. Von klein auf war sie bei uns. Wohl wahr, daß sie uns teures Geld kostet, sie hat auch ihre Fehler, und wir sind weiß Gott nicht reich! Wahr ist auch, daß ich, als sie krank war, vierhundert Franken für sie ausgegeben habe. Aber der liebe Gott will, daß man auch einmal etwas Gutes tut. Sie hat weder Vater noch Mutter. Ich habe sie aufgepäppelt. Für sie und für mich habe ich immer Brot. Wirklich, ich hänge an ihr. Man gewinnt so etwas lieb, verstehen Sie. Ich bin vielleicht nicht sehr gescheit, aber ein gutmütiger Kerl bin ich. Bei mir geht nicht alles nach der Rechenmaschine. Ich habe sie gern, die Kleine, und wenn meine Frau auch etwas heftig ist, sie mag sie auch. Für uns ist sie wie ein eigenes Kind. Ich möchte gar nicht mehr leben, wenn ich ihr süßes Geplapper nicht mehr im Hause hören sollte.«

Der Fremde sah ihn scharf an.

»Begreifen Sie doch, mein Herr, man kann sein Kind nicht so ohne weiteres einem Durchreisenden mitgeben. Habe ich nicht recht? Und außerdem, Sie sind reich, es wäre ja ein Glück für die Kleine, aber man müßte es doch sicher wissen. Wenn wir annehmen, daß ich sie weggebe und das Opfer bringe, gut, aber ich muß doch wissen, wohin sie kommt, ich kann sie nicht aus den Augen verlieren. Von Zeit zu Zeit muß ich sie doch besuchen können, mich überzeugen, daß ihr guter Pflegevater auch auf sie aufpaßt. Es gibt Dinge, die man nicht machen kann. Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Wenn Sie sie wegführen würden, müßte ich immer denken: was mag wohl aus unserer kleinen Lerche geworden sein? Man müßte doch irgendwas Schriftliches sehen, einen Zipfel von einem Paß oder so etwas.«

Der Fremde hatte Thénardier nicht aus den Augen gelassen.

»Herr Wirt«, sagte er, »wenn man fünf Meilen weit aus Paris herausfährt, nimmt man keinen Paß mit. Wenn ich Cosette nehme, so nehme ich sie eben, und Schluß. Sie brauchen dazu weder meinen Namen zu wissen noch meinen Aufenthaltsort. Mein Wunsch ist, daß sie Sie nie wiedersieht. Ich schneide das Band durch, das sie an Sie bindet. Paßt es Ihnen? Ja oder nein?«

Wie die Dämonen und Genien an gewissen Zeichen die Gegenwart eines übergeordneten Gottes erkennen, so begriff auch Thénardier, daß er es hier mit einem robusten Willen zu tun hatte. Schon gestern abend hatte er ihn beobachtet, keine Geste, keine Bewegung des Mannes im gelben Rock war ihm entgangen. Bevor der Unbekannte so deutlich seine Anteilnahme an Cosette bekundete, hatte Thénardier etwas geahnt. Mit Überraschung hatte er bemerkt, daß die Blicke des Alten immer wieder zu dem Kinde zurückkehrten. Wer war dieser Mensch? Warum kleidete er sich so schäbig, wenn er über so beträchtliche Geldmittel verfügte! Der Vater Cosettes konnte er nicht sein. Der Großvater? Warum hatte er sich dann nicht sofort vorgestellt? Wer ein Recht hat, macht es geltend. Dieser Mensch hatte offensichtlich kein Anrecht auf Cosette.

Thénardier verlor sich in vagen Vermutungen. Als er aber begriff, daß dieser Mann ein Interesse daran hatte, ungenannt zu bleiben, fühlte er sich stark; und als dann der Fremde so klar und unmißverständlich erklärte, was er zu tun gedenke, fühlte er sich wieder schwach. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. Seine Vermutungen waren entkräftet. Er dachte eine Sekunde nach. Thénardier war einer von jenen Menschen, die eine Situation sofort überschauen. Dies war, dachte er, der Augenblick, um rasch vorzugehen. Wie alle großen Feldherren, demaskierte er im entscheidenden Augenblick seine Batterie.

»Fünfzehnhundert Franken«, sagte er.

Der Fremde zog ein altes Portefeuille aus schwarzem Leder aus der Tasche, dem er drei Banknoten entnahm. Er stützte seinen Daumen auf die Scheine und sagte:

»Jetzt lassen Sie Cosette kommen.«

Einen Augenblick später trat sie in die Gaststube. Der Fremde schnürte sein Bündel auf und entnahm ihm ein Wollkleid, eine Schürze, ein Jäckchen, einen Unterrock, Wollstrümpfe und Schuhe; eine vollständige Bekleidung für ein siebenjähriges Mädchen. Ganz in Schwarz.

»Nimm das, Kind, und zieh dich rasch an.«

Der Morgen graute bereits, als die Einwohner von Montfermeil, die eben ihre Türen öffneten, auf der Straße nach Paris einen armgekleideten Mann ausschreiten sahen, der ein kleines, in Trauer gekleidetes Mädchen an der Hand führte.

Da Cosette nicht mehr ihre Lumpen trug, erkannten viele sie nicht.


Oft verschlechtert sich, wer sich zu verbessern sucht

Gewohnheitsmäßig hatte die Thénardier ihrem Gatten freie Hand gelassen. Sie war auf große Dinge gefaßt. Als der Fremde mit Cosette fortgegangen war, ließ Thénardier eine gute Viertelstunde verstreichen, bevor er sie beiseite nahm und ihr die fünfzehnhundert Franken zeigte.

»Das ist alles?« fragte sie.

Seit ihrer Hochzeit war es das erstemal, daß sie eine Handlung ihres Herrn zu kritisieren wagte.

Der Schlag traf.

»Du hast recht«, sagte er, »ich bin ein Idiot. Gib mir meinen Hut.«

Er faltete die drei Banknoten zusammen, schob sie in die Tasche und eilte davon; aber er lief zunächst in der falschen Richtung, nach rechts. Einige Nachbarn, bei denen er sich erkundigte, brachten ihn auf die richtige Spur, denn die Lerche und ihr Begleiter waren auf dem Wege nach Livry gesehen worden. Er folgte diesem Hinweis und ging, vor sich hin sprechend, mit langen Schritten weiter.

Dieser Mensch ist unzweifelhaft eine Million in einem gelben Rock, murmelte er, und ich bin ein albernes Vieh. Erst hat er zwanzig Sous gegeben, dann fünf Franken, dann fünfzig, schließlich fünfzehnhundert, immer mit der gleichen Bereitwilligkeit. Er hätte auch fünfzehntausend gegeben. Ich werde ihn schon noch einholen.

Auch war es sonderbar, daß er für die Kleine bereits Kleider mitgebracht hatte. Sicher steckte da ein Geheimnis dahinter. Und solch ein Geheimnis läßt man sich nicht wieder entkommen, wenn man es einmal am Wickel hat. Die Geheimnisse der Reichen sind Schwämme von Gold, man braucht sie nur auszupressen.

Diese Erwägungen beschäftigten ihn, und er kam neuerlich zu seiner Schlußfolgerung: ich bin ein albernes Vieh.

Wenn man Montfermeil auf der Straße gegen Livry zu verläßt, hat man einen weiten Ausblick auf die Hochebene. Er hatte erwartet, daß er den Mann und die Kleine sehen würde, aber so gespannt er auch Ausschau hielt, er konnte nichts bemerken. Wieder suchte er Erkundigungen einzuholen, aber damit verlor er nur Zeit. Man sagte ihm, der Mann und das Kind hätten die Richtung nach den Wäldern um Gagny eingeschlagen. Also folgte er ihnen dahin.

Sie hatten einen Vorsprung, aber ein Kind geht langsam, und er lief schnell. Auch war ihm die Gegend vertraut.

Plötzlich blieb er stehen, schlug sich vor die Stirn, wie jemand, der die Hauptsache vergessen hat und halbenwegs wieder umkehren möchte.

»Ich hätte mein Gewehr mitnehmen müssen!« rief er.

Dann aber nach einem kurzen Zögern:

»Ach, inzwischen entwischen sie mir.«

Er machte sich wieder auf den Weg und lief, fast sicher, die beiden einzuholen, hastig weiter; wie ein Fuchs lief er, der eine Kette Birkhühner wittert.

Und wirklich, als er an den Teichen vorübergekommen war und die große Lichtung zur Rechten der Straße von Bellevue überquerte, bemerkte er hinter einem Strauch einen Hut, der ihn mit großen Erwartungen erfüllte. In der Tat, Cosette und der Unbekannte hatten sich hier niedergesetzt. Die Kleine war nicht zu sehen, aber der Kopf der Puppe ragte über dem Strauch hervor.

Thénardier täuschte sich nicht. Offenbar hatte der Mann hier Platz genommen, um Cosette ein wenig Rast zu gönnen. Im nächsten Augenblick stand der Wirt vor ihnen.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, rief er atemlos, »hier haben Sie Ihre fünfzehnhundert Franken wieder!«

Und er reichte dem Fremden die drei Banknoten.

»Was bedeutet das?« fragte der Alte.

»Das bedeutet, daß ich Cosette wiederhaben will«, antwortete Thénardier respektvoll. Cosette erzitterte und schmiegte sich an ihren Beschützer. Dieser sah Thénardier tief in die Augen und fragte gedehnt:

»Sie wollen Cosette wiederhaben?«

»Ja, mein Herr, ich will sie wiederhaben. Und ich will Ihnen auch sagen, wieso ich dazu komme. Ich habe nicht das Recht, sie Ihnen abzutreten. Ich bin ein Ehrenmann, verstehen Sie? Die Kleine gehört nicht mir, sie gehört ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie mir anvertraut, ich kann sie nur ihr wiedergeben. Sie werden sagen: die Mutter ist tot. Möglich. Aber auch in diesem Falle kann ich das Kind nur jemand geben, der mir einen schriftlichen Auftrag der Mutter vorzeigt, daß ich das Kind ihm aushändigen soll. Das ist klar.«

Wortlos zog der Fremde das Portefeuille heraus. Der Wirt war von freudigem Schreck durchschauert.

Soso, dachte er, da hätten wir ihn. Er will mich bestechen.

Bevor der Fremde sein Portefeuille öffnete, blickte er um sich. Kein Mensch war zu sehen. Erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, klappte er das Portefeuille auf, zog aber nicht das erwartete Banknotenbündel heraus, sondern ein kleines Blatt Papier, das er entfaltete und dem Wirt hinhielt.

»Sie haben recht. Lesen Sie.«

Thénardier nahm das Blatt und las:

Montreuil sur Mer, 25. März 1823.

Herr Thénardier,

übergeben Sie Cosette dem Überbringer.

Die kleinen Restschulden werden Ihnen bezahlt werden.

Hochachtungsvoll

Fantine.

»Kennen Sie diese Unterschrift?« fragte der Fremde.

Es war Fantines Hand. Thénardier erkannte sie. Er konnte keinen Einwand erheben. Ein doppelter Ärger regte sich in ihm, der Ärger, die erhoffte Bestechungssumme zu verlieren, und der, geschlagen zu sein.

»Sie können das Blatt zu Ihrer Rechtfertigung behalten.«

Thénardier trat einen wohlgeordneten Rückzug an.

»Die Unterschrift ist ja ganz gut nachgeahmt«, murmelte er. »Gut, sei’s darum!«

Aber er wagte noch einen letzten verzweifelten Versuch.

»Mag es hingehen«, sagte er. »Sie sind ja wohl der Mann. Aber Sie müssen mir alle meine kleinen Auslagen ersetzen, man schuldet mir einen beträchtlichen Betrag.«

Der Fremde erhob sich und sagte, während er mit der Fingerspitze etwas Staub von seinem Ärmel fortschnellte:

»Herr Thénardier, im Januar schuldete Ihnen die Mutter hundertzwanzig Franken. Im Februar sandten Sie eine Rechnung über fünfhundert Franken. Sie erhielten im Februar dreihundert, Anfang März wieder dreihundert. Seither sind neun Monate verflossen, das macht, da fünfzehn Franken monatlich verabredet worden waren, hundertfünfunddreißig Franken. Da Sie damals hundert Franken zuviel erhalten haben, können Sie jetzt fünfunddreißig beanspruchen. Ich habe Ihnen fünfzehnhundert gegeben.«

Thénardier hatte das Gefühl eines Wolfes, der in die Falle gegangen ist. Wer ist dieser Teufelskerl? dachte er.

Und er tat, was jeder Wolf getan hätte, er zerrte an der Falle. Schon einmal hatte die Unverfrorenheit gesiegt.

»Herr Ohnenamen«, sagte er kurz entschlossen, und diesmal, ohne seinen höflichen Ton beizubehalten, »ich werde Cosette wieder an mich nehmen, wenn Sie mir nicht tausend Taler geben.«

Ruhig sagte der Fremde:

»Komm, Cosette.«

Er nahm Cosette an die Hand und hob seinen Stock auf, der noch am Boden lag.

Thénardier sah den starken Knüttel und bedachte, daß die Gegend einsam war. Er verstand, daß alle weitere Mühe unnütz sei, und kehrte um.


Nr. 9 430 taucht wieder auf, und Cosette zieht das große Los

Jean Valjean war nicht tot.

Als er ins Meer fiel (oder eigentlich, als er sich ins Meer fallen ließ), war er ohne Kette. Er schwamm bis an ein Schiff, das vor Anker lag, und kletterte in ein Boot, das ausgesetzt war. Dort verbarg er sich bis zum Abend. Mit Einbruch der Nacht warf er sich wieder in die Wogen und erreichte die Küste unweit von Cap Brun. Da er etwas Geld bei sich hatte, konnte er sich Kleider verschaffen. Ein Kaschemmenwirt in der Nähe von Balaguier trieb damals das einträgliche Geschäft, entsprungene Sträflinge zu bekleiden. Dann marschierte Jean Valjean, wie alle Verfolgten, die sich dem Gesetz entziehen müssen, auf unbegangenen Nebenwegen nach Paris. Sein erster Unterschlupf war Pradeaux, später kam er nach Beausset, Briançon, in die Hochalpen. Es war eine unstete, gewagte Flucht. Er erreichte Paris, und in Montfermeil haben wir ihn wiedergefunden.

Seine erste Sorge in Paris war es gewesen, für ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren Trauerkleider zu besorgen und ein Quartier zu mieten. Dann war er nach Montfermeil gegangen. Man erinnert sich, daß er schon anläßlich seiner ersten Flucht eine geheimnisvolle Reise in jene Gegend unternommen hatte, mit der sich auch die Justizbehörden beschäftigten. Aber man hielt ihn ja für tot, und dieser Umstand begünstigte das Dunkel, das er um sich zu verbreiten strebte. In Paris war ihm auch ein Zeitungsblatt in die Hände gefallen, das die Nachricht von seinem Tode gebracht hatte. Das beruhigte ihn und brachte ihm fast den Frieden, als ob er wirklich gestorben wäre.

Noch am selben Abend, an dem Jean Valjean Cosette den Klauen der Thénardiers entrissen hatte, kam er nach Paris zurück. Bei einbrechender Nacht hielt er durch das Tor von Monteaux seinen Einzug. Hier nahm er eine Droschke, die ihn zu der Esplanade des Observatoriums brachte. Dort entließ er sie wieder, bezahlte den Kutscher, nahm Cosette an die Hand, und die beiden marschierten durch eine Reihe dunkler Straßen zum Boulevard de l’Hôpital.

Drittes Buch
Das Haus Gorbeau

Das Nest des Uhus und der Lerche

Das Haus auf dem Boulevard de l’Hôpital, das die Briefträger nur nach der Nummer fünfzig bis zweiundfünfzig kannten, war bei den Einwohnern des traurigen Vorstadtquartiers Marché-aux-Cheveaux unter dem Namen Haus Gorbeau bekannt, und damit hatte es folgende Bewandtnis:

Um 1770 waren in Paris, am Châtelet, zwei königliche Prokuratoren tätig gewesen, deren einer Corbeau, der andere Renard hieß – Rabe und Fuchs; eine Fügung, die losen Mäulern Gelegenheit gab, Lafontaines Fabel scherzhaft auf sie anzuwenden. Den Sammlern lustiger Anekdoten ist nicht unbekannt, daß die beiden Würdenträger sich an Ludwig XV. mit der Bitte um Abänderung ihres Namens wandten, und tatsächlich wurde dem Raben Corbeau gestattet, sich fortan Gorbeau zu schreiben, während Renard, minder glücklich, nur die Erlaubnis erhielt, ein P vor seinen Namen zu setzen, so daß er, peinlich genug, den Namen Prenard tragen mußte.

Nach der lokalen Tradition war Meister Gorbeau der Erbauer und Eigentümer jenes geräumigen, öden Hauses auf dem Boulevard de l’Hôpital, vor dem Jean Valjean jetzt stehenblieb. Wie ein scheuer Vogel hatte er diesen entlegenen Platz gewählt, um hier sein Nest zu bauen.

Er griff in seine Westentasche, zog einen Schlüssel hervor, schloß die Türe auf und stieg, nachdem er sorgfältig wieder abgesperrt hatte, die Treppe hinauf. Cosette trug er noch immer auf dem Arm.

Auf dem Treppenabsatz angelangt, zog er einen anderen Schlüssel hervor und öffnete eine Türe. Das Zimmer, das er betrat, glich eher einer Werkstätte und war ziemlich geräumig; eine Matratze lag auf dem Boden. Das übrige Mobiliar bestand aus einem Tisch und einigen Stühlen. Ein eiserner Ofen glühte im Winkel. Der Widerschein einer Straßenlaterne beleuchtete spärlich die dürftige Einrichtung. Im Hintergrund, in einer Art Verschlag, stand ein Gurtbett. Jean Valjean trug das Kind dahin und legte es nieder, ohne daß es aufwachte.

Er machte Feuer und zündete eine Kerze an, die auf dem Tisch bereitstand. Dann begann er, Cosette mit einem Blick voll Entzücken und innigster Zärtlichkeit zu betrachten. Die Kleine schlief in jener ungetrübten Vertrauensseligkeit, die nur der höchsten Kraft und der äußersten Schwäche möglich ist, ohne zu wissen, wo sie sich befand.

Er beugte sich über sie und küßte ihre Hand.

Es war schon heller Tag, als das Kind erwachte. Das fahle Licht einer Dezembermorgensonne fiel durch das Fensterkreuz und zog lange Streifen über den Plafond. Plötzlich polterte eine schwerbeladene Fuhre an dem Hause vorbei und erschütterte wie ein Sturm die Grundfesten des Gebäudes.

»Ja, Frau!« rief Cosette und fuhr hoch, »ich bin schon da!«

Und schon war sie aus dem Bett gesprungen, tastete, während ihre schlafschweren Augen noch halb geschlossen waren, an der Wand.

»Mein Gott, mein Besen!« jammerte sie.

Jetzt öffnete sie die Augen ganz und blickte in das lächelnde Gesicht Jean Valjeans.

»Ach, richtig!« sagte sie. »Guten Tag, mein Herr.«

Kinder machen sich rasch mit Freude und Glück vertraut, denn Freude und Glück ist ihre zweite Natur.

Cosette bemerkte Katherine zu Füßen ihres Bettes, nahm sie auf und begann Jean Valjean auszufragen. Wo sie sei und ob Paris wirklich so groß sei, und ob Madame Thénardier bestimmt nicht hierher käme. Und plötzlich rief sie aus:

»Wie hübsch es hier ist!«

In Wirklichkeit war es ein recht ungemütlicher Aufenthalt – aber sie fühlte sich frei.

»Soll ich nicht auskehren?« fragte sie.

»Du sollst spielen«, sagte Jean Valjean.


Beobachtungen der Wirtin

Jean Valjean gebrauchte die Vorsicht, niemals bei Tage auszugehen. Erst in der Dämmerung wagte er einen Spaziergang von ein oder zwei Stunden, zuweilen allein, oft mit Cosette; er bevorzugte dann die entlegensten Seitenalleen der Boulevards und trat erst nach Einbruch der Nacht in eine Kirche ein. Am liebsten besuchte er die des heiligen Medardus, die am nächsten lag. Wenn er Cosette nicht mitnahm, blieb sie bei der Alten, der Verwalterin des Hauses, von der Valjean das Quartier gemietet hatte. Doch zog es Cosette vor, mit Valjean spazierenzugehen. Sogar einem vertraulichen Stündchen mit Katherine entsagte sie gern zugunsten eines Ausflugs.

Es erwies sich, daß Cosette von heiterer Natur war.

Die Alte führte die Wirtschaft, kochte und besorgte die Einkäufe.

Man lebte einfach, doch wurde der Kamin nie kalt, wie es wohl bei den Allerärmsten geschehen mag. An dem Mobiliar änderte Jean Valjean nichts, doch ließ er die Glastüre, die zu Cosettes Verschlag führte, durch eine Holztüre verschließen.

Er trug noch immer seinen gelben Rock, seine schwarze Kniehose und seinen alten Rock. Auf der Straße hielt man ihn für einen Bettler. Zuweilen geschah es, daß mildtätige Frauen ihm einen Sou in die Hand drückten. Jean Valjean nahm die Münze an und verneigte sich tief. Oder es ereignete sich, daß er selbst einem Bettler begegnete; dann hielt er zuerst fürsorglich Umschau, ob niemand ihn sehe, trat dann zu dem Armen und drückte ihm rasch eine Münze, oft sogar ein Silberstück in die Hand. Daraus entstanden unangenehme Folgerungen. Man begann ihn in der Gegend den Bettler, der Almosen gibt, zu nennen.

Die alte Vermieterin, eine mißgünstige und mürrische, schwerhörige Person, beobachtete Jean Valjean aufmerksam, ohne daß er es bemerkte. Ihr schlechtes Gehör hatte zur Folge, daß sie zur Geschwätzigkeit neigte. Sie besaß noch zwei Zähne aus ihrer besseren Vergangenheit, einen im Oberkiefer, einen im Unterkiefer, und diese beiden pflegte sie gegeneinanderzupressen. Ursprünglich hatte sie Cosette auszufragen versucht, aber nur wenig herausbekommen, da die Kleine nur anzugeben wußte, sie sei aus Montfermeil. Eines Morgens aber bemerkte die Spionin, daß Jean Valjean auf sonderbare Weise sich in dem unbewohnten Teil des Hauses zu schaffen machte. Mit dem Schritt einer alten Katze folgte sie ihm und konnte, ohne selbst bemerkt zu werden, durch einen Türschlitz beobachten, wie er, offenbar aus Vorsicht, mit dem Rücken gegen die Tür stehend, ein Etui aus der Tasche zog, diesem Nadel und Zwirn entnahm und den Schoß seines Rockes aufzutrennen begann; dann nahm er ein gelbliches Papier, das er entfaltete, aus dem Versteck. Mit Schrecken erkannte die Alte einen Tausendfrankenschein. Es war wohl der zweite oder dritte, den sie in ihrem Leben zu sehen bekam. Außer sich vor Erregung lief sie davon.

Kurz nachher kam Jean Valjean zu ihr und bat sie, diesen Tausendfrankenschein zu wechseln; er habe, wie er sagte, gestern abend seine halbjährlichen Zinsen erhalten. Wo nur? dachte die Alte – ist er doch erst um sechs Uhr ausgegangen, und um diese Stunde halten die Kassen der Staatsbank doch gewiß nicht offen.

Die Alte wechselte den Schein, hielt aber nicht reinen Mund. Diese Banknote, reichlich kommentiert und vervielfältigt, gab den Gevatterinnen aus der Rue des Vignes-Saint-Marcel Anlaß zu erregten Diskussionen.

An einem der folgenden Tage trug es sich zu, daß Jean Valjean in Hemdsärmeln auf dem Korridor Holz sägte. Die Alte war gerade im Zimmer und räumte auf. Sie benützte die Gelegenheit, näherte sich dem Rock Jean Valjeans, der an einem Nagel hing, und untersuchte ihn. Die Naht war wieder vernäht. Die wackere Frau betastete das Kleidungsstück und glaubte in den Schößen und Taillen Papierbündel zu fühlen. Offenbar wieder Tausendfrankenscheine!

Überdies bemerkte sie, daß noch sonst allerlei in den Taschen steckte. Da waren nicht nur das Nähzeug, das sie schon gesehen hatte, sondern auch eine dicke Brieftasche, ein sehr großes Messer und – verdächtig genug – einige Perücken in verschiedenen Farben. Es war, als ob in jeder Rocktasche eine Maskierung für bestimmte, unvorhergesehene Fälle vorbereitet wäre.


Ein Fünffrankenstück rollt lärmend über den Boden

Bei Sankt Medardus gab es einen Bettler, der auf dem Randstein eines zugeschütteten Brunnens zu hocken pflegte und dem Jean Valjean oft ein Almosen zusteckte. Nie ging er an ihm vorbei, ohne ihm einige Sous zu reichen. Zuweilen sprach er sogar mit ihm. Andere Bettler, die diesem offenbar mißgünstig waren, behaupteten, er sei ein Polizeispitzel. Tatsache ist, daß er ein ehemaliger Kirchendiener und fünfundsiebzig Jahre alt war; fast nie hörte er auf, Gebete vor sich hin zu murmeln.

Eines Abends kam Jean Valjean dort vorbei. Er hatte Cosette nicht bei sich. Unter einer Laterne, die eben angezündet worden war, bemerkte er den Bettler an seinem gewohnten Platz. Wie immer, betete er, tief vorgebeugt, vor sich hin. Jean Valjean trat zu ihm und bot ihm sein gewöhnliches Almosen. Plötzlich blickte der Bettler auf, sah Jean Valjean scharf ins Gesicht und beugte sich unverzüglich wieder vor. Diese blitzhaft schnelle Bewegung genügte, um Jean Valjean erzittern zu lassen. Ihm war, als ob er im Schein der Laterne nicht das schicksalsergebene, gutmütige Gesicht des alten Kirchendieners, sondern ein furchtbares, nur zu bekanntes Gesicht gesehen hätte. Ihm war zumute wie einem Manne, der sich unversehens einem Tiger gegenüberstehen sieht. Erschrocken, fast zu Stein erstarrt, fuhr er zurück; er wagte weder zu atmen noch zu sprechen, konnte weder bleiben noch enteilen. Der Bettler hielt den Kopf wieder vorgebeugt und schien nicht weiter auf ihn zu achten. Ein Instinkt, vielleicht der geheimnisvolle Trieb der Selbsterhaltung, hielt Jean Valjean davon ab, ein Wort zu sprechen. Der Bettler hatte die gleiche Figur, die gleiche Haltung, dieselben Lumpen wie immer.

Ich bin verrückt, dachte Jean Valjean. Ich träume. Es ist unmöglich.

Tief beeindruckt ging er nach Hause.

Kaum wagte er sich selbst einzubekennen, daß er glaubte, Javert erkannt zu haben.

Als er nachts darüber nachdachte, bedauerte er, daß er den Mann nicht noch einmal angesprochen und dadurch gezwungen hatte, ein zweites Mal aufzublicken.

Am nächsten Tage kehrte er bei einbrechender Dunkelheit wieder an jenen Platz zurück. Der Bettler war zur Stelle.

»Guten Tag, Mann«, sagte Jean Valjean entschlossen und reichte ihm einen Sou.

Der Bettler blickte auf und sagte mit kläglicher Stimme:

»Danke, guter Herr!«

Es war der alte Kirchendiener.

Jean Valjean fühlte sich vollkommen beruhigt. Er begann zu lachen.

»Wo, zum Teufel, glaubte ich nur diesen Javert zu sehen?« fragte er sich, »habe ich jetzt erst klare Augen?«

Und er dachte nicht weiter darüber nach.

Einige Tage später, an einem Abend – es mochte acht Uhr sein – saß er in seinem Zimmer und ließ Cosette mit lauter Stimme buchstabieren; da hörte er die Haustüre gehen. Das war sonderbar. Die Alte, die auch im Hause wohnte, pflegte bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett zu gehen, um Licht zu sparen.

Jean Valjean gab Cosette ein Zeichen, sie solle schweigen. Er hörte, wie jemand die Treppe hinaufstieg. Es konnte immerhin die Alte sein, die, von einem Unwohlsein betroffen, vielleicht zum Apotheker gegangen war. Er lauschte. Es waren schwere Tritte, die von einem Manne herzurühren schienen; aber die Alte trug plumpe Schuhe, und der Gang alter Frauen ist dem der Männer nicht unähnlich.

Jean Valjean blies die Kerze aus. Er hieß Cosette ins Bett gehen und sagte leise: »Geh ganz still ins Bett, Kleine.« Während er sie auf die Stirn küßte, wurden die Schritte unhörbar. Jean Valjean blieb regungslos, den Rücken gegen die Tür, auf dem Stuhl sitzen, in der Dunkelheit hielt er den Atem an. Nach einiger Zeit wandte er sich, da er nichts hörte, geräuschlos um, und als sein Blick die Tür traf, sah er im Schlüsselloch Licht. Der Schein glich einem unheimlichen Stern in der Finsternis der Mauer. Offenbar stand da jemand mit der Kerze in der Hand hinter der Tür und horchte.

Wieder vergingen Minuten. Jetzt verschwand das Licht. Doch waren keine Schritte zu vernehmen. Offenbar hatte der Unbekannte seine Schuhe ausgezogen.

Jean Valjean legte sich angekleidet auf sein Bett und tat die ganze Nacht lang kein Auge zu.

Als er gegen Morgen einzuschlummern begann, weckte ihn das Knarren einer Tür, die am Ende des Korridors zu einer Mansarde führte; wieder hörte er dieselben Schritte wie gestern abend. Sie näherten sich. Er sprang aus dem Bett und legte sein Auge an das Schlüsselloch, das ziemlich groß war; gewiß würde er im Vorübergehen den Fremden, der die Nacht in diesem Hause zugebracht und an der Türe gehorcht hatte, sehen können.

Es war wirklich ein Mann. Diesmal ging er, ohne stehenzubleiben, an Jean Valjeans Tür vorüber. Im Korridor war es noch zu dunkel, man konnte das Gesicht nicht unterscheiden. Als der Mann aber auf den Treppenabsatz trat, fiel ein Lichtstrahl auf ihn und zeichnete scharf die Umrisse seiner Gestalt ab; Jean Valjean konnte den Rücken ganz überschauen. Der Fremde war hochgewachsen, trug einen langen Rock und einen starken Knüttel unter dem Arm. Der Stiernacken erinnerte an Javert.

Jean Valjean hätte versuchen können, ihm durch das Fenster nachzusehen, aber dazu hätte er es öffnen müssen, und das wagte er nicht.

Offenbar war der Fremde mit einem Schlüssel in das Haus gekommen, als ob es sein eigenes wäre. Wer hatte ihm den Schlüssel gegeben? Und was bedeutete das?

Als die Alte um sieben Uhr morgens kam, um aufzuräumen, warf ihr Jean Valjean einen durchdringenden Blick zu, aber er fragte nichts. An der Frau war nichts Ungewöhnliches zu bemerken.

Während sie fegte, fragte sie:

»Hat der Herr nicht heute nacht jemand ins Haus gehen gehört?«

Für dieses Alter und in jener Stadtgegend ist acht Uhr abends späte Nacht.

»Richtig, ja«, antwortete er ganz unbefangen. »Wer war es denn?«

»Unser neuer Mieter.«

»Wie heißt er denn?«

»Ich kann es nicht einmal genau sagen. Dumont oder Daumont. Ein gewöhnlicher Name.«

»Und was ist dieser Herr Dumont?«

Die Alte sah ihn tückisch an und antwortete:

»Rentner, wie Sie.«

Vielleicht meinte sie nichts damit, aber Jean Valjean mißtraute ihr. Als die Alte gegangen war, nahm er aus dem Schrank eine Hundertfrankenrolle und steckte sie in die Tasche. Obwohl er dabei recht vorsichtig zu Werke ging, fiel eine Münze zur Erde und rollte laut über den Boden.

Als es dunkelte, stieg er die Treppe hinab und hielt nach beiden Seiten auf dem Boulevard Ausschau. Er sah niemand. Offenbar war die Straße vollständig verödet. Allerdings konnte sich jemand hinter den Bäumen verborgen halten.

Er stieg die Treppe wieder hinauf.

»Komm, Cosette«, sagte er.

Er nahm sie bei der Hand und führte sie fort.

Viertes Buch
Jagd im Dunkeln, stumme Meute

Strategischer Zickzack

Jean Valjean verließ alsbald den Boulevard und bog in eine Seitenstraße ein; sooft er nur konnte, wählte er Seitenwege, ging auch manchmal ein Stück zurück, um sich zu überzeugen, daß er nicht verfolgt werde.

Dieses Manöver ist dem Hirsch, dem die Jäger auf den Fersen sind, eigentümlich. Zumal auf Strecken, wo die Fährte sich tief in den Boden einprägt, hat es den Vorzug, die Jäger und die Hunde zu täuschen. Man nennt diesen Schlich in der Jägersprache den »falschen Rückweg«. Es war eine Vollmondnacht. Jean Valjean fühlte sich durch diesen Umstand begünstigt. Der Mond stand noch tief am Horizont und schnitt scharfe Schatten in die Straßenfassade. Jean Valjean konnte im Dunkel an den Wänden entlang gleiten, zugleich aber die hellerleuchtete Gegenfront scharf beobachten. Vielleicht bedachte er nicht zur Genüge, daß ihm dermaßen die dunkle Seite entging. Als er aber in dem Straßengewirr rings um die Rue de Poliveau untergetaucht war, glaubte er gewiß zu sein, daß er nicht verfolgt werde.

Cosette lief neben ihm her, ohne Fragen zu stellen. Die Leiden, die sie in ihren ersten sechs Lebensjahren ausgestanden hatte, hatten zur Folge gehabt, daß sie einen passiven Charakter entwickelte. Sie hatte sich – ein Umstand, auf den wir noch des öfteren zurückkommen werden –, ohne es recht selbst zu bemerken, an die Schrullen ihres Beschützers und an die Launen des Schicksals gewöhnt. Auch fühlte sie sich in Sicherheit, wenn er nur bei ihr war.

Jean Valjean wußte ebensowenig wie Cosette, wohin dieser Weg ihn führte. Er legte sein Schicksal in Gottes Hand wie sie das ihre in seine. Ihm war, als ob auch er geführt werde wie sie; er glaubte ein unsichtbares Wesen zu fühlen, das ihn lenkte. Er hatte keinen festen Plan, keine klar umrissene Absicht. In diesem Augenblick war er noch nicht einmal fest überzeugt, daß er es mit Javert zu tun hatte, und wenn dieser Fremde auch wirklich Javert war, ob Javert ihn erkannt habe. War er denn nicht verkleidet? Glaubte man ihn nicht tot?

Allerdings, seit einigen Tagen geschahen Dinge, die bedenklich schienen. Mehr war nicht nötig. Er hatte sich entschlossen, nie wieder in das Haus Gorbeau zurückzukehren. Wie ein Tier, das aus seinem Versteck aufgescheucht ist, suchte er zunächst ein Loch, in dem er sich verbergen könnte, und dachte, er würde später ein dauerhaftes Versteck finden.

Jean Valjean durchquerte im Zickzack das Quartier Mouffetard, das schon im Dunkel lag, als ob dort noch die Polizeiordnung des Mittelalters gälte. In strategischer Vorsicht kreuzte er zu mehreren Malen die Rue Zensier und die Rue Copeau, dann die Rue du Battoir-Saint-Victor und die Rue du Puits-l’Hermite. Es gibt in dieser Gegend Herbergen, aber er wollte in keine eintreten, denn er fand keine passende. Doch war er überzeugt, daß man, falls man ihm nachgegangen sein sollte, seine Spur längst verloren habe.

Als es elf Uhr schlug, ging er gerade die Rue de Pontoise entlang und kam an dem Polizeikommissariat vorbei, das in Nummer 14 untergebracht ist. Einige Sekunden später hieß ihn ein Instinkt sich umwenden. Im Schein der Laterne, die an dem Kommissariat angebracht war, konnte er drei Männer erkennen, die in diesem Augenblick der Reihe nach an dem Bureau vorbeikamen. Einer der drei trat in den Hauseingang. Der Mann, der an der Spitze marschierte, schien Valjean höchst verdächtig.

»Komm, Kind«, sagte er zu Cosette und beeilte sich, aus der Rue de Pontoise hinauszukommen. Er wählte wieder einen Umweg, umging die Passage des Patriarches, die zu dieser Nachtstunde schon gesperrt war, durchmaß die Rue de l’Epée de Bois und die Rue de l’Arbalète; endlich verschwand er in der Rue des Postes.

Es gibt dort an der Stelle, wo heute das Kolleg Rollin ist, an der Abzweigung der Rue Neuve Ste.-Geneviève eine Wegkreuzung. Der Mond schien grell herab. Jean Valjean trat in ein Haustor und bedachte, daß er die drei Leute, falls sie ihn noch verfolgen sollten, hier sehr gut erkennen würde, wenn sie auf den hellbeleuchteten Platz träten.

In der Tat vergingen keine drei Minuten, bis die Männer schon erschienen. Es waren jetzt ihrer vier, alles hochgewachsene Leute in langen braunen Röcken, mit runden Hüten und Knütteln in der Faust. Ihre Größe war nicht minder unheimlich wie die Art, in der sie sich im Dunkeln vorwärts bewegten. Man hätte sie für vier Gespenster halten können, die sich als Bürger verkleidet hatten.

Inmitten der Wegkreuzung blieben sie stehen und schienen zu beraten. Sie sahen unentschlossen aus. Jener, der sie zu führen schien, deutete mit der Rechten nach der Richtung, in der Jean Valjean weitergegangen war; ein anderer schien nach der entgegengesetzten Seite gehen zu wollen. In dem Augenblick, als der erstere sich umwandte, fiel das Mondlicht voll auf sein Gesicht. Jean Valjean erkannte deutlich Javert.


Glücklicherweise fahren auf der Austerlitzer Brücke Wagen

Jetzt war für Jean Valjean alles klar. Für jene Männer allerdings dauerte die Ungewißheit noch an. Er machte sich also ihr Zögern zunutze, denn was jene an Zeit verloren, konnte er als Gewinn buchen. Er trat aus dem Haustor, in dem er sich verborgen hatte, und eilte in Richtung Jardin des Plantes weiter. Cosette begann zu ermüden, er hob sie auf und trug sie. Nächtliche Spaziergänger waren nicht zu sehen, die Laternen hatte man wegen des Mondscheins nicht angezündet.

An der Rue de la Clef und dem Jardin des Plantes vorbei kam er zum Quai. Hier wandte er sich um. Weit und breit kein Mensch. Auch in den Seitenstraßen war niemand zu entdecken. Er atmete auf.

Jetzt ging er auf den Pont d’Austerlitz zu. Damals gab es dort noch einen Wächter, der Mautgeld erhob. Er näherte sich dem Mann und reichte ihm einen Sou.

»Zwei Sous!« sagte der Invalide, der den Dienst versah, »Sie tragen ein Kind, das gehen kann. Sie müssen für zwei zahlen.«

Es war ärgerlich, daß sein Übergang über die Brücke Gegenstand einer Erörterung geworden war. Valjean bezahlte. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn seine Flucht glatter vonstatten gegangen wäre.

Gleichzeitig mit ihm fuhr ein großer Lastwagen zum rechten Ufer hinüber. Das war günstig. Er konnte im Schatten der Fuhre gehen.

Mitten auf der Brücke begehrte Cosette, deren Füße erstarrt waren, zu gehen. Er setzte sie zu Boden und nahm sie an die Hand.

Sobald er die Brücke überschritten hatte, bemerkte er zur Rechten einige Lagerplätze. Um dahin zu gelangen, mußte er einen breiten, hell vom Mond beleuchteten Raum überschreiten. Er zögerte nicht. Seine Verfolger waren offenbar einer falschen Spur gefolgt. Jean Valjean glaubte sich außer Gefahr. Er wurde gesucht, aber nicht verfolgt. Eine kleine Gasse, die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine, zog sich zwischen hohen Mauern dahin. Ein dunkler, enger Weg, wie für ihn geschaffen. Bevor er eintrat, blickte er sich um. Er konnte von seinem Standplatz aus die Austerlitzer Brücke in ihrer ganzen Länge überschauen. Eben tauchten am anderen Ende der Brücke vier Schatten auf. Sie kamen vom Jardin des Plantes herüber und wollten offenbar das rechte Ufer erreichen.

Vier Schatten – vier Männer! Jean Valjean erschauerte. Die Spürhunde hatten das Wild wieder aufgescheucht. Aber noch blieb eine Hoffnung. Vielleicht hatten die vier Männer ihn nicht gesehen, als er mit Cosette den hellen Platz überschritten hatte. Er brauchte nur in die kleine Straße einzubiegen, bis zu den Lagerplätzen vorzustoßen und zwischen den Gemüsefeldern und Schutthalden zu verschwinden.

Ihm schien, man könne sich dieser kleinen stillen Straße anvertrauen.


Umhertasten

Nach ungefähr dreihundert Schritten kam er an eine Stelle, wo die Straße sich gabelte. Er hatte vor sich gewissermaßen die beiden Zweige eines Y.

Wohin sollte er sich wenden? Er zögerte nicht, sondern bog rechts ab.

Warum?

Links mußte er in die Vorstadt gelangen, also in bewohntes Gebiet, rechts aber auf unbebautes Land, in eine verlassene Öde. Doch gingen die beiden nicht mehr besonders schnell. Cosettes kurze Schritte verzögerten Jean Valjeans Gang. Er mußte sie wieder aufnehmen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und schwieg.

Von Zeit zu Zeit kehrte er sich um und hielt Ausschau. Immer war er bestrebt, sich auf der dunklen Seite der Straße zu halten. Als er sich die ersten Male umwandte, sah er nichts; ringsum war tiefes Schweigen. Schon fühlte er sich etwas sicherer. Plötzlich bemerkte er, daß sich nicht weit hinter ihm etwas bewegte. Jetzt begann er zu laufen, hoffte, eine Querstraße zu erreichen und dort die Spur fälschen zu können.

Er erreichte eine Mauer. Doch war der Weg nicht vollends versperrt. Die Mauer schloß eine Querstraße ab, wieder mußte Jean Valjean sich entscheiden, ob er nach rechts oder nach links weitergehen sollte.

Er sah nach rechts. Hier lief die Straße zwischen Schuppen und Scheunen weiter und endete in einer Sackgasse. Der Hintergrund, eine hohe weiße Mauer, war deutlich zu erkennen.

Dann sah er nach links. In dieser Richtung war die Straße offen. In einem Abstand von etwa zweihundert Schritten ging sie in eine andere über. Vielleicht war dort das Heil zu finden.

In dem Augenblick, als er eben weitergehen wollte, bemerkte er an der nächsten Ecke in dieser Straße etwas Regungsloses, eine Art schwarze Statue.

Das war unverkennbar ein Mann, ein Posten, den man ausgestellt hatte, um ihm den Weg zu sperren.

Jean Valjean fuhr zurück.

Gleichzeitig wurde ein Geräusch hörbar. Jean Valjean wagte einen Blick um die Straßenecke und bemerkte sieben oder acht Soldaten, die in der Rue Polonceau vordrangen. Er konnte ihre Bajonette aufblitzen sehen.

An ihrer Spitze erkannte er Javert. Sie marschierten langsam und vorsichtig. Oft blieben sie stehen. Wahrscheinlich durchsuchten sie alle Mauerwinkel und Haustore.

In der Art, wie sie sich bewegten, konnten sie eine Viertelstunde brauchen, um an den Ort zu gelangen, an dem Jean Valjean sich jetzt befand. Es war ein furchtbarer Augenblick, nur einige Minuten trennten Jean Valjean von dem Abgrund, der sich zum drittenmal vor ihm auftat. Und diesmal drohte ihm nicht nur das Bagno, diesmal würde man ihm Cosette entreißen; er würde zu einem Leben verurteilt werden, dem das Grab vorzuziehen war.

So stand ihm nur ein Ausweg offen.

Jean Valjean war in gewissem Sinne ein Doppelmensch; zur Hälfte hegte er die Gedanken eines Heiligen, zur anderen Hälfte besaß er die furchtbaren Fähigkeiten eines Sträflings. Nach Bedarf konnte er seine Persönlichkeit wechseln.

Bei seinen zahlreichen Ausbrüchen aus dem Bagno war er, wie der Leser sich wohl erinnert, ein Meister in der Kunst geworden, sich ohne Leiter aus reiner Muskelkraft an Mauern hochzuarbeiten, indem er nur die schwachen Unebenheiten des Bauwerks als Griffe und Stützen benützte. Er maß die Mauer vor sich mit den Augen und bemerkte, daß sie von einer Linde überragt wurde. Die Mauer mochte etwa achtzehn Fuß hoch sein. Es war nur schwer, Cosette da hinauf zu bekommen. Sie konnte nicht klettern. Sie im Stich lassen? Er dachte nicht daran. Sie mitnehmen war unmöglich. Ein Mann braucht seine ganze Kraft, um allein einen solchen Weg zurückzulegen. Die geringste Last mußte das Gleichgewicht verschieben und seinen Sturz zur Folge haben.

Ja, wenn er ein Seil hätte! Jean Valjean hatte keines. Wie kommt man um Mitternacht in der Rue Polonceau zu einem Seil? Gewiß hätte Jean Valjean, wenn er ein Königreich besessen hätte, in diesem Augenblick ein Königreich für ein Seil gegeben.

Aber gerade die kritischsten Situationen erleuchten uns zuweilen blitzhaft, sei es, um uns zu blenden, sei es, uns den richtigen Weg finden zu lassen. Der verzweifelte Blick Jean Valjeans fiel auf die Laterne in der Sackgasse Genrot.

Es gab damals noch keine Gaslaternen in den Straßen von Paris. Bei Einbruch der Nacht wurden Lampen in kurzen Abständen aufgestellt, die an Seilen aus der Straßenmitte herabgelassen wurden.

Mit dem Mut des Entscheidungskampfs stürzte sich Jean Valjean in die Sackgasse, stieß den kleinen Schrank auf, in dem das Seil verknotet war, schnitt es mit dem Messer durch und war im nächsten Augenblick wieder bei Cosette. Jetzt hatte er sein Seil. Zugleich aber begann die vorgerückte Stunde, der unheimliche Ort und die Dunkelheit, endlich auch Jean Valjeans seltsames Gehaben Cosette zu beunruhigen. Jedes andere kleine Kind hätte wohl längst schon zu schreien begonnen. Sie beschränkte sich darauf, Jean Valjean am Schoß seines Rockes zu zupfen. Die Schritte der anmarschierenden Patrouille waren jetzt deutlich zu hören.

»Vater«, sagte sie leise, »mir ist so bang. Wer kommt denn dort?«

»Still! Es ist die Thénardier! Sag kein Wort, laß mich nur machen. Wenn du schreist oder weinst, erwischt sie dich. Sie will dich holen.«

Gleich darauf begann er ohne Hast, aber auch ohne Zeitverlust mit jener seltsamen Präzision, die solchen Augenblicken eigentümlich ist, sein Halstuch abzulösen; er band es um Cosettes Achseln und trug Sorge, daß das Kind nicht gequetscht werde. Dann band er das andere Ende des Tuches an das Seil, nahm das Gegenstück des Seils zwischen die Zähne, zog seine Schuhe und Strümpfe ab, warf sie über die Mauer und begann mit der Sicherheit eines Mannes, der eine Leiter ersteigt, die Mauer zu erklimmen. Nach einer knappen halben Minute kniete er auf der Mauerbrüstung.

Wortlos sah ihm Cosette zu. Jean Valjeans Rat und der Name der Thénardier hatten sie zu Eis erstarren lassen.

Jetzt hörte sie ihn leisen rufen:

»Lehne dich an die Mauer!«

Sie gehorchte.

»Sag kein Wort und fürchte dich nicht!«

Gleich darauf fühlte sie, daß sie hochgehoben wurde. Bevor sie begriff, was mit ihr geschah, war sie auf dem Gipfel der Mauer. Jean Valjean ergriff sie, nahm sie auf den Rücken, legte sich platt auf den Bauch und kroch an der Brüstung entlang. Wie er erraten hatte, stieß die Mauer hier an ein Gebäude, dessen Dach schräg abfiel und die Linde fast streifte.

Die Situation war für ihn sehr günstig. Gegen den Garten zu reichte das Dach viel tiefer hinab als straßenwärts.

Im selben Augenblick ließ ihn Lärm auf der Straße erraten, daß die Patrouille angekommen war.

»Sucht die Sackgasse ab!« befahl Javert. »Die Rue Droit-Mur und die kleine Rue Picpus sind bewacht. Ich bürge dafür, daß er in der Sackgasse ist.«

Die Soldaten machten sich auf die Suche.

Jean Valjean aber ließ sich an dem Dach hinabgleiten, bekam die Linde zu fassen, kletterte ein letztes Stück und sprang zu Boden. Cosette hatte aus Mut oder Angst nicht einmal laut zu atmen gewagt. Ihre Hände waren ein wenig zerschunden.


Anfang eines Rätsels

Jean Valjean befand sich in einem geräumigen, recht eigenartigen Garten; einem jener traurigen Gärten, die für den Winter und die Nacht bestimmt zu sein scheinen. Er war rechteckig und endete in einer Pappelallee; auch in allen Winkeln standen Bäume, die Mitte aber war schattenlos; hier konnte man einen vereinzelten sehr hohen Baum, einige verkrüppelte Obstbäume, Beete und eine alte Senkgrube erkennen. Hier und da waren von Moos bewachsene Steinbänke zu sehen.

Zur Seite hatte Jean Valjean das Gebäude, von dessen Dach er abgestiegen war; an der Mauer stand eine Statue, deren arg verstümmeltes Gesicht in der Dunkelheit kaum erkennbar war.

Das Haus glich eher einer Ruine, doch schienen einzelne Räume noch als Schuppen benützt zu werden.

Das Hauptgebäude in der Rue Droit-Mur machte um die Ecke der Rue Picpus einen Bogen und bildete somit einen rechten Winkel zum Garten. Alle Fenster waren vergittert; nirgends war Licht zu sehen. Auch war von einem anderen Gebäude nichts zu bemerken. Der Garten verlor sich in Finsternis und Nacht. Nur ganz undeutlich waren Mauerstücke zu erkennen – vielleicht die niedrigen Dächer der Rue Polonceau.

Nichts Wilderes, Einsameres konnte man sich vorstellen als diesen Garten. Daß sich hier niemand aufhielt, war zu dieser Stunde weniger erstaunlich, aber es war kaum anzunehmen, daß auch zur Mittagszeit hier jemand einen angenehmen Aufenthalt finden könnte.

Jean Valjeans erste Sorge war, seine Schuhe wieder zu suchen und wieder anzuziehen. Dann brachte er Cosette in den Schuppen. Wer eben seinen Verfolgern entschlüpft ist, fühlt sich nirgends sicher genug. Cosette, die noch immer an die Thénardier dachte, wünschte gleichfalls nichts Besseres als ein möglichst sicheres Versteck.

Zuerst hörte man von draußen Lärm und Rufe. Nach einer Viertelstunde aber schien sich die Truppe der Verfolger zu entfernen. Jean Valjean atmete noch immer kaum. Er hatte sanft seine Hand auf Cosettes Mund gelegt.

Plötzlich wurde aus der tiefen Stille des Gebäudes ein anderes Geräusch hörbar, ein Gesang, der ebenso himmlisch und göttlich klang wie eben erst der Straßenlärm entsetzlich. Es war eine Hymne, ein Gebet, das in die schweigende Nacht aufstieg; Valjean glaubte Frauenstimmen zu erkennen, aber Stimmen, die zugleich von Jungfrauen und von Kindern herzurühren schienen. Unverkennbar klangen sie aus dem Gebäude neben dem Garten herüber. Es war, als ob nach der Hexenmusik der Dämonen ein Chor der Engel erklingen sollte.

Cosette und Jean Valjean knieten nieder.

Sie wußten nicht, wo sie sich befanden, aber sie fühlten, der Mann und das Kind, der Büßer und die Unschuldige, daß sie niederknien mußten.

Der Gesang klang wie übernatürliche Musik in einem unbewohnten Gebäude. Solange er anhielt, dachte Jean Valjean an nichts anderes. Erst als er verstummte, schien er zu erwachen. Wie lange das gedauert haben mochte, hätte er nicht angeben können. Die Stunden der Verzückung sind Sekunden.

Alles versank wieder in tiefe Stille; weder auf der Straße noch im Garten irgendein Geräusch.


Noch immer das Rätsel

Der Morgenwind setzte ein. Jean Valjean schloß daraus, daß es gegen ein oder zwei Uhr sein mochte. Cosette war still. Da sie neben ihm saß und den Kopf an seine Brust gelehnt hatte, dachte er, sie sei eingeschlafen. Er beugte sich über sie und sah sie an. Ihre Augen standen weit offen, sie schien nachzudenken.

Immer noch zitterte sie.

»Möchtest du schlafen?«

»Mir ist so kalt!« antwortete sie. »Ist sie denn noch immer da?«

»Wer?«

»Frau Thénardier.«

Jean Valjean hatte längst vergessen, welchen Mittels er sich bedient hatte, um Cosette schweigen zu machen.

»Ach, die ist fort! Fürchte dich nicht weiter.«

Das Kind seufzte, als ob ihm eine große Last von der Brust genommen würde.

Der Boden war feucht, der Schuppen nach allen Seiten offen, der Wind von Augenblick zu Augenblick frostiger. Jetzt zog Jean Valjean seinen Rock aus und hüllte Cosette darein.

»Ist dir jetzt weniger kalt?«

»Ja, Vater.«

»Gut, dann warte einen Augenblick. Ich komme gleich wieder.«

Er trat aus der Ruine und begann an dem Hauptgebäude entlang zu gehen, um einen besseren Unterschlupf ausfindig zu machen. Er stieß auf Türen, aber sie waren versperrt. Die Fenster im Erdgeschoß waren mit Eisengittern versehen.

Als er den inneren Winkel des Gebäudes erreichte, bemerkte er einige Bogenfenster, die schwach erleuchtet waren. Er hob sich auf die Zehenspitzen und sah hindurch. Das Fenster führte zu einem großen, mit mächtigen Steinfliesen gepflasterten Saal, der durch Arkaden und Säulen geteilt schien. Das Licht kam von einer kleinen Lampe, die in einer Ecke brannte. Nichts in dem Saal rührte sich. Doch glaubte er, wenn er seine Augen schärfer anstrengte, auf dem Boden etwas zu bemerken, einen Gegenstand, der mit einem Laken bedeckt war und die Form eines menschlichen Körpers andeutete. Diese Gestalt lag mit dem Gesicht gegen den Boden, die Arme kreuzweise ausgestreckt, reglos wie ein Leichnam. Etwas neben ihr sah wie eine Schlange aus, offenbar ein Strick, den jene unheimliche Gestalt um den Hals trug.

In dem ganzen Saal schwebten die Schauer des Halbdunkels.

Jean Valjean hat später oft gesagt, daß ihm in seinem Leben manches Schauerliche widerfahren sei, nie aber habe etwas sein Blut so sehr zu Eis erstarren lassen wie diese rätselhafte Gestalt, die im Dunkel der Nacht ein unbekanntes Mysterium vollzog. Furchtbar war ihm die Vorstellung, dies sei eine Tote, schrecklicher noch aber der Gedanke, daß dort ein lebendiges Wesen liege.

Er hatte immerhin den Mut, die Stirn gegen die Fensterscheibe zu pressen und zu beobachten, ob die Gestalt sich bewegte. Ihm schien eine beträchtliche Zeit verflossen, als er noch immer nicht die leiseste Bewegung bemerkt hatte. Plötzlich packte ihn ein unaussprechliches Grauen, und er entfloh. Ohne sich umzuschauen, lief er in den Schuppen. Wenn er sich umsähe, würde er – davon war er überzeugt – die Gestalt hochaufgerichtet, mit den Armen schlenkernd, einherschreiten sehen.

Keuchend erreichte er die Ruine. Seine Knie schlotterten, Schweiß perlte von seinem Körper.

Wo befand er sich? Wer hätte sich je vorstellen mögen, daß es inmitten von Paris eine derartige Grabstätte gab? Und was bedeutete dieses seltsame Haus, dieser Bau voll nächtlicher Geheimnisse, der in der Dunkelheit verängstigte Seelen mit Engelsstimmen an sich lockte und ihnen, wenn sie näher traten, die furchtbare Vision einer Gruft vorhielt? Und doch war dies ein Haus, das auf der Straße eine gewöhnliche Nummer führte! Kein Traum …

Er mußte die Wand berühren, um sich davon zu überzeugen.

Wieder beugte er sich über Cosette. Sie schlief.


Immer rätselhafter

Das Kind hatte den Kopf auf einen Stein gelegt und war eingeschlafen. Er setzte sich neben sie und begann sie anzuschauen. Je länger er sie betrachtete, um so ruhiger wurde er. Bald war er wieder im Besitz seines kühlen Geistes. Er begriff, daß von nun an dieses Geschöpf der Sinn seines Lebens war. Er brauchte nichts, was nicht ihr Bedarf war, hatte nichts zu fürchten, was nicht ihr drohte.

Während er so nachsann, hörte er zuweilen ein seltsames Geräusch. Es war das Geklingel einer kleinen Glocke und kam aus dem Garten. Man konnte es schwach, aber deutlich erkennen. Es erinnerte an das Schellen der Glocken einer Herde auf nächtlicher Heide.

Jetzt wandte sich Jean Valjean um. Sofort erkannte er, daß jemand im Garten war. Ein Geschöpf, das einem Manne nicht unähnlich war, ging in einem Melonenbeet auf und nieder, bückte sich, richtete sich wieder auf, blieb zuweilen stehen; Jean Valjean erzitterte. In diesem Augenblick war es ihm klar, daß Javert und die Spitzel nicht einfach fortgelaufen waren, ohne Beobachter in der Gegend zurückzulassen. Sobald dieser Mann im Garten ihn bemerken würde, das war gewiß, würde er um Hilfe rufen und ihn als Einbrecher dem Polizisten übergeben.

Er nahm Cosette sanft auf und trug sie hinter eine Anhäufung alter, bereits außer Gebrauch gezogener Möbel im Hintergrund des Schuppens. Cosette rührte sich nicht.

Jetzt begann er den Mann im Melonenbeet zu beobachten. Sonderbar war, daß jede seiner Bewegungen das seltsame Geklingel hervorbrachte. Kam er näher, so verstärkte sich der Laut des Glöckchens, entfernte er sich, so wurde er schwächer. Machte er eine überstürzte Bewegung, so war sie von einem kurzen Tremolo begleitet. Blieb er stehen, so wurde es ganz still. Offenbar hatte man diesem Mann das Glöckchen umgebunden, aber was sollte es bedeuten? Wer war dieser Mann, dem man ein Glöckchen umgebunden hatte wie einem Leithammel oder einer Leitkuh?

Während er sich diese Frage stellte, berührte er Cosettes Hand. Sie war eisig.

»Großer Gott!« flüsterte er.

Leise rief er sie an.

»Cosette!«

Sie tat die Augen nicht auf.

Er schüttelte sie.

Sie rührte sich nicht.

Im nächsten Augenblick war er aufgesprungen. Furchtbare Gedanken durchkreuzten sein Hirn. Es gibt Augenblicke, in denen schrecklicher Argwohn über uns hereinbricht wie eine Kohorte von Furien. Gerade wenn wir lieben, begeht unsere Vorsicht die tollsten Narrheiten.

Noch immer lag Cosette blaß und reglos vor ihm.

Sie atmete. Er hörte ihren Atem, einen ganz schwachen Atem, der, wie ihm schien, jeden Augenblick erlöschen konnte.

Wie sollte er sie wärmen? Wie sie aufwecken?

Dieser Gedanke verdrängte jede andere Erwägung. Entsetzt eilte er aus der Ruine. Cosette mußte um jeden Preis binnen einer Viertelstunde in ein Bett, in einen warmen Raum gebracht werden.


Der Mann mit dem Glöckchen

Jean Valjean ging auf den Mann im Garten zu. Er hielt die Geldrolle, die er zu sich gesteckt hatte, in der Hand.

Der andere stand gebückt und sah ihn nicht. Mit einigen Schritten war Jean Valjean bei ihm.

»Hundert Franken!« rief er.

Der Mann fuhr zurück und blickte auf.

»Sie können hundert Franken verdienen«, sagte Jean Valjean, »wenn Sie mir für eine Nacht ein Obdach geben.«

Jetzt fiel der Mond hell auf das verschreckte Gesicht Jean Valjeans.

»Ach Sie sind’s, Vater Madeleine!« sagte der andere.

Dieser Name, zu dieser Stunde an diesem seltsamen Ort ausgesprochen, ließ Jean Valjean zurückschrecken.

Alles hatte er erwartet, nur das nicht. Der Mann, der gesprochen hatte, war ein gebeugter, halb lahmer Greis, bäuerlich gekleidet, mit einem Glöckchen an einem Lederriemen, der um sein linkes Knie geschlungen war. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

Jetzt nahm er die Mütze ab und sagte zitternd:

»Großer Gott, wie kommen Sie denn hierher, Vater Madeleine? Wie sind Sie denn hier hereingekommen, um Christi willen! Sind Sie denn vom Himmel gefallen? Und wie sehen Sie denn aus? Kein Halstuch, keinen Hut, nicht einmal einen Rock? Wissen Sie, wenn einer Sie nicht kennen würde, möchte er ja Angst kriegen! Großer Gott, werden denn alle Heiligen heutzutage verrückt? Aber wie sind Sie denn nur hier hereingekommen?«

Er sprach, ohne den andern zu Wort kommen zu lassen. Dabei verriet er eine so bäuerliche Gutmütigkeit, daß Valjean sich beruhigen konnte.

»Wer sind Sie, und was ist das für ein Haus?« fragte Jean Valjean.

»Du lieber Gott, das ist aber doch stark! Sie sind es, der mich hierhergebracht hat, in dieses Haus, und jetzt erkennen Sie mich nicht?«

»Nein. Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?«

»Sie haben mir doch das Leben gerettet.«

In diesem Augenblick fiel ein Strahl des Mondlichts auf sein Gesicht, und Jean Valjean erkannte den alten Fauchelevent.

»Ach, Sie sind es! Jetzt erkenne ich Sie.«

»Das ist ein Glück«, murmelte der Alte vorwurfsvoll.

»Ja, aber was machen Sie denn hier?«

»Nun, ich decke meine Melonen zu.«

Der alte Fauchelevent hielt in der Tat in dem Augenblick, da Jean Valjean zu ihm getreten war, eine Strohhaube in der Hand, die er eben über eine Melone stülpen wollte. Offenbar hatte er schon seit etwa einer Stunde im Garten dieser Beschäftigung obgelegen, und bei dieser Bewegung hatte er die seltsamen Gebärden gemacht, die Jean Valjean beobachtet hatte.

»Nun«, fuhr der Alte fort, »ich dachte mir, bei diesem klaren Mondlicht kann es leicht frieren. Ob ich nicht meinen Melonen ihre Röcke anziehe? Und Sie, Sie hätten auch den Ihren nicht zu Hause lassen sollen. Aber wie kommen Sie nur hierher?«

Als Jean Valjean sich von diesem Manne wenigstens unter dem Namen Madeleine erkannt sah, beschloß er vorsichtig zu sein. Er begann selbst zu fragen. Ihre Rollen waren vertauscht, er, der Eindringling, war es, der den andern zur Rede stellte.

»Wozu brauchen Sie denn die Glocke da an Ihrem Knie?«

»Die? Na, die habe ich, damit man mir aus dem Weg geht.«

Der Alte zwinkerte mit einem unaussprechlichen Ausdruck.

»Wissen Sie, es sind nur Frauen in diesem Haus, und viele junge Mädchen. Offenbar könnte ich denen gefährlich werden. Darum trage ich die Glocke. Die soll sie warnen. Wenn ich komme, laufen sie fort.«

»Aber was ist denn das für ein Haus?«

»Das wissen Sie ganz genau, denke ich.«

»Ich habe keine Ahnung …«

»Und Sie haben mich doch hier als Gärtner untergebracht!«

»Antworten Sie mir, als ob ich nichts wüßte.«

»Nun, das Kloster Petit-Picpus doch!«

Jetzt erinnerte sich Jean Valjean. Der Zufall, also die Vorsehung, hatte ihn genau in dieses Kloster gebracht, in dem vor zwei Jahren der alte Fauchelevent nach seinem Sturz unter den Wagen untergekommen war.

»Also das Kloster Petit-Picpus«, sagte er leise.

»Aber wie zum Teufel sind Sie nur hier hereingekommen, Vater Madeleine? Sie sind zwar ein Heiliger, aber immerhin doch ein Mann? Und Männer kommen hier nie herein.«

»Aber Sie sind ja doch hier?«

»Ich bin auch der einzige.«

»Und dabei muß ich sogar hierbleiben!«

»Ach, du lieber Gott!« rief Fauchelevent.

Jean Valjean trat auf den Alten zu und sagte ernst:

»Vater Fauchelevent, ich habe Ihnen das Leben gerettet.«

»Und ich habe mich zuerst daran erinnert.«

»Gut, Sie können heute für mich tun, was ich damals für Sie tat.«

Fauchelevent nahm die kräftigen Hände Jean Valjeans in seine faltigen, zitternden.

»Verfügen Sie über mich!«

Eine unaussprechliche Freude schien sein Gesicht zu verklären.

»Was soll ich tun?« fragte er wieder.

»Das will ich Ihnen gleich sagen. Haben Sie eine eigene Stube?«

»Ich habe eine eigene Baracke da hinter der Ruine des alten Klosters, in einem Winkel, in den kein Mensch kommt. Dort sind drei Zimmer.«

Diese Baracke war in der Tat so gut hinter der Ruine versteckt, daß auch Jean Valjean sie nicht gesehen hatte.

»Gut«, sagte er, »jetzt habe ich Sie um zwei Dinge zu bitten.«

»Und zwar, Herr Bürgermeister?«

»Erstens sagen Sie niemand, was Sie von mir wissen. Zweitens suchen Sie nicht mehr von mir zu erfahren.«

»Wie Sie wollen. Ich weiß, daß Sie nichts Unanständiges tun können und immer ein guter Mann waren. Übrigens haben Sie mich ja hierhergebracht. Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung.«

»Abgemacht. Und jetzt kommen Sie mit mir. Wir wollen das Kind holen.«

»Was, ein Kind ist auch noch da?«

Aber er fragte nicht weiter, sondern folgte Jean Valjean wie ein Hund seinem Herrn.

Noch war keine halbe Stunde vergangen, als Cosette, deren Wangen sich an einem Kaminfeuer wieder gerötet hatten, bereits im Bett des alten Gärtners schlief. Jean Valjean hatte sein Halstuch und seinen Rock wieder an sich genommen; Fauchelevent hatte jetzt den Riemen mit dem Glöckchen abgeschnallt, und die beiden Männer saßen an dem Tisch, auf dem der Gärtner ein Stück Käse, ein Brot, eine Flasche Wein und zwei Gläser hingestellt hatte. Und jetzt sagte der Alte, indem er Jean Valjean die Hand aufs Knie legte:

»Ach, Vater Madeleine, Sie haben mich gar nicht erkannt! Erst retten Sie den Leuten das Leben und dann vergessen Sie sie? Sie sind ja undankbar.«


Wie die Beute Javert entging

Die Ereignisse, die wir eben von der Kehrseite gesehen haben, waren unter den denkbar einfachsten Umständen zustande gekommen.

Als Jean Valjean in jener Nacht, da ihn Javert am Bett der toten Fantine verhaftet hatte, aus dem Stadtgefängnis von Montreuil sur Mer entsprang, hatte die Polizei vermutet, der Flüchtling habe sich nach Paris gewandt. Paris ist ein Malstrom, in dem alles sich verliert, jeder in der Unmenge der anderen verschwindet. Kein Wald kann einen Menschen so gut verbergen wie die Menschenmenge von Paris. Alle Flüchtlinge wissen das. Gern tauchen Sie in Paris unter, aber auch die Polizei ist sich darüber im klaren und sucht, was anderswo entschlüpft ist, hier. In Paris suchte sie auch den ehemaligen Bürgermeister von Montreuil sur Mer. Javert wurde nach Paris zitiert, um an den Nachforschungen teilzunehmen, und wirklich trug er dazu bei, daß Jean Valjean wieder ergriffen wurde. Sein Eifer und seine Klugheit fielen bei dieser Gelegenheit Herrn Chabouillet, dem Sekretär der Präfektur auf, der ja auch schon früher Javerts Protektor gewesen war und der den Polizeiinspektor aus Montreuil sur Mer zur Pariser Polizei versetzte. Und hier machte sich Javert auf mannigfache und achtbare Weise (wenn solch ein Wort in einer solchen Stellung am Platze ist) nützlich.

Er dachte nicht mehr an Jean Valjean, so wie die Jagdhunde den Wolf von gestern vergessen, um dem von heute nachzuspüren, als er, der sonst niemals Journale las, im Dezember 1823 ein Blatt in die Hände bekam; als begeisterter Monarchist wollte er Einzelheiten über den triumphalen Einzug der Königlichen Hoheit, des Generalissimus, in Bayonne erfahren. Während er den Artikel las, sprang ihm der Name Jean Valjean, der weiter unten auf der gleichen Seite genannt wurde, in die Augen. Die Zeitung meldete, daß der Sträfling Jean Valjean ums Leben gekommen sei, und der Bericht war so bestimmt formuliert, daß Javert nicht zweifeln konnte. Er begnügte sich zu sagen: Na, eine Sorge weniger. Dann warf er das Blatt weg und dachte nicht weiter daran.

Einige Zeit später ging von der Präfektur des Departements Seine-et-Oise ein Bericht über die Entführung eines Kindes ein, das, wie gesagt wurde, unter eigenartigen Umständen aus der Gemeinde Montfermeil verschleppt worden war. Eine Kleine von sieben oder acht Jahren, die von ihrer Mutter einem Wirt in jenem Ort anvertraut worden war, schien, wie es in dem Bericht hieß, von einem Unbekannten verschleppt worden zu sein. Dieses Kind hörte auf den Namen Cosette und war die Tochter einer gewissen Fantine, die in einem Spital gestorben sein solle. Einzelheiten hierüber fehlten. Dieser Bericht kam Javert unter die Augen, und er wurde nachdenklich.

Der Name Fantine war ihm wohlbekannt. Er erinnerte sich, daß Jean Valjean ihn lächerlicherweise um eine Frist von drei Tagen gebeten hatte, weil er vorgeblich das Kind jenes Geschöpfs abholen wollte. Er entsann sich auch, daß Jean Valjean in Paris verhaftet worden war, als er eben in die Postkutsche steigen wollte, die nach Montfermeil fährt. Gewisse Anzeichen hatten sogar darauf hingedeutet, daß er damals schon zum zweitenmal in jenen Wagen gestiegen war und daß er sich schon früher in Montfermeil herumgetrieben hatte. Was er dort zu schaffen hatte? Man konnte es nicht erraten. Jetzt aber begriff Javert. Dort war Fantines Kind. Jean Valjean suchte es. Und dieses Kind war von einem Unbekannten gestohlen? Wer konnte dieser Unbekannte sein? Jean Valjean? Der war doch tot!

Immerhin fuhr Javert, ohne jemand etwas zu verraten, nach Montfermeil. Er hoffte große Aufklärungen zu erhalten, aber er fand nichts.

In den ersten Tagen hatten die Thénardiers aus Ärger allerlei erzählt. Das Verschwinden der Lerche hatte im Dorfe Aufsehen erregt. Verschiedene Versionen tauchten auf, schließlich hieß es, das Kind sei gestohlen worden. So war jener Polizeibericht zustande gekommen. Nachdem aber die erste Wut verraucht war, hatte Thénardier mit seinem scharfen Instinkt herausgefühlt, daß es gar nicht in seinem Interesse lag, die Behörden auf sich aufmerksam zu machen; wenn diese »Entführung« Cosettes erst Staub aufwirbelte, konnte es nicht ausbleiben, daß viele fragwürdige Geschäfte der Thénardiers in den Blickwinkel der Justiz gerückt wurden. Der Uhu kann es nicht leiden, daß man ihm eine Kerze hinstellt. Was sollte er auch sagen, wenn man ihn fragte, warum er die fünfzehnhundert Franken angenommen hatte? Er änderte also seine Taktik, verbot seiner Frau, über die Sache zu sprechen, und tat verwundert, wenn von dem gestohlenen Kind geredet wurde. Er begriff einfach nicht, was man von ihm wollte. Gewiß war er traurig gewesen, als man ihm eines Tages die liebe Kleine fortgeschleppt hatte, gewiß hätte er sie aus Zärtlichkeit noch gerne ein paar Tage bei sich gehabt, aber schließlich war es doch das Natürlichste von der Welt, daß ihr Großvater – und der war es ja gewesen – sie abgeholt hatte.

Bis zu dieser Version war der Bericht gereift, als Javert nach Montfermeil kam. Der Großvater ließ Jean Valjean verblassen.

Wohl stellte Javert einige Fragen, um zu prüfen, wie weit Thénardiers Bericht stichhaltig war. Wer war denn dieser Großvater, und wie hieß er?

»Ein begüterter Bauer. Ich habe seinen Paß gesehen. Wenn ich mich nicht irre, hieß er Guillaume Lambert.«

Lambert ist ein Name, der gutmütig und beruhigend wirkt. Javert fuhr nach Paris zurück.

Jean Valjean ist tot, dachte er, und ich bin mit der Nase gegen eine Mauer gestoßen.

Er war eben dabei, diese Geschichte wieder zu vergessen, als er im März 1824 von einer absonderlichen Persönlichkeit hörte, die in der Pfarrei Saint Médard wohnte und »der Bettler, der Almosen verteilt« genannt wurde. Dieser Mensch sei, wurde gesagt, ein Rentner, dessen Name man nicht genau anzugeben wisse und der mit einem kleinen, achtjährigen Mädchen zusammenlebe, von dem auch nicht mehr bekannt sei, als daß es aus Montfermeil stamme.

Montfermeil!

Javert stutzte.

Ein alter Bettler, der Spitzeldienste leistete, ein ehemaliger Kirchendiener, dem jener Unbekannte Almosen zusteckte, gab noch weitere Einzelheiten. Dieser Rentner sei ein ganz absonderlicher Mensch, gehe nur des Abends aus, spreche mit niemand außer einigen Bettlern und lasse keinen an sich herankommen. Er trage einen schauerlichen alten, gelben Rock, der einige Millionen wert sei, denn der Alte habe ihn ganz und gar mit Tausendfrankennoten ausgestopft.

Dieser Bericht reizte Javerts Neugierde. Um diesen Rentner aus nächster Nähe zu sehen, ohne ihn kopfscheu zu machen, entlieh er eines Tages diesem Kirchendiener seine Kleider und hockte sich an dem Platz, den sonst der alte Spitzel einnahm, Gebete vor sich hinnäselnd und spionierend, nieder.

Das verdächtige Individuum näherte sich wirklich dem also verkleideten Javert und bot ihm ein Almosen. Javert hob den Kopf und war, als er Jean Valjean zu erkennen glaubte, nicht weniger außer sich als jener selbst.

Immerhin war es möglich, daß die Dunkelheit ihn getäuscht hatte. Schließlich war Jean Valjeans Tod offiziell gemeldet. Javert zweifelte ernsthaft. Als gewissenhafter Mann wollte er niemand am Kragen packen, bevor er seiner Sache nicht sicher war.

Er ging dem Manne also bis zum Gorbeauschen Haus nach und versuchte »die Alte«, die Vermieterin, zum Sprechen zu bringen. Das war nicht schwer. Die Alte bestätigte die Sache mit den verborgenen Millionen und erzählte ihm die Geschichte von dem Tausendfrankenschein. Sie hatte ihn gesehen, ja, sie hatte ihn mit ihren eigenen Händen berührt! Javert mietete ein Zimmer in dem Haus. Am selben Abend hielt er seinen Einzug. Er lauschte an der Tür des geheimnisvollen Mieters, weil er hoffte, ihn am Klang seiner Stimme wiederzuerkennen, aber Jean Valjean hatte den Kerzenschimmer durch das Schlüsselloch bemerkt und bewahrte Stillschweigen. Am nächsten Tage machte sich Jean Valjean davon. Aber der Lärm des Fünffrankenstückes, das zu Boden gefallen war, hatte die Alte aufmerksam gemacht, die sofort auf den Gedanken kam, ihr Mieter wolle ausrücken, und Javert schleunigst davon in Kenntnis setzte. Als Jean Valjean abends fortging, erwartete ihn Javert bereits mit zwei anderen Leuten hinter den Bäumen des Boulevards.

Er hatte auf der Präfektur angegeben, daß er eine Verhaftung vornehmen wollte, hatte aber den Namen des Individuums nicht genannt, das er zu greifen hoffte. Den hielt er geheim, und dazu bewogen ihn drei Gründe. Erstens konnte die geringste Indiskretion Jean Valjean alarmieren; zweitens bedeutete einen alten entsprungenen Sträfling, der früher zu den gefährlichsten Verbrechern gezählt worden war und jetzt für tot galt, wieder einzubringen, einen glänzenden Erfolg, den die Pariser Polizisten gewiß einem Neuling aus der Provinz, wie Javert, nicht gönnen würden; er mußte also befürchten, daß man ihm den Galeerensträfling wegschnappen würde; drittens und letztens war Javert ein Künstler. Er liebte das Unvorhergesehene und haßte die Erfolge, deren Reiz durch vorherige Ankündigung herabgemindert ist. Gern arbeitete er seine Meisterwerke im Dunklen aus und enthüllte sie dann mit einer einzigen Gebärde.

So war Javert Jean Valjean von Baum zu Baum, von Straßenecke zu Straßenecke gefolgt und hatte ihn keinen Augenblick lang aus der Sicht verloren; auch als Jean Valjean sich in Sicherheit wiegte, hatte Javerts Auge auf ihm geruht. Warum verhaftete Javert Valjean nicht?

Weil er noch immer zweifelte.

Man muß in Betracht ziehen, daß die Polizei in jener Zeit keinen guten Stand hatte; die liberale Presse sah ihr scharf auf die Finger. Einige willkürliche Verhaftungen, um die in den Zeitungen ein großes Aufheben gemacht worden war, waren sogar in der Kammer erörtert worden, und die Präfektur war verschüchtert. Ein Attentat auf die persönliche Freiheit war kein Scherz. Die Agenten fürchteten sehr, sich zu vergreifen, denn im Ernstfalle hielt der Präfekt sich an sie. Ein Irrtum konnte die Dienstentlassung bedeuten. Man stelle sich nur die Wirkung einer kurzen Nachricht, die durch zwanzig Blätter läuft und folgendermaßen lautet, vor:

»Gestern wurde ein bejahrter Mann, Großvater, ein ehrenwerter Rentner mit weißen Haaren, der sein achtjähriges Enkelkind spazierenführte, verhaftet und als entsprungener Galeerensträfling in der Polizeidirektion eingeliefert.«

Wenn wir also wiederholen, daß Javert seiner Sache noch nicht ganz sicher war, so wird begreiflich, daß die Stimme des Gewissens, verbunden mit der des warnenden Präfekten, ihre Wirkung tun mußte.

Jean Valjean zeigte ihm den Rücken und marschierte durch die Finsternis. Seine traurige Gemütsverfassung, seine Unruhe, die Angst, der Umstand, daß er obdachlos durch die Nacht wanken mußte, und gar noch die Notwendigkeit, seine Gangart dem des Kindes anzupassen, alles das verursachte, ohne sein Wissen, eine derartige Veränderung in Jean Valjeans ganzer Haltung und verlieh ihm etwas so Greisenhaftes, daß selbst die Polizei, selbst ein Javert unsicher werden konnte und wurde. Dazu kam, daß man nicht allzu nahe an die Verfolgten herangehen durfte, schließlich die Erklärung des Thénardier, der ihn den wirklichen Großvater der Kleinen genannt hatte, und die amtliche Bestätigung des Todes im Bagno.

Einmal verfiel er darauf, einfach an Valjean heranzutreten und sich seine Papiere zeigen zu lassen. Wenn jener Mann aber nicht Jean Valjean war, zugleich aber auch nicht der brave alte Rentner, sondern irgendein anderer Gauner, der womöglich mit irgendwelchen Pariser Verbrecherbanden in dunkler Verbindung stand, vielleicht sogar das Haupt einer gefährlichen Bande –? vielleicht hatte er Vertraute, Komplizen, nicht nur einen Unterschlupf, der ihm offenstand?

Die Umwege, die der Unbekannte machte, schienen allerdings darauf hinzudeuten, daß man es hier nicht mit der Arglosigkeit in Person zu tun habe. Aber sein Opfer vorzeitig festnehmen, hieß das nicht den Braten vom Feuer nehmen, bevor er gar war? Was konnte denn passieren, wenn man wartete? Javert war seiner sicher genug, um ein neuerliches Entschlüpfen nicht zu befürchten.

Er ging also hinter ihm her, und tausend Fragen bestürmten sein Gehirn. Als aber der Verfolgte in der Rue de Pontoise an einer hellerleuchteten Schenke vorüberkam, sah Javert ihm ins Gesicht und erkannte Jean Valjean endgültig. Es gibt auf dieser Welt zwei Geschöpfe, die so zittern können: die Mutter, die ihr Kind wiederfindet, und der Tiger, der seine Beute sieht. Auch Javert erschauerte.

Sobald er endgültig wußte, daß er es mit dem furchtbaren Galeerensträfling zu tun hatte, bedachte er auch, daß er nur zwei Leute bei sich hatte, und forderte darum in dem Kommissariat in der Rue de Pontoise Verstärkung an. Wer einen Dornenstock ergreifen will, muß sich mit guten Handschuhen versehen.

Dieser Aufenthalt und die Beratung am Kreuzweg Rollin hätten Javert bald seine Spur verlieren lassen. Rasch aber erriet er, daß es Valjeans erstes Bestreben sein mußte, den Fluß zwischen sich und seine Verfolger zu bringen. Sein sicherer Instinkt führte ihn geradewegs zur Austerlitzer Brücke. Eine einfache Anfrage an den Mautwächter klärte ihn vollständig auf.

So erreichte der Polizist die Brücke rechtzeitig, um Jean Valjean mit Cosette den hellerleuchteten Platz am anderen Ufer überqueren zu sehen. Er bemerkte, daß die beiden in die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine einbogen. Da fiel ihm ein, daß die Sackgasse Genrot am anderen Ende dieser Straße nur den Ausgang zur Rue Droit-Mur offenläßt. Er versicherte sich also dieser Ausbruchsstelle und sandte eiligst auf einem Umwege einen der Agenten dorthin. Eine Patrouille, die zum Arsenal zurückmarschierte, kam ihm in den Weg, er verlangte ihre Unterstützung. Bei solchen Unternehmungen sind Soldaten die besten Trümpfe, die man ausspielen kann. Auch ist es ein altes Prinzip, daß man auf der Jagd nach dem wilden Eber die Geschicklichkeit des Jägers mit der Kraft der Spürhunde verbindet.

Als Javert die Situation soweit geklärt hatte und wußte, daß sein Opfer rechts in eine Sackgasse geraten, links auf den ausgestellten Posten stoßen mußte, bewilligte er sich eine Prise Tabak.

Und jetzt begann er zu spielen. Das war für ihn ein höllischer und doch köstlicher Augenblick. Er ließ sein Opfer vor sich herlaufen, wußte, daß er es in Händen hielt, wollte aber den Augenblick der Verhaftung soweit als möglich hinausschieben. Er brauchte ja nur zuzupacken. An einen Widerstand des Verfolgten war in Anbetracht der Patrouille nicht zu denken, so energisch, stark und vom Mut der Verzweiflung beflügelt Jean Valjean auch sein mochte.

Als aber Javert, der unterwegs alle Winkel der Gasse wie die Taschen eines Diebes durchsucht hatte, in die Mitte des ausgeworfenen Netzes kam, fand er die Fliege nicht. Man stelle sich seine Wut vor!

Er fragte seinen Posten in der Rue Droit-Mur, aber der war, ohne sich zu rühren, an seinem Platze geblieben und hatte niemand vorbeikommen gesehen.

Nun, gewiß hat Napoléon in Rußland, Alexander in Indien, Caesar in Afrika, Cyrus im Scythenlande Fehler begangen. Auch Javert durfte es tun. Wer ist vollkommen auf dieser Welt?

Attila hat zwischen Orient und Okzident geschwankt, Hannibal in Capua die Entscheidungsstunde versäumt, Danton ist in Arcis-sur-Aube eingeschlafen.

Wie dem auch sei, in dem Augenblick, als Javert begriff, daß Jean Valjean ihm entschlüpft sei, verlor er nicht den Kopf. Er wußte nur zu gut, daß der alte Sträfling nicht weit sein konnte, stellte daher Posten auf und organisierte die Überwachung des Quartiers. Das erste, was ihm auffiel, war das abgeschnittene Laternenseil. Das war ein wertvoller Fingerzeig, der ihn allerdings irreführte, weil er seine Aufmerksamkeit auf das Sackgäßchen Genrot ablenkte. Es gibt in dieser Sackgasse ziemlich niedrige Mauern, hinter denen Gärten liegen. Jean Valjean mochte sich dahin gewandt haben.

Gewiß hätte Valjean, wäre er auch nur einen Augenblick früher in der Sackgasse gewesen, einen solchen Versuch unternommen und wäre verloren gewesen. Javert durchsuchte die Gärten so gründlich, daß er eine vermißte Stecknadel gefunden hätte.

Bei Tagesanbruch ließ er zwei tüchtige Leute als Beobachter zurück und begab sich, zutiefst beschämt, von einem Verbrecher irregeführt worden zu sein, zur Präfektur.

Fünftes Buch
Die Friedhöfe nehmen, was man ihnen gibt

Wie man in ein Kloster kommt

Jean Valjean begriff, daß er und Cosette verloren waren, wenn sie nach Paris zurückkehrten. Da ein glücklicher Wind ihn hierher verschlagen hatte, in diesem Kloster verborgen, durfte er nicht daran denken, es wieder zu verlassen. Für einen Unglücklichen in seiner Lage war dieses Kloster zugleich der gefährlichste und doch auch der sicherste Aufenthalt; der gefährlichste, denn kein Mann durfte hier eindringen, bei Gefahr, entdeckt und der Polizei ausgeliefert zu werden; der sicherste, denn hier würde man ihn gewiß nicht vermuten. Und wer sollte auch Eintritt erhalten, um ihn hier zu suchen? Sich an einem unmöglichen Ort aufhalten bedeutete das Heil.

Auch Fauchelevent konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Viele Gedanken beschäftigten ihn. Das einzige, was er verstand, war, daß er nichts begriff. Wie konnte Herr Madeleine über diese Mauern gekommen sein? Man übersteigt solche Mauern nicht. Und ganz gewiß nicht mit einem Kind in den Armen! Und was war das für ein Kind? Woher kamen die beiden?

Seit Fauchelevent im Kloster war, hatte er aus Montreuil sur Mer keine Nachrichten mehr erhalten. Vater Madeleine machte ein Gesicht, das einen Frager nicht gerade ermunterte, und überdies dachte sich Fauchelevent: Man soll die Heiligen nicht ausfragen. Aus einigen Worten, die Jean Valjean entschlüpft waren, glaubte der Gärtner entnehmen zu dürfen, Herr Madeleine sei vielleicht infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zusammengebrochen und befinde sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern. Oder er habe sich in einer politischen Sache kompromittiert und wünsche sich darum zu verbergen. Und das gefiel Fauchelevent recht gut, da er, wie die meisten Bauern in Nordfrankreich, im Grunde seines Herzens Bonapartist war.

Aber wie sollte er ihn hier im Kloster erhalten? Das war die Frage. Fauchelevent schreckte vor diesem schier wahnsinnigen Unterfangen nicht zurück; dieser arme picardische Bauer, den nur seine Ergebenheit, sein guter Wille und eine gewisse Bauernschlauheit unterstützten, machte sich daran, die Schwierigkeiten zu überwinden, die ihm die strenge Regel des heiligen Benediktus in den Weg legte.

Bei Tagesanbruch tat Vater Fauchelevent, der alles reiflich erwogen hatte, die Augen auf und sah Madeleine, der auf seinem Strohsack saß und die schlafende Cosette betrachtete. Auch Fauchelevent setzte sich auf und sagte:

»Da Sie nun einmal hier sind, wie macht man es, daß Sie auch herauskommen?«

Dieser Ausdruck kennzeichnete die ganze Situation und weckte Jean Valjean aus seiner Träumerei. Die beiden Männer begannen zu beraten.

»Zunächst«, erklärte Fauchelevent, »dürfen Sie keinen Fuß aus diesem Zimmer setzen, weder Sie noch die Kleine. Ein Schritt in den Garten, und alles ist aufgeflogen.«

»Sehr richtig.«

»Sie sind allerdings in einem sehr guten, will sagen, in einem sehr schlechten Augenblick hierhergekommen, Vater Madeleine, denn eine der Damen ist gerade schwer krank. Folglich wird sich nicht so leicht jemand um uns kümmern. Allem Anschein nach stirbt sie gerade. Das vierzigstündige Gebet ist bereits angesagt. Die ganze Gemeinde ist in Aufregung. Also sind die Nonnen beschäftigt. Die Frau, um die es sich handelt, ist eine Heilige. Wir sind alle Heilige hier. Der einzige Unterschied ist, daß die Nonnen sagen: ›meine Zelle‹, während ich sage: ›meine Bude‹. Jetzt wird also das Gebet für die Sterbende gesprochen, und dann kommt das Totengebet und die Totenwache. Für heute haben wir Ruhe, aber für morgen kann ich nicht bürgen.«

»Allerdings ist diese Baracke in einem Mauerwinkel eingebaut«, bemerkte Jean Valjean, »und hinter dieser Ruine und den Bäumen so gut verborgen, daß man sie vom Kloster aus gar nicht sieht.«

»Wozu ich noch bemerken möchte, daß die Nonnen niemals hierherkommen.«

»Also?«

Dieses Fragezeichen schien zu bedeuten: demnach kann man ja hier sehr gut verborgen bleiben. Und darauf antwortete Fauchelevent:

»Aber da sind die Kleinen zu bedenken.«

»Welche Kleinen?«

Als Fauchelevent den Mund auftat, um zu antworten, ließ sich ein Glockenschlag vernehmen.

»Die Nonne ist tot. Das ist das Zeichen.«

Noch einmal schlug die Glocke an.

»Ja, das ist das Zeichen, Herr Madeleine. Und so wird die Glocke jede Minute anschlagen, vierundzwanzig Stunden lang, bis die Leiche aus der Kirche hinausgetragen wird. – Ja, sehen Sie, so stehts: bei der Rekreation, wenn die Kleinen Erholungsstunde haben, verstehen Sie, braucht nur ein Ball hierherzurollen, dann kommen die Kleinen alle trotz des strengen Verbots und treiben hier ihre Späße. Es sind die reinsten Teufel, diese Engelchen.«

»Wovon sprechen Sie denn?«

»Nun, von den Kleinen. Die werden Sie gleich entdecken. Dann gibt es ein großes Geschrei: Hallo, ein Mann! Heute allerdings besteht diese Gefahr nicht. Heute wird nur gebetet.«

»Ich begreife, Vater Fauchelevent. Sie sprechen von Pensionärinnen.« Und Jean Valjean dachte: Das wäre ja eine Sache für Cosette!

»Natürlich«, rief Fauchelevent, »Pensionärinnen! Und die würden hübsch um Sie herumspringen. Hier ein Mann zu sein ist schlimmer als die Pest bekommen. Sie sehen doch, daß man mir dieses Glöckchen umgebunden hat, als ob ich ein Vieh wäre.«

Jean Valjean wurde immer nachdenklicher. Dieses Kloster, dachte er, wäre ein gutes Asyl.

»Ja, es ist nur schwer, hierzubleiben«, sagte er laut.

»Nein, die größte Schwierigkeit ist die, hinauszukommen.«

Jean Valjean fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen drang.

»Hinaus?«

»Ja, Herr Madeleine, denn um wieder hereinzukommen, müssen Sie doch erst mal draußen sein. Hier dürfen Sie sich nicht finden lassen. Für mich sind Sie vom Himmel gefallen, weil ich Sie kenne, aber diese Nonnen ziehen es vor, wenn man durch die Türe hereinkommt.«

Plötzlich wurde ein längeres Glockenläuten hörbar.

»Ach«, sagte Fauchelevent, »die Mütter werden ins Kapitel gerufen. Das Kapitel wird immer zusammenbestellt, wenn eine gestorben ist. Sie ist bei Tagesanbruch gestorben. Man stirbt meist um diese Zeit. Können Sie nicht eben dort hinausgehen, wo Sie hereingekommen sind? Ich frage ja nicht, um Sie auszuhorchen, aber wie sind Sie nur hier hereingekommen?«

Jean Valjean wurde blaß. Der bloße Gedanke, sich wieder in diese Straße hinauszuwagen, ließ ihn erschauern. Wenn man aus einem Wald, in dem es von Tigern wimmelt, entflohen ist, nimmt man nicht gern den Rat eines Freundes an, der uns wieder hineinschicken will. Jean Valjean stellte sich vor, daß die Polizei noch das ganze Quartier unter Aufsicht halte und überall Posten aufgestellt habe; von allen Seiten griffen Fäuste nach seinem Kragen, und Javert lauerte wohl in der Sackgasse.

»Das ist ganz unmöglich«, sagte er. »Vater Fauchelevent, stellen Sie sich vor, daß ich vom Himmel gefallen bin.«

»Natürlich glaube ich das. Sie brauchen mir so etwas gar nicht erst zu sagen. Der liebe Gott hat Sie in die Hand genommen, um Sie einmal aus der Nähe zu besehen, und dann hat er Sie wieder fallen lassen. Nur wollte er Sie in ein Männerkloster bringen und hat sich geirrt. Hören Sie, schon wieder ein Glockenzeichen! Das gilt dem Pförtner. Er soll die Behörden verständigen, daß der Totenbeschauer benachrichtigt wird. Das ist so das Zeremoniell des Sterbens. Die guten Frauen können diese ärztliche Visite nicht leiden. So ein Arzt ist gemeinhin ein Ungläubiger, will von allem den Schleier wegziehen. Manchmal kümmert er sich um Dinge, die ihn gar nichts angehen. Wie eilig sie es diesmal haben, nach dem Arzt zu schicken. Was das nur bedeutet? Ihre Kleine schläft noch immer. Wie heißt sie denn?«

»Cosette.«

»Ist sie Ihre Enkelin? Sind Sie der Großvater?«

»Ja.«

»Die können wir leicht hinauskriegen. Ich habe eine Tür, die in den Hof geht. Wenn ich da klopfe, öffnet mir der Pförtner. Ich habe meine Butte am Buckel, da stecke ich die Kleine vorher hinein, so trage ich sie hinaus. Papa Fauchelevent geht mit seiner Butte aus. Das ist nichts Besonderes. Wir sagen bloß der Kleinen, sie solle sich ruhig verhalten. Sie kann unter der Plane ganz gut versteckt bleiben. So bringe ich sie für die Zwischenzeit zu einer guten alten Freundin, einer Gemüsehändlerin in der Rue du Chemin-Vert, die taub ist und ein kleines Bett hat. Der schrei ich ins Ohr, daß dies eine Nichte von mir ist, und sie soll sie mir bis morgen gut aufheben. Dann kann die Kleine mit Ihnen zusammen wieder hereinkommen. Herein bring ich Sie schon wieder. Das muß ich wohl. Aber Sie, wie bringe ich Sie nur hinaus?«

Jean Valjean schüttelte den Kopf.

»Mich darf niemand sehen. So steht die Sache, Vater Fauchelevent. Suchen Sie mich auch wie Cosette in der Butte und unter der Plane hinauszuschmuggeln.«

Fauchelevent kratzte sich mit dem Mittelfinger hinterm Ohr, was bei ihm höchste Verlegenheit bedeutete.

Wieder gab die Glocke ein Zeichen.

»Der Totenbeschauer geht wieder. Er hat gesagt: sie ist tot, ausgezeichnet. Wenn der Arzt den Paß nach dem Paradies visiert hat, senden die Leichenbestattungsanstalten eine Bahre. Wenn die Tote eine Mutter war, wird sie von den anderen Müttern in den Sarg gelegt, war sie eine Schwester, von den Schwestern. Dann komme ich und nagle den Sarg zu. Das gehört auch zu meinen Gärtnerpflichten. Ein Gärtner ist immer auch ein wenig Totengräber. Dann kommt die Leiche in den niedrigen Saal in der Kirche, der eine Verbindungstür zur Straße hat. Nur der Totenarzt darf da hereinkommen. Mich und den Leichenträger rechnen sie nämlich nicht zu den Männern. In diesem Saal vernagle ich den Sarg. Dann holen ihn die Totengräber ab, und hü, Kutscher! schon geht die Fahrt in den Himmel. Kurz, man bringt eine Schachtel hierher, in der nichts ist, und trägt eine volle wieder hinaus. Das ist das Leichenbegängnis. De profundis!«

Ein Sonnenstrahl glitt über Cosettes schlafendes Antlitz. Sie hielt den Mund halb offen und glich einem Engel, der Licht bringt. Jean Valjean hatte sich wieder ihr zugewandt und hörte nicht mehr auf Fauchelevent.

Aber daß einem niemand zuhört, muß kein Grund sein zu schweigen. Der wackere Gärtner setzte gemächlich seine Ausführungen fort.

»Begraben wird sie auf dem Friedhof Vaugirard. Angeblich soll er aufgelassen werden, dieser Friedhof. Er ist schon sehr alt und widerspricht den jetzigen Reglements. Er hat keine Uniform mehr und soll pensioniert werden. Schade, er war so bequem. Ich habe dort einen Freund, den Totengräber, Papa Mestienne. Die Nonnen von hier haben das Privileg, bei Einbruch der Nacht auf den Friedhof hinausgebracht zu werden. Es gibt eine Sonderverordnung der Präfektur für sie. Was alles seit gestern abend passiert ist! Mutter Crucifixion ist tot und Vater Madeleine …«

»Begraben«, sagte Jean Valjean traurig lächelnd.

»Weiß Gott, wenn Sie wirklich ganz hier wären, könnte das einem Grab ziemlich ähnlich werden«, meinte Fauchelevent.

Zum viertenmal läutete die Glocke. Fauchelevent nahm seinen Glockenriemen von der Wand und band ihn um sein Knie.

»Diesmal gilt es mir. Die Mutter Priorin verlangt nach mir. Herr Madeleine, warten Sie hier und rühren Sie sich so lange nicht. Wenn Sie Hunger haben, dort ist Wein, Brot und Käse.«

Einige Minuten später klopfte Fauchelevent, dessen Glöcklein die Nonnen ringsum aus dem Wege gescheucht hatte, an eine kleine Tür, und eine sanfte Stimme antwortete:

»Herein!«

Es war die Tür des Sprechzimmers, das für die dienstlichen Meldungen des Gärtners bestimmt war. Es grenzte an den Kapitelsaal. Die Priorin saß auf dem einzigen Stuhl des Raumes und erwartete Fauchelevent.


Fauchelevent der Schwierigkeit gegenüber

In kritischen Fällen sofort den nötigen Ernst und die angemessene innere Bewegtheit zur Schau zu stellen, ist ein Vorrecht gewisser Charaktere und Berufe, insbesondere aber der Priester und der Nonnen. Als Fauchelevent eintrat, war beides, Ernst und Bewegtheit, auf dem Gesicht der Priorin, der liebenswürdigen und gelehrten Mademoiselle de Blemeur, genannt Mutter Innocentia, die sonst so heiter war, zu erkennen.

Der Gärtner grüßte sie scheu und blieb auf der Schwelle stehen. Die Priorin ließ den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten, blickte auf und sagte:

»Ach, Sie sind es, Vater Fauvent!«

Diese Abkürzung war im Kloster üblich.

Fauchelevent grüßte zum zweitenmal.

»Ich habe Sie rufen lassen, Vater Fauvent.«

»Hier bin ich, ehrwürdige Mutter.«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Und auch ich möchte der ehrwürdigen Mutter etwas sagen«, erwiderte Fauchelevent mit einer Kühnheit, die ihn selbst in Erstaunen setzte.

Die Priorin sah ihn an.

»Ach, haben Sie mir eine Mitteilung zu machen?«

»Eine Bitte.«

»Gut, sprechen Sie.«

Der wackere Fauchelevent gehörte zu jener Sorte von Bauern, die gern den Stier bei den Hörnern fassen. Unwissenheit, mit Geschicklichkeit gepaart, ist zuweilen eine Macht. Man achtet ihrer nicht, und schon hat sie uns untergekriegt. Seit mehr als zwei Jahren wohnte er im Kloster und erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Da er fast immer einsam und in seinem Garten wenig beschäftigt war, hatte er nichts anderes zu tun, als seine Neugierde zu stillen. Zwar sah er in dem Abstand, der ihm auferlegt war, die verschleierten Frauen, die vor ihm kamen und gingen, nur wie wandelnde Schatten. Dank der Aufmerksamkeit, die er ihnen widmete, waren diese Gespenster für ihn bald Fleisch und Blut geworden, und die er für tot gehalten, schienen ihm jetzt lebendig. Es war wie bei den Tauben, deren Gesichtssinn schärfer wird, oder wie bei den Blinden, die besser hören. Bald hatte er die Bedeutung der verschiedenen Glockenzeichen begriffen, und jetzt bot ihm das rätselhafte verschwiegene Kloster keine Geheimnisse mehr. Die Sphinx plauderte ihm ihre Rätsel aus. Fauchelevent wußte alles, schwieg über alles. Das war sein Trick. Man hielt ihn im Kloster für blöde. Blöde sein, das ist im Kloster ein großes Verdienst. Die Mütter hielten große Stücke auf ihn. Er war ein sonderbarer Kauz und dazu stumm. Flößte Vertrauen ein. Überdies war er verläßlich und ging nur aus dem Kloster, wenn glaubhafte Notwendigkeiten und Amtspflichten als Gemüse- und Obstgärtner ihn dazu zwangen. Diese Zurückhaltung wurde ihm hoch angerechnet. Nichtsdestoweniger hatte er zwei Männer zum Sprechen gebracht, im Kloster den Pförtner, der mancherlei aus dem Sprechzimmer verraten konnte, auf dem Friedhof den Totengräber, der Einzelheiten über die Begräbnisstätte wußte; so wußte er doppelt über seine Nonnen Bescheid, über ihr Leben und über ihren Tod. Doch mißbrauchte er diese Kenntnisse nicht. Die Kongregation hing an ihm. Alt, lahm, kurzsichtig, ein wenig taub – mehr Vorzüge konnte ein einziger Mann wirklich nicht aufweisen!

Mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, dessen Wert anerkannt wird, begann er jetzt eine ebenso konfuse wie tiefgründige Rede vom Stapel zu lassen. Er verbreitete sich zunächst über sein Alter, allerlei Gebrechen, daß zum Beispiel die letzten Jahre geradezu doppelt zählen, dann über die Beschwerden der Arbeit, die Größe des Gartens, die Nachtarbeit (wie unlängst, da er wegen des Mondlichts die Melonen hatte einwickeln müssen), und kam endlich zu folgendem Ergebnis: er habe einen Bruder (Unruhe der Priorin), beileibe keinen jungen Bruder (die Priorin gibt Zeichen der Beruhigung), und dieser Bruder würde, wenn es erlaubt wäre, ganz gern zu ihm ziehen und ihm bei der Arbeit behilflich sein. Dieser Bruder sei ein hervorragender Gärtner, der der Klostergemeinde große Dienste tun würde, bessere, als er, Fauchelevent, tun könne. Wenn man aber diesen Bruder nicht in Dienst nehmen wolle, müsse er, wenn auch mit Bedauern, ausscheiden, denn er fühle sich seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen. Überdies habe dieser Bruder auch eine kleine Enkelin, die er mitbringen möchte, um sie im Kloster erziehen zu lassen. Wer könne wissen, ob sie nicht dereinst eine gute Nonne würde.

Als er mit dieser Rede fertig war, ließ die Priorin den Rosenkranz ruhen und sagte:

»Können Sie sich für heute abend eine starke Eisenstange verschaffen?«

»Wozu?«

»Um sie als Hebel zu benützen.«

»Doch, ehrwürdige Mutter«, antwortete Fauchelevent.

Ohne ein Wort hinzuzufügen, stand die Priorin auf und ging in das Nachbarzimmer, den Kapitelsaal, wo die Mütter offenbar versammelt waren. Fauchelevent blieb allein.


Mutter Innocentia

Eine Viertelstunde verstrich. Endlich kam die Priorin zurück und nahm Platz.

Beide, die Priorin und Vater Fauchelevent, schienen ernsten Gedanken nachzuhängen. Wir wollen das Gespräch, das sich ergab, nach unserem besten Können wiedergeben, als ob wir mitstenographiert hätten.

»Vater Fauvent?«

»Ehrwürdige Mutter?«

»Sie kennen die Kapelle?«

»Ich habe eine kleine vergitterte Bank darin, um dem Gottesdienst beizuwohnen.«

»Waren Sie schon einmal im Chor?«

»Zwei- oder dreimal.«

»Es handelt sich darum, eine Steinplatte zu heben.«

»Ist sie schwer?«

»Es ist die Steinfliese neben dem Altar.«

»Der Stein, der das Grabgewölbe abschließt?«

»Ja.«

»Wieder so eine Gelegenheit, wo zwei Männer besser am Platz sind als einer.«

»Mutter Ascension ist stark wie ein Mann. Sie wird Ihnen helfen.«

»Eine Frau ist niemals ein Mann.«

»Wir können Ihnen aber nur eine Frau als Helferin zur Verfügung stellen. Jeder tut, was er kann. Weil Mabillon vierhundertundsiebzehn Briefe des heiligen Bernardus und Merlonus Horstius nur dreihundertsiebenundsechzig Briefe desselben mitzuteilen weiß, verachte ich den Merlonus Horstius doch nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Das Verdienst besteht darin, nach besten Kräften zu wirken. Ein Kloster ist keine Zimmermannswerkstatt.«

»Und eine Frau ist kein Mann. Mein Bruder, der ist stark!«

»Außerdem haben Sie ja einen Hebel.«

»Das ist der einzige Schlüssel, mit dem man solche Türen aufkriegt.«

»Und in dem Stein ist ein Ring.«

»Da stecke ich den Hebel hinein.«

»Und die vier ersten Sängerinnen unter den Müttern vom Chor können Ihnen helfen.«

»Wenn wir aber das Grabgewölbe offen haben?«

»Dann muß man es wieder zumachen.«

»Das ist alles?«

»Nein.«

»Ich bitte um Ihre Befehle, ehrwürdigste Mutter.«

»Fauvent, Sie genießen unser Vertrauen.«

»Ich bin hier, um alles zu tun.«

»Und um über alles zu schweigen.«

»Jawohl, ehrwürdige Mutter.«

»Wenn das Gewölbe geöffnet ist …«

»Dann mach ich es wieder zu.«

»Aber vorher …«

»Was, ehrwürdige Mutter?«

»Man muß etwas hinunterlassen.«

Schweigen trat ein. Die Priorin schob die Unterlippe vor, als ob sie zögere, dann nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Vater Fauvent?«

»Ehrwürdige Mutter?«

»Sie wissen, daß eine Mutter im Hause gestorben ist, heute morgen.«

»Nein.«

»Haben Sie denn die Glocke nicht gehört?«

»Hinten im Garten hört man nichts.«

»Wahrhaftig nicht?«

»Kaum daß ich es höre, wenn Sie nach mir schellen.«

»Sie ist bei Tagesanbruch gestorben.«

»Überdies weht der Wind um diese Zeit nach der anderen Seite.«

»Es ist Mutter Crucifixion, eine Selige.«

Die Priorin schwieg, bewegte die Lippen wie zu einem stillen Gebet, dann fuhr sie fort:

»Vor drei Jahren hat sich eine Jansenistin, Madame de Béthune, zum wahren Glauben bekehrt, nachdem sie Mutter Crucifixion beten gesehen hatte.«

»Ah, jetzt höre ich auch die Glocke, ehrwürdige Mutter!«

»Die Mütter haben sie in die Totenkammer getragen, die an die Kirche stößt.«

»Ich weiß.«

»Kein anderer Mann als Sie kann und darf diesen Raum betreten. Das wäre ja schön, wenn ein Mann in unsere Totenkammer käme!« Die Priorin wechselte das Thema.

»Bei ihren Lebzeiten schon hat Mutter Crucifixion Bekehrungen vollbracht. Nach ihrem Tode wird sie Wunder tun.«

»Unbedingt«, erwiderte Fauchelevent.

»Vater Fauvent, unsere Gemeinde ist in Mutter Crucifixion gesegnet. Ohne Zweifel ist es nicht aller Welt gegeben, zu sterben wie Kardinal Bérulle, den der Tod antrat, während er die Messe las; er hauchte seine Seele bei den Worten ›Hanc igitur oblationem‹ aus. Aber wenn Mutter Crucifixion auch eines solchen Glücks nicht teilhaftig wurde, so hat sie doch einen sehr schönen Tod gehabt. Sie blieb bis zum letzten Augenblick bei vollem Bewußtsein. Sie sprach mit uns und später mit den Engeln. Auch konnte sie uns ihren letzten Willen aufgeben. Wenn Sie etwas mehr Glauben hätten und in der Zelle gewesen wären, gewiß hätte sie mit einer einzigen Berührung Ihr Bein geheilt. Sie lächelte. Man fühlte, wie sie sich Gott näherte. In diesem Tode war ein Vorgeschmack vom Paradies.«

Fauchelevent glaubte, dies sei das Ende eines Gebetes.

»Amen«, sagte er.

»Vater Fauvent, man muß den Willen der Toten erfüllen.«

Wieder nahm sie einige Kügelchen ihres Rosenkranzes durch. Fauchelevent schwieg.

»Ich habe heute nacht über diese Frage mit mehreren Gottesgelehrten gesprochen«, fuhr sie fort, »die mit den Regeln des geistlichen Lebens vertraut sind. Überdies handelt es sich hier nicht um eine gewöhnliche Tote, sondern um eine Heilige.«

»Wie Sie, ehrwürdige Mutter.«

»Sie schlief seit zwanzig Jahren in ihrem Sarg. Sie hatte eine besondere Erlaubnis unseres heiligen Vaters Pius VII.«

»Desselben, der den Kai…, den Bonaparte gekrönt hat.«

Für einen geschickten Burschen wie Fauchelevent war diese Erwähnung ein arger Bock. Glücklicherweise war die Priorin so in ihren Gedanken versunken, daß sie nichts bemerkte.

»Vater Fauvent?«

»Ehrwürdige Mutter?«

»Der heilige Diodorus, Erzbischof von Capadocien, befahl, daß auf seinem Grabe das einzige Wort acarus stehen sollte. Das bedeutet: Wurm auf der Erde. Und es wurde so getan. Ist das etwa nicht wahr?«

»Unzweifelhaft, ehrwürdige Mutter.«

»Der selige Mezzocane, Abt von Aquila, wollte unter einem Galgen begraben sein. Auch seinem Willen wurde gefolgt.«

»Sehr richtig.«

»Der heilige Terentius, Bischof des Hafens an der Tibermündung, verlangte, auf seinem Grabstein solle das Zeichen stehen, mit dem man die Grabsteine der Vatermörder kenntlich machte. Das tat er in der Hoffnung, die Vorübergehenden würden auf sein Grab speien. Und so geschah es. Man muß den Toten gehorchen.«

»So ist es.«

»Der Leichnam des Bernardus Guido, der in Frankreich geboren war, bei Roche-Abbeille, wurde, wie er es verlangt hatte, und obwohl der König von Kastilien Einspruch erhob, in die Dominikanerkirche nach Limoges gebracht, und das, obzwar Bernardus Guido Bischof von Tuy in Spanien war. Darf etwa jemand das Gegenteil behaupten?«

»Gewiß nicht, ehrwürdige Mutter.«

»Plantavit de la Fosse bezeugt diesen Tatbestand.«

Wieder glitten einige Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger.

»Vater Fauvent, Mutter Crucifixion muß in demselben Sarge bestattet werden, in dem sie zwanzig Jahre lang geschlafen hat.«

»Das ist nur recht und billig.«

»Es ist die Fortsetzung ihres Schlafes.«

»Demnach soll ich also diesen Sarg zunageln?«

»Ja.«

»Und den von der Bestattungsanstalt lassen wir beiseite?«

»So ist es.«

»Ich stehe der ehrwürdigen Gemeinde zur Verfügung.«

»Die vier Mütter Sängerinnen werden Ihnen helfen.«

»Um einen Sarg zu vernageln? Dazu brauche ich sie nicht.«

»Nein, aber um ihn hinabzulassen.«

»Wo hinab?«

»In das Gewölbe.«

Fauchelevent fuhr auf.

»In das Gewölbe unter dem Altar?«

»Unter dem Altar.«

»Aber …«

»Sie haben eine Eisenstange.«

»Ja, aber …«

»Sie heben den Stein, indem Sie die Stange in den Ring schieben.«

»Aber …«

»Den Toten muß Gehorsam werden. Es ist der letzte Wunsch der Mutter Crucifixion, in dem Gewölbe unter dem Altar bestattet zu werden und nicht in profaner Erde zu ruhen. Sie hat uns darum gebeten. Das bedeutet: sie hat es uns befohlen.«

»Das ist aber doch verboten.«

»Verboten von den Menschen, befohlen von Gott.«

»Wenn das aber herauskommt?«

»Wir vertrauen Ihnen.«

»Oh, ich bin ein Stein in Ihrer Mauer.«

»Das Kapitel ist versammelt. Ich habe die Mütter befragt, und sie haben entschieden, daß Mutter Crucifixion ihrem Gelübde gemäß in ihrem Sarg und unter unserem Altar bestattet wird. Sagen Sie selbst, Vater Fauvent … wenn hier in diesem Hause Wunder geschehen sollten?! Welcher Ruhm für die Gemeinde! Wunder steigen aus den Gräbern auf.«

»Aber, ehrwürdige Mutter, wenn der Agent der Sanitätskommission …«

»Der heilige Benedictus II. hat in der Begräbnisfrage dem Constantinus Pogonatus Widerstand geleistet.«

»Doch der Polizeikommissär …«

»Chonodemarius, einer der sieben deutschen Könige, die unter der Regierung des Constantinus in Gallien einfielen, hat ausdrücklich das Recht der Klosterinsassen anerkannt, in ihren Klöstern begraben zu werden: also unter dem Hochaltar.«

»Aber der Inspektor von der Präfektur …«

»Die Welt vermag nichts wider das Kreuz. Martinus, der elfte General der Karthäuser, gab seinem Orden diesen Wahlspruch: Stat crux dum volvitur orbis.«

»Amen«, sagte Fauchelevent. Er war nicht davon abzubringen, sich so aus der Affäre zu ziehen, wenn in seiner Nähe Latein gesprochen wurde.

Jeder Zuhörer genügt einem Sprecher, der lange schweigen mußte. Der Rhetor Gymnastoras blieb, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, vor dem erstbesten Baum stehen und gab sich die größte Mühe, ihm alle die Probleme und Syllogismen zu erklären, die er inzwischen hatte bei sich behalten müssen. Auch die Priorin unterstand dem Schweigegebot. Ihre Schleusen waren unter höchstem Druck, und so ergoß sie denn wie einen Strom folgende Rede über den alten Vater Fauchelevent.

»Zu meiner Rechten habe ich Benedictus, zu meiner Linken Bernardus. Wer ist dieser Bernardus? Der erste Abt von Clairvaux. Fontaines in Burgund ist der gesegnete Ort, an dem er zur Welt kam. Sein Vater hieß Tecelin, seine Mutter Alethe. Er begann mit Citeaux und vollendete sein Werk mit Clairvaux. Von dem Bischof von Châlons-sur-Saône, Guillaume de Champeaux, wurde er zum Abt geweiht. Er hatte siebenhundert Novizen und gründete hundertsechzig Klöster. Er war es, der 1140 auf dem Konzile zu Sens Abeilard Pierre de Bruys und seinen Schüler Henry niederkämpfte, später auch noch eine andere Art von Abtrünnigen, die sich Apostoliker nannten. Er widerlegte den Arnoldo von Brescia, sprach den Bann aus wider den Mönch Raoul, den Judenschlächter, beherrschte 1148 das Konzil zu Reims, ließ den Gilbert de la Porée, Bischof von Poitiers, verurteilen, item den Eon de l’Etoile, schlichtete Streitigkeiten zwischen den Fürsten, war der Ratgeber König Ludwigs des Jungen und des Papstes Eugen III., ordnete die Angelegenheiten des Templerordens, predigte den Kreuzzug und tat nicht weniger als zweihundertfünfzig Wunder in seinem Leben; einmal brachte er es an einem Tage bis auf neununddreißig. Und wer ist Benedictus? Der Patriarch von Monte Cassino; er ist der zweite Begründer des Klosterwesens, der Basilius des Westens. Sein Orden hat vierzig Päpste, zweihundert Kardinäle, fünfzig Patriarchen, tausendsechshundert Erzbischöfe, viertausendsechshundert Bischöfe, vier Kaiser, zwölf Kaiserinnen, sechsundvierzig Könige, einundvierzig Königinnen, dreitausendsechshundert kanonisierte Heilige hervorgebracht und besteht über vierzehnhundert Jahre. Hie Sanct Bernardus, hie Sanitätskommission! Hie Sanct Benedictus, hie Inspektorat der Wegepolizei! Der Staat, die Polizei, die Leichenbestattungsanstalt, kennen sie diese Dinge überhaupt? Nicht wenige Leute wären recht erbittert, wenn sie sehen müßten, wie man uns behandelt. Man läßt uns nicht einmal das Recht, unseren Staub Jesus Christus zu geben. Ihre Sanitätskommission ist eine Erfindung der Revolution. Gott als Untergebener des Polizeikommissariats – das ist unser Jahrhundert. Schweigen Sie, Fauvent!«

Fauchelevent fühlte sich unter dieser Dusche nicht gerade wohl, aber die Priorin fuhr fort:

»Das Anrecht des Klosters auf eigene Gräber darf niemand bezweifeln, und nur Fanatiker und im Irrtum Befangene können es leugnen. Wir leben in einer Zeit furchtbarer Unsicherheit aller Begriffe. Man ist unwissend in allen Dingen, die zu wissen verlohnt, aber man weiß alles mögliche, was besser ungewußt bliebe. Man ist kraß und unfromm. Es gibt in dieser Zeit Menschen, die den Unterschied zwischen dem erhabenen Sanct Bernardus und dem sogenannten Bernhard von den armen Katholiken, einem wackeren Priester aus dem dreizehnten Jahrhundert, nicht wissen! Andere wieder sind solche Lästerer, daß sie das Schafott Ludwigs XVI. mit dem Kreuz Christi vergleichen. Ludwig XVI. war doch nur ein König. Hüten wir uns vor Gottes Unwillen! Schon weiß man nicht, was Gut und Böse ist. Man kennt den Namen eines Voltaire, weiß aber nicht, wer César de Bus war! Und doch war César de Bus ein Seliger und Voltaire ein Unseliger! Der letzte Erzbischof, der Kardinal von Périgord, wußte nicht einmal, daß Charles de Gondren der Nachfolger des Bérulle war, und François Bourgoin der des Gondren, und Jean François Senault der des Bourgoin, und Pater de Sainte Marthe der des Jean François Senault. Man kennt den Namen des Pater Coton, nicht weil er einer von den dreien war, welche die Einführung des Oratoriums durchsetzten, sondern weil der hugenottische König Heinrich IV. über ihn unflätige Dinge sagte. Die Weltleute finden unseren heiligen Franz von Sales liebenswert, weil er beim Spiel mogelte. Und man greift die Religion an. Warum? Weil es schlechte Priester gegeben hat, weil Sagittaire, Bischof von Gap, der Bruder des Salone, Bischof von Embrun war und weil beide die Nachfolger Mommols waren. Aber was liegt daran? Ist darum Martin von Tours weniger ein Heiliger, und hat er nicht die Hälfte seines Mantels einem Bettler geschenkt? Man verfolgt die Heiligen, man verschließt die Augen gegen die Wahrheit. Die wildesten Tiere sind die wildesten Bestien. Niemand fürchtet die höllischen Feuer. O über dieses schlechte Volk! ›Im Namen des Königs‹ bedeutet heute ebensoviel wie ›im Namen der Revolution‹. Man weiß nicht, was man den Toten und den Lebenden schuldet. Es ist verboten, als Heiliger zu sterben. Das Begräbnis ist eine Angelegenheit der Zivilbehörde. Es ist schauderhaft. Der heilige Leo II. hat eigens zwei Briefe geschrieben, einen an den Petrus Notarius, den andern an den König der Westgoten, um die Autorität des Exarchen und die Suprematie des Kaisers in allen Fragen der Totenbestattung anzufechten. Gautier, Bischof von Châlons, widersetzte sich in derselben Sache dem Herzog Othon von Burgund. Sogar die Beamten waren auf seiner Seite. Früher hatten wir vom Kapitel auch in weltlichen Dingen etwas zu sagen. Der Abt von Citeaux, ein Ordensgeneral, war erbliches Mitglied des burgundischen Parlaments. Wir tun mit unseren Toten, was wir wollen. Ist etwa der Leichnam des heiligen Benedictus nicht in Frankreich, in der Abtei von Fleury, die jetzt Saint-Benoit-sur-Loire heißt, obwohl er in Italien, in Monte Cassino, starb, und zwar am Sonnabend, dem einundzwanzigsten März 543? Alles das ist unanfechtbar. Ich verabscheue die Psalanten, ich verabscheue die Brüder vom freien Gebet, ich hasse die Ketzer, aber einen Menschen, der meinen Behauptungen widersprechen wollte, würde ich noch mehr verurteilen. Man braucht, um darüber volle Klarheit zu erlangen, nur die Werke folgender Schriftsteller zu lesen: Arnoult Wion, Gabriel Bucelin, Trithemius, Maurolicus und Dom Luc d’Achery.«

Jetzt schöpfte die Priorin Atem und wandte sich wieder Fauchelevent zu:

»Vater Fauvent, abgemacht?«

»Abgemacht.«

»Wir können auf Sie zählen?«

»Ich werde gehorchen.«

»Brav!«

»Ich bin dem Kloster ganz ergeben.«

»Wohlverstanden: Sie verschließen den Sarg. Die Schwestern tragen ihn in die Kapelle. Es folgt das Totenamt. Dann gehen alle ins Kloster zurück. Zwischen elf und Mitternacht kommen Sie mit Ihrer Eisenstange. Alles wird ganz im stillen besorgt. In der Kapelle sind nur die vier Mütter Sängerinnen, Mutter Ascension und Sie. Sie dürfen nicht vergessen, die Glocke abzunehmen.«

»Ehrwürdige Mutter?«

»Ja?«

»War der Totenbeschauer schon da?«

»Er kommt um vier Uhr. Das Zeichen wurde schon gegeben. Hören Sie es denn nicht?«

»Ich achte nur auf mein Zeichen.«

»Das ist brav von Ihnen, Vater Fauvent.«

»Ehrwürdige Mutter, ich brauche eine Stange von mindestens sechs Fuß Länge.«

»Wo wollen Sie die hernehmen?«

»Wo es Gitter gibt, fehlt es auch nicht an Eisenstangen. Ich habe eine Menge Eisenzeug hinten im Garten.«

»Also drei viertel Stunden vor Mitternacht. Vergessen Sie nicht!«

»Ehrwürdige Mutter?«

»Was gibt’s?«

»Wenn Sie vielleicht noch solche Aufträge hätten … mein Bruder ist sehr stark. Der reinste Türke.«

»Machen Sie es so rasch wie möglich.«

»Sehr schnell kann ich es nicht. Ich bin schon ein alter Mensch. Gerade darum brauche ich ja den Gehilfen. Auch bin ich lahm.«

»Lahm sein ist keine Schande, eher ein Segen. Der Kaiser Heinrich II., der den Gegenpapst Gregor bekämpfte und Benedict VIII. wieder einsetzte, hatte zwei Beinamen: Der Heilige und Der Lahme. Aber vergessen Sie nicht, Vater Fauvent, das Totenamt beginnt um Mitternacht. Alles muß eine gute Viertelstunde vorher fertig sein.«

»Ich werde mich bemühen, der Gemeinde meinen Eifer zu beweisen. Zwei Männer hätten die Sache besser geschafft. Die Regierung soll nichts davon ahnen. Ist alles so in Ordnung, ehrwürdige Mutter?«

»Nein.«

»Was gibt’s denn noch?«

»Wir haben noch nicht für den leeren Sarg gesorgt.«

Wieder folgte eine Pause. Fauchelevent und die Priorin dachten nach.

»Vater Fauvent, was soll mit dem leeren Sarg geschehen?«

»Nun, der wird begraben.«

»Leer?«

Wieder eine Pause. Fauchelevent machte mit der Linken eine Geste, wie wenn er eben eine beunruhigende Frage gelöst hätte.

»Ehrwürdige Mutter, ich nagle auch diesen Sarg in dem niedrigen Saal in der Kirche zu. Niemand außer mir braucht dorthin zu kommen. Dann breite ich das Totentuch darüber.«

»Ja, aber wenn die Träger kommen und den Sarg in den Leichenwagen bringen, und die Totengräber, wenn sie ihn hineinlassen … die werden doch merken, daß nichts drin ist!«

»Hol’s der Teu…!«

Die Priorin bekreuzigte sich und sah den Gärtner streng an. Der …fel blieb in der Kehle stecken.

Er beeilte sich, eine gute Idee vorzubringen, damit sein Fluch in Vergessenheit gerate.

»Ehrwürdige Mutter, ich tue Erde in den Sarg. Das wiegt ebensoviel wie ein Mensch.«

»Sie haben recht. Erde und Mensch ist das gleiche. Sie wollen also die Sache mit dem leeren Sarg in Ordnung bringen.«

»Alles soll erledigt werden.«

Das Gesicht der Priorin, das bisher düster gewesen war, heiterte sich auf. Sie entließ den Gärtner mit einem Wink, und Fauchelevent ging zur Türe. Als er sie eben öffnen wollte, sagte die Priorin sanft:

»Vater Fauvent, ich bin zufrieden mit Ihnen. Führen Sie mir morgen nach dem Begräbnis Ihren Bruder vor und sagen Sie ihm, er soll die Kleine mitbringen.«


Jean Valjean scheint Austin Castillejo gelesen zu haben

Die Schritte eines Lahmen sind wie die Blicke des Einäugigen, sie kommen langsam ans Ziel. Überdies war Fauchelevent sehr versonnen. In diesem Zustand brauchte er eine Viertelstunde, um in seine Gartenbaracke zurückzukehren.

»Nun, wie steht’s?« fragte Jean Valjean.

»Die Schwierigkeiten sind behoben, und sie sind auch wieder nicht behoben. Ich habe die Erlaubnis, Sie einzulassen; aber bevor ich von ihr Gebrauch machen kann, müssen Sie erst hinauskommen. Darüber stolpern wir. Für die Kleine ist gesorgt.«

»Werden Sie sie hinaustragen?«

»Wird sie schweigen?«

»Dafür bürge ich.«

»Aber Sie, Vater Madeleine? Gehen Sie doch da hinaus, wo Sie hereingekommen sind!«

Jean Valjean beschränkte sich darauf, wie das erstemal zu antworten:

»Unmöglich.«

Fauchelevent, der eher mit sich selbst zu sprechen schien, murmelte:

»Die andere Sache geht mir auch im Kopf herum. Ich habe gesagt, ich werde Erde hineintun, aber Erde statt eines Menschen, das ist ganz etwas anderes, das rutscht und verschiebt das Gleichgewicht. Die Träger werden es gleich merken. Verstehen Sie, Vater Madeleine, die Regierung wird uns darauf kommen.«

Jean Valjean sah ihn scharf an, denn er hielt ihn für betrunken.

»Wie zum Teu…, na, sagen wir Deubel, wie sollen Sie hinauskommen? Und alles das muß morgen geschehen! Morgen soll ich Sie auch hereinbringen. Die Priorin erwartet Sie.«

Jetzt erklärte er Jean Valjean, daß es sich um eine Belohnung für einen Dienst handle, den er, Fauchelevent, der Gemeinde geleistet. Er erzählte ihm alles, was vorgefallen war.

»Was tu ich nur mit dem leeren Sarg?« schloß er.

»Legen Sie etwas hinein.«

»Einen Toten? Ich hab doch keinen.«

»Nein.«

»Was dann?«

»Einen Lebenden.«

»Wen denn?«

»Mich«, schlug Jean Valjean vor.

Fauchelevent fuhr auf, als ob eine Bombe unter seinem Stuhle geplatzt wäre.

»Sie?«

»Warum nicht?«

Jean Valjean lächelte so selten, wie die Sonne im Winter scheint, aber jetzt lächelte er.

»Erinnern Sie sich, Fauchelevent, wie Sie gesagt haben: Mutter Crucifixion ist tot. Da habe ich hinzugefügt: und Vater Madeleine begraben. So steht die Sache.«

»Ach so, Sie machen Spaß!«

»Ganz und gar nicht. Ich meine es todernst. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen auch für mich eine Butte und eine Plane besorgen. Nun, die Butte wird aus Tannenholz sein, ein Sarg, und die Plane ein schwarzes Tuch.«

»Ein weißes Tuch. Nonnen bekommen ein weißes Tuch.«

»Meinetwegen ein weißes.«

»Sie sind kein gewöhnlicher Mensch, Vater Madeleine!«

Diese verwegene, wilde Idee, die typische Erfindung eines Bagnosträflings, die hier den friedlichen Trott des Klosterlebens durchbrechen sollte, versetzte Fauchelevent in kein geringeres Staunen als etwa eine Möwe einen Pariser, der ihr auf der Rue Saint-Denis begegnet.

»Wer vernagelt den Sarg?« fragte Jean Valjean.

»Ich.«

»Wer breitet das Tuch darüber?«

»Wiederum ich.«

»Sind Sie allein?«

»Außer mir und dem Polizeiarzt darf niemand in die Totenkammer. Es steht sogar an der Wand aufgeschrieben.«

»Können Sie mich heute nacht, wenn alles im Kloster schläft, in dieser Kammer verbergen?«

»Nein, aber ich kann Sie in einem kleinen schwarzen Loch verstecken, das zur Totenkammer führt, in dem ich meine Begräbnisgeräte aufbewahre. Nur ich habe den Schlüssel dazu.«

»Wann soll der Leichenwagen kommen, um den Sarg abzuholen?«

»Gegen drei Uhr nachmittags. Das Begräbnis findet auf dem Friedhof Vaugirard statt, kurz vor Einbruch der Nacht. Er ist nicht ganz nahe.«

»Gut, ich bleibe in Ihrem Gerätkasten während der Nacht und über Vormittag. Aber was esse ich? Ich werde Hunger haben.«

»Etwas zu essen findet sich.«

»Dann können Sie mich gegen zwei Uhr vernageln.«

Fauchelevent ließ die Finger knacken.

»Aber das ist doch ganz unmöglich!«

»Pah, einen Hammer nehmen und damit ein paar Nägel in ein Brett schlagen?«

Was Fauchelevent unerhört schien, war für Jean Valjean höchst einfach. Er hatte Schlimmeres erlebt. Wer Gefangener war, beherrscht die Kunst, seine Körperlänge nach dem Loch zu regulieren, durch das man entschlüpfen kann. Sich vernageln und in einer Kiste wie ein Stück Ware transportieren lassen, längere Zeit in einer Holzkiste leben, Luft finden, wo keine ist, stundenlang den Atem sparen, ersticken, ohne zu sterben, alles dies gehörte zu den Talenten Jean Valjeans.

Übrigens hat der Sarg nicht nur Sträflingen, sondern auch einem Kaiser als Transportmittel gedient. Wenn man dem Mönch Austin Castillejo glauben will, bediente sich Karl V. dieses Mittels, als er nach seinem Thronverzicht noch einmal die Plombes sehen wollte, um sie in das Kloster des heiligen Justus und wieder herauszuschmuggeln.

Fauchelevent hatte sich ein wenig beruhigt.

»Wie wollen Sie denn atmen?«

»Ich werde eben atmen.«

»In solch einer Kiste! Wenn ich daran denke, möchte ich ersticken.«

»Sie haben gewiß einen Bohrer. Machen Sie in Mundhöhe ein paar kleine Löcher und nageln Sie den Deckel zu, ohne ihn allzu fest an den Sarg zu pressen.«

»Gut! Aber wenn Sie husten oder niesen?«

»Wer flieht, hustet nicht und niest nicht. Meine einzige Sorge ist, wie sich die Sache auf dem Friedhof regeln läßt.«

»Gerade das beunruhigt mich am wenigsten«, meinte Fauchelevent. »Wenn Sie sicher sind, daß Sie es in dem Sarg aushalten, aus der Grube hole ich Sie schon wieder. Der Totengräber ist ein alter Säufer, ein guter Freund von mir. Vater Mestienne, ein Alter, der gern den alten Wein trinkt. Der Totengräber steckt die Toten in den Graben, ich stecke den Totengräber in den Sack. Wie, das sollen Sie gleich hören. Wir kommen gegen Sonnenuntergang draußen an, etwa drei Viertelstunden, bevor das Gittertor des Friedhofs geschlossen wird. Der Leichenwagen fährt bis zur Grube. Ich hinterher. Das ist meine Pflicht. Ich habe einen Hammer, eine Zange und ein Stemmeisen in der Tasche. Der Wagen hält an, die Träger schlingen ein Seil um den Sarg und lassen ihn in die Grube hinab. Der Priester sagt seine Gebete her, macht das Kreuz, sprengt Weihwasser über den Sarg und geht. Ich bleibe mit Vater Mestienne allein. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist er schon voll, oder er ist es noch nicht. Im letzteren Falle sag ich zu ihm: Komm, wir heben einen, bevor der gemütliche Winkel gesperrt wird. Dann nehme ich ihn mit, schenke ihm wacker ein, trinke ihn unter den Tisch, nehme seine Legitimation aus seiner Tasche und gehe allein wieder auf den Friedhof. Sie haben weiter nichts zu tun dabei. Ist er schon voll, dann sage ich einfach: Fahr ab, ich mach’s allein. Er geht, und ich ziehe Sie aus dem Loch.«

Jean Valjean reichte ihm die Hand hin, in die Fauchelevent herzlich einschlug.

»Abgemacht, alles wird gut gehen!«


Nicht einmal Säufer sind unsterblich

Als am nächsten Tage die Sonne sich anschickte unterzugehen, begrüßten die spärlichen Passanten des Boulevard du Maine ehrfurchtsvoll einen sehr altmodischen, mit Totenköpfen, Knochen und Tränen verzierten Leichenwagen. In diesem befand sich ein Sarg, der, mit einem weißen Tuch bedeckt, von einem schwarzen Kreuz gekrönt war. Eine Equipage folgte, in der ein Priester im Chorhemd und ein Chorknabe mit einem roten Käppchen saßen. Zwei Leichenträger in grauer Uniform mit schwarzen Aufschlägen gingen zur Rechten und Linken des Leichenwagens. Ganz zum Schluß kam ein alter Mann im Arbeitskittel, der hinkte. Dieser ganze Zug strebte dem Friedhof Vaugirard zu.

Aus der Tasche des Arbeiters ragten ein Hammer, ein Stemmeisen und eine Zange hervor.

Der Friedhof Vaugirard nimmt unter den Friedhöfen von Paris eine Sonderstellung ein. Er hat seine eigentümlichen Gebräuche, zum Beispiel ein besonderes Tor für Wagen und eines für Fußgänger. Die Bernhardinerbenediktinerinnen von Petit-Picpus hatten, wie wir bereits sagten, die Erlaubnis erwirkt, in einer besonderen Ecke bestattet zu werden – dieses Terrain gehörte ganz ihrer Gemeinde. Die Totengräber hatten, da hier auch des Abends Beerdigungen stattfanden, im Sommer spätabends und im Winter sogar des Nachts Dienst und mußten sich einem besonderen Reglement unterwerfen. Die Tore der Friedhöfe von Paris wurden damals mit Sonnenuntergang geschlossen. Das war eine Verordnung des Magistrats, der sich auch der Friedhof Vaugirard nicht widersetzen konnte. Die beiden Tore waren vergittert und lagen neben einem Pavillon, den der Friedhofspförtner bewohnte. Mit unerbittlicher Strenge wurden sie abgeriegelt, sobald die Sonne hinter dem Dôme des Invalides verschwand. Wenn ein Totengräber den Friedhof um diese Zeit noch nicht verlassen hatte, so gab es für ihn nur eine Möglichkeit wieder herauszukommen: seinen Totengräberausweis. Eine Art Briefkasten war am Fenster der Pförtnerwohnung angebracht. Der Totengräber warf die Karte hinein, und der Pförtner, der sie herabfallen hörte, zog an der Schnur, so daß das Fußgängertor sich öffnete. Hatte der Totengräber seine Karte nicht bei sich, so mußte er seinen Namen nennen. Der Pförtner, der oft schon im Bett lag, stand auf, um ihn festzustellen, und öffnete die Tür mit dem Schlüssel. So konnte der Totengräber heraus, mußte aber fünfzehn Franken Strafe zahlen.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Leichenwagen in die Straße des Friedhofs Vaugirard einbog.

Mutter Crucifixions Beerdigung unter dem Hauptaltar, Cosettes Wegschaffen aus dem Kloster, Jean Valjeans Einschmuggelung in den Totensaal und in den Sarg – alles war gelungen.

Fauchelevent spazierte sehr zufrieden hinter dem Leichenwagen einher. Sein Doppelkomplott, das eine zugunsten der Nonnen, das andere zugunsten Madeleines, eines für und eines wider das Kloster, war bis jetzt geglückt. Jean Valjean war so ruhig gewesen, daß seine Ruhe sich auch dem andern mitteilte. Jetzt zweifelte Fauchelevent nicht mehr an dem Erfolg. Was noch zu tun blieb, war eine Kleinigkeit. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte er den Totengräber, den wackeren Vater Mestienne, zehnmal unter den Tisch getrunken. Der Mestienne war leicht zu behandeln. Mit dem konnte man machen, was man wollte. Den konnte man striegeln, wie es einem beliebte. Mestiennes Kopf richtete sich ganz nach Fauchelevents Kappe.

Der Gärtner war, wie man sieht, seiner Sache sicher.

Als der Leichenzug in die Friedhofsstraße einbog, rieb Fauchelevent sich vergnügt die Hände und sagte leise:

»Ein Mordsspaß!«

Plötzlich hielt der Wagen.

Man hatte das Gitter erreicht. Jetzt mußte die Erlaubnis zur Beerdigung vorgewiesen werden. Der Mann von der Leichenbestattung verhandelte mit dem Friedhofspförtner. Während dieser Unterredung, die immer ein oder zwei Minuten in Anspruch nahm, trat ein Unbekannter neben Fauchelevent. Es war wohl ein Arbeiter, er trug eine Joppe mit breiten Taschen und eine Schaufel.

Fauchelevent sah ihn an.

»Wer sind denn Sie?« fragte er.

»Der Totengräber.«

Ein Kanonenschuß hätte Fauchelevent nicht mehr erschrecken können. Wer eine Kanonenkugel mitten in die Brust bekommt und dann noch lebt, schneidet sicher kein anderes Gesicht.

»Der Totengräber?«

»Ja.«

»Sie?«

»Ich.«

»Totengräber ist doch Vater Mestienne.«

»War.«

»Wieso war?«

»Er ist tot.«

Fauchelevent war auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß ein Totengräber sterben könne. Und doch ist es wahr, auch die Totengräber sterben. Bei der großen Gräberei graben sie schließlich auch sich ein Grab.

Fauchelevent stand mit offenem Munde da. Stotternd sagte er:

»Unmöglich!«

»Aber wahr.«

»Aber der Totengräber ist doch Vater Mestienne«, versuchte er noch einmal schwach.

»Nach Napoléon Ludwig XVIII. Nach Mestienne Gribier. Bauer, ich heiße Gribier.«

Totenblaß starrte Fauchelevent Gribier an.

Es war ein langer, magerer, blasser, finsterer Mensch. Er sah aus wie ein verkrachter Mediziner, der stracks Totengräber geworden ist.

Fauchelevent begann wild zu lachen.

»Na, toll geht’s ja zu auf der Welt! Papa Mestienne ist tot? Gut, der kleine Papa Mestienne ist tot, so lebe der kleine Papa Lenoir! Kennen Sie den? Ein fabelhafter Roter zu sechs Sous pro Kapsel. Schießt alles ab, was das Surêne hervorbringt, Schockschwerenot! Echter Surêne! Ach, tot ist der alte Mestienne, tut mir leid; bei Lebzeiten war er recht lebhaft. Aber auch Sie, Sie stehen einstweilen gut auf den Beinen. Nicht wahr, wir gehen jetzt einen heben, wir beide?«

»Ich habe studiert. Bis zum vierten Jahrgang hab ich es gebracht. Ich trinke niemals.«

Der Wagen fuhr wieder los und bog jetzt in die große Friedhofsallee ein.

Fauchelevent ging langsam. Er hinkte vor Angst mehr als je. Der Totengräber stapfte voraus.

Noch einmal examinierte Fauchelevent den unerwarteten Gribier. Es war einer von denen, die, obwohl sie jung sind, alt aussehen, und obwohl sie mager sind, über genug Kräfte verfügen.

»Kamerad!« rief Fauchelevent.

Der andere wandte sich um.

»Ich bin der Totengräber des Klosters.«

»Kollege also«, sagte der andere.

Fauchelevent war des Lesens und Schreibens unkundig, aber schlau genug, um zu begreifen, daß er es hier mit einem beängstigenden Menschen und überdies mit einem guten Sprecher zu tun hatte.

»Na ja«, murmelte er, »Vater Mestienne ist tot.«

»Mausetot«, sagte der andere. »Der liebe Gott hat in seinem Buch nachgesehen, welche Wechsel jetzt zum Protest kommen, und da hat er gesehen, daß Mestienne an der Reihe war.«

»Der liebe Gott«, murmelte Fauchelevent mechanisch.

»Der liebe Gott«, sagte der andere dozierend, »den die Philosophen den ewigen Vater, die Jakobiner das höchste Wesen nennen.«

»Wollen wir denn nicht Bekanntschaft schließen?« stammelte Fauchelevent.

»Das ist schon gemacht. Sie sind ein Bauer, ich bin ein Pariser.«

»Wissen Sie, ich sage immer: solange man zusammen nicht einen gehoben hat, kennt man sich nicht. Glas ausgetrunken, Herz ausgeschüttet! Kommen Sie mit mir einen trinken. So was lehnt man doch nicht ab.«

»Erst die Arbeit.«

Verloren, dachte Fauchelevent.

Noch einige Biegungen der kleinen Allee, und man war an der Begräbnisstätte der Nonnen.

»Bauer«, sagte der Totengräber unvermittelt, »ich habe sieben Mäuler zu stopfen. Da sie essen müssen, darf ich nicht trinken.« Und ernsthaft fügte er hinzu: »Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen bog jetzt in eine Gruppe von Zypressen und fuhr durch ungepflegtes Gelände. Man war offenbar dicht vor dem Begräbnisplatz. Fauchelevent ging zwar langsamer, aber er konnte dadurch den Wagen nicht aufhalten. Glücklicherweise kamen die Räder in dem lockeren, vom winterlichen Regen aufgeweichten Erdreich schwach vorwärts.

Wieder wandte er sich an den Totengräber:

»Und so einen guten Wein aus Argenteuil gibt es dort«, murmelte er.

»Mann vom Lande, das dürfte nicht sein, daß ein Mann wie ich Totengräber ist. Mein Vater war Pförtner am Prytaneum. Er bestimmte mich für die Literatur. Aber er hatte Unglück. Er verlor an der Börse. Ich konnte nicht den Dichterberuf ergreifen. Immerhin bin ich öffentlicher Schreiber.«

»Also Sie sind nicht Totengräber?« fragte Fauchelevent, der nach diesem schwachen Zweig der Hoffnung griff.

»Das eine schließt das andere nicht aus. Ich kumuliere diese beiden Berufe.«

Fauchelevent kannte das Wort kumulieren nicht.

»Gehen wir trinken«, sagte er.

Wir müssen hier eine Bemerkung einschalten. Fauchelevent bot in seiner Angst einen gemeinsamen Trunk an, aber über die Frage, wer ihn bezahlen sollte, äußerte er sich nicht. Gemeinhin hatte er es so gehalten, daß er einlud und Mestienne bezahlte. Diesmal resultierte die Einladung offenbar aus der Lage, die durch Einstellung des neuen Totengräbers geschaffen war, und sie mußte von ihm, Fauchelevent, ausgehen, aber der alte Gärtner vermied volle Klärung. So erregt er auch war, dachte er zunächst nicht ans Zahlen.

Inzwischen fuhr der Totengräber mit überlegenem Lächeln fort:

»Essen muß der Mensch. Ich habe Vater Mestiennes Amt übernommen. Wenn man sein Gymnasium fast gemacht hat, ist man auch Philosoph. Zur Arbeit der Hand fügt man gern die des Armes. Ich habe meinen Schreiberstand auf dem Markt in der Rue de Sèvres. Wissen Sie, der Regenschirmmarkt. Alle Köchinnen von der Croix-Rouge kommen zu mir. Ich mache ihnen ihre Liebesbriefe an die Soldaten. Morgens schreibe ich gurrende Brieflein, abends bin ich Totengräber. So ist das Leben, Bauer.«

Der Wagen rollte immer weiter. Fauchelevent hatte den Höhepunkt seiner Unruhe erreicht und blickte fassungslos um sich. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Aber man kann nicht zwei Herren dienen«, fuhr der Totengräber fort. »Ich werde mich zwischen Feder und Schaufel entscheiden müssen. Die Schaufel macht meine Hand schwer.« Der Wagen hielt. Der Chorknabe stieg aus der Equipage, dann folgte der Priester.

Eines der Räder des Wagens war in einem Erdhaufen festgefahren, hinter dem man in eine offene Grube blickte.

»Ein Mordsspaß!« wiederholte Fauchelevent außer sich.


Zwischen vier Brettern

Alles ging, wie Jean Valjean es vorausgesehen hatte. Auch er verließ sich, wie Fauchelevent, auf Vater Mestienne. Jetzt zweifelte er nicht mehr an dem guten Ausgang. Nie war eine Situation kritischer, nie gleichzeitig die Ruhe des Betroffenen vollendeter.

Die vier Bretter eines Sarges schließen, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, einen furchtbaren Frieden in sich. Es war, als ob etwas von der Ruhe der Toten auf Jean Valjean übergegangen wäre. Aus seinem Sarge konnte er allen Phasen des Dramas folgen. Kurz nachdem Fauchelevent den Deckel vernagelt hatte, hatte er gefühlt, wie er zuerst getragen, dann gefahren wurde. Als der Wagen weniger stieß, begriff er, daß er jetzt durch eine gutgepflasterte Straße kam, durch einen der Boulevards. Aus einem dumpfen Geräusch erriet er, daß der Wagen jetzt über die Austerlitzer Brücke fuhr. Als er das erstemal hielt, war man offenbar an der Friedhofsmauer angekommen, beim zweitenmal an der Grube.

Jetzt faßten Hände nach dem Sarg, ein rauhes Reiben wurde an den Brettern vernehmbar: man schlang also gerade das Seil um den Sarg, um ihn in die Grube zu senken.

Dann folgte eine leichte Betäubung. Die Träger hatten den Sarg wohl schräg gestellt, der Kopf war vor den Füßen unten angekommen. Als er wieder in horizontale Lage kam, wurde ihm besser. Er fühlte eine gewisse Kälte.

Eine Stimme sprach etwas aus der Höhe herab, eisig und feierlich. Langsam, daß er eines nach dem andern greifen konnte, klangen die lateinischen Worte, die er nicht verstand, an sein Ohr:

»Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt: alii in vitam aeternam, et alii in opprobrium, ut videant semper.«

Eine Kinderstimme antwortete:

»De profundis.«

Die tiefe Stimme begann von neuem:

»Requiem aeternam dona ei, domine.«

Und wieder die Kinderstimme:

»Et lux perpetua luceat ei.«

Dann war etwas wie leichtes Klatschen von Regentropfen auf dem Deckel zu vernehmen. Offenbar Weihwasser.

Es wird gleich zu Ende sein, dachte er. Noch ein wenig Geduld. Der Priester wird gehen. Fauchelevent führt Mestienne in die Kneipe. Mich läßt man allein. Dann kommt Fauchelevent zurück, diesmal allein, und ich steige heraus. Die Sache kann eine gute Stunde dauern.

Die tiefe Stimme begann von neuem:

»Requiescat in pace.«

Und die Kinderstimme:

»Amen.«

Jean Valjean spitzte die Ohren und hörte Schritte sich entfernen.

Aha, jetzt gehen sie. Ich bleibe allein.

Jetzt hörte er ein furchtbares Getöse, das wie ein Donnerschlag auf den Deckel des Sarges niederging.

Es war eine Schaufel Erde. Eine zweite folgte.

Eines der Löcher, durch das er atmete, war verlegt.

Eine dritte.

Dann eine vierte.

Es gibt Dinge, die der stärkste Mann nicht erträgt. Jean Valjean fiel in Ohnmacht.


Man erfährt den Ursprung des Wortes: Seine Karte nicht verlieren

Und folgendes trug sich inzwischen über dem Sarge zu, in dem Jean Valjean lag.

Als der Wagen sich entfernt hatte und der Priester und der Chorknabe wieder in ihre Equipage gestiegen waren, sah Fauchelevent, der den Totengräber nicht aus den Augen ließ, wie dieser sich bückte und seinen Spaten ergriff.

Ein äußerster Entschluß reifte in ihm.

Er trat zwischen die Grube und den Totengräber, breitete die Arme aus und sagte:

»Ich bezahle es!«

»Was, Bauer?« fragte der Totengräber verwundert.

»Nun«, stotterte Fauchelevent, »ich bezahle.«

»Was?«

»Den Wein.«

»Welchen Wein?«

»Den Argenteuil.«

»Geh zum Teufel!« sagte der Totengräber. Und er warf den ersten Spaten voll Erde auf den Sarg.

Der Sarg ächzte. Fauchelevent glaubte zu taumeln und fürchtete, er würde selber in die Grube fallen. Röchelnd stöhnte er:

»Kamerad, rasch, bevor die Budike schließt! Ich bezahle! Hören Sie, Kamerad, ich bin der Totengräber des Klosters. Ich soll Ihnen helfen. Das ist eine Arbeit, wie geschaffen für die Nacht. Zuerst ein Gläschen!«

Während er diesen letzten Versuch wagte, überlegte er:

Wenn er auch trinkt, wird er betrunken werden?

»Provinzler«, sagte der Totengräber, »wenn Sie absolut darauf bestehen, gut. Trinken wir eins. Aber nach der Arbeit. Niemals vorher.«

Schon wieder hatte er den Spaten bereit. Fauchelevent fiel ihm in den Arm.

»Argenteuil zu sechs!«

»Großer Gott, Sie sind ja ein Glöckner! Bimbam bimbam, immer dasselbe!«

Und die zweite Schaufel folgte.

Fauchelevent geriet in einen Zustand, in dem man nicht mehr weiß, was man spricht.

»Kommen Sie doch, ich zahle ja«, schrie er.

»Wenn wir das Kindchen da zu Bett gebracht haben«, sagte der Totengräber.

Die dritte Schaufel.

Jetzt stieß er den Spaten in die Erde und fügte hinzu:

»Heute wird es kalt. Die Tote wird schimpfen, wenn wir sie ohne Decke lassen.«

Während er wieder seine Schaufel belud und sich bückte, klaffte eine seiner Taschen auf. Fauchelevents irrer Blick fiel in die Tasche und wurde starr. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Es war noch hell genug, daß er etwas Weißes in der Tasche bemerkte.

Alle List, deren ein pikardischer Bauer fähig ist, blitzte in Fauchelevents Auge auf. Er hatte eine Idee.

Ohne daß der Totengräber etwas bemerkte, griff er ihm in die Tasche und zog das Weiße heraus.

Vierte Schaufel.

Als er sich umwandte, um die fünfte aufzunehmen, sah ihn Fauchelevent ruhig an und sagte:

»Übrigens, Herr Neuling, haben Sie Ihre Karte?«

»Welche Karte?«

»Frau Sonne geht zu Bett.«

»Von mir aus soll sie sich ihre Nachtmütze aufsetzen.«

»Der Pförtner wird gleich schließen.«

»Na und?«

»Haben Sie Ihre Karte?«

»Ach, meine Karte«, sagte der Totengräber und griff in die Tasche.

Er suchte dann noch in der anderen. Auch in der Westentasche, in den Hosentaschen.

»Nein, ich habe sie nicht. Ich habe sie vergessen.«

»Fünfzehn Franken Strafe«, erklärte Fauchelevent.

Der Totengräber wurde grün. Grün ist die Blässe derer, die immer weiß sind.

»Kreuzhimmeldonnerwetter! Fünfzehn Franken!«

»Dreimal hundert Sous«, bestätigte Fauchelevent.

Die Schaufel fiel zu Boden.

Jetzt mußte Fauchelevent seine Trümpfe ausspielen.

»Na, Rekrut, nicht verzweifeln! Hier ist nicht von Selbstmord die Rede. Es findet sich immer ein Ausweg. Fünfzehn Franken sind immerhin fünfzehn, aber Sie müssen sie ja nicht bezahlen. Ich bin alt, Sie sind jung. Ich weiß alle Schliche und Tricks. Ich will Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben. Eins ist klar. Die Sonne geht unter, sie steht schon über dem Dom. In fünf Minuten wird geschlossen.«

»Allerdings.«

»In fünf Minuten werden Sie mit der Grube da nicht fertig, die ist teuflisch tief, und dann ist es ja auch noch ein Stück Weg bis zum Gitter. Wenn Sie hinkommen, ist alles zu.«

»Weiß Gott.«

»Also – fünfzehn Franken Strafe.«

»Fünfzehn Franken!«

»Aber Sie haben ja noch Zeit. Wo wohnen Sie?«

»Zwei Schritt hinter dem Tor. Eine Viertelstunde von hier. Rue de Vaugirard Nr. 87.«

»Na, wenn Sie Ihre Beine in die Hand nehmen, kommen Sie noch raus. Und wenn Sie erst draußen sind, husch, husch, dann laufen Sie nach Hause, holen Ihre Karte, kommen wieder her, und der Pförtner öffnet Ihnen. Wenn Sie die Karte haben, brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie Ihren Toten. Ich warte einstweilen hier, daß er nicht ausrückt.«

»Ich schulde Ihnen das Leben, Bauer!«

»Aber jetzt los!«

Der Totengräber drückte ihm noch die Hand, dann lief er davon. Als er verschwunden war, beugte sich Fauchelevent über die Grube und rief leise:

»Vater Madeleine!«

Nichts.

Fauchelevent schauderte. Er fiel mehr in die Grube, als er hinabstieg, und begann zu schreien:

»Sind Sie da?«

Totenstille.

Fauchelevent, der kaum mehr Luft bekam, ergriff Hammer und Stemmeisen und sprengte den Deckel ab. Im Sarge lag Jean Valjean, blaß mit geschlossenen Augen.

Fauchelevents Haare sträubten sich, er taumelte zurück. Noch immer regte sich Jean Valjean nicht.

»Er ist tot«, murmelte Fauchelevent.

Dann kreuzte er die Arme, daß seine Fäuste bis zu seinen Schultern kamen, und stöhnte:

»So rette ich die Leute!«

Dann begann er zu schluchzen.

Es ist Vater Mestiennes Schuld, seufzte er. Warum ist er gestorben, der Trottel? Muß krepieren, gerade wenn niemand daran denkt. Er hat Herrn Madeleine umgebracht! Vater Madeleine. Es ist aus. Hat so etwas einen Sinn? Mein Gott, und die Kleine, was fange ich nur mit der an? Was wird die Gemüsehändlerin sagen? Daß ein Mensch so stirbt, ist das möglich? Wenn ich mir vorstelle, daß derselbe unter meinem Wagen war! Vater Madeleine erstickt, wie ich es vorausgesehen habe. Er hat mir nicht glauben wollen. Ein schöner Blödsinn! Jetzt ist er tot, der brave Mensch! Und die Kleine! Na, zunächst geh ich nicht nach Hause. Ich bleibe hier. Zwei Alte sind nötig, damit eine doppelte Trottelei herauskommt, schluchzte er. Wie er mir erst in das Kloster hineingekommen ist? Das war schon der Anfang. So was macht man nicht. Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister! Er hört nicht. So, jetzt möcht ich wissen, wie man da herauskommt.

Und er fuhr sich verzweifelt in die Haare. Aus der Ferne klang das Knirschen der Torflügel herüber.

Fauchelevent beugte sich über Jean Valjean. Plötzlich aber fuhr er so weit zurück, als er es in der engen Grube konnte. Jean Valjean hatte die Augen geöffnet und sah ihn an.

Der Anblick eines Toten ist unangenehm, der einer Auferstehung aber nicht weniger. Fauchelevent war wie versteinert, er wußte nicht, ob er einen Lebenden oder einen Toten vor sich habe.

»Ich bin eingeschlafen«, sagte Jean Valjean.

Und er setzte sich auf.

»Heilige Mutter Gottes«, rief Fauchelevent und fiel auf die Knie, »Sie haben mir aber einen Schreck eingejagt!«

Die frische Luft hatte Jean Valjean geweckt.

»Mich friert«, sagte er.

Erst jetzt fand sich Fauchelevent in der Wirklichkeit, die manches Dringliche hatte, zurecht.

»Gehen wir rasch fort«, empfahl Fauchelevent.

Er suchte in seiner Tasche und holte eine Flasche hervor.

»Aber zuerst einen Tropfen!«

Die Flasche vollendete, was die frische Luft getan. Jean Valjean trank einen Schluck Aquavit und war wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Er kletterte aus dem Sarg und half Fauchelevent, ihn wieder zu vernageln. Drei Minuten später waren sie aus dem Grabe.

Übrigens war Fauchelevent ruhig. Man hatte Zeit. Der Friedhof war geschlossen, Gribier konnte nicht kommen. Der »Rekrut« war zu Hause und suchte seine Karte, die er gewiß nicht finden würde, da sie ja in Fauchelevents Tasche steckte. Ohne Karte konnte er den Friedhof nicht wieder betreten.

Fauchelevent und Jean Valjean vollendeten die Beerdigung des leeren Sarges. Als die Grube zu war, sagte Fauchelevent:

»Gehen wir.«

Es war jetzt finstere Nacht.

Jean Valjean hatte es nicht leicht, zu gehen. In dem Sarge war er steifgefroren wie ein Leichnam.

»Sie sind steif«, sagte Fauchelevent. »Schade, daß ich lahm bin, sonst könnten wir es auf einen Wettlauf ankommen lassen.«

»Pah, in vier Schritten bin ich wieder frisch.«

Sie schritten die Allee entlang. Als sie an dem Pavillon des Pförtners vorbeikamen, warf Fauchelevent die Karte des Totengräbers in den Schlitz, die Schnur wurde gezogen, und die Tür ging auf.

»Alles in Ordnung«, sagte Fauchelevent befriedigt. »Ich habe wirklich eine gute Idee gehabt.«

Sie kamen unbehelligt durch das Tor Vaugirard, denn Schaufel und Spaten sind in der Friedhofsgegend soviel wert wie Pässe.

In der Rue Vaugirard war kein Mensch zu sehen.

»Vater Madeleine«, sagte Fauchelevent, der die Hausnummern eifrig studierte, »Sie haben bessere Augen als ich. Zeigen Sie mir Nr. 87.«

»Wir stehen gerade davor.«

»Es ist hier niemand auf der Straße«, sagte Fauchelevent, »geben Sie mir den Spaten und warten Sie einen Augenblick.«

Als er in Gribiers Zimmer eintrat, sagte er:

»Ich bringe Ihnen Ihren Spaten.«

Gribier war höchst erstaunt.

»Sie sind es, Bauer?«

»Ihre Karte finden Sie morgen früh beim Pförtner.«

»Was soll das bedeuten?«

»Das bedeutet, daß Ihnen die Karte offenbar aus der Tasche gefallen ist. Ich habe sie gleich nachher in der Grube gefunden, habe dort alles erledigt und die Karte dem Pförtner gegeben. Sie können sie sich morgen abholen. Die fünfzehn Franken brauchen Sie nicht zu bezahlen. So stehen die Dinge, Rekrut!«

»Vielen Dank, Bauer!« rief Gribier entzückt. »Und nächstes Mal lade ich Sie zum Wein ein.«


Das Verhör gut bestanden

Eine Stunde später – es war schon stockfinstere Nacht – erschienen zwei Männer und ein Kind in der kleinen Rue Picpus Nr. 62. Der ältere von beiden hob den Türklopfer und pochte.

Die beiden hatten Cosette von der Gemüsehändlerin abgeholt, bei der Fauchelevent sie gestern abend untergebracht hatte. Der Pförtner, der bereits seine Instruktionen erhalten hatte, öffnete die kleine Pforte, die für das Dienstpersonal bestimmt war und direkt vom Hof in den Garten führte. Er geleitete die drei in das Sprechzimmer, in dem Fauchelevent gestern die Aufträge der Priorin empfangen hatte.

Sie saß bereits, mit ihrem Rosenkranz in Händen, in einem Lehnstuhl und wartete. Eine der Mütter stand tief verschleiert neben ihr. Eine Kerze beleuchtete spärlich den Raum.

Die Priorin streifte Jean Valjean mit einem prüfenden Blick. Niemand sieht schärfer als Menschen, die immer ihren Blick gesenkt halten.

»Sie sind der Bruder?« fragte sie endlich.

»Ja, ehrwürdige Mutter«, antwortete Fauchelevent.

»Wie heißen Sie?«

Wieder antwortete Fauchelevent: »Ultime Fauchelevent.«

Er hatte wirklich einen Bruder gehabt, der Ultime hieß.

»Und von wo sind Sie?«

»Aus Picquigny bei Amiens«, antwortete Fauchelevent.

»Und wie alt sind Sie?«

Fauchelevent: »Fünfzig Jahre.«

»Und welchen Beruf üben Sie aus?«

Fauchelevent: »Gärtner.«

»Sind Sie ein guter Christ?«

Fauchelevent: »Wie alle in meiner Familie.«

»Und die Kleine gehört Ihnen?«

Fauchelevent: »Ja, ehrwürdige Mutter.«

»Sie sind ihr Vater?«

Fauchelevent: »Ihr Großvater.«

Die Mutter sagte leise zu der Priorin:

»Er antwortet gut.«

Allerdings hatte Jean Valjean noch kein Wort gesprochen.

Die Priorin sah Cosette aufmerksam an und bemerkte leise zu der Mutter:

»Sie wird häßlich werden.«

Diese Prognose bewies, daß Cosette gefallen hatte und einen Freiplatz im Pensionat bekommen würde.

Dann sprachen die beiden Nonnen noch einige Minuten in einer Ecke des Sprechzimmers, schließlich wandte sich die Priorin um:

»Vater Fauvent, Sie müssen einen zweiten Glockenriemen besorgen. Wir brauchen jetzt deren zwei.«

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