Fünfter Teil
Jean Valjean

Erstes Buch
Eine Schlacht zwischen vier Wänden

Vorbereitungen zum neuen Kampf

Die Revolutionäre bemühten sich unter Aufsicht Enjolras’ – denn Marius kümmerte sich um nichts mehr –, die Nacht auszunützen, so gut es ging. Die Barrikade wurde nicht nur ausgebessert, sondern auch verstärkt. Man erhöhte sie um zwei Fuß und pflanzte Eisenstangen in sie, die wie Lanzen aus den Pflastersteinen hervorragten.

Allerlei Schutt und Abfall wurde darübergestreut, um die Ersteigung unmöglich zu machen.

Nachdem die Barrikade solchermaßen wieder instand gesetzt war, brachte man die Gaststube in Ordnung, richtete in der Küche eine Ambulanz ein und sorgte dafür, daß alle Verwundeten verbunden wurden. Das Pulver, das auf der Erde und auf den Tischen verstreut worden war, wurde gesammelt, man goß Kugeln, fabrizierte Patronen, zupfte Scharpie, verteilte die Waffen der Gefallenen, schaffte die Leichen fort.

Die Toten wurden in der Rue Mondétour, die man ja immer noch beherrschte, zu einem Haufen aufgeschichtet. Das Pflaster dieser kleinen Gasse ist noch lange nachher rot gewesen. Unter den Toten fand man vier Nationalgardisten. Enjolras ließ ihnen die Uniformen ausziehen.

Er hatte zwei Stunden Schlaf anbefohlen. Doch konnten die meisten keine Ruhe finden. Die drei Frauen benützten die Nacht, um endgültig zu verschwinden. Sie fanden ein Mittel, in ein Nachbarhaus zu gelangen, und überließen »Corinthe« den Revolutionären, die sich jetzt weniger behindert fanden. Die Deichsel des Omnibusses war zwar von den Kugeln beschädigt, aber noch immer stark genug, um eine Fahne zu tragen. Enjolras, der die Führereigenschaft besaß, zu tun, was er vorher sagte, befestigte an ihr den zerlöcherten und blutbedeckten Rock des toten Mabeuf. Die meisten der Verwundeten wollten weiterkämpfen. Auf einer Matratze und einigen Strohsäcken lagen in der Küche fünf Schwerverletzte, darunter zwei Munizipalgardisten.

An eine Mahlzeit war nicht zu denken. Weder Fleisch noch Brot war aufzutreiben. Die fünfzig Männer hatten in den sechzehn Stunden, die sie bereits auf der Barrikade zubrachten, alle Vorräte des Wirtshauses aufgebraucht.

Da man nichts zu essen hatte, wollte Enjolras auch nicht erlauben, daß getrunken werde. Er verbot den Genuß von Wein und rationierte den Branntwein.

Im Keller hatte man fünfzehn hermetisch verschlossene Flaschen gefunden. Enjolras konfiszierte sie trotz des lebhaften allgemeinen Einspruchs und ließ sie auf den Tisch stellen, auf dem Mabeuf lag. Gegen zwei Uhr morgens wurde eine Zählung der kampffähigen Männer vorgenommen. Man fand ihrer noch siebenunddreißig.

Bald darauf graute der Morgen. Die Fackel wurde gelöscht. Das Innere der Barrikade, eine Art kleiner Hof inmitten der Straße, lag noch immer im Dunkel und glich in der ersten Dämmerung dem Deck eines Schiffes, das Mast und Takelwerk verloren hat. Die Kämpfer gingen wie schwarze Schatten hin und her. Über diesem finsteren Platz tauchten im ersten Lichtschimmer die fahlen Fassaden der Häuser auf und, etwas heller, in der Höhe, die Schornsteine.

»Ich bin froh, daß diese Fackel gelöscht ist«, sagte Courfeyrac zu Feuilly. »Sie flackerte, als ob sie Angst hätte.«

Die Morgenröte weckte die Geister wie die Vögel. Man unterhielt sich lebhaft.

Joly bemerkte eine Katze auf einer Dachrinne und sagte:

»Was ist eigentlich die Katze? Eine Korrektur der Schöpfung. Als der liebe Gott die Maus geschaffen hatte, sagte er: Holla, da habe ich mich vergaloppiert. Die Katze ist gewissermaßen die Berichtigung des Irrtums Maus. Katze plus Maus stellt einen Beweis dafür dar, daß wir die Schöpfung heute in revidierter und korrigierter Auflage vor uns haben.«


Hoffnungen flammen auf und verlöschen

Inzwischen unternahm Enjolras einen Erkundigungsrundgang. Er drang an den Häusern der Rue Mondétour in Richtung der Hallen vor.

Die Revolutionäre waren, wir müssen es offen sagen, bester Hoffnung. Die Art, wie der nächtliche Angriff zurückgeschlagen worden war, veranlaßte sie, den Angriff des kommenden Tages im voraus zu unterschätzen. Sie erwarteten ihn mit Lächeln. Jetzt zweifelte keiner mehr am endgültigen Erfolg ihrer Sache. Überdies stand bei ihnen fest, daß Hilfe kommen würde. Darauf rechneten sie in voller Sicherheit. Mit dieser Leichtigkeit, eine strahlende Zukunft vorauszusehen, die den französischen Kämpfer auszeichnet, teilten sie bereits den nächsten Tag in drei bestimmte Phasen ein: Um sechs Uhr morgens würde ein Regiment, das »man bearbeitet hatte«, zu den Rebellen übergehen. Um Mittag käme dann die Erhebung von ganz Paris, gegen Sonnenuntergang würde die Sache der Revolution durchgefochten sein.

Auch ließ sich noch immer die Sturmglocke von Saint-Merry hören, was bewies, daß die andere, große Barrikade – die Jeannes – sich noch immer hielt.

Mit vergnügtem Flüstern tauschte man diese Hoffnungen und Beobachtungen aus.

Jetzt kehrte Enjolras zurück. Einen Augenblick lang hörte er mit gekreuzten Armen den fröhlichen Schwätzern zu, dann sagte er:

»Die ganze Armee in Paris folgt dem König. Ein Drittel der Armee wird gegen unsere Barrikade aufgeboten. Dazu kommt noch die Nationalgarde. Ich sah die Tschakos des fünften Linienregiments und die Feldzeichen der sechsten Legion. Binnen einer Stunde werdet ihr angegriffen. Was das Volk betrifft, so hat es gestern Lärm geschlagen, heute aber rührt es sich nicht. Weder ein Regiment noch eine Vorstadt hält zu uns. Ihr seid von den Brüdern verlassen!«

Diese Worte fielen auf die plaudernden Gruppen wie die ersten Tropfen eines Gewitterregens. Alle verstummten. Es gab einen Augenblick unbeschreiblichen Schweigens, in dem man glauben konnte, die Flügel des Todes rauschen zu hören.

Aber dieser Augenblick währte nur kurz.

Aus dem dunklen Hintergrund rief jemand: »Sei es darum! Wir bauen die Barrikade zwanzig Fuß hoch, und dann bleiben wir eben alle hier. Bürger, unsere Leichen werden ein Protest sein: Wenn das Volk die Republikaner verläßt, so verlassen die Republikaner nicht das Volk: das müssen wir ihm beweisen.«

Diese unbeugsame Entschlossenheit lag an jenem 6. Juni 1832 so sehr in der Luft, daß zur selben Stunde auf der Barrikade von Saint-Merry jener historisch gewordene Schwur geleistet werden konnte:

»Ob man uns zu Hilfe kommt oder nicht – wir wollen hier sterben, vom Ersten bis zum Letzten!«

Der Leser sieht, daß die beiden Barrikaden, wenn auch räumlich voneinander getrennt, doch in Verbindung standen.


Fünf Mann weniger, einer mehr

Nachdem dieser Unbekannte, der vom Protest der Leichname gesprochen, den Ausdruck gefunden hatte für das, was in diesem Augenblick alle empfanden, fielen alle in einen zugleich triumphierenden und düsteren Ruf ein:

»Es lebe der Tod! Wir bleiben alle!«

»Warum alle?« fragte Enjolras.

»Alle, alle!«

»Die Stellung ist gut«, sagte Enjolras, »die Barrikade stark. Dreißig Mann genügen zu ihrer Verteidigung. Warum wollt ihr vierzig opfern?«

»Weil keiner unter uns ist, der gehen will.«

»Bürger«, rief Enjolras mit zitternder Stimme, in der fast etwas wie Zorn mitklang, »die Republik ist nicht so reich an Menschen, daß sie sich unnütze Verschwendung leisten darf. Der Ruhm als solcher ist ein Popanz. Wenn einige unter uns die Pflicht haben zu gehen, so muß dieser Pflicht wie jeder andern gefolgt werden.«

Enjolras, dieser Prinzipienmann, hatte unter seinen Gesinnungsfreunden ein so hohes Ansehen, wie es nur aus dem absoluten Willen hervorgehen kann. Doch murrten alle.

Aber Enjolras war Führer durch und durch. Als er sah, daß einige wider ihn murrten, beharrte er bei seinem Willen.

»Die unter euch, die sich fürchten, nur dreißig zu sein, mögen sich melden.«

Der Einspruch wurde lauter.

»Übrigens ist es ja leicht«, bemerkte einer, »von Weggehen zu sprechen. Wir sind blockiert.«

»Nicht in der Richtung zu den Hallen«, erklärte Enjolras. »Die Rue de Mondétour ist noch offen, und man kann durch die Rue des Prêcheurs zum Markt des Innocents gelangen.«

»Und dort wird man gefaßt. Gewiß fällt man irgendeiner Wache in die Hände. Wenn die Kerle einen Mann in Arbeiterbluse und Mütze sehen, werden sie fragen: Von wo kommst du? Etwa von der Barrikade? Dann sieht man dir auf die Hände, riecht das Pulver – du wirst erschossen.«

Enjolras berührte, ohne zu antworten, Combeferres Schulter, und die beiden traten in das Gastzimmer.

Gleich darauf kamen sie zurück. Enjolras trug in seinen beiden Händen die vier Uniformen, die er den Gefallenen abgenommen hatte, Combeferres brachte das Gurtzeug und die Tschakos.

»Mit diesen Uniformen«, erklärte Enjolras, »spaziert man quer durch die Feinde hindurch und entschlüpft. So können zunächst vier gerettet werden.«

Und er warf die vier Uniformen auf den Boden.

»Hört«, rief jetzt Combeferre, »ihr müßt ein Einsehen haben. Begreift ihr denn, worum es sich handelt? Sind unter euch welche, die Frauen haben, ja oder nein? Und Kinder? Und Mütter, die mit dem Fuß die Wiege treten und einen Haufen Kleiner um sich haben? Wer unter euch niemals den Busen einer nährenden Frau gesehen hat, der möge die Hand heben! Ihr wollt euch töten lassen? Gut, das will ich auch, aber ich will dabei nicht die Gespenster von Frauen dabei haben, die verzweifelt die Arme ringen. Um euch geht es nicht! Wir wissen, wer ihr seid. Ihr seid alle tapfer, gewiß, jeder von euch ist bereit, sein Leben für die Sache herzugeben! Wir wissen auch, daß keiner unter euch ist, der sich nicht auserwählt fühlt, nutzbringend und herrlich zu sterben, und dadurch seinen Teil am Triumph haben will. Aber wartet: ihr seid nicht allein auf der Welt. Es gibt noch andere, an die ihr denken müßt. Ihr dürft nicht egoistisch handeln.«

Alle neigten mit düsterer Miene den Kopf.

In solchen Augenblicken ist das Menschenherz voll seltsamer Widersprüche. Combeferre, der so sprach, war selbst keine Waise. Er, der sich der Mütter der andern erinnerte, vergaß darüber die seine. Er wollte sterben, er war also »ein Egoist«.

»Enjolras und Combeferre haben recht«, rief Marius. »Unnütze Opfer wollen wir vermeiden. Und wir müssen uns beeilen. Was Combeferre gesagt hat, erlaubt keine Widerrede. Unter euch sind Männer, die Mütter, Schwestern, Frauen und Kinder haben. Sie mögen vortreten.«

Keiner rührte sich.

»Die verheirateten Männer und Familienernährer sollen vortreten!« wiederholte Marius.

»Ich befehle es euch!« schrie Enjolras.

»Ich bitte euch darum«, sagte Marius.

Endlich begannen diese Helden zu einem Entschluß zu kommen. Sie denunzierten einer den andern.

»Es ist ganz richtig«, sagte ein junger Mann zu einem älteren, »du bist Familienvater, geh.«

»Und du mußt viel eher gehen als ich«, erwiderte der andere, »du ernährst zwei Schwestern.«

Jetzt begann ein neuer Kampf.

»Beeilt euch«, sagte Courfeyrac, »in einer Viertelstunde ist es zu spät.«

»Bürger«, erklärte Enjolras, »bei uns ist Republik, hier entscheidet die Abstimmung. Ihr selbst sollt jene bestimmen, die gehen.«

Man gehorchte. Nach wenigen Sekunden hatte man die Wahl getroffen.

»Es sind ihrer fünf«, zählte Marius.

Aber man besaß nur vier Uniformen.

»Gut«, riefen die fünf wie aus einer Kehle, »da muß einer von uns bleiben.«

Neuerlich begann der edle Wettstreit.

»Macht rasch!« wiederholte dringender Courfeyrac.

Marius trat auf die fünf zu, die ihm zulächelten und alle die große Flamme der Kämpfer von den Thermopylen in den Augen hatten, als sie ihm entgegenriefen:

»Mich! Nimm mich!«

In diesem Augenblick wurde, als ob sie vom Himmel fiele, eine fünfte Uniform zu den vier anderen geworfen.

Marius blickte auf und erkannte Fauchelevent. Jean Valjean war auf der Barrikade erschienen. Instinkt und Glück hatten ihn in die Rue Mondétour gelenkt, und dank seiner Nationalgardistenuniform hatte man ihn überall durchgelassen.

In der Rue Mondétour war er dem Posten der Insurgenten begegnet, der aber wegen eines einzigen Nationalgardisten nicht Lärm schlagen wollte. Überdies war die Situation zu schwierig, um wegen eines Mannes den Posten zu verlassen.

Als Jean Valjean sich unter die Kämpfer mengte, hatte keiner auf ihn geachtet, da alle mit der Wahl derer beschäftigt waren, die sich retten sollten. Jean Valjean hatte schweigend zugehört, dann seine Uniform abgelegt und zu den anderen geworfen.

»Wer ist das?« fragte Bossuet.

»Einer, der für einen anderen einspringt«, erwiderte Combeferre.

Marius fügte ernst hinzu:

»Ich kenne ihn.«

Diese Bürgschaft genügte allen.

Enjolras trat zu Jean Valjean:

»Seien Sie willkommen, Bürger. Daß wir hier alle sterben müssen, wissen Sie doch?«

Jean Valjean antwortete nicht, sondern half dem Insurgenten, der die Uniform anlegte, in den Rock.


Die Lage verschlimmert sich

Wie war Fauchelevent hierhergekommen? Und warum? Was wollte er?

Marius erwog diese Frage kaum. Wenn ein Mensch verzweifelt ist, verspinnt er sich so in seinen eigenen Seelenzustand, daß es ihm höchst logisch erscheint, wenn alle andern auch sterben wollen.

Übrigens richtete Fauchelevent nicht das Wort an ihn, sah ihn nicht einmal an. Als Marius gesagt hatte, daß er ihn kenne, schien es, daß Fauchelevent ihn nicht einmal gehört hatte.

Die fünf Ausgelosten verließen die Barrikade. An nichts war zu erkennen, daß man es nicht mit Nationalgardisten zu tun hatte. Einer weinte.

Jetzt dachte Enjolras auch an den zum Tode Verurteilten. Er trat in das Gastzimmer. Javert war noch immer an seinen Pfeiler gebunden und brütete vor sich hin.

»Verlangst du irgend etwas?« fragte ihn Enjolras.

»Wann werdet ihr mich umbringen?«

»Warte noch ein wenig. Einstweilen sind unsere Patronen zu kostbar.«

»Gut, dann gebt mir etwas zu trinken.«

Enjolras hielt selbst das Glas, während der Gefesselte trank.

»Ist das alles?« fragte Enjolras.

»Ich fühle mich hier recht übel«, erwiderte Javert. »Es ist nicht besonders nett von euch, daß ihr mich eine Nacht an diesem Pfeiler stehenlaßt. Ihr könnt mich ja anbinden, wenn ihr wollt, aber ihr solltet mich liegenlassen wie den andern.«

Und er deutete auf Mabeuf.

Auf Enjolras’ Befehl banden vier Insurgenten Javert von seinem Pfeiler los. Man ließ seine Hände auf dem Rücken gefesselt, band jetzt auch die Beine mit einem dünnen, aber scharfen Strick, so daß er nur kurze Schritte machen konnte wie ein Delinquent, der zum Schafott hinaufsteigt. Dann ließ man ihn zum Tisch gehen, legte ihn darauf und schnallte ihn fest.

Während man Javert band, erschien ein Mann auf der Schwelle und sah aufmerksam zu. Javert wandte sich nach ihm um. Er zog die Brauen hoch und erkannte Valjean. Stolz ließ er die Lider wieder herabfallen und sagte:

»Natürlich!«

Jetzt wurde es rasch Tag. Aber kein Fenster, keine Tür ging auf. Heute brachte die Morgenröte nicht das Erwachen der Straße. Die Truppen hatten sich aus der Rue de la Chanvrerie zurückgezogen, die jetzt in unheimlicher Ruhe dalag.

Man sah und hörte niemand. Doch ging in einiger Entfernung etwas Geheimnisvolles vor sich. Der kritische Augenblick nahte sichtlich. Posten wurden abgelöst – diesmal alle.

Die Barrikade war jetzt viel stärker als beim ersten Angriff. Nach dem Abgang der fünf hatte man sie neuerlich erhöht.

Auf Anraten des Postens, der die Gegend der Markthalle beobachtet hatte, faßte Enjolras, der jetzt doch einen Angriff im Rücken fürchtete, einen schweren Entschluß. Er ließ in der Rue Mondétour, die bis jetzt frei gewesen war, eine kleine dritte Barrikade errichten. So war man jetzt nach drei Seiten hin verbarrikadiert.

»Eine Festung – und zugleich eine Mausefalle«, erklärte Courfeyrac lächelnd.

Nichts ist seltsamer als eine Barrikade, die zur Abwehr eines Angriffs rüstet. Jeder wählt seinen Platz wie im Theater. Man lehnt sich an, stützt den Ellbogen auf eine Unterlage. Viele richten es so ein, daß sie sitzend kämpfen können. Man will bequem töten und mit Komfort sterben.

Sobald das Zeichen zur höchsten Kampfbereitschaft gegeben ist, rührt sich keiner mehr. Jetzt sind alle Nerven angespannt. Hat früher das Chaos geherrscht, so setzt sich jetzt Disziplin durch. Die Gefahr schafft Ordnung.

Im übrigen waren die Verteidiger dieser Barrikade stolzer und zuversichtlicher als je. Die höchste Opferbereitschaft ist auch eine innere Stärkung. Wenn man keine Hoffnung mehr hat, so weiß man sich wenigstens im Besitz eines letzten Gutes – der Verzweiflung. Sie ist eine Waffe, die manchmal zum Siege führt. Äußerste Entschlüsse erschließen erstaunliche Hilfsquellen. Sich in den Rachen des Todes zu stürzen, ist oft ein Mittel, dem Schiffbruch zu entgehen: der Deckel des Sarges kann das Brett werden, an das wir uns klammern und das uns die Rettung bringt.

Nicht lange warteten die Verteidiger der Barrikade. Zuerst war von Saint-Leu herüber eine Bewegung zu bemerken, aber sie war jener unähnlich, die den vorigen Angriff eingeleitet hatte. Es war wie ein Klirren von Ketten. Irgendein unheimliches Mordgerät wurde herangeschleppt. Diese friedlichen Straßen, die einem ruhigen Verkehr geweiht waren, zitterten unter dem Rollen der Räder des Krieges.

Alle Augen waren auf den Ausgang der Straße gerichtet. Eine Kanone tauchte auf.

Die Artilleristen zogen sie heran. Sie war schußbereit, die Protze abgenommen. Zwei Leute hielten die Lafette, vier waren an den Rädern. Andere folgten mit dem Munitionskasten. Die Lunte brannte bereits.

»Feuer!« rief Enjolras.

Die ganze Barrikade spie Feuer ans, und das Getöse war furchtbar; eine Rauchwolke stieg auf. Als sie sich verzog, tauchte die Kanone wieder auf. Die Soldaten, die sie bedienten, fuhren fort, sich an ihr zu betätigen, ruhig und ohne Hast. Keiner war getroffen. Der Kommandant drückte, ernst wie ein Astronom, der das Fernrohr einstellt, auf den Rückhalter, um den Schuß höher zu richten.

»Bravo, Kanoniere!« schrie Bossuet.

Alle Leute auf der Barrikade klatschten in die Hände.

Und schon stand das Geschütz schußbereit inmitten der Straße der Barrikade gegenüber. Sein furchtbarer Schlund drohte.

»Vorwärts, lustig!« rief Courfeyrac, »nach dem Hundegekläff das Bärengebrumm! Die Armee streckt ihre große Tatze nach uns aus. Unsere Barrikade wird ordentlich durchgerüttelt werden. Das Gewehrfeuer hat uns abgetastet, die Kanone greift zu.«

»Ladet eure Gewehre!« rief Enjolras.

Wie würde die Barrikade dem Geschütz widerstehen? Mußten die Kugeln nicht eine Bresche schlagen? Das war die Frage.

Während die Insurgenten wieder ihre Flinten luden, machten die Artilleristen ihre Kanone schußbereit.

Der Schuß fiel – eine furchtbare Detonation folgte ihm.

»Schon da!« rief eine vergnügte Stimme.

Es war Gavroche, der die Kugel herbeischleppte.

Sein Erscheinen wirkte auf alle – die Verteidiger der Barrikade begannen zu lachen.

»Fortsetzung!« brüllte Bossuet den Artilleristen zu.


Die Artilleristen wollen ernst genommen werden

Alle umringten Gavroche.

Aber ihm blieb kaum Zeit, zu erzählen. Marius zog ihn beiseite.

»Was suchst du hier?«

»Na, und Sie?«

Streng fragte Marius:

»Wer hat dir gesagt, daß du wiederkommen sollst? Hast du wenigstens meinen Brief besorgt?«

Was diesen Brief anging, war Gavroches Gewissen nicht ganz rein. In seiner Hast, wieder zur Barrikade zurückzukommen, hatte er sich den Brief eher vom Halse geschafft, als ihn bestellt. Insgeheim mußte er sich sagen, daß er ihn etwas leichtfertig jenem Unbekannten anvertraut hatte, dessen Gesicht er nicht einmal gesehen. Wohl hatte jener Mann keinen Hut getragen, aber das war ja noch kein Beweis. Er scheute Vorwürfe Marius’. Um sich aus der Klemme zu befreien, tat er, was am nächsten lag: er log, was das Zeug hielt.

»Bürger«, sagte er, »ich habe den Brief dem Portier gegeben. Die Dame schlief schon. Wenn sie aufwacht, wird sie den Brief haben.«

Als Marius dieses Schreiben absandte, hatten ihm zwei Ziele vorgeschwebt: sich von Cosette zu verabschieden und Gavroche zu retten. Er mußte zufrieden sein, daß er wenigstens das eine erreicht hatte.

Immerhin brachte ihn die Anwesenheit Fauchelevents auf eine seltsame Gedankenverbindung. Er zeigte Gavroche den Neuankömmling und fragte:

»Kennst du diesen Mann?«

»Nein.«

Die peinlichen und überängstlichen Befürchtungen Marius’ wichen. Kannte er Fauchelevents politische Ansichten? Vielleicht war dieser Mann wirklich ein Republikaner. Dann war ja weiter nichts Verwunderliches daran, daß er hier erschienen war.

Schon war Gavroche auf der Barrikade aufgetaucht und verlangte energisch nach seinem Gewehr.

Courfeyrac ließ es ihm geben. Nun erzählte Gavroche seinen »Kameraden«, wie er sie nannte, daß die Barrikade vollkommen eingekreist sei. Nur mit größter Mühe hatte er sich noch durchgeschmuggelt. Ein Bataillon Linieninfanterie, dessen Gewehrpyramiden in der Rue de la Petite-Truanderie standen, beobachtete den Zugang von der Rue du Cygne. Auf der anderen Seite hielten Munizipalgardisten die Rue des Prêcheurs besetzt. Vor sich hatte man die Kerntruppe der Armee.

Enjolras stand horchend auf seinem Beobachtungsposten.

Die Belagerer schienen mit der Wirkung ihres Schusses nicht sonderlich zufrieden, denn sie wiederholten ihn nicht.

Eine Kompanie Linieninfanterie erschien jetzt am Ende der Straße hinter der Kanone. Die Soldaten rissen das Pflaster auf und errichteten daraus eine kleine Schutzmauer von etwa achtzehn Zoll Höhe.

Enjolras glaubte jenes eigentümliche Geräusch zu erkennen, das entsteht, wenn Kartätschenmunition aus den Kästen geholt wird. Auch sah er, daß der Kommandant die Kanone gegen links richtete. Dann wurde sie wieder geladen. Der Kommandant hielt selbst die Lunte und näherte sie der Zündschnur.

»Köpfe unter!« rief Enjolras, »kniet alle nieder!«

Die Insurgenten, die vor dem Wirtshaus an der Wand standen, eilten alle auf die Barrikade zu. Aber bevor Enjolras’ Befehl ausgeführt war, spie die Kanone mit furchtbarem Getöse eine Ladung Kartätschen aus.

Sie war gegen die freigelassene Lücke der Hauptschanze gerichtet. Knapp über ihr prallte sie von der Wand ab, tötete zwei Männer und verwundete drei.

Die Barrikade war nicht mehr zu halten.

Bestürzung bemächtigte sich der Verteidiger.

»Wir müssen um jeden Preis den nächsten Schuß verhindern«, sagte Enjolras.

Er legte an, zielte auf den Kommandanten des Geschützes, der sich eben über den Rückhalter der Kanone beugte und visierte.

Es war ein gutgewachsener Artilleriesergeant, ein ganz junger, blonder Mensch mit klugem Gesicht, wie man es bei dieser furchtbarsten aller Waffen oft findet, die das Gemetzel so fürchterlich macht, bis es dereinst erstickt.

Combeferre stand neben Enjolras und betrachtete den jungen Mann.

»Schade«, sagte er, »wie scheußlich ist doch dieses Blutvergießen! Nun, wenn es aus sein wird mit diesen Königen, wird es auch keine Kriege mehr geben. Du zielst da auf diesen Sergeanten, statt ihn anzusehen, Enjolras. Stell dir vor, daß er ein liebenswürdiger junger Mann ist, ein tapferer Kerl. Man sieht ihm an, daß er Verstand hat. Die Artilleristen sind immer gebildet. Gewiß hat er einen Vater, eine Mutter, Familie. Wahrscheinlich ist er verliebt. Und dabei ist er höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Er könnte dein Bruder sein.«

»Er ist es«, sagte Enjolras.

»Gut, dann wollen wir ihn nicht töten.«

»Laß mich! Was geschehen muß, soll geschehen.«

Langsam glitt eine Träne über Enjolras’ Marmorwange.

Und im selben Augenblick schoß er.

Der Artillerist drehte sich zweimal um sich selbst, streckte die Arme aus, hob den Kopf, als ob er atmen wolle, und kollerte dann über das Geschütz.

Die Kugel hatte ihn in die Brust getroffen.


Einer, der keinen verfehlt und niemand tötet

Das Feuer der Belagerer hielt an. Gewehre und Kugelspritzen wechselten ab. Doch richteten sie keinen ernsten Schaden an. Nur die Fassade des »Corinthe« litt.

Es ist übrigens eine altbewährte Taktik im Barrikadenkampf, daß man die Schießvorbereitung lange ausdehnt, um die Insurgenten zum Verbrauch ihrer Munition zu verführen. Es ist ein großer Fehler, wenn die Männer auf der Barrikade das Feuer erwidern. Dann wartet der Angreifer, bis er sieht, daß die Gegenwehr schwächer wird, und unternimmt den Sturm gegen einen Feind, dem es bereits an Pulver und an Kugeln fehlt.

Enjolras beging diesen Fehler nicht. Die Leute auf der Barrikade beantworteten das Feuer kaum.

Möglicherweise beunruhigte dieses Schweigen die Belagerer. Sie fürchteten vielleicht einen unvorhergesehenen Gegenzug des Feindes. Jedenfalls wollten sie in Erfahrung bringen, was hinter der Schutzwehr vorging.

Plötzlich sahen die Insurgenten auf einem Nachbardach den Helm eines Feuerwehrmannes in der Sonne blinken.

»Das ist ein Wächter, den wir ganz und gar nicht brauchen können«, sagte Enjolras.

Jean Valjean nahm sein Gewehr und legte auf den Feuerwehrmann an. Eine Sekunde später kollerte der Helm auf die Straße. Der erschrockene Beobachter verschwand.

Ein zweiter Beobachter erschien. Diesmal war es ein Offizier. Aber schon hatte Jean Valjean wieder geladen. Er schoß und ließ den Tschako dem Helm folgen. Der Offizier zeigte sich nicht beharrlich. Eiligst zog er sich zurück. Diesmal war die unmißverständliche Warnung begriffen worden. Niemand erschien mehr auf dem Dach.

»Warum haben Sie den Menschen nicht abgeschossen?« fragte Bossuet Jean Valjean. Aber Jean Valjean antwortete nicht.


Gavroche draußen

Plötzlich bemerkte Courfeyrac, daß jemand draußen auf der Straße, im Kugelregen, hin und her lief.

Gavroche hatte einen Korb ergriffen, war durch die Lücke hinausgeklettert und begann jetzt in aller Ruhe die Patronentaschen der gefallenen Nationalgardisten zu plündern.

»Was tust du da draußen?« rief Courfeyrac.

»Ich fülle meinen Korb, Bürger.«

»Siehst du die Kugelspritze nicht?«

»Ach ja, es regnet ein wenig.«

»Komm zurück!« schrie Courfeyrac.

»Gleich!«

Etwa zwanzig Tote lagen auf dem Straßenpflaster. Das bedeutete für Gavroche zwanzig Patronentaschen. Reichlich Munition für die Leute auf der Barrikade.

Noch immer lag der Pulverdampf wie Nebelschwaden über der Straße. Nur allmählich verzog er sich. Noch konnten die feindlichen Parteien einander kaum erkennen.

Diese schlechte Sicht lag vielleicht in der Absicht der Führer, die den Angriff auf die Barrikade vorbereiteten. Jedenfalls kam sie Gavroche zugute.

Dank seiner geringen Größe konnte er, ohne gesehen zu werden, ziemlich weit in die Straße vordringen. Die sieben oder acht ersten Patronentaschen leerte er ohne besondere Gefahr.

Bald lag er auf dem Bauch, bald kroch er, den Korb zwischen den Zähnen, hüpfte auf, schlängelte sich zwischen den Toten hin, leerte eine Patronentasche, wie ein Affe eine Nuß knackt.

Von der Barrikade, die nicht allzu weit entfernt war, rief man ihm nicht mehr zu, er solle zurückkommen, denn man wollte nicht die Aufmerksamkeit der Angreifer auf ihn lenken.

Bei der Leiche eines Korporals fand er ein Pulverhorn.

»Etwas für den Durst«, sagte er.

Jetzt gelangte er in eine Zone, die weniger vom Pulverdampf abgedichtet war. Plötzlich tauchte vor den Schützen am Ende der Straße eine undeutliche Gestalt auf, die sich im Nebel bewegte.

Gavroche war eben dabei, einen Sergeanten, der neben einem Prellstein lag, seines Munitionsvorrates zu berauben. Da schlug eine Kugel in den Leichnam.

»Verdammt«, schrie Gavroche, »bringt mir doch nicht meine Leichen um!«

Eine zweite schlug neben ihn auf das Pflaster, daß die Funken sprühten. Eine dritte traf seinen Korb. Gavroche blickte auf und sah, daß sie von den Nationalgardisten auf den Dächern rings um Paris herrührte. Da begann er, frech und in aller Seelenruhe zu singen:

»Man ist häßlich in Nanterre,

Schuld daran ist nur Herr Voltaire,

Blöd ist man in Palaiseau,

Schuld daran ist nur Rousseau.«

Jetzt nahm er seinen Korb wieder vor und sammelte die Kugeln, die herausgefallen waren. Ein vierter Schuß verfehlte ihn. Da sang Gavroche:

»An Voltaire liegt’s allein,

Daß ich Bauer muß sein,

Rousseau hat’s gewollt,

Daß kein Mädel mir hold.«

Und so ging es einige Zeit weiter.

Die Szene war schrecklich und reizvoll zugleich. Gavroche, der beschossen wurde, schien die Kugeln zu verspotten. Es war, als ob ein Sperling die Jäger picken wollte. Auf jeden Schuß antwortete er mit einem Couplet. Alle sahen ihn, aber jeder verfehlte ihn. Während die Nationalgardisten und Soldaten auf ihn zielten, mußten sie lachen. Bald warf er sich zu Boden, dann wieder sprang er auf, verschwand in einem Torbogen, sprang wieder hervor – und immer wieder sammelte er Patronen, leerte Taschen und füllte seinen Korb. Atemlos vor Angst folgten ihm die Revolutionäre mit ihren Blicken.

Eine Kugel indessen, besser gezielt, traf endlich den Jungen. Man sah Gavroche taumeln und fallen. Alle auf der Barrikade schrien auf. Aber sobald der Straßenjunge auf dem Pflaster lag, schien er neue Kraft zu gewinnen. Sofort richtete er sich wieder auf. Ein langer Faden Blut lief über sein Gesicht. Dann erhob er beide Arme, sah nach den Feinden, die auf ihn schossen, und sang ein letztes Mal:

»Voltaire hat’s so gewollt,

Daß ich einst fallen sollt,

Rousseau wollt’ es so wenden,

Daß ich im Dreck sollt …«

Er kam nicht zu Ende. Eine zweite Kugel brachte ihn zum Verstummen. Diesmal fiel er mit dem Gesicht aufs Pflaster und rührte sich nicht mehr. Die kleine große Seele war erloschen.


Der Geier als Beute

Plötzlich, zwischen zwei Salven, hörte man aus der Ferne eine Turmuhr schlagen.

»Mittag!« rief Combeferre.

Noch war der zwölfte Schlag nicht verhallt, als Enjolras auffuhr und mit Donnerstimme rief:

»Tragt Pflastersteine in das Haus! Befestigt die Fenster und Mansarden! Nur die Hälfte bleibt bei den Gewehren. Verliert keine Minute!«

Ein Trupp Sappeure war, mit den Äxten auf der Schulter, in Schlachtordnung angerückt.

Offenbar bildeten sie die Spitze einer Kolonne. Welcher? Derer doch gewiß, die den Hauptangriff führen sollte. Und gewiß war es ihre Aufgabe, die Barrikade für den Sturm reifzumachen.

Der entscheidende Augenblick nahte.

Enjolras’ Befehl wurde so eilig ausgeführt, wie es nur auf Schiffen und Barrikaden, Kampfplätzen also, von denen es kein Entrinnen gibt, möglich ist. In kaum einer Minute waren zwei Drittel von den Pflastersteinen, die Enjolras an der Tür des »Corinthe« hatte aufhäufen lassen, in den ersten Stock hinaufgetragen worden. Geschickt postiert, bildeten sie bereits nach einer zweiten Minute Schutzwälle, die zur halben Höhe die Fenster und Luken der Mansarde sicherten.

Jetzt ließ Enjolras auch die Flaschen, die unter Mabeufs Tisch standen, in den ersten Stock bringen.

»Wer soll das trinken?« fragte Bossuet.

»Die dort«, erwiderte Enjolras und deutete auf die Feinde.

Dann verbarrikadierte man die Fenster des Erdgeschosses und hielt die Eisenstangen in Bereitschaft, mit denen während der Nacht die Tür des Wirtshauses gesichert wurde.

Jetzt war die Festung vollständig. Die Barrikade stellte den Wall, das Wirtshaus den Burgfried dar.

Mit den übriggebliebenen Pflastersteinen wurde die Lücke in der Barrikade versperrt.

Die Langsamkeit, mit der der Angriff geführt wurde, hatte Enjolras instand gesetzt, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen. Er begriff, daß der Tod von Helden meisterhaft ins Werk gesetzt werden mußte.

»Wir sind die Führer«, sagte er zu Marius. »Ich gehe in das Haus und ordne alles drin, du bleibst heraußen und paßt auf.«

Marius stellte sich also auf die Barrikade und beobachtete den Feind. Enjolras ließ die Küchentür vernageln.

»Die Verwundeten sollen nicht unter dem Kampf zu leiden haben«, sagte er. Dann gab er kurz und ruhig seine letzten Befehle. Feuilly antwortete im Namen der andern.

»Haltet im ersten Stock Äxte bereit, um die Treppe einzuschlagen. Sind welche da?«

»Ja«, erwiderte Feuilly.

»Wie viele?«

»Zwei Äxte und eine Hacke.«

»Gut, wir sind jetzt sechsundzwanzig kampffähige Leute. Wieviel Gewehre haben wir noch?«

»Vierunddreißig.«

»Also acht zuviel. Ladet auch sie und haltet sie in Reichweite. Steckt Säbel und Pistolen in die Gürtel. Zwanzig Mann bleiben auf der Barrikade, sechs sollen die Mansarden und Fenster des ersten Stocks besetzt halten. Keiner darf hierbleiben, der nichts zu tun hat. Auf den ersten Trommelschlag eilen die zwanzig zur Barrikade. Wer zuerst ankommt, hat den besten Platz.«

Dann wandte er sich zu Javert.

»Ich vergesse dich nicht.«

Er legte seine Pistole auf den Tisch.

»Wer als letzter hier hinausgeht, schießt dem Spitzel eine Kugel in den Kopf.«

»Hier?« fragte einer.

»Nein, seine Leiche gehört nicht zu den unseren. Man soll ihn über die kleine Barrikade in die Rue Mondétour führen. Dort kann man dann das Urteil vollstrecken.«

Nur einer im Raum war ebenso gleichmütig wie Enjolras: Javert selbst.

In diesem Augenblick erschien Jean Valjean.

»Sie haben mir erst Ihr Lob ausgesprochen, Kommandant: denken Sie, daß ich einen Dank verdiene?«

»Gewiß. Verlangen Sie einen?«

»Ich möchte diesen Menschen niederschießen.«

Jetzt hob Javert den Kopf, sah Jean Valjean an und sagte:

»Natürlich!«

Enjolras lud inzwischen wieder seinen Karabiner.

»Hat keiner etwas einzuwenden?«

Und da niemand ein Wort sprach, sagte er zu Jean Valjean:

»Der Spitzel gehört Ihnen.«

Jean Valjean nahm sein Opfer sofort in Besitz, indem er sich selbst auf den Tisch setzte. Er zog seine Pistole heraus. Ein Knacken verriet, daß er bereits den Hahn spannte.

Im selben Augenblick klang von draußen Trompetenschall herein.

»Hierher!« schrie Marius von der Barrikade herüber.

Javert lachte sein lautloses Lachen und rief den Insurgenten nach:

»Euch geht’s auch nicht besser als mir.«

»Alle hinaus!« schrie Enjolras.

In wilder Hast stürzten die Revolutionäre auf die Barrikade.

»Auf Wiedersehen!« rief ihnen Javert nach.


Jean Valjean rächt sich

Als Jean Valjean mit Javert allein geblieben war, band er den Gefangenen vom Tisch los und bedeutete ihm, er solle aufstehen.

Javert gehorchte mit jenem unbestimmten Lächeln, in dem die gefesselte Macht ihre Gefühle zum Ausdruck bringt.

Jean Valjean führte ihn an seinem Halstuch, als ob er ein Tier am Zaum zöge, aus dem Zimmer hinaus. Javert, dessen Beine noch immer gebunden waren, konnte nur sehr kleine Schritte machen.

Sie durchquerten den dreieckigen Platz hinter der Barrikade. Die Insurgenten waren ganz mit dem drohenden Angriff beschäftigt und blickten nicht zurück.

Nur Marius sah die beiden vorübergehen.

Jean Valjean lotste den gefesselten Javert nicht ohne Mühe in die Rue Mondétour. Nachdem die beiden die kleine Verschanzung überstiegen hatten, fanden sie sich allein. Jetzt konnte niemand sie sehen. Einige Schritte abseits lagen die hierhergebrachten Toten zuhauf. Ein bleiches Gesicht, ein Kopf mit aufgelöstem Haar und eine durchschossene Hand wurden sichtbar: eine halbnackte, tote Frau. Eponine.

Javert sah sie von der Seite an und sagte ruhig:

»Die kenne ich, soviel mir scheint.«

Dann wandte er sich zu Jean Valjean.

Dieser steckte seine Pistole unter den Arm und sah Javert scharf an.

»Javert, ich bin’s.«

»Gut, nimm deine Rache.«

Valjean zog sein Messer aus der Tasche und klappte es auf.

»Du hast recht, das steht dir besser an«, meinte Javert.

Jetzt schnitt Valjean die Fesseln durch, die Javerts Hände und Füße umschlossen, richtete sich wieder auf und sagte:

»Sie sind frei.«

Gewiß war Javert ein Mann, der sich nicht leicht wunderte. Aber sosehr er auch seiner Herr war, er konnte eine Bewegung nicht unterdrücken.

»Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß ich von hier lebend wegkomme«, fuhr Jean Valjean fort. »Sollte es aber doch geschehen, so mögen Sie wissen, daß ich unter dem Namen Fauchelevent in der Rue de l’Homme Armé Nr. 7 wohne.«

Javert verzog, wütend wie ein Tiger, sein Gesicht und brummte zwischen den Zähnen:

»Hüte dich!«

»Gehen Sie«, befahl Jean Valjean.

»Fauchelevent, sagst du? Rue de l’Homme Armé?«

»Nr. 7.«

»Nr. 7«, wiederholte Javert leise.

Dann knöpfte er den Rock zu, zog die Schultern hoch und entfernte sich in Richtung der Hallen. Jean Valjean sah ihm nach. Nach einigen Schritten wandte sich Javert um und rief:

»Ich mag das nicht. Bringen Sie mich lieber um.«

Er merkte selbst nicht, daß er Jean Valjean nicht mehr duzte.

»Gehen Sie!« rief Jean Valjean.

Langsam entfernte sich Javert. Etwas später war er um die Ecke der Rue des Prêcheurs gebogen. Als er verschwunden war, schoß Valjean seine Pistole in die Luft ab, kehrte zu der Barrikade zurück und sagte:

»Erledigt.«


Die Helden

Der Todeskampf der Leute auf der Barrikade sollte beginnen.

Alles wirkte zusammen, um die tragische Erhabenheit dieses Augenblicks zu steigern. Der Schritt der herannahenden Soldatenscharen in den Straßen, die man noch nicht sah, das Traben der Kavallerie, das dumpfe Getöse der anfahrenden Artillerie, Pulverdampf, der sich über die im Sonnenglanz schimmernden Dächer erhob. Aus weiter Ferne Geschrei, die Sturmglocke von Saint-Merry, die jetzt zu stöhnen und zu röcheln schien – und dazu die Pracht und Lieblichkeit der Jahreszeit, das strahlende Sonnenlicht und zugleich die unheimliche Stille des Quartiers ringsum.

Plötzlich schlugen die Trommeln zum Angriff.

Er war wie ein Orkan. Gestern abend waren die Feinde im Dunkel, wie eine Schlange, an die Barrikade herangeschlichen. Heute, im hellen Tageslicht, war eine Überraschung unmöglich, also kamen sie im wilden Ansturm. Eine mächtige Kolonne Linieninfanterie, der Nationalgardisten und Munizipalgardisten zu Fuß folgten, gestützt auf eine nachflutende Menge, die man noch nicht sehen konnte, brach im Sturmschritt in die Straße ein, während die Trommeln wirbelten und die Trompeten schallten. An der Spitze liefen Sappeure.

Aber die Barrikade hielt den Sturm aus.

Die Verteidiger feuerten lebhaft. Eine Feuergarbe schoß von der Böschung herab. Doch war der Andrang so stark, daß die Barrikade im nächsten Augenblick überrannt war. Indessen schüttelte sie die Soldaten ab wie ein Löwe die Hunde, sie wurde nur überflutet wie ein Felsen, über den der Gischt der Wogen hinwegspült und der im nächsten Augenblick wieder schwarz und schrecklich dasteht.

Die Soldaten mußten sich zurückziehen. Aber die Straße war verstopft. So blieben sie ungedeckt und beantworteten die Schüsse der Verteidiger mit wütendem Gewehrfeuer.

Auf beiden Seiten herrschte dieselbe Entschlossenheit. Die Tapferkeit nahm einen fast barbarischen Charakter an und verband sich mit jener heroischen Wildheit, die vor dem Opfer des eigenen Lebens nicht zurückscheut. Die Nationalgardisten schlugen sich damals wie Zuaven. Die Soldaten wollten mit der Sache zu Ende kommen, die Revolutionäre waren kampfbegieriger als je. Menschen, die sich in ihrer Jugend bewußt dem Tode ausliefern, sind in ihrer Unerschrockenheit fast rasend. Alle fühlten die Größe ihrer Todesstunde. Schon war die Straße mit Leichen bedeckt.

An einer der Seiten der Barrikade stand Enjolras, an der anderen Marius. Enjolras, noch immer Führer mit jedem Nerv und jeder Fiber, wollte sich für den letzten Augenblick aufsparen. Drei Soldaten fielen von seiner Hand, ohne ihn zu Gesicht zu bekommen. Aber Marius kämpfte offen. Er wollte sich nicht verbergen. Mit dem ganzen Oberkörper überragte er die Böschung der Barrikade. Es gibt keinen wilderen Verschwender als den Geizhals, der die Fassung verloren hat. Niemand ist toller im Kampf als der Träumer. Marius schlug sich mit höchster Leidenschaft. Jetzt lebte er in der Schlacht wie in einem Traum.

Wohl waren die Angreifer in der Überzahl, aber die Revolutionäre konnten ihre bessere Stellung ausnützen. Sie standen auf ihrer Verschanzung und feuerten aus der Nähe auf die Soldaten, die zwischen Toten und Verwundeten umherirrten und bei jedem Schritt behindert waren. Doch drängten die Angreifer, die immer neuen Nachschub erhielten, im Kugelregen unaufhaltsam näher. Allmählich, aber mit unabänderlicher Sicherheit übten sie auf die Barrikade einen Druck aus wie die Kelter auf die Traube.

Sturm folgte auf Sturm.

Zehnmal wurde die Barrikade von den Wogen der Feinde überflutet, niemals blieb sie in ihren Händen.

Es war ein Kampf von Mann zu Mann, ein Kampf mit Säbeln, Fäusten, aus Fenstern und von Dächern herab. Einer stand gegen sechzig. Die verwüstete Fassade des »Corinthe« bot einen schauerlichen Anblick. Die Fenster, von Kugelspritzen beschossen, hatten längst ihre Scheiben und Rahmen verloren und sahen wie Löcher aus, die man mit Pflastersteinen verstopft hatte. Bossuet fiel, Feuilly, Courfeyrac und Joly. Combeferre wurde von drei Bajonetten gleichzeitig durchbohrt, als er einen Verwundeten aufheben wollte; er hatte noch Zeit, zum Himmel aufzublicken, dann war er tot.

Marius kämpfte noch immer. Er war mit Wunden bedeckt, und sein Gesicht war so blutüberströmt, daß man hätte meinen können, es sei ein rotes Tuch darüber gebreitet.

Nur Enjolras blieb unverletzt. Als er keine Waffe mehr hatte, focht er mit dem Stumpf eines Degens in der Hand weiter. Vier Degen hatte er zerschlagen – einen mehr als Franz I. in Marignan.


Schritt für Schritt

Als von den Führern nur mehr Enjolras und Marius lebten, die an beiden Enden der Barrikade standen, brach das Zentrum zusammen. Den Kanonen war es nicht gelungen, eine Bresche zu schlagen, aber sie hatten den oberen Rand zerstört, und die Trümmer, die bald nach außen, bald nach innen fielen, bildeten zwei Böschungen. Jetzt war es den Angreifern leichter, die Schanze zu übersteigen.

Ein letzter Sturm wurde versucht und gelang. Wieder drangen die Angreifer mit gefälltem Bajonett im Laufschritt vor, und bald tauchte im Pulverdampf die erste Reihe auf der Höhe der Schanze auf. Die Insurgenten, die das Zentrum besetzt hielten, zogen sich schrittweise zurück.

Jetzt erwachte in einigen der Lebenswille. Als sie sich diesem Wald von Bajonetten gegenübersahen, vergaßen manche ihren Entschluß, zu sterben. Das war jener kritische Augenblick, in dem der Selbsterhaltungstrieb aufheult und die Bestie im Menschen erwacht. Die Kämpfer wurden an die Wand des sechs Stock hohen Wohnhauses im Hintergrunde gedrängt – und dieses Haus konnte ihnen die Rettung bringen. Es war vollkommen vermauert und verbarrikadiert. Aber bevor die Soldaten das Innere des geschützten Platzes überqueren konnten, blieb vielleicht Zeit, eine Tür aufzubrechen und wieder zu verschließen. Das allein konnte für die Verzweifelten das Leben bedeuten. Hinter jenem Hause lagen Straßen – freier Raum, die Rettung. Wie rasend begannen sie gegen die Tür zu schlagen, zu schreien, zu jammern und die Hände zu ringen. Aber niemand öffnete.

Jetzt eilten Enjolras und Marius herbei, um ihre Freunde zu schützen. Marius stand vor der Tür zu dem »Corinthe« und verteidigte, in einer Hand einen Degen, in der andern den Karabiner, die Zurückeilenden gegen die Angreifer. Den Verzweifelten rief er zu:

»Es gibt nur eine Tür, die euch offen ist, diese hier!«

Ein kurzer, wilder Kampf folgte. Die Soldaten wollten nachdrängen, während die Insurgenten sich bemühten, das Tor zu verrammeln. Endlich wurde die Tür so lebhaft zugeschlagen, daß ein Soldat, dessen Hand eingeklemmt wurde, fünf Finger verlor.

Marius war draußen geblieben. Eine Kugel hatte sein Schlüsselbein zerschmettert. Er fühlte noch, wie ihm die Besinnung schwand – dann fiel er. Er hatte die Augen schon geschlossen, als er spürte, wie eine kräftige Hand ihn wieder hochriß. Doch blieb ihm noch die Zeit, an Cosette zu denken und zu begreifen, daß er nun gefangen und füsiliert werden würde.

Als Enjolras sah, daß Marius nicht unter den Leuten war, die sich in das Wirtshaus gerettet hatten, glaubte auch er seinen Freund gefangen und verloren. Aber in solchen Augenblicken bleibt jedem nur die Zeit, an seinen eigenen Tod zu denken. Er verriegelte die Tür und schob die Querstange vor, während Soldaten und Sappeure von draußen mit Äxten und Gewehrkolben an sie schlugen. Jetzt waren alle Angreifer um diese Tür versammelt. Die Belagerung des Wirtshauses begann.

Wir müssen feststellen, daß die Soldaten wütend waren. Der Tod des Artilleriesergeanten hatte sie erbittert. Überdies war, traurig genug, unter ihnen vor Beginn des Sturmes das Gerücht verbreitet worden, die Insurgenten hätten Gefangene verstümmelt. Es hieß sogar, in dem Wirtshaus liege die Leiche eines Soldaten ohne Kopf. Solche gefährlichen Ausstreuungen sind im Bürgerkrieg üblich.

Nachdem die Türe verbarrikadiert war, sagte Enjolras zu den andern:

»Jetzt wollen wir unser Leben so teuer wie möglich verkaufen.«

Wir wollen nur einen kurzen Bericht geben. Die Barrikade war verteidigt worden wie einst die Tore von Theben. Nun kämpfte man um das Wirtshaus wie einst um die Häuser von Saragossa. Der Widerstand war erbittert. Jetzt konnte nicht mehr parlamentiert werden. Man wollte sterben, aber auch töten. Es hieß: nach dem Kampf der Kanonen der aufs Messer. Auch in diesem Kampf fehlte es nicht an Pflastersteinen, die aus den Fenstern geschleudert wurden und den Soldaten furchtbare Wunden zufügten, nicht an tückischen Schüssen aus Mansarden und Gucklöchern, nicht an fürchterlicher Metzelei, als endlich das Tor erbrochen war. Die Belagerer drangen in dem Wirtshaus vor, fanden aber zunächst keinen Verteidiger. Die Treppe war von den Insurgenten mit Äxten abgebrochen worden. Einige Verwundete lagen umher und rangen mit dem Tode. Die übrigen hatten sich in den ersten Stock zurückgezogen und schossen durch Löcher, die sie in die Decke gebrochen hatten, auf die Angreifer herab. Das waren die letzten Kugeln.

Als sie verschossen waren, als es an Pulver und Patronen fehlte, nahm jeder zwei von den Flaschen, die Enjolras zurückgestellt hatte, und bedrohte die Angreifer mit diesen fürchterlichen Keulen. Denn diese Flaschen enthielten Scheidewasser. Es war ein furchtbares Getöse. Obwohl die Angreifer, die aus dem Erdgeschoß in den ersten Stock hinaufschießen mußten, sehr behindert waren, wirkte ihr Feuer mörderisch. Bald waren am Rande des Zugangs über der Treppe Köpfe von Toten zu sehen, aus denen rauchendes Blut herabströmte. Die Sprache besitzt keine Worte, um das Entsetzen zu schildern, das in diesem Raum herrschte. Hier kämpften nicht mehr Menschen gegen Menschen, hier kämpften Teufel gegen Gespenster. Das Heldentum entartete zum Greuel.


Ein nüchterner Orestes und ein betrunkener Pylades

Endlich drangen etwa zwanzig von den Angreifern, Soldaten, Nationalgardisten und Munizipalgardisten bunt durcheinandergemischt, alle bluttriefend und rasend vor Wut, in den ersten Stock ein; an den Trümmern der Wendeltreppe waren sie hinaufgeklettert.

Sie fanden nur noch einen einzigen Mann vor, der aufrecht stand: Enjolras. Er besaß keine Kugeln mehr und keinen Degen. Nur den Lauf einer Flinte, deren Kolben er an dem Schädel eines Angreifers zerschmettert hatte, hielt er in Händen. Er hatte den Billardtisch zwischen sich und die Angreifer gebracht. Jetzt stand er in der Ecke des Saales, stolz, mit erhobenem Haupte, den Stumpf der Waffe in Händen, noch immer so drohend, daß die Angreifer den Abstand von ihm wahrten.

»Das ist der Führer!« wurde gerufen. »Er ist es, der den Artilleristen erschossen hat. Er steht da ganz gut, wir können ihn gleich hier füsilieren.«

»Los!« befahl Enjolras.

Der Mut im Angesicht des Todes läßt keinen Menschen kalt. Auch jetzt, als Enjolras mit gekreuzten Armen vor seinen Feinden stand, verbreitete sich tödliche Stille. Es war ein feierlicher Augenblick. Enjolras schien mit majestätischer Geste seine Feinde zu zwingen, ihn zu töten – aber ehrfürchtig.

Zwölf Mann traten in der entgegengesetzten Ecke des Saales zusammen und legten schweigend an.

Ein Offizier trat vor.

»Wartet!« befahl er. Und zu Enjolras gewendet:

»Sollen wir ihnen die Augen verbinden?«

»Nein.«

Und jetzt war Grantaire erwacht.

Wie der Leser sich erinnert, schlief er seit gestern abend im Oberstock des Wirtshauses auf seinem Stuhl, die scheußliche Mischung aus Absinth, Stout und Branntwein hatte ihn in Betäubung gehalten. Er war buchstäblich betrunken bis zur Fühllosigkeit. Man hatte ihm den Tisch, auf den er sich stützte, gelassen, da er zu klein war, um auf der Barrikade nützlich zu sein. So war der Schläfer in derselben Stellung verblieben, die Brust auf den Tisch gelehnt, den Kopf auf die Arme gestützt, umringt von Gläsern und Flaschen. Nichts hatte ihn wecken können, weder das Gewehrfeuer noch die Kugeln, die in den Oberstock eingedrungen waren, noch das Getöse des Sturms. Wenn ein Kanonenschuß fiel, hatte er zuweilen laut aufgeschnarcht. Es war, als ob er darauf warte, daß eine Kugel ihm den Kummer des Erwachens erspare. Rings um ihn lagen Tote. Als er erwachte, fiel sein erster Blick auf diese Schläfer, die kaum lebloser waren als er selbst.

Getöse weckt einen Betrunkenen nicht, aber plötzliche Stille vermag diese Wirkung zu erzielen. Der Lärm hatte ihn eingewiegt, aber das plötzliche Schweigen scheuchte ihn auf. Grantaire erhob sich, streckte die Arme aus, rieb sich die Augen, gähnte – und begriff.

Das Ende eines Rausches ist wie ein zerreißender Vorhang. Mit einem einzigen Blick überschaut man alles, was er bisher verwahrt hat. Plötzlich ist das Gedächtnis wach. Der Betrunkene weiß nicht, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen ist, aber er begreift sofort. Jäh erwacht sein Denken. Die Wirklichkeit bemächtigt sich seiner.

Die Soldaten, ganz von Enjolras in Anspruch genommen, hatten Grantaire nicht beachtet. Als aber der Sergeant jetzt »Legt an!« befahl, hörten alle eine starke Stimme rufen:

»Es lebe die Republik!«

Grantaire war vorgetreten.

Jetzt flammte in seinen Augen die Begeisterung des Kampfes, den er versäumt hatte.

Noch einmal rief er:

»Es lebe die Republik!«

Dann trat er mit sicherem Schritt neben Enjolras.

»Erledigt uns beide mit einem Schuß. Du erlaubst es doch, Enjolras?«

Lächelnd reichte dieser ihm die Hand.

Noch hatte Grantaire die Hand nicht zurückgezogen, noch war das Lächeln von Enjolras’ Zügen nicht gewichen, als der Schuß fiel.


Der Gefangene

Marius war in der Tat gefangen. Er war Jean Valjeans Gefangener.

Der Greis hatte an dem Kampf nur teilgenommen, indem er sich allen Gefahren aussetzte. Er war es, der auch noch im letzten Stadium des Kampfes für die Verwundeten sorgte. Wenn ihm ein Augenblick Zeit blieb, arbeitete er an der Barrikade. Er schoß nie, auch nicht in Selbstverteidigung. Übrigens war er kaum verwundet worden. Die Kugeln schienen ihn zu scheuen. Wenn er in diesem Kampf den Tod gesucht hatte, so war er nicht zum Ziel gekommen.

Im Gewirr des Kampfes schien es zuweilen, als ob er nicht weiter auf Marius achte. Doch ließ er ihn nie aus den Augen. Und als Marius endlich fiel, stürzte Valjean mit der Gewandtheit eines Tigers herbei und schleppte ihn fort.

Die Wut des Angriffs richtete sich in diesem Augenblick auf Enjolras und den Zugang zu dem Wirtshaus. Niemand achtete auf Jean Valjean, der Marius in seinen Armen hielt, den Ohnmächtigen über die Brüstung der Barrikade schleppte und mit ihm um die Ecke bog.

Jetzt blieb Jean Valjean stehen. Er legte Marius nieder und blickte sich um.

Die Situation war fürchterlich.

Für den Augenblick, für einige Minuten vielleicht, wurde er von niemandem beachtet; wie aber sollte er dann dem Gemetzel entgehen?

Nur ein Vogel konnte sich aus solcher Gefahr retten.

Er mußte unverzüglich einen Ausweg finden, einen Entschluß fassen. Einige Schritte von ihm entfernt tobte der wildeste Kampf. Glücklicherweise konzentrierte sich die Erbitterung des Kampfes auf einen einzigen Punkt – die Tür des Wirtshauses. Kam aber auch nur ein einziger Soldat auf den Gedanken, ein paar Schritte weiter zu laufen und um die Ecke des Hauses zu biegen, so war alles vorbei.

Jean Valjean betrachtete das Haus, das vor ihm stand, die Barrikade und den Boden. Es war, als ob er mit seinen Augen ein Loch in die Erde bohren wollte.

Plötzlich bemerkte er, einige Schritte entfernt, unter einer Anhäufung von Pflastersteinen ein Eisengitter, das auf gleicher Höhe mit dem Erdboden lag und aus starken Stangen bestand. Die Einfassung war beim Aufreißen des Pflasters zerstört worden, so daß es lose dalag. Durch das Gitter konnte man durch ein dunkles Loch hinabsehen wie in eine Zisterne.

Jean Valjean trat näher. Seine alte Erfahrung im Entspringen aus Gefängnissen bewirkte, daß blitzhaft ein Gedanke in ihm erwachte. Die behinderlichen Pflastersteine beiseite stoßen, das Gitter emporheben, den ohnmächtigen Marius auf seine Schultern laden, in den tiefen Schacht hinabspringen – alles das war die Sache weniger Sekunden. Im nächsten Augenblick hatte er das Eisengitter wieder über seinen Kopf herabfallen lassen.

Jean Valjean stand mit Marius in einem langen, unterirdischen Korridor. Hier war Friede, Schweigen und Nacht.

Wieder hatte er jene Empfindung, die er ausgekostet hatte, als er damals von der Straße in das Kloster sprang. Nur trug er heute nicht Cosette, sondern Marius.

Wie aus unendlicher Ferne, einem leisen Murmeln gleich, hörte er aus dem Wirtshaus, das eben erstürmt wurde, den Lärm des Kampfes herüber.

Zweites Buch
Im Reich des Kotes

Die Kloake

Jean Valjean befand sich in den Kloaken von Paris.

Der Übergang war unerhört. Eben noch inmitten der Stadt, war er plötzlich, in einem Augenblick, in der Zeit, die man benötigt, ein Gitter zu heben und wieder zufallen zu lassen, aus hellstem Tageslicht in tiefste Finsternis hinabgetaucht, aus furchtbarem Getöse in lautlose Stille, aus entsetzlicher Gefahr in vollkommene Sicherheit.

Der Verwundete bewegte sich immer noch nicht. Jean Valjean wußte nicht, ob er einen Lebenden gerettet oder einen Toten in die Grube getragen hatte.

Das erste Gefühl, das sich seiner bemächtigte, war das der vollständigen Blindheit. Plötzlich sah er nichts mehr. Und zugleich schien es ihm, er sei taub geworden. Nichts fühlte er, als daß er festen Boden unter den Füßen hatte – das war alles, aber für den Augenblick genügte es.

Er streckte erst den linken, dann den rechten Arm aus, betastete zu beiden Seiten das Gemäuer und erkannte, daß er sich in einem engen Gang befand. Da er leicht ausglitt, erriet er, daß der Boden feucht war. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor, denn er befürchtete ein Loch, eine Senkgrube. Aber die Pflasterung setzte nicht aus. Ein widerlicher Kotgeruch ließ ihn erraten, wo er sich befand.

Einige Augenblicke später war er schon nicht mehr blind. Schwaches Licht fiel durch die Öffnung, die auch ihn eingelassen hatte, herab; sein Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Er begann Einzelheiten zu unterscheiden. Der Gang, in den er geraten war, war hinter ihm vermauert. Eine Art Sackgasse. Vor sich sah er eine andere Mauer – die Mauer der Dunkelheit. Das spärliche Licht reichte nur zehn oder zwölf Schritte weit. Dann kam die dichteste Finsternis. Und doch mußte Jean Valjean weitergehen, mußte sich sogar beeilen. Das Gitter, das er bemerkt hatte, konnte auch von den Soldaten beachtet werden. Vielleicht stiegen einige durch den Schacht herab und durchsuchten ihn. Keine Minute war zu verlieren. Er hatte Marius auf den Boden gelegt. Jetzt hob er ihn auf, lud ihn auf seine Schultern und begann zu gehen. Entschlossen marschierte er in die Dunkelheit hinein.

Schon nach fünfzig Schritten mußte er haltmachen. Eine Frage drängte sich ihm auf; der Gang mündete hier in einen anderen, der ihn senkrecht schnitt. Nach welcher Seite, nach links oder nach rechts, sollte er weitergehen? Wie sich in diesem Labyrinth der Finsternis orientieren?

Aber dieses Labyrinth hat seinen Ariadnefaden: das Gefälle. Folgte er dem Gefälle, so mußte er an das Ufer der Seine gelangen.

Jean Valjean begriff sofort.

Offenbar befand er sich gerade in den Kanälen unter der Markthalle. Er bog also nach links ab und dachte, er müsse binnen einer Viertelstunde zu einer der Mündungen zwischen dem Pont-au-Change und dem Pont-Neuf gelangen. Plötzlich würde er in einer der belebtesten Gegenden von Paris aus dem Erdboden aufsteigen. Die Passanten würden nicht wenig erstaunt sein, zu ihren Füßen zwei blutbefleckte Menschen auftauchen zu sehen. Es konnte nur einige Sekunden dauern, dann würden die Polizisten und Wachleute herbeieilen. Man war verloren, bevor man ganz aus der Grube aufgestiegen war.

Da war es noch besser, tiefer in das Labyrinth einzudringen und es der Vorsehung zu überlassen, wo man wieder einen Ausgang fände.

Jetzt ging er gegen das Gefälle.

Schon nachdem er die nächste Ecke umgangen hatte, befand er sich in vollkommener Finsternis. Trotzdem ging er weiter und beeilte sich, so gut es ging. Die beiden Arme Marius’ hatte er um seinen Hals gelegt. Die blutig-klebrige Wange des Verwundeten berührte die seine. Er fühlte, wie ein lauer Strom an ihm hinabrieselte und seine Kleider durchdrang. Doch bewies die feuchte Wärme, die von dem Munde des Verwundeten ausströmte, daß er noch lebte.

Der Gang, in den Jean Valjean eingedrungen war, schien breiter als der vorige. Nur mit großer Mühe konnte er vorwärtskommen. Das Regenwasser von gestern war noch nicht abgeflossen und bildete in der Mitte einen Bach, so daß Valjean sich an die Wand pressen mußte, wenn er nicht im Wasser waten wollte.

Es war nicht leicht, sich hier zu orientieren.

Jean Valjean begann mit einem Irrtum. Er glaubte sich unter der Rue Saint-Denis zu befinden. Dort liegt eine alte Steinkloake, die Ludwig XIII. erbauen ließ und die geradeswegs zu dem Sammelkanal führt. Sie hat nur auf der Höhe des alten Wunderhofs, von rechts her, einen Zugang, die Kloake Saint-Martin. Die Galerie der Petite-Truanderie, deren Eingang gleich neben dem »Corinthe« lag, hatte keine Verbindung mit der Kloake von Saint-Denis, sondern führte nach dem Montmartre. In diese Richtung ging jetzt Jean Valjean.

Er marschierte ängstlich besorgt, aber zugleich ruhig, vollends dem Zufall oder der Vorsehung anheimgegeben, weiter.

Und doch bemächtigte sich seiner allmählich das Grauen. Die Dunkelheit, die ihn rings umgab, drang in seine Seele ein. Er durchquerte einen Bezirk der Rätsel. Schauerlich ist es, mitten in Paris am hellen Tag durch die Finsternis zu irren. Jean Valjean mußte seinen Weg finden, ohne ihn zu sehen. In diesem unbekannten Gebiet konnte jeder Schritt der letzte sein. Würde er einen Ausweg finden? Und wenn ja, würde es beizeiten geschehen? Drang er nicht immer tiefer in ein Labyrinth ein, aus dem er sich nie herausfinden konnte? Sollte Marius dem Blutverlust, er aber dem Hunger erliegen? Würden an dieser Stätte des Abscheus nur zwei Skelette, in einen Winkel gekauert, übrigbleiben?

Plötzlich geschah etwas Seltsames. Obwohl er sich immer in der gleichen Richtung bewegt hatte, mußte er bemerken, daß er jetzt nicht mehr stieg. Jetzt kam das Wasser von hinten, nicht mehr von vorn. Er ging abwärts. Was bedeutete das? Näherte er sich wieder der Seine? Das bedeutete Gefahr, aber zurückzugehen schien noch unmöglicher.

Er marschierte weiter.

Aber es war nicht die Seine, der er sich näherte. Der Erdboden des Teils von Paris, der am rechten Ufer liegt, ergießt seine Gewässer nur zur Hälfte in die Seine, zur anderen aber in eine große Kloake. Der Kamm dieser Wasserscheide bildet eine recht unregelmäßige Linie. Auf seiner Höhe, in der Kloake des Louvre, befand sich jetzt Jean Valjean. Er wandte sich nach der Gürtelkloake und befand sich, ohne es selbst zu wissen, auf dem rechten Weg.

Bald bemerkte er auch, daß er nicht mehr in dem von der Rebellion betroffenen Stadtviertel war: dort hatten die Barrikaden den Verkehr gedrosselt. Jetzt befand er sich unter dem lebendigen, alltäglichen Paris. Über seinem Kopf hörte er, wie aus weiter Ferne, das Rollen der Wagen.

So wanderte er wohl schon seit einer halben Stunde, soweit er selbst die Zeit bestimmen konnte, ohne an Ruhe zu denken. Nur hatte er Marius auf die andere Schulter gelegt. Die Finsternis war tiefer als je, aber gerade sie beruhigte ihn jetzt.

Nach einer kurzen Strecke stieß er auf einen Nebenkanal, der offenbar von der Madeleine herüberkam. Hier machte er halt, denn er war todmüde. Ein ziemlich geräumiges Luftloch läßt hier von der Rue d’Anjou Licht herein. Jean Valjean legte Marius sanft auf eine Steinbank. Das blutige Gesicht des Jünglings glich im weißen Licht dem eines Toten. Er hatte die Augen geschlossen, die Haare klebten an den Schläfen und glichen denen eines vertrockneten, in rote Farbe getauchten Pinsels; die Hände hingen schwer und schlaff herab. In den Mundwinkeln hatte er geronnenes Blut. Auch der Knoten des Halstuchs war blutverklebt. Das Hemd scheuerte die Wunden, der rauhe Stoff des Rockes rieb das bloße Fleisch. Vorsichtig löste Jean Valjean die Kleidung von der Haut ab und legte seine Hand auf Marius’ Brust. Das Herz schlug noch. Jean Valjean zerriß sein Hemd, verband die Wunden so gut er konnte und stillte das Blut. Dann neigte er sich im Halbdunkel über den noch immer bewußtlosen Marius und betrachtete ihn mit unaussprechlichem Haß.

Während er die Kleider Marius’ durchsucht hatte, waren ihm zwei wichtige Dinge in die Hände gekommen: das Brot, das hier seit gestern vergessen worden war, und Marius’ Portefeuille. Er aß das Brot und warf einen Blick in das Portefeuille. Auf der ersten Seite fand er Marius’ Notiz, deren sich der Leser wohl erinnert und aus der hervorging, daß er Marius Pontmercy hieß und wünsche, sein Leichnam möge zu seinem Großvater, Herrn Gillenormand, in die Rue des Filles-du-Calvaire gebracht werden.

Jean Valjean las das Blatt, blieb einen Augenblick lang nachdenklich stehen und wiederholte leise: Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6. Dann schob er das Portefeuille in Marius’ Tasche. Er hatte gegessen und fühlte sich gestärkt. Also lud er Marius wieder auf seinen Rücken, stützte den Kopf des Ohnmächtigen auf seine rechte Schulter und begann in der Kloake weiter vorzudringen.

Diese Sammelkloake, die dem Talweg von Ménilmontant folgt, ist fast zwei Meilen lang. Beinahe in ihrer ganzen Länge ist sie gepflastert.

Plötzlich aber geriet Jean Valjean in fürchterliche Gefahr.


Das Loch

Er fühlte, daß er in Wasser trat. Jetzt hatte er nicht mehr Pflaster, sondern Schlamm unter den Füßen.

Jean Valjean war in ein Schlammloch geraten.

Es verdankte seine Entstehung dem Wolkenbruch von gestern abend. Das von dem darunterliegenden Sande schwach gestützte Pflaster hatte nachgegeben, die Wassermengen waren eingedrungen und hatten den Boden zum Schwellen gebracht. Das Kanalbett barst und versank in Schlamm.

Wie weit diese gefährliche Strecke war, ließ sich nicht ermessen. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Es war ein Kotloch in einer finsteren Höhle.

Jean Valjean fühlte, wie der Boden unter ihm wich. Dennoch drang er weiter in den Bereich des Kotes vor. Er watete in tiefem Wasser, auf dessen Grunde Schlamm war. Zurückgehen war ja unmöglich. Marius lag im Sterben, und Jean Valjean war erschöpft. Auch schien es bei den ersten Schritten, daß das Loch nicht allzu tief war. Aber bald sank er bis zum halben Bein ein, und das Wasser stieg über die Knie. Jetzt hielt er Marius auf beiden Armen, so hoch er konnte. Der Wasserspiegel hob sich bis zum Gürtel. Es gab kein Zurück. Immer weiter drang Jean Valjean vor. Vielleicht hätte der dicke Schlamm das Gewicht eines Mannes getragen, aber zwei Leute waren zu schwer. Marius und Jean Valjean, jeder für sich, hätten der Gefahr entrinnen können.

Und Jean Valjean schritt weiter, den Sterbenden – oder war es schon eine Leiche? – hoch über sich tragend.

Jetzt stieg ihm das Wasser bis über die Achselhöhlen. Er stand schlecht und mußte befürchten, umgerissen zu werden. Auch die Dichtigkeit des Sandes behinderte ihn. Mit äußerster Kraft hob er Marius hoch. Jetzt hatte er nur mehr noch den Kopf über dem Wasserspiegel.

Mit einer verzweifelten Anstrengung stieß er den Fuß vor – und faßte Boden. Ihm war, als ob er die erste Stufe einer Treppe, die zum Leben führte, erreicht hätte.

Die Stütze, die er im kritischen Augenblicke gefunden hatte, war ein Stück des Kanalbettes, das zwar gesunken, aber nicht zerbrochen war. Es stellte jetzt eine Art Rampe dar, auf der Jean Valjean auf die andere Seite des Loches gelangen konnte.

Als er aus dem Wasser stieg, taumelte er und fiel auf die Knie. Er fand, diese Haltung sei im Augenblick die richtigste, und blieb einen Moment im Gebet versunken.

Dann stand er wieder auf, schauernd unter der Eiseskälte, von der Last des Sterbenden gebeugt, triefend von Kot – aber die Seele von himmlischem Licht erleuchtet.


Das Ende der Kloake

Wieder machte er sich auf den Weg.

Es war, als ob er seine Kraft in dem Schlammloch gelassen hätte. Er war erschöpft von der furchtbaren Anstrengung. So müde war er, daß er alle drei oder vier Schritte gezwungen war, Atem zu schöpfen und sich an die Wand zu lehnen.

Verzweifelt drang er wieder hundert Schritte vor, ohne sich umzublicken. So war er an eine Biegung der Kloake gelangt und stand plötzlich am Ende des Ganges. Vor sich sah er, noch weit entfernt, Licht.

Das Licht des Tages. Den Ausgang.

Jetzt spürte Jean Valjean keine Müdigkeit mehr. Das Gewicht Marius’ lastete nicht mehr auf ihm. Wieder waren seine Beine von Stahl. Er lief beinahe. Je näher er kam, um so deutlicher erkannte er die Öffnung.

Im nächsten Augenblick hatte er den Ausgang erreicht.

Hier blieb er stehen.

Es war wohl ein Ausgang, aber er war unbenützbar.

Ein starkes Gitter versperrte die Bogentür, ein Gitter, das allem Anschein nach sich nur selten in seinen stark oxydierten Angeln drehte. An der Steineinfassung hing eines jener dicken, verrosteten Schlösser, die man im alten Paris so gern benützte.

Jenseits des Gitters frische Luft, der Fluß, hellichter Tag, ein schmaler Weg, der immerhin genügte, um sich auf ihm fortzubewegen, in der Ferne Paris – die Freiheit.

Er befand sich an einer der einsamsten Gegenden der Stadt, an dem Ufer gegenüber dem Gros-Caillou. Fliegen schwirrten durch das Gitter.

Es mochte neun Uhr abends sein. Der Tag ging zu Ende.

Jean Valjean legte Marius längs der Wand auf eine trockene Stelle des Bodens, trat an das Gitter und rüttelte mit den Fäusten daran. Es rührte sich nicht. Jean Valjean nahm eine der Stangen nach der anderen vor, hoffte eine zu lockern oder das Schloß abzureißen. Aber die Stangen saßen fest wie die Zähne eines Tigers. Es war unmöglich, die Tür zu öffnen.

Alles war zu Ende. Jean Valjean hatte sich unnütz geplagt. Gott wollte nicht, daß er gerettet wurde.


Ein abgerissener Fetzen Tuch

Während er in tiefster Niedergeschlagenheit dasaß, griff eine Hand nach seiner Schulter und eine leise Stimme sagte:

»Halbpart!«

Jean Valjean glaubte zu träumen.

Er blickte auf, ein Mann stand vor ihm.

Dieser Mensch trug eine Arbeiterbluse und ging barfuß; seine Schuhe trug er in der linken Hand. Offenbar hatte er sie ausgezogen, um unbemerkt näher kommen zu können.

Jean Valjean zögerte einen Augenblick. Diese Begegnung kam ihm unerwartet, aber den Mann kannte er. Es war Thénardier.

Auf der Stelle gewann er seine Geistesgegenwart wieder. Auch konnte sich die Lage, in der er sich befand, kaum noch verschlimmern, denn es gibt einen Grad des Entsetzlichen, der kein Crescendo kennt. Auch ein Thénardier konnte die Dunkelheit der Nacht nicht mehr verfinstern.

Jean Valjean merkte sofort, daß der Bandit ihn nicht erkannte.

Thénardier brach das Schweigen.

»Wie willst du hier rauskommen?«

Jean Valjean antwortete nicht.

»Du wirst diese Tür nicht aufbringen. Aber du willst doch raus?«

»Natürlich.«

»Gut, Halbpart.«

»Was soll das?«

»Du hast den Mann da umgebracht. Gut. Ich habe den Schlüssel. Ich kenne dich nicht, aber ich werde dir helfen. Du scheinst einer von den Freunden zu sein.«

Jean Valjean begann zu begreifen. Thénardier hielt ihn für einen Mörder.

»Hör, Kamerad«, fuhr dieser fort, »du hast diesen Kerl doch nicht umgebracht, ohne dir vorher seine Taschen anzusehen. Gib mir die Hälfte, dann öffne ich dir die Tür.«

Er zog einen großen Schlüssel aus seiner zerfetzten Bluse.

Jean Valjean war vollkommen verblüfft. Die Vorsehung hatte hier eine scheußliche Gestalt angenommen, der Rettungsengel hatte sich als Thénardier verkleidet.

Thénardier fuhr jetzt mit der Hand in seine Tasche und zog einen langen Strick hervor.

»Da, den Strick geb ich auch noch drauf.«

»Was soll mir der Strick?«

»Dann brauchst du auch noch einen Stein, aber den findest du draußen. Daran ist hier kein Mangel.«

»Aber was soll ich mit dem Strick und dem Stein?«

»Trottel, du willst doch den Kerl ins Wasser werfen! Dazu brauchst du einen Strick und einen Stein, sonst schwimmt er.«

Jean Valjean nahm den Strick. Seine Gebärde war fast mechanisch.

Jetzt schnippte Thénardier mit den Fingern, als ob ihm ein plötzlicher Gedanke käme.

»Übrigens, wie bist du über das Schlammloch gekommen, Kamerad? Ich hab mich nicht darüber getraut. Puh, du riechst aber nicht fein!«

Und da er keine Antwort bekam, fuhr er fort:

»Ach, ich frage immer, und du antwortest nicht. Sehr gescheit. Du bereitest dich auf das Viertelstündchen vor dem Untersuchungsrichter vor. Wer nichts sagt, plaudert auch nichts aus. Aber sei unbesorgt, ich kann in dieser Finsternis dein Gesicht nicht erkennen und weiß auch nicht, wie du heißt. Darum ist es doch unrecht von dir, zu glauben, daß ich nicht weiß, wer du bist und was du willst. Wir kennen uns. Du hast diesen Herrn da kaltgemacht, und jetzt möchtest du ihn irgendwo verschwinden lassen. Du suchst den Fluß, in dem ja jede Dummheit untertaucht. Ich werde dich aus der Verlegenheit retten. Einem braven Kerl in der Not beistehen, das ist ganz nach meinem Geschmack.«

Obwohl er Jean Valjean ermuntert hatte zu schweigen, wollte er ihn doch offensichtlich zum Sprechen bringen.

»Übrigens, weil wir von dem Schlammloch sprechen, du bist doch ein rechtes Vieh, warum hast du den Kerl nicht da hineingeschmissen?«

Noch immer schwieg Jean Valjean.

Thénardier rückte den Fetzen, der ihm als Halstuch diente, bis an den Adamsapfel vor, wodurch sein gewichtiges Aussehen noch gewann, und fuhr fort:

»Übrigens warst du ganz gescheit. Vielleicht. Morgen kommen die Arbeiter, säubern das Loch und finden unweigerlich den Burschen da. Schritt für Schritt kommt man dir auf die Spur, und schwupps bist du gefangen. Jemand ist durch die Kloaken gegangen. Wer? Wo ist er herausgekommen? Hat ihn jemand beobachtet? Die Polizeileute haben viel Witz. Zum Schluß wird die Kloake zum Verräter. Ein solcher Fund ist eine Seltenheit, der Aufsehen erregt, denn es ist unter uns nicht Mode, die Geschäfte hier abzumachen. Der Fluß wird allgemein vorgezogen. Er ist das richtige Massengrab. Nach einem Monat fischen sie einen wohl bei Saint-Cloud heraus, aber wer kümmert sich darum? Wer hat dieses Aas da getötet? Nun, Paris. Das ist keine Spur, der die Justiz nachläuft, Weiß Gott, du hast es ganz gut angefangen. Aber jetzt wollen wir zur Sache kommen. Teilen wir. Du hast den Schlüssel gesehen, zeige mir nun auch das Geld.«

Thénardier sah tückisch und bösartig aus, fast drohend, sprach aber noch immer freundschaftlich.

»Na, wieviel hatte der Kerl in den Taschen?«

Als Jean Valjean gestern abend die Nationalgardistenuniform angelegt hatte, war es ihm nicht in den Sinn gekommen, Geld einzustecken. So fand er nur in seiner Westentasche einige Münzen. Er entleerte sie jetzt vor Thénardiers Augen auf der Steinbank, es waren ein Louisdor, zwei Fünffranken und fünf oder sechs Sousstücke.

Thénardier schob die Unterlippe verächtlich vor.

»Wenig für einen Mord«, meinte er.

Dann begann er, ganz gemütlich Jean Valjeans und Marius’ Taschen durchzusuchen. Valjean ließ es geschehen. Während er den Rock Marius’ durchwühlte, riß er unauffällig einen Fetzen Stoff ab, den er aufbewahrte, um vielleicht später einmal an diesem Zeichen den Mörder oder Ermordeten wiederzufinden. Geld fand er allerdings nicht.

»Wahrhaftig«, sagte er, »mehr ist nicht da.«

Er vergaß, daß er halbpart vorgeschlagen hatte, und nahm das Ganze.

Erst als er die Sous in die Finger bekam, zögerte er. Endlich nahm er auch sie, wenn er auch murrte:

»Na, dem hast du den Tod zu billig geliefert. Schluß, Freund, du willst raus. Hier ist es wie auf dem Markt. Du hast bezahlt, du kannst gehen.«

Und er begann zu lachen.

Die Tür öffnete sich lautlos. Offenbar war sie gut geölt und wurde öfter benützt, als es den Anschein hatte.

Thénardier öffnete die Tür halb, ließ Jean Valjean durch, schloß sie dann wieder und drehte den Schlüssel zweimal herum. Im nächsten Augenblick war er lautlos verschwunden.

Jean Valjean stand im Freien.


Marius wird von einem, der sich darauf versteht, für tot gehalten

Sekundenlang war Jean Valjean bezaubert von der erhabenen, köstlichen Freiheit rings um ihn. Es gibt Minuten der Selbstvergessenheit. Selbst das Leiden setzt aus, der Gedanke ruht, Friede zieht ein in die Seele des Sinnenden. So konnte auch Jean Valjean nicht umhin, in die Klarheit des Nachthimmels hinaufzublicken, der sich schweigend über ihm ausbreitete.

Plötzlich erwachte lebhaft in ihm das Gefühl einer Pflicht, die er auf sich genommen hatte. Er beugte sich über Marius, goß aus seiner hohlen Hand Wasser über sein Gesicht; aber die Lider des Verwundeten hoben sich nicht. Nur sein halbgeöffneter Mund atmete immer noch.

Eben wollte Jean Valjean zum zweitenmal die Hand in den Fluß tauchen, als er plötzlich ein Unbehagen empfand, wie man es wohl verspürt, wenn man – auch ohne es zu sehen – fühlt, daß jemand hinter uns steht.

Er wandte sich um.

Wirklich stand jemand da, ein hochgewachsener Mann in einem langen Überrock, der die Arme verschränkt hatte und in der Rechten einen Totschläger hielt. Er stand nur wenige Schritte hinter Jean Valjean, der sich über Marius beugte.

Jean Valjean erkannte Javert.

Der Polizeiinspektor hatte sich, nachdem er wider Erwarten von der Barrikade entlassen worden war, nach der Präfektur begeben, um persönlich dem Präfekten in einer kurzen Audienz Bericht zu erstatten. Dann hatte er sofort wieder seinen Dienst angetreten und sich darangemacht, das Gebiet des rechten Flußufers auf der Höhe der Champs-Elysées, das seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit der Polizei erregte, zu durchforschen. Er war Thénardier begegnet und nachgegangen.

Jean Valjean war aus dem Regen in die Traufe gekommen. Zwei solche Begegnungen auf einmal, erst Thénardier, dann Javert – es war hart.

Javert erkannte Jean Valjean nicht, denn er war durch die furchtbaren Anstrengungen des letzten Tages vollkommen entstellt. So begnügte sich der Polizist, mit einer kaum bemerkbaren Bewegung den Totschläger fester zu umfassen und kurz, aber ruhig zu fragen:

»Wer sind Sie?«

»Ich.«

»Wer ist das, ich?«

»Jean Valjean.«

Javert nahm den Totschläger zwischen die Zähne, beugte sich vor, legte seine gewaltigen Hände auf Jean Valjeans Schultern, hielt ihn fest wie in einem Schraubstock und starrte ihm ins Gesicht. Die beiden Köpfe berührten einander fast. Javerts Blick war fürchterlich.

Jean Valjean blieb regungslos unter Javerts Griff, wie ein Löwe, der sich von einem Luchs packen ließ.

»Inspektor Javert«, sagte er endlich, »ich bin in Ihrer Hand. Übrigens betrachte ich mich ja seit heute morgen als Ihren Gefangenen. Ich habe Ihnen meine Adresse nicht gegeben, um auszureißen. Ich bitte Sie nur um eine Vergünstigung.«

Javert schien nicht zu hören. Sein starrer Blick war auf Valjean gerichtet. Das hochgezogene Kinn drängte die Lippen aufwärts – Zeichen intensivsten Nachdenkens. Endlich ließ er Jean Valjean los, richtete sich auf und fragte leise:

»Was tun Sie hier? Wer ist dieser Mann, und was haben Sie mit ihm zu schaffen?«

Auch jetzt duzte er Jean Valjean nicht. Dieser antwortete:

»Von ihm wollte ich gerade sprechen. Mit mir können Sie tun, was Sie wollen, aber helfen Sie mir erst, ihn nach Hause zu bringen. Sonst verlange ich nichts von Ihnen.«

Javerts Gesicht verzog sich krampfhaft wie immer, wenn jemand ihn einer Nachgiebigkeit für fähig hielt. Aber er lehnte nicht ab. Wieder beugte er sich vor, zog ein Tuch aus der Tasche, tauchte es in das Wasser und wischte das Blut von Marius’ Stirn.

»Dieser Mann war auf der Barrikade«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche, »es ist der, den sie Marius nannten.«

Dieser Mann, der seinem ganzen Wesen nach Spitzel war, hatte sogar in einer Stunde, die er für seine letzte hielt, alles beobachtet, alles gehört und im Geiste vorbemerkt. Er hatte im Todeskampf, gewissermaßen auf der ersten Stufe jener Treppe, die zum Grabe hinabführt, noch Beobachtungen gesammelt.

Jetzt nahm er Marius’ Hand und fühlte den Puls.

»Er ist schwer verwundet«, sagte Jean Valjean.

»Er ist tot«, erwiderte Javert.

»Nein. Noch nicht.«

»Sie haben ihn also von der Barrikade hierhergebracht?« Seine Gedanken mußten ihn sehr in Anspruch nehmen, daß er über diese merkwürdige Flucht quer durch die Kloaken von Paris nicht näheren Bescheid verlangte. So bemerkte er nicht einmal, daß Jean Valjean schwieg. Dieser schien seinerseits nur einen einzigen Gedanken zu haben.

»Er wohnt im Marais«, sagte er. »Rue des Filles-du-Calvaire, bei seinem Großvater. Den Namen habe ich vergessen.«

Jean Valjean suchte in Marius’ Rock, zog das Portefeuille heraus, schlug es auf und reichte es Javert.

Es war gerade hell genug, daß Javert, dessen Augen übrigens an die Nacht gewöhnt waren wie die gewisser Vögel, mit einiger Mühe lesen konnte.

»Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6.«

»Kutscher.«

Er hatte in der Nähe eine Droschke warten lassen.

Das Portefeuille Marius’ behielt er bei sich.

Einen Augenblick später kam ein Wagen an der Rampe, die zur Tränke führt, herab, Marius wurde auf den Rücksitz gelegt, Javert setzte sich neben Jean Valjean auf den Vorderplatz.

Bald fuhr die Droschke im Trab davon, immer an den Quais entlang, in der Richtung nach der Bastille.

Endlich verließ sie das Ufer und bog in die Straßen ein. Der Kutscher, eine schwarze Silhouette auf seinem Bock, trieb seine mageren Gäule mit der Peitsche an. Eisiges Schweigen herrschte im Wagen. Marius lag unbeweglich, den Rumpf in die Ecke des Rücksitzes gepreßt, den Kopf auf die Brust herabgeneigt, mit herabfallenden Armen und steifen Beinen; er schien nur mehr auf den Sarg zu warten. Valjean schien ein Schatten, Javert ein Stein zu sein. Sooft das Gefährt an einer Laterne vorüberkam, fiel ein Lichtschein flüchtig in das Innere der Droschke und beleuchtete düster diese unheimliche Gesellschaft unbeweglicher Gestalten: einen Leichnam, ein Gespenst und eine Statue.


Rückkehr des verlorenen Sohnes

Es war schon stockdunkel, als die Droschke vor dem Hause Nr. 6 der Rue des Filles-du-Calvaire hielt.

Javert stieg als erster aus, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß die Nummer über dem Haustor stimmte, hob dann den schweren Eisenklöppel, der nach alter Mode mit zwei mythologischen Gestalten, einem Bock und einem Satyr, verziert waren, und pochte. Als die Tür sachte geöffnet wurde, stieß Javert sie vollkommen auf. Der gähnende, verschlafene Pförtner stand mit einer Kerze in der Hand auf der Schwelle.

Schon hatten Jean Valjean und der Kutscher Marius aus der Droschke gehoben. Im Tragen fühlte Jean Valjean nach der Brust des jungen Mannes und vergewisserte sich, daß das Herz noch schlug. Ihm schien sogar, daß es jetzt lebhafter schlug, vielleicht infolge der Fahrt in dem rüttelnden Wagen.

Javert redete den Portier an, wie die Behörde den Bediensteten eines Aufwieglers anspricht.

»Einer im Haus, der Gillenormand heißt?«

»Ja. Was wollen Sie von ihm?«

»Wir bringen ihm seinen Sohn.«

»Seinen Sohn?« fragte der Portier verblüfft.

»Ja. Er ist tot. Er war auf der Barrikade. Hier ist er.«

»Auf der Barrikade!« schrie der Pförtner auf.

»Da hat er sich totschießen lassen. Wecken Sie den Vater.«

Der Pförtner rührte sich noch immer nicht.

»Los, gehen Sie doch!« schrie jetzt Javert, »morgen gibt es hier ein Leichenbegängnis.«

In Javerts Denkungsweise hatten sich die Dinge, die auf öffentlichen Plätzen passieren können, in gewisse Kategorien eingeordnet, die es ihm erlaubten, alles in seinem Gedächtnis übersichtlich anzuordnen. Jede Möglichkeit hatte gewissermaßen ihr Schubfach, aus dem sie, nur der Menge nach abänderlich, entnommen werden konnte. Auf der Straße konnten sich seiner Ansicht nach nur Krawall, Rebellion, Karneval und Leichenbegängnis ereignen.

Der Pförtner begnügte sich, Baske zu wecken. Baske weckte Nicolette, Nicolette Tante Gillenormand. Den Großvater ließ man schlafen, denn man meinte, er werde die Sache immer noch rechtzeitig erfahren.

Marius wurde in aller Stille in den ersten Stock getragen und auf ein altes Kanapee gelegt, das im Vorzimmer des Herrn Gillenormand stand. Während Baske um einen Arzt und Nicolette nach dem Wäscheschrank lief, fühlte Jean Valjean, daß Javert seine Schulter berührte. Er begriff und folgte dem Polizisten.

Der Pförtner sah sie gehen, wie er sie kommen gesehen hatte, noch immer ganz benommen. Sie stiegen wieder in die Droschke.

»Inspektor Javert«, sagte Jean Valjean jetzt, »gewähren Sie mir noch eine Bitte.«

»Was?« fragte Javert schroff.

»Lassen Sie mich einen Augenblick nach Hause gehen, dann komme ich mit Ihnen.«

Javert blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken, das Kinn in den Kragen seines Rocks gebohrt; dann rief er:

»Kutscher, Rue de l’Homme Armé Nr. 7!«


Erschütterung des Absoluten

Während der ganzen Fahrt sprachen die beiden nicht.

Als die Droschke an der Ecke der Rue de l’Homme Armé hielt, weil die Einfahrt für einen Wagen zu schmal war, stiegen Jean Valjean und Javert aus. Der Polizist entließ die Droschke. Jean Valjean dachte, daß er ihn wohl zu Fuß nach dem Kommissariat der Blancs-Manteaux führen wolle.

Sie gingen in die Straße hinein, die wie gewöhnlich vollkommen menschenleer war. Vor Nr. 7 blieben sie stehen. Jean Valjean klopfte. Es wurde geöffnet.

»Gut«, sagte Javert, »gehen Sie hinein.«

Und mit einer seltsamen Betonung, als ob er nur mühsam etwas Derartiges über die Lippen brächte, fügte er hinzu:

»Ich erwarte Sie hier.«

Jean Valjean streifte ihn mit einem Blick. Dieses Betragen entsprach so wenig Javerts Gewohnheit! Doch durfte man sich nicht so sehr darüber wundern, konnte darin eher ein hochmütiges Vertrauen erblicken, etwa das Vertrauen der Katze, die eine Maus für einen Augenblick aus dem Bereich ihrer Tatzen entläßt. Jean Valjean trat ein, rief dem Pförtner zu, daß er es sei, und stieg die Treppe hinauf.

Als er den Absatz des ersten Stockwerks erreichte, blieb er stehen. Jeder Schmerzensweg hat seine Station.

Sei es, um frische Luft zu schöpfen, sei es aus unbewußter Regung, trat Jean Valjean an das Fenster und beugte sich hinaus. Im nächsten Augenblick war er maßlos erstaunt.

Da unten war niemand.

Javert war fortgegangen.


Der Großvater

Baske und der Pförtner hatten Marius, der sich immer noch nicht regte, in den Salon getragen. Inzwischen war der Arzt gekommen und Tante Gillenormand aufgestanden. Sie lief erschrocken auf und ab, rang die Hände und war außerstande, etwas anderes zu sagen als: »Großer Gott, ist so etwas denn möglich?!« Oder sie jammerte: »Alles wird Blutflecken abbekommen – die ganzen Bezüge!«

Als sie den ersten Schrecken überwunden hatte, schien sich ihr Geist einigermaßen zum Verständnis der Situation durchzuringen, und sie rief:

»So mußte es kommen!« Es fehlte nur noch, daß sie, wie es bei solchen Gelegenheiten ja üblich ist, darauf hinwies, sie habe es ja vorausgewußt.

Der Arzt untersuchte Marius, stellte fest, daß der Puls noch schlug und daß der Verwundete an der Brust keine tiefere Wunde hatte. Das Blut in den Mundwinkeln kam aus den Nasenlöchern. Jetzt ließ er den Verwundeten auf das Bett zurücklegen, das Kissen wegnehmen und den Kopf tiefer betten als den Körper, um die Atmung zu erleichtern. Fräulein Gillenormand zog sich, als sie sah, daß Marius entkleidet wurde, zurück, eilte in ihr Zimmer und nahm den Rosenkranz vor.

Der Rumpf zeigte keine schwere Verletzung. Eine Kugel war durch das Portefeuille aufgehalten worden und hatte, indem sie an den Rippen entlang vordrang, das Fleisch furchtbar aufgerissen, aber keine tiefe, gefährliche Wunde verursacht. Der lange Transport durch das unterirdische Paris hatte allerdings zur Folge gehabt, daß das zerschmetterte Schlüsselbein vollkommen entzweigegangen war. Das gab Veranlassung zu ernster Besorgnis. Der Arm zeigte zahlreiche Wunden, die von Säbelhieben herrührten. Im Gesicht war sonst keine Verletzung, doch war der Kopf ganz zerhackt. Ob diese Wunden tiefer gingen, ließ sich im Augenblick nicht feststellen. Bedenklich war nur, daß sie offenbar die Ohnmacht des Patienten verursacht hatten. Aus solcher Ohnmacht erwacht man zuweilen nicht mehr. Überdies hatte der Blutverlust den Verwundeten sehr erschöpft. Der untere Teil des Körpers war vollkommen unverletzt, da er durch die Barrikade geschützt gewesen war.

Baske und Nicolette zerrissen alte Wäschestücke und bereiteten Verbände vor. Da man keine Scharpie zur Verfügung hatte, benützte der Arzt zur Stillung des Blutes Watte. Neben dem Bett brannten drei Kerzen auf einem Tisch, auf dem der Arzt sein chirurgisches Besteck vorbereitet hatte.

Der Arzt schien wenig Hoffnung zu haben. Zuweilen schüttelte er den Kopf, als ob er eine Frage verneine, die er sich selbst gestellt hatte.

In dem Augenblick, als der Arzt das Gesicht des Patienten abtrocknete und leicht mit den Fingerspitzen die noch immer geschlossenen Lider berührte, ging die Tür des Salons auf, und eine lange, weiße Gestalt erschien.

Es war der Großvater.

Er sah das Bett und den blutüberströmten jungen Mann auf der Matratze, die geschlossenen Augen, den offenen Mund, die fahlen Lippen – sah den entblößten Körper und die roten Wundmale im grellen Licht der Kerze.

Vom Kopf bis zum Fuß durchlief ihn ein furchtbarer Schauder; seine Augen, deren Hornhaut bereits vom Alter gelb geworden war, bekamen einen gläsernen Glanz. Im nächsten Augenblick glich der Schädel einem unheimlichen Totenkopf. Die Arme fielen schlaff herab, die zitternden Finger spreizten sich, die Knie knickten ein.

»Marius!« stammelte er.

»Gnädiger Herr«, sagte Baske, »man hat uns Herrn Marius eben gebracht. Er war auf der Barrikade und …«

»Ach, er ist tot«, schrie der Greis mit furchtbarer Stimme. »Oh, dieser Bandit!«

Eine seltsame Verwandlung ging in ihm vor; der Hundertjährige wurde zum jungen Mann.

»Herr«, rief er, »Sie sind doch der Arzt? Sagen Sie mir – er ist doch tot, nicht wahr?«

Betreten schwieg der Arzt.

Gillenormand begann furchtbar zu lachen. Er lachte und rang zugleich die Hände.

»Tot ist er, auf den Barrikaden hat er sich totschießen lassen! Und nur aus Haß gegen mich! Gegen mich hat er das getan! Oh, dieser Bluthund – so kommt er zurück! Er ist tot!«

Er trat ans Fenster, riß es weit auf, als ob er zu ersticken fürchte, beugte sich hinaus und begann in die finstere Nacht hinauszurufen.

»Zerstochen, niedergeschlagen, erwürgt, in Stücke gerissen! So muß er enden, der Bandit! Und dabei wußte er ganz gut, daß ich ihn erwartete, daß ich sein Zimmer immer für ihn bereithalten ließ, daß ich sein Kinderbild auf meinem Nachtschrank aufgestellt habe! Er wußte ganz gut, daß er nur wiederzukommen brauchte, daß ich mich seit Jahren nach ihm sehnte und jeden Abend mit den Händen auf meinen Knien am Kamin saß und nicht wußte, was ich tun sollte! Daß ich vor Sehnsucht zuletzt ganz dumm war! Du wußtest es, du brauchtest nur hierherzukommen und zu sagen: da bin ich, und du warst der Herr dieses Hauses, hättest mir auf der Nase herumtanzen dürfen, hättest mit diesem Trottel von Großvater tun können, was du wolltest. Oh, du hast es gewußt, aber du hast gesagt: nein, er ist einer von den Royalisten, zu ihm gehe ich nicht! Dafür bist du auf die Barrikade gegangen, hast dich töten lassen – aus purer Niedertracht! Nur um dich zu rächen, weil ich dir meine Meinung gesagt hatte! Ist das nicht gemein? So, legt euch nur ins Bett und schlaft ruhig – dann weckt man euch auf und sagt: er ist tot, weiter nichts.«

Der Arzt begann nun auch für den Greis zu fürchten und trat zu Gillenormand. Aber der Alte sah ihn ruhig, mit großen, blutunterlaufenen Augen an und sagte:

»Ich danke Ihnen, Herr, ich bin ruhig, ich bin ein Mann, ich habe Ludwig XVI. sterben gesehen und verstehe mich darauf, das Unvermeidliche zu ertragen. Das Schlimmste ist, daß ich immer denken muß: eure verfluchten Zeitungen richten das alles an. Seit wir diese Tintenkleckser, Zungendrescher, Advokaten, Schwätzer, diese Debattierer, all das verlogene Zeug, Fortschritt, Aufklärung, Menschenrechte, Pressefreiheit und dergleichen haben, bringt man unsere Kinder so nach Hause! Ach, es ist fürchterlich! Marius vor mir tot! O dieser Bandit! Doktor, Sie wohnen hier in der Gegend, glaube ich? Oh, ich kenne Sie wohl, oft sehe ich Ihren Wagen vorbeifahren. Ich will Ihnen etwas sagen: Sie dürfen nicht glauben, daß ich wütend bin. Man zürnt einem Toten nicht. Es wäre ja blöde. Ich habe diesen Jungen erzogen. Ich war schon reichlich alt und er noch ganz klein. In den Tuilerien spielte er mit seinem kleinen Spaten, und ich habe immer, damit der Inspektor nicht schelten sollte, mit meinem Stock die Löcher zugescharrt, die er in die Erde grub. Eines Tages stellt er sich vor mich hin und schreit: Nieder mit Ludwig XVIII.! – und dann ist er gegangen. Es war nicht meine Schuld. Er war ganz rosig und blond. Seine Mutter ist tot. Haben Sie bemerkt, daß alle kleinen Kinder blond sind? Woher das nur kommt? Und dabei ist er der Sohn eines Loireräubers, aber die Kinder sind ja unschuldig an den Verbrechen der Väter. Ich erinnere mich noch, wie er ganz klein war. Damals konnte er nie das ›D‹ aussprechen. Einmal, vor der Statue des Ercole Farnese, gab es einen kleinen Auflauf – alle Leute blieben stehen und sahen das hübsche Kind an. Es war ein Kopf, wie man ihn nur auf Bildern sieht. Ich fuhr den Jungen manchmal grob an, drohte ihm sogar mit dem Stock, aber er wußte schon, daß ich es nicht ernst meinte. Wenn er nur morgens zu mir ins Zimmer kam, war es schon licht – wenn ich auch leicht lospolterte! Man ist ja ganz wehrlos gegen diese kleinen Jungen. Das packt einen, läßt einen gar nicht mehr los. Und jetzt haben sie ihn mir in den Tod getrieben, eure Lafayette, Benjamin Constant und Tirecuir de Corcelles. Das darf so geschehen!«

Er trat wieder zu dem reglosen Marius, betrachtete ihn und begann von neuem die Hände zu ringen. Fast mechanisch bewegten sich seine Lippen, er keuchte und stöhnte.

»Ach, du herzloser Schuft, du Septemberbandit!«

Nur mühsam konnte er sich fassen und wieder zusammenhängend sprechen. Aber seine Stimme war dumpf und erloschen, als ob sie aus einem Abgrund herausschalle.

»Nun, es ist ja gleichgültig, ich sterbe ja auch. Wenn man nur denkt, daß es in ganz Paris kein Mädel gab, das sich nicht ein Vergnügen daraus gemacht hätte, diesen Kerl zu beglücken! Und statt sich zu amüsieren, geht dieser Schuft hin und läßt sich totschießen wie ein Idiot! Statt in die Chaumière tanzen zu gehen, wie es den jungen Leuten ansteht! Dabei ist er kaum zwanzig Jahre alt. Da plagen sich die armen Weiber und bringen hübsche Kinder zur Welt! Nun, wir werden zwei Beerdigungen gleichzeitig haben. Kusch, krepier in deinem Winkel, alter Uhu! Gut, um so besser, das bringt mich wenigstens auch um. Ich bin sowieso schon zu alt! Hundert Jahre, hunderttausend Jahre bin ich alt! Hätte längst schon tot sein sollen. Das wird mir in die Grube helfen. Wenn man es so nimmt, ist es ein Glück! Wozu lassen Sie denn den armen Jungen Ammoniak riechen! Sie plagen sich umsonst, Sie Schwachkopf! Sehen Sie nicht, daß er tot ist? Ich muß es doch wissen, denn ich bin ja auch schon tot. Der tut keine halben Sachen! Ja, eine gemeine, schmutzige, niedrige Zeit ist das, so denke ich von euch, von euren Ideen, Systemen und euren Doktoren, von eurem Literatenklüngel, von euren abgerissenen Philosophen, von euren stupiden Revolutionen, die seit sechzig Jahren die Raben in den Tuilerien aufscheuchen! Du warst so gütig und hast dich so umbringen lassen? Gut, mir liegt nichts daran. Hörst du es?«

In diesem Augenblick schlug Marius langsam die Augen auf, und sein unsteter Blick richtete sich auf Herrn Gillenormand.

»Marius!« schrie der Greis, »mein kleiner Marius! Lieber Junge! Sieh mich doch an! Du lebst! Ich danke dir!«, und er brach ohnmächtig zusammen.


Javert aus der Bahn geworfen

Javert war langsam die Rue de l’Homme Armé hinuntergeschritten.

Er bog in eine Gegend stiller Straßen ein. Doch hielt er sich an eine bestimmte Richtung.

Auf kürzestem Wege eilte er zur Seine, erreichte den Quai des Ormes, überschritt den Grèveplatz und blieb unweit des Kommissariats am Châteletplatz, an der Ecke des Pont-Notre-Dame, stehen. Die Seine bildet hier, zwischen dem Pont-Notre-Dame und dem Pont-au-Change ein viereckiges Bassin mit einer Stromschnelle.

Javert legte seine beiden Hände auf die Brüstung, beugte das Kinn herab und dachte nach.

Er litt furchtbar. In seinem Gewissen empfand er eine doppelte Pflicht, eine zwiespältige Pflicht. Als er Jean Valjean unerwartet am Ufer der Seine gefunden hatte, war in ihm zugleich der Instinkt des Wolfes, der seine Beute wittert, und der des Hundes, der seinen Herrn wiederfindet, wach geworden: Vor sich sah er zwei schnurgerade Wege; aber es waren ihrer zwei, und er hatte, solange er lebte, immer nur einen vor sich gesehen. Schlimmer noch, die beiden waren einander entgegengesetzt. Sie schlossen einander aus. Welchen mußte er gehen?

Er schuldete sein Leben einem Verbrecher, hatte diese Schuld angenommen und wiedererstattet. Seiner eigensten Natur zuwider hatte er sich mit einem Sträfling auf gleichen Fuß gestellt, ihm einen Dienst mit einem anderen bezahlt. Von einem Verbrecher hatte er sich sagen lassen: Geh! Und er hatte ihm darauf gesagt: Gut, du bist frei. Persönlichen Motiven hatte er seine Pflicht geopfert, ja, er fand in diesen Motiven sogar ein höheres Prinzip; man konnte Verrat an der menschlichen Gesellschaft üben und doch seinem Gewissen treu bleiben. Dieser Widersinn war Wirklichkeit, dies konnte geschehen!

Erstaunlich war, daß Jean Valjean ihm Gnade erwiesen hatte, noch viel erstaunlicher aber, daß er, Javert, Jean Valjean geschont hatte.

Und was sollte er jetzt tun? Jean Valjean der Gerechtigkeit ausliefern, wäre niederträchtig gewesen. Ihn freilassen war ein Verbrechen. Im ersten Fall sank er, der Beamte, unter den niedrigsten Bagnosträfling; im zweiten Fall gestand er, daß ihm ein Sträfling mehr galt als das Gesetz. So oder so, Javert war entehrt. Welche Entscheidung er auch treffen mochte, sein Sturz war unvermeidlich.

Auch mußte er sich Vorwürfe machen, weil er jenen Insurgenten nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte; aber daran dachte er kaum. Die geringere Verfehlung schien aufgehoben durch die große. Überdies war jener Revolutionär sichtlich dem Tod verfallen, und mit dem Tode setzt auch die Verfolgung aus.

Nur Jean Valjean lastete schwer auf seiner Seele.

Mit Entsetzen gewahrte Javert, daß sich in seiner Brust ein unbekanntes Gefühl regte, die Bewunderung für einen Sträfling. Einen Galeerensträfling achten – war das möglich? Er schauderte davor zurück, konnte sich aber dieser Regung nicht erwehren.

Ein mildtätiger Übeltäter! Ein sanfter, hilfsbereiter, gütiger Sträfling! Ein Sträfling, der Böses mit Gutem vergalt, Haß mit Verzeihung, der sich nicht rächte, sondern Mitleid fühlte, lieber selbst zugrunde ging, bevor er seinen Feind tötete, der jenen rettete, der ihn geschlagen – dieses Ungeheuer, Javert mußte es bekennen, existierte. Dieser Zustand war nicht zu ertragen.

Gewiß hatte er Widerstand geleistet, wohl zwanzigmal war es ihm in jenem Wagen gewesen, als ob er endlich nach Jean Valjean greifen müßte. Zwanzigmal hatte er sich auf ihn stürzen, ihn verschlingen und verhaften wollen. Und was war einfacher als das? Er brauchte nur dem erstbesten Gendarmen zuzurufen: Holla, hierher, das ist ein entsprungener Sträfling! Dieser Mann gehört euch! Er brauchte nur zu gehen, sich um das Weitere nicht mehr zu kümmern. Der Mann war für immer dem Gesetz verfallen, das Gesetz würde mit ihm verfahren, wie es wollte. Gab es etwas Gerechteres?

Alles das hatte Javert sich gesagt, hatte versucht, sich über seine Bedenken hinwegzusetzen – aber es war ihm so gegangen wie jetzt, er hatte es nicht gekonnt. Sooft er seine Hand krampfhaft ausstreckte nach Jean Valjeans Kragen, war es ihm gewesen, als ob ein schweres Gewicht sie herabziehe, und eine unbekannte Stimme hatte ihm zugerufen: Gut, liefere deinen Retter aus, und dann laß dir das Wasser bringen, deine Tigerklauen in Unschuld zu waschen wie Pontius Pilatus.

Seine schlimmste Qual war, daß nun alle Gewißheit verschwunden war. Er kam sich vollkommen entwurzelt vor. Das Gesetzbuch war in seiner Hand zu einer blinden Waffe geworden.

Er mußte zugeben, daß Güte kein leerer Wahn ist. Dieser Sträfling war gütig gewesen. Ja, so unerhört es ihm schien, er selbst war einer Regung von Güte gefolgt. Er war entartet.

Er war also ein Feigling. Ihm graute vor seinem eigenen Wesen.

Javert frönte nicht dem Ideal der Menschlichkeit – er wollte nur untadelig sein. Und er war es nicht mehr.

Wie war das gekommen? Wie war das möglich geworden? Er selbst hätte es nicht angeben können. Er stützte seinen Kopf in beide Hände, aber sosehr er auch sein Gehirn zerquälte, er fand keine Erklärung.

Gewiß war es doch immer seine Absicht gewesen, Jean Valjean dem Gesetz auszuliefern, dem er verfallen war, und als dessen Sklave er, Javert, sich empfand. Und solange er ihn in Händen hielt, nie war ihm der Gedanke gekommen, ihn laufen zu lassen. Gegen seinen Willen hatte seine Hand sich geöffnet und den andern freigegeben.

Es war unerträglich.

Er befand sich in einer grausamen Lage. Nur zwei Auswege boten sich ihm. Der eine: kurz entschlossen zu Jean Valjean zu gehen, den Mann wieder dem Bagno zuzuführen. Der zweite …

Tiefste Finsternis herrschte. Grabesstille, die immer der Mitternachtsstunde folgt, lag über die Stadt gebreitet. Wolken verdeckten den Sternenhimmel. Die Häuser der Altstadt lagen in vollständiger Dunkelheit, nirgends brannte Licht. Notre-Dame und die Türme des Justizpalastes waren nur undeutlich als Silhouetten zu erkennen. Die Regengüsse der letzten Tage hatten den Wasserspiegel der Seine steigen lassen.

Javert beugte sich vor und sah hinab. Alles war schwarz, nichts zu unterscheiden. Man hörte das Rauschen des Flusses, konnte aber das Wasser nicht sehen. Augenblicke lang glitt in schwindelnder Tiefe ein Lichtschimmer sich schlängelnd über das Wasser hin, das ja sogar in tiefster Finsternis von irgendwo Licht empfängt. Dann verlosch er wieder. Was Javert da vor sich sah, war nicht der Fluß, es war ein unendlicher Abgrund.

Wenn man auch nichts sah, so fühlte man doch die feindliche Kälte des Wassers und den faden Geruch der nassen Steine. Ein atemraubender Hauch stieg aus der Tiefe auf. Das Hochwasser, das man eher ahnte, als sah, das dumpfe Brausen der Wasser, das Gefühl, man könne hier in eine düstere Leere hinabstürzen, machte einen schauerlichen Eindruck.

Javert blieb hier einige Minuten ruhig stehen, blickte in die Dunkelheit hinab. Starr betrachtete er das Unsichtbare.

Plötzlich nahm er den Hut ab und legte ihn auf die Brüstung des Quais. Im nächsten Augenblick stand eine hohe, schwarze Gestalt auf der Brüstung, bückte sich vor, richtete sich wieder auf und fiel senkrecht in die Finsternis hinab. Dann hörte man ein dumpfes Aufklatschen. Nur die Finsternis sah die Zuckungen dessen, der im Wasser untertauchte.

Drittes Buch
Enkel und Großvater

Der Leser hört wieder von dem Baum mit der Zinkplatte

Einige Zeit nach den oben erzählten Ereignissen erlebte Herr Boulatruelle etwas sehr Merkwürdiges.

Wie der Leser sich vielleicht erinnert, war Boulatruelle ein Mann, der sich nicht darauf versteifte, ein einziges Gewerbe auszuüben. Er klopfte hauptamtlich Steine, nahm aber auch die Gelegenheit wahr, einen vereinzelten Wanderer etwas zu erleichtern. Aus dieser Mischung von Straßenarbeiterschaft und Diebsgewerbe war ein Ideal entstanden: er glaubte an die Schätze, die in dem Walde von Montfermeil vergraben sein sollten. Noch immer klammerte er sich an die Hoffnung, eines Tages am Fuße eines Baumes Geld zu finden. Zwischendurch holte er sich aus den Taschen Vorüberkommender einen kleinen Vorschuß.

Zur Zeit war er sehr vorsichtig. Eben war er mit knapper Not aus einer peinlichen Situation entronnen. Wie der Leser sich erinnert, hatte man ihn mit den anderen Banditen in Jondrettes Stube aufgegriffen. Aber auch Laster können zum Guten ausschlagen – daß er sinnlos betrunken gewesen, hatte ihn gerettet. Niemand wußte, ob er als Dieb oder als zu Bestehlender in Jondrettes Wohnung gekommen war. Seine Trunkenheit war gerichtsnotorisch, also setzte man ihn mangels jeglichen Schuldbeweises in Freiheit. So war er wieder in seinen Wald zurückgekehrt. Wie einst besorgte er die Straße von Gagny nach Lagny, etwas abgekühlt, nicht besonders aufgelegt zu Diebsunternehmungen, dafür aber um so fester entschlossen, auch in Zukunft seinem Retter, dem Wein, getreu zu bleiben.

Was nun das seltsame Erlebnis betrifft, das der Straßenarbeiter kurz nach seiner Rückkehr unter dem Rasendach seiner Straßenarbeiterhütte hatte, so bestand es in folgendem:

Eines Morgens begab sich Boulatruelle wie gewöhnlich zur Arbeit. Plötzlich bemerkte er durch die Zweige hindurch einen Mann, von dem er nur den Rücken sehen konnte, dessen Gestalt ihm aber trotz der Entfernung bekannt erschien. Obwohl Boulatruelle ein Trinker war, hatte er ein helles und scharfes Gedächtnis, das ja für einen Mann, der den Kampf mit der öffentlichen Ordnung aufnimmt, eine unentbehrliche Waffe ist.

»Wo, zum Teufel, habe ich diesen Menschen schon gesehen?«

Er wußte keine genaue Antwort, war aber überzeugt, daß dieser zum mindesten einem andern sehr ähnlich war, dessen Bild sich in seiner Erinnerung eingegraben hatte.

Da er die Identität des Unbekannten nicht feststellen konnte, begann er zu überlegen. Gewiß war dieser Mann nicht aus der Gegend. Er kam von irgendwo, und zwar zu Fuß, denn um diese Zeit kommen keine Postwagen durch Montfermeil. Er war die ganze Nacht lang gegangen. Von wo kam er? Nicht von sehr weit, denn er trug kein Bündel und keinerlei Gepäck. Also wohl aus Paris. Was hatte er in diesem Walde zu schaffen, und noch dazu um diese Stunde?

Boulatruelle dachte sofort an den Schatz. Wenn er sein Gedächtnis wachrief, konnte er sich leicht erinnern, daß er schon vor einigen Jahren hier in der Nähe einem ähnlichen Manne begegnet war, der ganz gut mit dem, den er jetzt vor Augen hatte, identisch sein konnte.

Im Nachsinnen hatte er zu Boden geblickt. Als er jetzt aufschaute, war der Mann verschwunden.

»Zum Teufel!« murrte Boulatruelle, »den muß ich wiederfinden! Wo der Kerl her ist, das werden wir schon herausbringen. Dieser Spaziergänger geht nicht ohne Grund hier auf und ab, und diesen Grund werde ich erfahren. In meinem Wald gibt es keine Geheimnisse, in die ich mich nicht einmische.«

Er nahm seine Hacke, deren Spitze scharf geschliffen war.

Mit der kann ich einen Mann ebensogut wie das Straßenpflaster entzweischlagen, dachte er.

Er bemühte sich, dem Unbekannten nachzugehen. Noch war er keine hundert Schritte gegangen, als es vollkommen hell wurde. Dieser Umstand war ihm günstig. Fußspuren im Sand, niedergetretenes Gras, geknickte Zweige bezeichneten die Fährte des Unbekannten. Ihr zu folgen, war zeitraubend. Endlich tauchte er im Walde unter und gelangte auf einen kleinen Hügel. Pfeifend marschierte nicht unweit von ihm ein Jäger vorbei. Diese Beobachtung veranlaßte ihn, auf einen Baum zu steigen. Er war alt, aber gelenkig. Boulatruelle kletterte auf eine Buche, die ihm besonders geeignet schien.

Auch dieser Einfall bewährte sich. Als Boulatruelle in die Wildnis hinabblickte, gewahrte er zum zweitenmal den Fremden. Er ging oder, besser gesagt, er schlich auf eine ziemlich entfernte, von hohen Bäumen gut gegen Sicht gedeckte Lichtung zu, die Boulatruelle nur zu gut kannte. Er hatte an dieser Stelle neben einem Haufen von Mühlensteinen einen kranken Kastanienbaum gesehen, der eine Zinkplatte auf der Rinde trug. Jene Lichtung war in der Gegend unter dem Namen »Lichtung Blaru« bekannt.

In freudiger Hast stieg Boulatruelle von seinem Baume herab, so rasch, daß wir besser sagen können, er ließ sich herabfallen. Er hatte den Bau aufgespürt, nun mußte er auch noch das Wild finden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der berühmte Schatz dort vergraben.

Bis zur Lichtung Blaru war es reichlich weit. Auf dem ausgetretenen Pfad, der viele Umwege macht, brauchte man eine gute Viertelstunde. Ging man geradeswegs durch das Gestrüpp, das in dieser Gegend sehr dicht ist, so konnte man nicht vor einer halben Stunde am Ziel sein. Es war unklug von Boulatruelle, diesen Umstand nicht in Rechnung zu stellen. Er glaubte an die gerade Linie, verfiel also einer optischen Täuschung, die so vielen Menschen teuer zu stehen gekommen ist.

Wollen wir einmal die Straße der Wölfe gehen, dachte er.

Mit aller Entschlossenheit stürzte er sich in das Dickicht. Erbittert kämpfte er gegen Dornen, Stechpalmen, Brennesseln und Kardien. Bald war er vollkommen zerschunden und zerkratzt.

In der Senkung stieß er gar auf einen Wasserlauf, den er durchwaten mußte.

Erst nach vierzig Minuten erreichte er schweißtriefend, außer Atem, zerschunden und wütend die Lichtung Blaru.

Niemand war da.

Er eilte auf den Steinhaufen zu. Der war da. Niemand hatte ihn weggetragen.

Der Fremde war im Walde verschwunden. Wohin? In welche Richtung? Unmöglich, es zu erraten!

Am schlimmsten war, daß Boulatruelle hinter dem Steinhaufen, vor dem Baum mit der Zinkplatte, einen frisch aufgeworfenen Erdhügel fand, eine vergessene oder weggeworfene Schaufel und ein Loch.

Das Loch war leer.

»Dieb!« schrie Boulatruelle und schüttelte die Fäuste gegen den Horizont.


Nach dem Bürgerkrieg der Krieg im Haus

Marius schwebte lange Zeit zwischen Tod und Leben. Wochenlang schüttelte ihn das Wundfieber, und gewisse ernste Symptome deuteten auf eine Verletzung des Gehirns, die nicht nur durch die äußerlichen Wunden entstanden sein mochte.

Nächtelang wiederholte er mit der Geschwätzigkeit der Fiebernden den Namen Cosettes. Und täglich ein- oder zweimal meldete sich in dem Hause ein Herr mit weißen Haaren, der, wie der Pförtner meldete, sehr gut angezogen war, erkundigte sich nach dem Befinden des Verwundeten und hinterließ ein großes Paket Scharpie.

Endlich, nach vier Monaten, erklärte der Arzt, er könne jetzt für die Rettung des Patienten bürgen. Die Genesung machte sichtliche Fortschritte. Doch sollte Marius noch zwei Monate auf der Chaiselongue bleiben, um die vollständige Ausheilung des Schlüsselbeinbruchs nicht zu stören. In solchen Fällen gibt es immer eine letzte Wunde, die sich nicht schließen will. Übrigens bewahrten ihn diese lange Krankheit und Rekonvaleszenz vor Verfolgungen. Der Franzose ist nicht fähig, sechs Monate lang zu zürnen. Überdies sind, wie die Dinge nun einmal liegen, an allen Revolutionen so weite Kreise beteiligt, daß man nach ihrer Überwindung gern, so gut es geht, die Augen schließt. Entscheidend war schließlich die ungeheuerliche Verordnung des Präfekten Gisquet, der den Ärzten die Pflicht auferlegte, Verwundete zu denunzieren. Diese Bestimmung erbitterte die Öffentlichkeit, und sogar der König erhob Einspruch. Den Verwundeten kam diese öffentliche Stimmung zunutze. Wer nicht auf frischer Tat ertappt worden war, konnte sicher sein, von den Kriegsgerichten unbehelligt zu bleiben. Man ließ auch Marius in Ruhe.

Gillenormand hatte inzwischen alle Ängste und alle Freuden durchgemacht. Nur mit Mühe hatte man ihn hindern können, die Nächte bei dem Verwundeten zuzubringen. Er ließ seinen großen Lehnstuhl neben das Bett Marius’ tragen und verlangte, daß seine Tochter die beste Wäsche, die man im Hause hatte, zerriß, um daraus Kompressen und Verbände zu machen. Als Fräulein Gillenormand einwandte, Batist eigne sich weniger für Scharpie als grobes Leinen und neues Leinen weniger als gebrauchtes, wollte er davon nichts hören. Sooft Marius verbunden wurde, sah er zu, und wenn der Arzt totes Fleisch wegschnitt, schrie er selbst vor Schmerz auf. Es war rührend zu sehen, wie dieser zitternde Greis dem Verwundeten die Arznei reichte. Er bestürmte den Arzt mit Fragen und bemerkte selber kaum, daß es immer die gleichen waren.

Was Marius betrifft, so ließ er sich in aller Ruhe verbinden und pflegen, ohne an etwas anderes als an Cosette zu denken. Seit das Fieber gewichen war, hatte er ihren Namen nicht mehr ausgesprochen. Er schwieg, aber er tat es nur, weil seine Seele bei ihr weilte.

Was aus Cosette geworden war, wußte er nicht. Der Vorfall in der Rue de la Chanvrerie lag wie eine Wolke über seinem Gedächtnis. Ungewisse Schatten tauchten auf und nieder, Eponine, Gavroche, Mabeuf, Thénardier – seine Freunde, mitten im Pulverdampf auf der Barrikade das seltsame Auftauchen des Herrn Fauchelevent; er begriff nicht, wie er mit seinem Leben davongekommen war, wie und von wem er gerettet worden, und niemand konnte es ihm sagen. Alles, was im Hause bekannt war, bestand in der Mitteilung, eine Droschke sei eines Nachts vorgefahren und habe ihn mitgebracht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mischten sich in seinem Kopf zu einem dunklen Wirrwarr. Doch gab es einen sicheren Punkt, eine Entschlossenheit, einen Willen: Cosette, die er wiederfinden wollte.

Wir dürfen nicht verschweigen, daß Marius sich durch die Zärtlichkeiten seines Großvaters nur wenig rühren ließ. Zunächst wußte er ja gar nicht, was für ihn geschah; seinem fiebernden Gehirn erschien die Güte des Greises seltsam und bedenklich. Er blieb kalt. Umsonst vergeudete der Greis sein armes Lächeln. Marius sagte sich, alles werde gut sein, solange er nicht spreche und alles mit sich geschehen lasse; brächte er aber die Rede auf Cosette, so würde die Miene des Alten sich beträchtlich ändern, der alte Tyrann sich demaskieren. Es würde einen harten Kampf setzen. Wieder würde der Familienstreit aufflammen, er, Marius, werde alle diese Sarkasmen und höhnischen Einwände zu hören bekommen, das Gerede von Fauchelevent, Coupelevent, Geld, Armut, Elend, Stein um den Hals und Zukunft. Er durfte mit dem heftigsten Widerstand rechnen. Und Marius machte sich darauf gefaßt.

Im Ausmaße, in dem er gesundete, empfand er wieder Bitterkeit gegen seinen Großvater. Der Greis erduldete sie mit Sanftmut.

Ohne sich darüber zu äußern, hatte Gillenormand längst bemerkt, daß Marius ihn niemals Vater angeredet hatte. Er sagte ja nicht gerade Herr zu ihm, aber er fand immer einen Ausweg, beide Anreden zu vermeiden.

Eine Krise stand bevor.

Schon begann Marius, wie das in solchen Fällen üblich ist, kleine Vorpostengefechte zu inszenieren. Er wollte das Terrain sondieren. Eines Morgens geschah es, daß Herr Gillenormand, der eben die Zeitung gelesen hatte, verächtlich über den Konvent sprach und Danton, Saint-Just und Robespierre mit einem royalistischen Schimpfwort apostrophierte.

»Die Leute von 1793 waren Riesen«, sagte Marius streng.

Der Greis schwieg und war den ganzen Tag über nicht wieder zum Reden zu bringen.

Marius erinnerte sich der Hartnäckigkeit seines Großvaters und glaubte in diesem Schweigen einen verhaltenen, um so konzentrierteren Zorn zu erkennen. Er ahnte, daß der Kampf fürchterlich sein werde, und sammelte Waffen.

Er beschloß, falls der Alte ihn zurückweise, sein Schlüsselbein wieder zu zerschmettern, die Verbände von seinen Wunden zu reißen und die Nahrung zu verweigern. Seine Wunden waren seine Waffen.

Und mit der tückischen Geduld der Kranken erwartete er den günstigen Augenblick für den Kampf.


Marius greift an

Eines Tages stand Gillenormand, während seine Tochter Karaffen und Tassen auf der Marmorplatte der Kommode ordnete, neben Marius und sagte freundlich:

»Siehst du, lieber kleiner Marius, ich würde an deiner Stelle lieber Fleisch statt Fisch essen. Für den Anfang der Rekonvaleszenz mag ja eine gebratene Seezunge recht geeignet sein, aber wenn ein Mann wieder zu Kräften kommen will, soll er lieber Kotelett essen.«

Marius, dessen Kräfte schon fast ganz zurückgekehrt waren, richtete sich auf, stützte seine beiden geballten Fäuste auf das Bett, sah seinen Großvater todernst an und sagte:

»Da fällt mir ein, daß ich dir doch etwas sagen muß.«

»Was?«

»Ich will heiraten.«

»Das hatte ich erwartet«, sagte der Alte und lachte.

»Wieso erwartet?«

»Na, eben erwartet. Du sollst sie haben, deine Kleine.«

Marius war vollkommen verblüfft und begann zu zittern.

»Jaja«, fuhr Gillenormand fort, »du sollst deine hübsche Kleine haben. Sie kommt täglich hierher in Gestalt eines alten Herrn, der sich nach deinem Befinden erkundigt. Seit du verwundet bist, beschäftigt sie sich nur mehr mit Weinen und Scharpiezupfen. Du siehst, ich bin informiert. Sie wohnt Rue de l’Homme Armé Nr. 7. Also heiraten willst du? Gut, von mir aus. Aber eins will ich dir sagen, hier bist du ordentlich hereingesprungen. Du hast dir gedacht: jetzt werde ich dem Alten, dieser Mumie aus der Regentschaftszeit, diesem alten Steiger, meine Meinung sagen. Er hat sein Lotterleben hinter sich, seine Liebschaften, seine Grisetten und Cosetten; der hat das Froufrou ausprobiert, hat den Frühling warm sein lassen, solange es ging; jetzt soll er sich daran erinnern! Kampf bis aufs Messer! Nimm den Stier bei den Hörnern. So geht es unsereinem, ich biete dir ein Kotelett an, und du verlangst eine Frau. Eine schöne Verwechslung. Also du willst zanken! Du weißt wohl nicht, daß ich ein alter Feigling bin! Jetzt ärgerst du dich. Den Alten dümmer zu finden als dich selbst, darauf warst du nicht gefaßt. Deine ganze Rede fällt ins Wasser, Herr Advokat – es ist jammerschade. Jetzt bleibst du allein auf deiner Wut sitzen. Ich tue, was du willst – ärgere dich! Ich habe mich erkundigt, denn ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist ein nettes, anständiges Mädchen. Eine Menge Scharpie hat sie gezupft. Sie ist nett – und ganz in dich vernarrt. Ich hatte die Idee, sie eines Morgens hierher zu bestellen, wenn es dir erst besser geht, aber das kommt ja nur in Romanen vor, daß plötzlich junge Mädchen an den Betten von Verwundeten erscheinen. Was sollte die Tante davon denken? Noch dazu warst du die ganze Zeit fast nackt, mein Bester. Frage nur Nicolette, die keinen Augenblick von deiner Seite gewichen ist, ob das ein Anblick für eine anständige Frau war. Und der Arzt? Mit jungen Mädchen heilt man das Fieber nicht. Na, sprechen wir nicht weiter darüber, es ist ja erledigt. Da siehst du, was für ein Dickschädel ich bin. Ich habe wohl gemerkt, daß du mich nicht leiden konntest. Was soll ich nur tun, dachte ich, daß dieses dumme Geschöpf anfängt mich zu lieben? Na, da fiel mir deine Cosette ein. Die werde ich ihm geben, dachte ich mir, dann wird er schon zu Verstand kommen. Du dachtest natürlich, der Alte würde zu schreien und zu schimpfen anfangen – beileibe nein! Cosette: bravo! Verliebt? Mit Vergnügen! Nichts, was mir lieber wäre! Belieben der Herr, sich nur möglichst rasch zu verheiraten. Sei glücklich, so gut du kannst!«

Der Greis begann zu schluchzen. Er nahm Marius’ Kopf in die Hände, drückte ihn an sich – und jetzt weinten beide.

»Vater!« rief Marius.

»Also du magst mich doch leiden?« rief der Alte.

Beide konnten nicht sprechen. Schließlich stammelte der Greis:

»Jetzt ist alles gut, er hat Vater zu mir gesagt.«

Marius sagte sanft:

»Vater, ich fühle mich jetzt wohl, mir scheint, ich könnte sie wiedersehen.«

»Das ist schon geplant. Morgen.«

»Warum nicht heute?«

»Gut, heute. Du hast Vater zu mir gesagt, das verdient eine Belohnung, ich werde es schon so richten. Mag man sie holen. Diese Geschichte ist nicht neu, sogar in Versen ist sie schon einmal geschrieben worden. In der Elegie vom ›jungen Kranken‹ von André Chénier – von diesem André Chénier, der von den Schur…, wollte sagen von den Riesen von 1793 … also, der ermordet …«

Gillenormand glaubte zu bemerken, daß Marius leicht die Stirn runzelte. Das war ein Irrtum, denn der junge Mann dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht an 1793. Der Großvater aber, der jetzt vollkommen die Fassung verloren hatte, fuhr fort:

»Das heißt, ermordet ist ja nicht das richtige Wort. Tatsache ist nur, daß die genialen Führer der Revolutionäre, die ja Gott bewahre keine schlechten Leute waren, sondern natürlich Helden, daß die es also unangenehm empfanden, André Chénier in ihrer Mitte zu sehen, und darum ließen sie ihn ein bißchen guill…, wollte sagen, im Interesse des öffentlichen Wohls haben diese großen Männer am 7. Thermidor André Chénier ersucht, ein klein wenig zu …«

Gillenormand erstickte an seiner eigenen Rede. Er konnte sie weder herunterschlucken noch herausbringen. Mit einer Geschwindigkeit, die durchaus nicht seinem Alter angemessen war, stürzte er aus dem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu, eilte, puterrot vor Wut, mit hervorquellenden Augen die Treppe hinunter und stand plötzlich dem braven Basken gegenüber, der im Vorzimmer die Stiefel putzte. Er packte ihn am Kragen und schrie außer sich:

»Hunderttausendkreuzteufel, diese Schufte haben ihn umbringen lassen!«

»Wen?« fragte Baske tief erschrocken.

» André Chénier.«

»Allerdings, gnädiger Herr«, bestätigte Baske fassungslos.


Mademoiselle Gillenormand tröstet sich darüber, daß Herr Fauchelevent bei seinem Besuch etwas unter dem Arm trägt

So sahen sich Cosette und Marius wieder.

Wir müssen darauf verzichten, diese Begegnung zu beschreiben. Es gibt Dinge, die sich der Schilderung entziehen.

Mit Cosette war ein Mann gekommen, ein Greis mit weißen Haaren und ernsten Zügen. Das war Herr Fauchelevent: Jean Valjean.

Er war sehr gut angezogen, wie der Pförtner schon bemerkt hatte, trug einen neuen, schwarzen Anzug und ein weißes Halstuch.

In Marius’ Zimmer blieb er bescheiden an der Tür stehen. Unter dem Arm trug er einen Gegenstand, der wie ein in Papier eingeschlagenes Buch in Oktavformat aussah.

»Hat der Herr immer solche Bücher unter dem Arm?« fragte Fräulein Gillenormand leise Nicolette, denn sie konnte Bücher nicht leiden.

»Mein Gott«, meinte ebenso leise Gillenormand, der sie gehört hatte, »er ist eben irgendein Privatgelehrter. Ist das ein Fehler? Boulard, den ich noch gekannt habe, ging nie ohne ein Buch aus, immer drückte er so eine Schwarte an das Herz.«

Dann begrüßte er mit lauter Stimme den Gast.

»Herr Tranchelevent …«

Gillenormand änderte den Namen nicht absichtlich, aber die Unaufmerksamkeit gegen Eigennamen war eine seiner aristokratischen Neigungen.

»Herr Tranchelevent«, sagte er, »ich habe die Ehre, Sie für meinen Enkel, den Baron Marius Pontmercy, um die Hand von Mademoiselle zu bitten.«

Herr Tranchelevent verneigte sich.

»Abgemacht«, erklärte der Großvater. Dann wandte er sich zu Marius und Cosette:

»Ihr dürft euch anbeten.«

Sie ließen sich das nicht noch einmal sagen. Sofort begannen sie zu plaudern. Marius hatte sich auf seinen Ellbogen gestützt. Cosette stand.

»Mein Gott«, murmelte sie, »also sehe ich Sie wieder! Bist du es wirklich? Ja, Sie sind es. Sich auf eine solche Sache einlassen! Warum nur? Vier Monate lang war ich wie tot. Wie schlecht von Ihnen, an diesem Kampf teilzunehmen! Was habe ich Ihnen nur getan? Ich bin nicht böse, aber Sie dürfen das nicht mehr tun. Als man nach uns schickte, war ich so traurig! Und dann, in meiner Freude, hatte ich gar nicht Zeit, mich anzuziehen. Was sollen Ihre Verwandten nur von mir denken, daß ich mit einer ganz zerknitterten Halskrause hierhergelaufen komme! Aber sprechen Sie doch! Sie lassen mich ja ganz allein reden. Wir wohnen noch immer in der Rue de l’Homme Armé. Das mit Ihrer Schulter war ja schrecklich! Man hat mir erzählt, daß die Wunde groß genug war, um eine Faust hineinzustecken. Mit der Schere hat man das Fleisch herausgeschnitten. Die Augen habe ich mir ausgeweint. Ihr Großvater scheint sehr gut zu sein. Aber stützen Sie sich doch nicht so auf den Ellbogen, Sie werden sich anstrengen. Ich bin ganz dumm vor Freude. Ich wollte Ihnen eine Menge Dinge sagen, aber jetzt habe ich alles vergessen. Wir wohnen noch in der Rue de l’Homme Armé. Aber wir haben keinen Garten dort. Die ganze Zeit über habe ich Scharpie gezupft. Sehen Sie nur, meine Finger sind ganz zerschunden. Das ist Ihre Schuld.«

Die beiden fühlten sich durch die Anwesenheit der andern gestört. Sie schwiegen jetzt und begnügten sich, einander an der Hand zu halten. Gillenormand wandte sich um und rief laut:

»Sprecht doch laut, Leute, quatscht! Macht Lärm, zum Teufel!«

Tante Gillenormand betrachtete dieses Licht, das plötzlich in ihrem Hause aufgegangen war, betroffen. Sie war nicht kriegerisch gestimmt, ihre Blicke waren weder empört noch neidisch; die arme, siebenundfünfzigjährige Unschuld, dieses versäumte Leben, betrachtete erstaunt den Triumph der Liebe.

»Wie hübsch sie ist«, sagte Gillenormand. »Du hast Glück, Junge, daß ich nicht fünfzehn Jahre jünger bin, sonst könntest du ein Duell mit mir riskieren. Ich bin ganz und gar verliebt in Sie, Fräulein. Das ist nur recht so, das gebührt Ihnen. Werden wir aber eine hübsche Hochzeit bekommen! Wir gehören zur Pfarrei Saint-Denis du Saint-Sacrement, aber ich werde einen Dispens verlangen, damit ihr in Saint-Paul heiraten könnt. Saint-Paul ist hübscher. Wahrscheinlich, weil die Jesuiten es gebaut haben. Das Glanzstück jesuitischer Architektur ist allerdings in Namur, es heißt Saint-Loup. Wenn ihr verheiratet seid, müßt ihr hinfahren. Es lohnt die Reise. Ich bin durchaus auf Ihrer Seite, Fräulein, meiner Meinung nach sollen die Mädchen heiraten. Die heilige Katherine mag von mir aus zum Teufel gehen. Jungfrau bleiben mag schön sein, aber es ist ein kaltes Vergnügen. In der Liebe heißt es auch: mehret euch. Jeanne d’Arc kann das Volk retten, aber damit es erst ein Volk gibt, muß anders verfahren werden. Ich weiß wirklich nicht, wozu man Jungfrau bleiben sollte? Man bekommt zwar einen Ehrensitz in der Kirche, aber weiß Gott, ein hübscher junger Kerl und nach Jahresfrist ein blonder Junge – das ist mir lieber als eine Kerze halten und Turris Eburnea singen.«

Jetzt wandte er sich auf den Fersen um.

»Übrigens …«

»Was denn, Vater?«

»Hattest du nicht irgendeinen intimen Freund?«

»Ja, Courfeyrac.«

»Was ist denn aus ihm geworden?«

»Er ist tot.«

»Auch gut.«

Er setzte sich zwischen die beiden, hieß Cosette Platz zu nehmen und nahm ihre vier Hände in die seinen.

»Entzückend ist sie, die Kleine! Ein sehr kleines Mädchen und eine sehr große Dame. Schade, daß sie nur Baronin wird, es hätte für eine Marquise gereicht. Was sie für hübsche Wimpern hat! Die Liebe, Kinder, ist die Dummheit der Menschen und der Witz Gottes. Leider« – seine Miene verdüsterte sich –, »ach, wenn ich nur daran denke! Die Hälfte meines Vermögens besteht aus Leibrenten. Solang ich lebe … gut, aber wenn ich einmal tot bin, in zwanzig Jahren oder so, arme Kinder, dann habt ihr keinen Sou! Sie werden es nicht leicht haben, Frau Baronin.«

Jetzt sagte eine ernste, ruhige Stimme:

»Mademoiselle Euphrasie Fauchelevent besitzt sechshunderttausend Franken.«

Jean Valjean hatte bisher kein Wort gesprochen. Man hatte fast vergessen, daß er da war.

»Wer ist denn dieses Fräulein Euphrasie?« fragte der Großvater erstaunt.

»Ich«, antwortete Cosette.

»Sechshunderttausend Franken!«

»Es gehen nur vierzehn- oder fünfzehntausend Franken ab«, fügte Jean Valjean hinzu. Dann legte er das Paket, das Tante Gillenormand für ein Buch gehalten hatte, auf den Tisch. Er machte es selbst auf. Es enthielt ein Bündel Scheine. Man zählte sie und fand fünfhundert Noten zu tausend Franken und hundertachtundsechzig zu fünfhundert.

»Das nenne ich ein gescheites Buch«, erklärte Gillenormand.

»Immerhin fünfhundertvierundachtzigtausend Franken«, stammelte die Tante.

»Das heißt die Dinge auf die Beine bringen, nicht wahr, Fräulein Gillenormand«, rief der Großvater. »Hat dieser Teufelskerl, der immer den Baum der Träume schüttelt, eine kleine Millionärin gefangen! Da soll einer sich noch auf die jungen Leute verlassen! So ein Student findet eine Studentin mit sechshunderttausend Franken! Der Schutzengel macht es besser als Rothschild.«

»Fünfhundertvierundachtzigtausend Franken«, wiederholte Fräulein Gillenormand, »da kann man ja beinahe sagen: sechshunderttausend Franken!«

Marius und Cosette hatten einander inzwischen schweigend angesehen; schon achteten sie nicht mehr auf die andern.


Besser, man verbirgt sein Geld im Walde als beim Notar

Der Leser hat ohne Zweifel begriffen, daß Jean Valjean nach dem Prozeß Champmathieu nur entsprungen war, um nach Paris zu eilen und die Summe bei Lafitte abzuheben, die er unter dem Namen Madeleine in Montreuil sur Mer erworben hatte. Da er fürchtete, wieder gefangen zu werden – was ihm ja in der Tat kurz nachher widerfuhr –, hatte er das Geld im Walde von Montfermeil, auf der Lichtung Blaru, vergraben.

So war der Mann, den Boulatruelle eines Abends beobachtete, in der Tat Jean Valjean. Später pflegte er immer nach Montfermeil zu kommen, wenn er Geld brauchte. So waren die Reisen zu erklären, von denen wir bereits berichtet hatten. Als er sah, daß Marius genas, glaubte er den Augenblick nahe, da dieses Geld von Nutzen sein konnte; wieder war er von Boulatruelle bemerkt worden. Der Straßenarbeiter erbeutete die Schaufel.

Der Schatz belief sich in der Tat auf fünfhundertvierundachtzigtausend und fünfhundert Franken. Bei Lafitte hatte Jean Valjean sechshundertdreißigtausend abgehoben. Die Differenz war in den Jahren 1823 bis 1833 verbraucht worden. Die Klosterjahre hatten nur fünftausend Franken gekostet.

Übrigens wußte Jean Valjean, daß er Javert nicht mehr zu fürchten hatte. Der Moniteur hatte berichtet, daß der Polizeiinspektor Javert zwischen dem Pont-au-Change und dem Pont-Neuf ertrunken aus dem Wasser gezogen worden sei.


Glück und Erinnerung

Oft dachte Marius insgeheim über diesen Herrn Fauchelevent nach, der sich immer wohlwollend und kalt zeigte. Manchmal zweifelte er an seinen eigenen Erinnerungen. Es gab da eine Lücke, eine dunkle Stelle: vier Monate des Todeskampfes. Viel war verlorengegangen. Jetzt fragte er sich oft, ob dieser Fauchelevent, dieser ernste und ruhige Mensch, wirklich auf der Barrikade gestanden hatte.

Abgesehen von diesem Problem, gab es noch andere, die ihn nicht ruhen ließen. Gestalten tauchten auf und versanken wieder, ohne daß er recht begriff. Bald sah er Mabeuf fallen, hörte Gavroche im Kugelregen singen, fühlte Eponines kalte Stirn auf seinen Lippen; dann sah er Enjolras, Courfeyrac, Combeferre, Jean Prouvaire, Bossuet, Grantaire, alle seine Freunde; sie tauchten vor seiner Erinnerung auf und verschwanden wieder. Waren alle diese teuren, tapferen Seelen nur Ausgeburten seines Traumes? Hatten sie jemals gelebt? Der ganze Kampf auf der Barrikade versank in seinem Vergessen wie im Pulverdampf. Waren wirklich alle diese Männer gestorben? Ein einziger Sturz hatte sie fortgerissen und nur ihn verschont. Es war, als ob eine ganze Welt hinter einem Theatervorhang verschwunden wäre.

Und war auch Fauchelevent einer von ihnen? Marius zögerte, wenn er den Greis so ernst und ruhig neben Cosette sitzen sah, ihn für einen der Barrikadenkämpfer zu halten. Vielleicht hatte das Delirium ihm dieses Bild nur vorgegaukelt. Übrigens waren beide Männer von Natur aus zurückhaltend. Marius brachte keine Frage über die Lippen.

Daß zwei Menschen ein gemeinsames Geheimnis haben und vermöge einer stillschweigenden Übereinkunft kein Wort darüber verlieren, ist vielleicht weniger selten, als man glauben möchte.

Einmal nur versuchte Marius, einen Anhaltspunkt zu finden. Zufällig kam das Gespräch auf die Rue de la Chanvrerie. Er wandte sich nach Fauchelevent um und sagte:

»Kennen Sie diese Straße?«

»Welche?«

»Die Rue de la Chanvrerie.«

»Keine Ahnung«, antwortete Fauchelevent, vollkommen unbefangen.

Diese Antwort schien Marius entscheidender, als sie war.

Ich habe geträumt, dachte er. Es war eine Halluzination. Vielleicht einer, der ihm ähnlich war. Fauchelevent ist nicht dabeigewesen.


Zwei Unauffindbare

Aber so glücklich Marius auch war, einige Gedanken ließen sich nicht aus seinem Geist verdrängen. Während die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen wurden, stellte er mit größter Sorgfalt Nachforschungen an. Denn er hatte Dank abzustatten – Dank für seinen Vater und für sich.

Da war Thénardier, und da war jener Unbekannte, der ihn zu Gillenormand gebracht hatte.

Marius wollte unbedingt beide wieder ausfindig machen, denn der Gedanke war ihm schmerzlich, daß er selbst heirate und glücklich sei, seine Schulden aber unbezahlt lasse. Es war ihm unmöglich, eine Vergangenheit der Leiden hinter sich zu lassen und ohne Lösegeld in eine glückliche Zukunft einzutreten.

Daß Thénardier ein Schuft war, besagte nichts dagegen, daß er den Oberst Pontmercy gerettet hatte. Für alle Welt war er ein Bandit, für Marius nicht.

Aber es gelang keinem der Leute, die Marius beauftragt hatte, Thénardiers Spur wieder aufzufinden. Er war wie vom Erdboden verschwunden. Die Thénardier war, während der Prozeß vorbereitet wurde, im Gefängnis gestorben. So blieben nur Thénardier und seine Tochter Azelma übrig, und beide waren im Schatten untergetaucht. An der Oberfläche konnte man nicht einmal jene konzentrischen Kreise bemerken, die sonst verraten, wo etwas in den Tümpel der Ungewißheit gefallen ist.

Die Thénardier war tot, Boulatruelle hatte man entlassen, Claquesous war verschwunden. Die Hauptangeklagten waren entsprungen; so war der Prozeß wegen des Überfalls im Gorbeauschen Hause recht unergiebig geworden. Das Dunkel blieb ungelüftet. Die Assisen mußten sich begnügen, zwei Helfershelfer, Panchaud, der Bigrenaille genannt wurde, und Demi-Liard, der sich Deux-Milliards nennen ließ, zu je zehn Jahren zu verurteilen. Gegen die Entsprungenen wurde in contumaciam auf lebenslängliche Haft befunden. Thénardier als Anführer war, ebenfalls in contumaciam, zum Tode verurteilt worden. Das war das einzige, was über Thénardier zu melden war, nachdem er selbst sich dem Zugriff seiner Verfolger entzogen hatte.

Was die Nachforschungen nach dem Unbekannten betrifft, der Marius gerettet hatte, so schienen sie zuerst ergiebiger, gerieten aber bald auf einen toten Punkt. Der Droschkenkutscher wurde ausfindig gemacht, der Marius am Abend des 6. Juni in die Rue des Filles-du-Calvaire gefahren hatte. Er erklärte, daß er am 6. Juni von einem Polizeiagenten in Dienst genommen worden sei, und von drei Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts am Quai des Champs-Elysées gewartet habe, unweit des Ausgangs der Sammelkloake; gegen neun Uhr abends sei das Gitter der Kloake geöffnet worden und ein Mann sei herausgekommen, der auf seinen Schultern einen andern, der wie tot aussah, trug; dann habe der Polizeiagent den Lebenden verhaftet und den Toten in Beschlag genommen. Der Kutscher habe sie alle in seiner Droschke nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht. Hier sei der Tote herausgeschafft worden – eben derselbe Marius, den der Kutscher sofort wiedererkannte, obwohl er »diesmal« lebend war; dann seien die beiden anderen wieder in den Wagen gestiegen und in aller Hast zur Porte des Archives gefahren. Da habe man ihn halten lassen, habe ihn bezahlt, und der Polizist sei mit dem andern verschwunden. Mehr wisse er, der Kutscher, nicht, zumal jene Nacht sehr finster war.

So mußte Marius sich auf vage Vermutungen beschränken.

An seiner eigenen Identität konnte er wohl nicht zweifeln. Wie aber war es möglich, daß er in der Rue de la Chanvrerie gefallen und am Seineufer von einem Polizisten aufgefunden worden war? Also hatte ihn jemand von der Markthalle bis zu den Champs-Elysées geschleppt. Und wie? Durch die Kloaken.

Wer hatte das getan?

Nicht die leiseste Spur seines Retters war aufzufinden.

Marius ging sogar so weit, die nötige Vorsicht außer acht zu lassen und die Präfektur an seinen Nachforschungen zu interessieren. Aber auch von dieser Seite kam keine Aufklärung. Die Polizei wußte weniger als jener Kutscher. Über eine Verhaftung, die am 6. Juni vor dem Ausgang der Sammelkloake stattgefunden haben sollte, war nichts bekannt. Es lag darüber kein Bericht eines Agenten vor, und daher wurde der Vorfall in das Reich der Fabeln verwiesen. Ein Kutscher, der es auf ein Trinkgeld abgesehen hatte, war, meinten die Polizisten, sogar der Phantasie fähig.

Alles an diesem seltsamen Rätsel war unerklärlich.

Viertes Buch
Die Nacht des 16. Februar 1833

Vorher

Die Nacht vom 16. zum 17. Februar 1833 war eine gesegnete. Über ihrem Dunkel stand der Himmel offen. Denn diese Nacht war die Hochzeitsnacht Marius’ und Cosettes.

Am Abend zuvor übergab Jean Valjean Marius in Gegenwart Herrn Gillenormands die fünfhundertvierundachtzigtausend Franken. Da Gütergemeinschaft verabredet worden war, ergaben sich keine schwierigen Formalitäten. Jean Valjean bedurfte in Zukunft der Dienste Toussaints nicht mehr. Cosette hatte sie geerbt und zur Kammerfrau ernannt.

Auch für Jean Valjean wurde im Hause Gillenormands ein schönes Zimmer bereitgestellt, und Cosette hatte ihn gebeten: »Vater, ich bitte dich darum«, so daß er endlich darein gewilligt hatte, bei ihr zu wohnen.

Einige Tage vor der Hochzeit hatte Jean Valjean einen Unfall; dabei verletzte er sich am Daumen der rechten Hand. Die Sache war nicht bedenklich, er hatte nicht erlaubt, daß irgend jemand sich damit beschäftige, nicht einmal Cosette. Doch hatte er die Hand mit Leinen umwickeln müssen und trug den Arm in der Binde, was ihn hinderte zu schreiben. So war Gillenormand gezwungen, an Valjeans Stelle als Vormund Cosettes aufzutreten.

Cosette sah auf dem Standesamt und in der Kirche strahlend und rührend zugleich aus. Toussaint hatte sie mit Hilfe Nicolettes angezogen.

Sie trug ein weißes Taftunterkleid, darüber eine Robe aus Chiffon, ein Perlenkollier und einen Brautkranz aus Orangenblüten. Die weiße Farbe ließ sie wie eine Lichtgestalt erscheinen.

Der Großvater, der stolz und hocherhobenen Hauptes einherschritt und in seiner Kleidung und seinem Gehaben die ganze Eleganz vergangener Zeiten repräsentierte, war Brautführer. Er vertrat Jean Valjean, der wegen seines verbundenen Armes Cosette nicht den Arm bieten konnte.

Jean Valjean, ganz in Schwarz gekleidet, folgte den beiden lächelnd.

Die beiden jungen Leute strahlten. Jetzt erlebten sie diesen einmaligen, niemals wiederkehrenden Augenblick, den Kreuzungspunkt der Jugend und der Freude. Sie waren zusammen kaum vierzig Jahre alt. In ihrer Heirat war etwas Erhabenes: diese beiden jungen Menschen waren Lilien. Sie sahen einander nicht, sie staunten einander an. Cosette sah Marius in einem Glorienschein, und für Marius stand Cosette auf einem Altar. Und auf dem Grund dieser beiden Apotheosen wartete, dunkel und ungewiß in Cosette, glühend in Marius, die Sehnsucht nach dem Brautgemach.

Solche Tage sind eine unbeschreibliche Mischung aus Gewißheit und Träumerei. Man besitzt bereits und ist doch noch in Erwartung. Noch hat man Zeit vor sich, um das letzte zu erraten. Man genießt den Mittag und träumt zugleich von der Mitternacht. Das Entzücken dieser beiden Herzen strömte über auf die Menge und stimmte die Vorüberkommenden glücklicher.

In der Rue Saint-Antoine blieben die Leute vor Saint-Paul stehen, um durch die Glastür des Wagens die Orangenblüten auf Cosettes Kopf zittern zu sehen.

Dann kehrte die Gesellschaft nach der Rue des Filles-du-Calvaire zurück. Strahlend und beglückt stieg Marius an der Seite Cosettes die Treppe hinan, die man ihn einst als Sterbenden hinaufgetragen hatte. Die Armen, die sich vor dem Tore drängten und Almosen empfingen, segneten das Paar. Überall waren Blumen. Das Haus duftete nicht weniger als die Kirche; nach dem Weihrauch traten die Rosen in ihr Recht.

Plötzlich schlug die Uhr. Marius blickte auf Cosettes reizenden, entblößten Arm, und sein Blick streifte die Brüste, die durch die Spitzen des Mieders rosig schimmerten; Cosette gewahrte Marius’ Blick und errötete bis zum Weiß der Augen.

Eine Menge alter Freunde der Familie Gillenormand war eingeladen worden. Man umdrängte Cosette, beeilte sich, sie als Baronin zu begrüßen.

Théodule Gillenormand, der inzwischen zum Hauptmann avanciert war, kam aus Chartres, wo er in Garnison stand, um der Hochzeit seines Vetters Pontmercy beizuwohnen. Cosette erkannte ihn nicht. Und er, von jeher gewöhnt, daß alle Frauen ihn sehr hübsch fänden, erinnerte sich Cosettes nicht mehr als einer anderen.

Wie recht ich doch hatte, nicht auf das Geschwätz dieses Kavalleristen zu hören, dachte Vater Gillenormand.

Cosette war nie zärtlicher zu Jean Valjean gewesen als an diesem Tage. Das Glück will, daß alle Welt glücklich sei. Wenn sie mit ihm sprach, fand sie den Tonfall wieder, in dem sie als kleines Kind geredet hatte. Sie streichelte ihn mit einem Lächeln.

Jean Valjean hatte sich im Salon auf einen Stuhl hinter der Tür gesetzt, so daß er für die im Speisesaal versammelte Gesellschaft kaum zu sehen war. Kurz bevor man sich zu Tisch setzte, kam Cosette in einer plötzlichen Regung zu ihm, um ihn mit einer tiefen Verneigung zu begrüßen.

»Bist du zufrieden, Vater?«

»Ja, ich bin zufrieden.«

»Gut, dann sollst du aber lachen!«

Und Jean Valjean lachte.

Einen Augenblick später kündete Baske an, daß serviert sei. Die Gäste nahmen nach der Tischordnung an der Tafel Platz. Zur Rechten und Linken der Braut standen zwei große Lehnstühle, einer für Gillenormand, der andere für Jean Valjean. Gillenormand setzte sich; aber der andere Stuhl blieb leer.

Alle sahen sich nach Herrn Fauchelevent um.

Er war nicht da.

Gillenormand rief Baske.

»Weißt du, wo Herr Fauchelevent ist?«

»Ach, gnädiger Herr, eben hat mir Herr Fauchelevent aufgetragen, Ihnen zu bestellen, daß seine Hand ihn schmerzt und daß er nicht mit dem Herrn Baron und der Frau Baronin speisen kann. Er bittet, ihn zu entschuldigen, er wird morgen früh vorsprechen.«

Der leere Lehnstuhl wirkte einen Augenblick lang bedrückend. Aber wenn auch Fauchelevent fehlte, Gillenormand war ja da, und er strahlte für zwei. Herr Fauchelevent habe nur recht getan, versicherte er, sich sofort zu Bett zu begeben, wenn seine Hand schmerze; übrigens liege kein Anlaß vor, sich zu beunruhigen, das Ganze sei nur ein harmloses Wehweh.

Cosette und Marius befanden sich in einem so egoistischen Glückszustand, daß sie Mißbehagen gar nicht empfinden konnten. Übrigens hatte Herr Gillenormand einen erlösenden Gedanken.

»Großer Gott!« rief er, »der Lehnstuhl ist leer. Komm her, Marius, deine Tante wird es, obgleich sie ein Recht auf dich hat, schon erlauben. Dieser Stuhl gehört dir. Fortunatus neben der Fortunata!«

Alle spendeten Beifall, und Marius nahm neben Cosette Platz. So kam es, daß Cosette, die zuerst Jean Valjeans Abwesenheit beklagt hatte, schließlich mit ihr recht zufrieden war. Sanft setzte sie ihren zarten, weißbeschuhten Fuß auf den Marius’.


Der Koffer, von dem Jean Valjean sich nie trennte

Was war aus Jean Valjean geworden?

Sofort nachdem er auf Cosettes zärtlich geäußerten Wunsch gelacht hatte, war er aufgestanden und unbemerkt ins Vorzimmer hinausgeschlichen. Er traf dort Baske, erteilte ihm den Auftrag, seinen Weggang zu entschuldigen, und ging.

Die Fenster des Speisesaals gingen nach der Straße hinaus. Jean Valjean blieb einige Minuten reglos stehen und lauschte. Gedämpft kam das Geräusch des Festes bis zu ihm. Er hörte die laute, herrische Stimme des Großvaters, Geigenspiel, Klirren von Tellern und Gläsern, fröhliches Gelächter und deutlich unter all den anderen Stimmen die Cosettes.

Da verließ er die Rue des Filles-du-Calvaire und ging in die Rue de l’Homme Armé.

Er kam nach Hause, zündete seine Kerze an und stieg hinauf. Die Wohnung lag verlassen da, denn auch Toussaint war fort. Jean Valjeans Schritte hallten lauter wider als sonst. Die Türen aller Schränke standen offen. Er ging in Cosettes Zimmer. Die Laken waren von dem Bett genommen. Das Kissen, seines Bezugs und seiner Spitzen beraubt, lag auf den zusammengelegten Schlafdecken am Fußende der Matratzen. Alle diese kleinen Gegenstände, an die Frauen ihr Herz hängen, hatte Cosette mitgenommen; so blieben nur die schweren Möbel und die vier Wände zurück. Auch Cosettes Bett war verlassen. Nur eines schien auf einen Schläfer zu warten – das seine.

Jean Valjean betrachtete die Wände, schloß die Türen der Schränke und ging von Zimmer zu Zimmer. Schließlich kehrte er in das seine zurück und stellte die Kerze auf den Tisch. Er nahm die Binde ab und bediente sich jetzt seiner rechten Hand, als ob sie unverletzt wäre.

Er trat an sein Bett, und seine Augen blieben, zufällig oder beabsichtigt, an dem Koffer hängen, von dem er sich nie hatte trennen wollen und von dem Cosette sagte, sie sei eifersüchtig auf ihn. Jean Valjean hatte ihn am 4. Juli auf ein Tischchen neben sein Bett gestellt. Jetzt trat er näher, zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte den Koffer auf.

Langsam nahm er daraus die Kleider, in denen Cosette vor zehn Jahren Montfermeil verlassen hatte: das schwarze Kleid, ein Umschlagetuch, plumpe, kleine Kinderschühchen, die Cosette vielleicht jetzt noch gepaßt hätten, ein warmes Jäckchen, einen Trikotunterrock, eine Schürze mit Taschen und Wollstrümpfe. Alle diese Dinge waren schwarz. Er hatte sie nach Montfermeil gebracht. In der Reihenfolge, wie er sie aus dem Koffer nahm, legte er sie auf das Bett. Er sann.

Es war Winter, ein kalter Dezember, da hatte er sie getroffen, halbnackt, in Lumpen gehüllt, rotgefrorene Füßchen in groben Holzschuhen. Er, Jean Valjean, hatte sie von diesen Lumpen befreit und sie in Trauerkleider gesteckt. Er dachte an den Wald von Montfermeil. Sie hatten ihn zusammen durchschritten, Cosette und er; die Bäume waren kahl gewesen, kein Vogel hatte den Himmel, den kein Sonnenstrahl erhellte, belebt: und doch war es schön gewesen. Er ordnete die Kleinigkeiten, die ihm lieb geworden waren, auf dem Bett, legte das Tuch zu dem Unterrock, die Strümpfe neben die Schuhe, das Kleidchen neben den Rock. Sie war damals noch sehr klein gewesen, hatte mit Mühe die große Puppe getragen; in der Tasche hatte sie ihren Louisdor gehabt, hatte gelacht; so waren sie Hand in Hand weitergegangen. Niemand hatte sie besessen als ihn.

Und jetzt beugte sich dieser weiße, ehrwürdige Kopf auf das Bett herab, dies alte, stoische Herz drohte zu zerbrechen, sein Gesicht vergrub sich in Cosettes Kleidern, und wenn in diesem Augenblick jemand die Treppe heraufgekommen wäre, hätte er den Greis furchtbar schluchzen gehört.


Der letzte Tropfen des Kelches

Der Tag nach der Hochzeit ist ruhig. Man läßt die Glücklichen allein. Man schont ihren langen Schlaf. Der Trubel der Glückwünsche und Besuche setzt erst später ein.

Am 17. Februar war es schon über Mittag, als Baske, Staubtuch und Staubwedel unter dem Arm, das Vorzimmer aufräumte. Plötzlich hörte er, wie an die Türe geklopft wurde. Der Fremde hatte nicht geläutet, wie es sich an einem solchen Tage geziemte. Baske öffnete und sah Fauchelevent. Er führte ihn in den Salon, in dem noch alles drunter und drüber war und der noch einem Schlachtfelde glich.

»Ach, Herr«, sagte er, »wir sind spät aufgestanden.«

»Ist Ihr Herr schon auf?« fragte Jean Valjean.

»Welcher? Der alte oder der neue?«

»Herr Pontmercy.«

»Ach, der Herr Baron?«

Baron ist man hauptsächlich für die Dienstboten. Auf sie fällt immer etwas von dem Glanz ab. Marius, der ja ein kriegerischer Republikaner war, der noch dazu seine Gesinnung erprobt hatte, war Baron wider Willen. Sein Titel hatte in der Familie eine kleine Revolution veranlaßt. Jetzt war es Gillenormand, der ihn in den Vordergrund schob, während Marius ihn zurückstellte. Aber der Oberst Pontmercy hatte geschrieben:

»Mein Sohn wird meinen Titel tragen.«

Marius gehorchte, und Cosette, in der sich die Frauenart fühlbar machte, war entzückt, Frau Baronin zu sein.

»Der Herr Baron?« wiederholte Baske, »ich werde nachsehen. Ich will ihm sagen, daß Herr Fauchelevent hier ist.«

»Nein. Sagen Sie ihm das nicht. Bestellen Sie ihm nur, daß jemand da ist, der ihn allein zu sprechen wünscht. Nennen Sie keinen Namen.«

Jean Valjean blieb allein.

Der Salon war, wie wir bereits berichteten, in vollkommener Unordnung. Auf dem Parkett lagen allerlei Blumen, die aus Girlanden und Frisuren herabgefallen waren. Die Kerzen, bis auf den Stumpf niedergebrannt, bildeten auf den kristallenen Leuchtern Stalaktiten aus Wachs. Kein Möbel stand an seinem Platz. In den Ecken waren Lehnstühle zusammengerückt und schienen ein Gespräch fortzusetzen.

So vergingen einige Minuten. Jean Valjean stand noch immer unbeweglich an dem Platze, an dem Baske ihn verlassen hatte. Er war sehr blaß. Seine Augen glühten und lagen infolge der Schlaflosigkeit in tiefen Höhlen. Der schwarze Rock war so zerdrückt, daß man auf den ersten Blick erkannte, er sei in dieser Nacht nicht abgelegt worden.

Jetzt kam von der Türe das Geräusch von Schritten näher, Jean Valjean blickte auf.

Lachend und erhobenen Hauptes trat Marius ein. Auch er hatte nicht geschlafen.

»Ach, Sie sind es, Vater!« rief er, als er Valjean erkannte. »Dieser Schafskopf, Baske, tat geheimnisvoll. Aber Sie kommen zu früh. Es ist erst halb eins, Cosette schläft noch.«

Daß Marius zu Fauchelevent Vater gesagt hatte, bewies, wie glücklich er war. Bis jetzt hatte zwischen den beiden immer Kälte und Scheu gestanden, das Eis zwischen ihnen war nicht zu brechen noch zu schmelzen gewesen. In seinem Glückszustand hatte Marius alles vergessen, Fauchelevent war für ihn, was er für Cosette war, der Vater.

In einem Paroxysmus der Freude sprach er weiter:

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen! Sie haben uns gestern gefehlt. Wie geht es Ihrer Hand? Besser doch?«

Zufrieden mit der bestätigenden Antwort, begann er weiterzuplaudern:

»Wir haben viel von Ihnen gesprochen, wir beide. Cosette liebt sie so sehr. Sie dürfen nie vergessen, daß Ihr Heim hier ist. Von der Rue de l’Homme Armé wollen wir nichts mehr wissen. Um keinen Preis der Welt! Wie können Sie nur in einer Straße wohnen, die mürrisch, verärgert und kalt ist und in die nicht einmal ein Wagen einfahren kann? Kommen Sie nur hierher, gleich heute! Wir sind fest entschlossen, ein glückliches Leben miteinander zu führen. Mein Großvater hat Gefallen an Ihnen gefunden. Spielen Sie Whist? Wenn Sie Whist spielen, werden Sie ihm ganz unentbehrlich sein. Wenn ich bei Gericht zu tun habe, werden Sie Cosette spazierenführen, wie damals im Luxembourg. Erinnern Sie sich noch? Sie frühstücken doch mit uns?«

»Mein Herr«, sagte Jean Valjean, »ich muß Ihnen etwas sagen. Ich bin ein Galeerensträfling.«

Es gibt Töne, die so hoch sind, daß unser Ohr sie nicht mehr erfassen kann. Und ähnlich geht es mit gewissen Gedanken – sie berühren zunächst das Gehirn dessen, dem sie mitgeteilt werden, nicht. Die Worte »ich bin ein Galeerensträfling« erreichten wohl das Ohr Marius’, aber er verstand nicht. Er begriff, daß man ihm da etwas gesagt habe, aber wußte nicht, was es war.

Jetzt erst merkte er, daß der Mann, der ihm gegenüberstand, in furchtbarer Verfassung war. Sein eigenes Glück hatte Marius gehindert, die Blässe des andern zu bemerken.

Jean Valjean nahm das schwarze Tuch ab, in das sein Arm gehüllt war, wickelte die Hand aus dem Leinen und zeigte den entblößten Daumen Marius.

»Ich habe nichts an der Hand«, sagte er.

Marius sah den Daumen an.

»Ich habe auch nichts daran gehabt«, fuhr Jean Valjean fort. »Aber ich mußte bei Ihrer Hochzeit fernbleiben. So gut ich es konnte, habe ich es auch getan. Ich habe diese Verletzung vorgeschützt, um nicht eine Fälschung zu begehen, denn sonst könnte Ihr Heiratskontrakt ungültig erklärt werden.«

Marius stammelte:

»Was soll das bedeuten?«

»Das soll bedeuten, daß ich auf den Galeeren war.«

»Aber mir ist, als ob ich verrückt werden sollte!«

»Herr Pontmercy, ich war neunzehn Jahre auf den Galeeren. Wegen Diebstahls. Dann wurde ich zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Wieder wegen Diebstahls. Als Rückfälliger. Augenblicklich bin ich ein Bannbrüchiger.«

Marius mochte noch so sehr vor der Wirklichkeit zurückschrecken, schließlich mußte er sich ergeben. Er begann zu begreifen, und wie es in solchen Situationen zu geschehen pflegt, er begriff zuviel. Ein schreckliches Licht ging ihm auf, er glaubte jetzt, daß auch ihm Furchtbares bevorstehe.

»Sagen Sie alles!« rief er. »Sie sind Cosettes Vater!«

Und mit einer Bewegung höchsten Abscheus trat er einige Schritte zurück.

Jean Valjean richtete sich so majestätisch auf, daß er über sein eigenes Maß hinauszuwachsen schien.

»Sie müssen mir wohl glauben, mein Herr; obwohl unser Eid vor dem Gericht nicht gilt …«

Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er mit höchster Festigkeit fort, indem er jede Silbe hervorhob:

»Sie glauben mir. Ich, der Vater Cosettes? Nein, vor Gott nicht. Ich bin ein Bauer aus Faverolles. Als Baumscherer verdiente ich mein Brot. Ich heiße nicht Fauchelevent, sondern Jean Valjean. Mit Cosette bin ich nicht verwandt. Beruhigen Sie sich. Ich hin einer, der vorübergeht. Vor zehn Jahren wußte ich noch gar nicht, daß es Cosette gab. Ich liebe sie, das ist wahr. Wenn man ein Kind aufwachsen gesehen hat, liebt man es, zumal, wenn man selbst schon alt ist. Ein Greis ist für alle kleinen Kinder ein wenig Großvater. Sie können, glaube ich, voraussetzen, daß ich etwas wie ein Herz besitze. Sie war eine Waise. Weder Vater noch Mutter. Sie brauchte mich. Darum begann ich sie zu lieben. Kinder sind ja so schwach, daß der erstbeste, sogar einer wie ich, ihr Beschützer werden kann. Diese Pflicht habe ich gegen Cosette erfüllt. Ich bilde mir nicht ein, daß man eine solche Kleinigkeit eine edle Tat nennen kann, aber wenn es eine ist, so bedenken Sie, daß ich sie vollbracht habe. Stellen Sie diesen mildernden Umstand in Rechnung. Heute scheidet Cosette aus meinem Leben aus, unsere Wege trennen sich. In Zukunft bin ich niemand für sie. Cosette ist die Baronin Pontmercy. Eine andere Vorsehung wacht über sie. Sie hat gewonnen bei diesem Tausch. Alles ist gut. Was die sechshunderttausend Franken betrifft, so sprechen Sie mir nicht davon, man hat sie mir zur Aufbewahrung gegeben. Wie konnte man es mir anvertrauen? Nun, ich erstatte es ja zurück. Niemand darf mehr von mir verlangen. Ja, ich sage Ihnen sogar meinen wahren Namen. Ich lege Wert darauf, daß Sie wissen, wer ich bin.«

Jean Valjean sah Marius in die Augen.

Noch waren die Gedanken des jungen Mannes wirr und unzusammenhängend. Er war so fassungslos, daß er, fast als ob diese Mitteilung ihm ärgerlich sei, fragte:

»Aber warum sagen Sie mir das nur? Wer zwingt Sie dazu? Sie konnten Ihr Geheimnis doch für sich behalten. Niemand hat Sie denunziert, niemand verfolgt Sie. Sie haben einen Grund, mir freiwillig solche Mitteilung zu machen. Sprechen Sie weiter! Noch haben Sie nicht alles gesagt. Was bezwecken Sie mit Ihrem Geständnis?«

»Was ich bezwecke? Nun, was kann ein Mensch damit bezwecken, daß er sagt: ich bin ein Galeerensträfling? Ja, meine Veranlassung ist vielleicht seltsam. Ich tue es aus Gewissenhaftigkeit. Begreifen Sie, es gibt unglücklicherweise ein Band, das mein Herz fesselt. Zumal wenn man alt ist, sind solche Fesseln zäh. Alles ringsum löst sich auf – sie bleiben bestehen. Hätte ich dieses Band zerreißen können, fortgehen, weit von hier, ich hätte es gewiß getan. In der Rue du Bouloy warten die Postkutschen! Sie sind glücklich – ich gehe. Ich habe es versucht, dieses Band zu zerreißen, ich habe daran gezerrt, aber es hielt gut, ich habe mir selbst das Herz herausgerissen. So habe ich begriffen, daß ich nicht anderswo als hier leben kann. Ich muß bleiben. Natürlich haben Sie recht, es war dumm von mir, ich konnte ja ganz einfach bleiben. Sie bieten mir ein Zimmer in Ihrem Hause, die Baronin Pontmercy liebt mich, hält einen bequemen Lehnstuhl für mich bereit; Ihr Großvater wünscht nichts anderes, als mich hier zu haben. Ich gefalle ihm. Wir leben alle zusammen, essen an einem Tisch, ich reiche Cosette … Verzeihung, der Baronin Pontmercy den Arm. Es ist die Freude, das Glück, alles. Wir leben als eine Familie!« «

Bei diesem Wort regte sich in Jean Valjean Zorn. Er verschränkte die Arme, starrte den Fußboden an, als ob er ein Loch in die Erde bohren wollte, und sprach laut:

»Eine Familie? Nein. Ich gehöre zu keiner Familie, nicht zu der Ihren und nicht zu der der Menschen schlechthin. Ich bin in allen Häusern, wo Menschen untereinander sind, überzählig. Ich bin ein Unglücklicher, der außen steht. Habe ich Vater und Mutter gehabt? Fast bezweifle ich es. An dem Tag, da ich dieses Kind verheiratete, war alles vorbei; ich sah sie glücklich, sie hatte den Mann gewonnen, den sie liebt, alle Freuden einer Familie – da sagte ich mir: dringe nicht ein! Ich konnte lügen, gewiß, Sie alle täuschen, Fauchelevent bleiben. Solange es für das Kind war, konnte ich es. Aber jetzt, da es um meinetwillen geschehen soll, kann ich es nicht mehr tun. Ich brauchte ja nur zu schweigen, gewiß, und alles wäre weitergegangen. Sie fragen, was mich zu sprechen zwingt: ein komisches Ding, mein Gewissen. Es wäre ja leicht gewesen, zu schweigen. Eine Nacht lang habe ich versucht, mich zu diesem Entschluß durchzuringen. Ich habe alle Gründe, sehr gute Gründe, die sich dafür anführen lassen, erwogen, und doch – ich habe getan, was ich konnte. Nur zwei Dinge gelangen mir nicht: ich konnte weder jenes Band zerreißen, das mein Herz umschlungen hält, noch konnte ich jenen Berater zum Schweigen bringen, der da zu mir spricht, wenn ich allein bin. Darum bin ich hierhergekommen, um Ihnen heute morgen alles zu sagen – alles oder fast alles. Dinge, die nur mich betreffen, behalte ich für mich. Das Wichtigste wissen Sie jetzt. Ich habe mein Geheimnis hierhergetragen und vor Ihnen entblößt. Oh, es wäre wohl äußerlich alles gut gewesen, wenn ich Fauchelevent geblieben wäre. Aber dieses scheinbare Glück genügt nicht. Der Mensch muß mit sich selbst zufrieden sein. Sollte ich, ohne Sie zu warnen, Sie in Beziehungen zum Bagno bringen? Sollte ich mich an Ihren Tisch setzen, mit dem Gedanken, daß Sie mich fortjagen würden, wenn Sie wüßten, wer ich bin? Soll ich mich von Ihren Bedienten betreuen lassen, die mir verächtlich den Rücken kehren würden, wenn sie mein Geheimnis erführen? Sollte ich mir einen Druck Ihrer Hand stehlen? Sooft in diesem Hause vier Leute einig und glücklich beisammengesessen wären, Ihr Großvater, Sie beide und ich, immer wäre einer unter uns ein Unbekannter gewesen. Oh, es gibt Fälle, in denen Schweigen Lügen bedeutet. Und diese Lüge, diesen Diebstahl, diesen elenden Verrat hätte ich Tropfen für Tropfen täglich ausspeien und wieder aufsaugen sollen! Damit hätte ich schlafen sollen! Cosette zulächeln, mein Brot essen? Solcher Betrug, um glücklich zu sein?«

In einem Ton, der sich nicht beschreiben läßt, fuhr er fort:

»Herr Pontmercy, ich bin ein Ehrenmann, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Im Ausmaß, in dem ich mich vor Ihnen erniedrige, steige ich in meiner eigenen Achtung. Ich wäre kein Ehrenmann, wenn Sie mich achten würden, weil ich den Betrug fortsetze; jetzt aber, da Sie mich verachten, bin ich es. Mein Geschick will, daß ich nur erschlichene Wertschätzung genießen kann, die mich demütigt und kränkt; damit ich mich achten kann, müssen die andern schlecht von mir denken. Dann bin ich stolz. Ich bin ein Galeerensträfling, der seinem Gewissen folgt. Ich weiß wohl, daß das unglaublich klingt. Aber was soll ich tun? Es ist doch so. Ich habe gewisse Verpflichtungen mir selbst gegenüber auf mich genommen, und die halte ich. Es gibt im Leben Begegnungen, die uns Verpflichtungen auferlegen, Zufälle, die uns binden. Mir ist viel geschehen in meinem Leben, Herr Pontmercy!«

Wieder machte Jean Valjean eine Pause. Er würgte, als ob seine Worte einen bitteren Nachgeschmack hätten.

»Früher habe ich, um zu leben, Brot gestohlen; heute will ich nicht zu demselben Zweck einen Namen stehlen.«

Wieder trat eine Pause ein. Beide schwiegen, jeder von seinen Gedanken in Anspruch genommen. Marius saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Jean Valjean ging auf und ab.

»Stellen Sie sich doch vor, was geschehen wäre, mein Herr. Gut, ich sage also nichts und bleibe Herr Fauchelevent. Ich nehme meinen Platz in Ihrem Hause ein, bin einer der Ihren, komme morgens in Pantoffeln zum Frühstück, abends gehen wir zu dritt ins Theater, ich begleite Madame Pontmercy in die Tuilerien oder zur Place Royal; immer sind wir beisammen. Eines Tages sitzen wir da, Sie, ich, wir plaudern, lachen, plötzlich hören Sie den Namen Jean Valjean rufen, sehen, wie eine Hand, die Hand der Polizei, mir die Maske vom Gesicht reißt.«

Marius war entsetzt aufgesprungen.

»Nun, was sagen Sie dazu?«

Das Schweigen Marius’ war eine Antwort.

»Sie sehen«, fuhr Jean Valjean fort, »daß ich recht hatte, nicht zu schweigen. Seien Sie glücklich, seien Sie der Engel eines Engels, machen Sie sich keine Sorge darum, wie ein armer Verdammter sein Herz zerfleischt und doch seine Pflicht tut.«

Marius trat zu Jean Valjean und reichte ihm die Hand. Jean Valjean reichte sie ihm nicht, Marius mußte sie selbst ergreifen. Sie war kalt wie Marmor.

»Mein Großvater hat Freunde«, sagte Marius, »wir werden Ihre Begnadigung erwirken.«

»Das ist unnötig. Man glaubt mich tot, und das genügt. Die Toten werden nicht verfolgt. Der Tod ist ebensogut wie eine Begnadigung. Und überdies ist die Pflicht der einzige Freund, dessen Hilfe ich in Anspruch nehme; ich brauche keine andere Gnade als die meines Gewissens.«

In diesem Augenblick wurde sanft die Tür geöffnet, und Cosettes Kopf tauchte in dem Spalt auf. Man sah nur ihr liebenswürdiges Gesicht und das Haar, das noch ungeordnet, aber um so reizender war; sie sah erst Jean Valjean, dann Marius an und rief lächelnd:

»Wetten, daß ihr von Politik sprecht! Wie dumm von euch! Statt zu mir zu kommen …«

Jean Valjean fuhr zusammen.

»Cosette«, stammelte Marius, konnte aber nicht weitersprechen. Die beiden Männer sahen wie ertappte Verbrecher aus.

»Jetzt habe ich euch in flagranti erwischt«, sagte Cosette. »Gerade habe ich noch gehört, wie Papa sagte: Gewissen … Pflicht … das ist alles nur Politik! Ich will das nicht. Schon am ersten Tag nach der Hochzeit von Politik sprechen, das geht wirklich nicht. Das ist nicht recht.«

»Du irrst, Cosette«, erwiderte Marius, »wir sprachen von Geschäften. Es handelt sich um die Frage, wie wir die sechshunderttausend Franken anlegen sollen.«

»Das ist alles Unsinn. Ich bin da. Werde ich hier gebraucht?«

Jetzt öffnete sie kurz entschlossen die Tür und trat in den Salon. Sie trug ein langes, weißes Peignoir mit weiten Ärmeln, die fast bis zu den Füßen herabfielen. Auf alten gotischen Bildern sieht man diese entzückenden Gewänder, von Engeln getragen.

Sie betrachtete sich von Kopf bis zu Fuß in einem großen Spiegel, dann rief sie fröhlich:

»So, nun bleibe ich bei euch. In einer halben Stunde wird gefrühstückt, da könnt ihr euch nach Lust unterhalten. Ich werde euch ganz vernünftig zuhören.«

Marius ergriff ihren Arm und sagte zärtlich:

»Wir sprechen von Geschäften. Nur Ziffern – es wird dich langweilen.«

»Du hast heute ein hübsches Halstuch umgenommen, Marius. Sie sind recht kokett, edler Herr. Nein, ich werde mich nicht langweilen.«

»Doch, gewiß!«

»Nein, denn es handelt sich ja um euch. Wenn ich es auch nicht verstehe, ich werde doch zuhören. Wenn man die Stimmen hört, die man liebt, braucht man ja nicht zu wissen, was gesprochen wird. Darum bleibe ich bei euch.«

»Es ist unmöglich, liebe Cosette.«

»Unmöglich?«

»Ja.«

»Schön«, sagte Cosette, »und ich wollte euch so viele Neuigkeiten erzählen. Ich hätte euch gesagt, daß Großvater noch schläft, daß die Tante zur Messe gegangen ist, daß der Kamin in Vaters Zimmer raucht, daß Nicolette den Schornsteinfeger geholt hat, daß Toussaint und Nicolette sich schon gezankt haben und daß Nicolette sich über Toussaint lustig macht, weil sie stottert. So, jetzt erzähle ich euch gar nichts. Ach, unmöglich? Nun, jetzt werde ich einmal sagen: unmöglich! Ich bitte, mein kleiner Marius, laß mich doch bei euch!«

»Ich schwöre dir, wir müssen allein sein.«

»So, jetzt reden Sie mit der Männerstimme, Herr. Gut, ich kann ja gehen. Und Sie, Vater, haben mir auch nicht geholfen. Ihr seid beide Tyrannen. Ich werde es dem Großvater sagen. Wenn ihr glaubt, ich komme wieder und erzähle euch Geschichten, so irrt ihr euch. Ich bin stolz.«

Und sie ging.

Die Tür fiel ins Schloß, und es war, als ob es in dem Zimmer wieder dunkel würde.

Marius überzeugte sich, daß die Tür wirklich geschlossen war.

»Arme Cosette«, murmelte er, »wenn sie erfahren wird …«

Jetzt begann Jean Valjean an allen Gliedern zu zittern. Ein entsetzter Blick fiel auf Marius.

»Oh, Sie wollen es Cosette sagen! Ach, daran hatte ich nicht gedacht. Man ist stark genug, das eine zu ertragen, aber dann versagt die Kraft. Herr, ich bitte und beschwöre Sie, geben Sie mir Ihr heiligstes Ehrenwort, daß Sie nichts sagen werden. Genügt es denn nicht, daß Sie es wissen? Ich konnte es von selbst sagen, ohne gezwungen zu werden, der ganzen Welt hätte ich es sagen können, nur ihr nicht. Wie soll man ihr begreiflich machen, was ein Galeerensträfling ist? Großer Gott!«

Er sank in den Stuhl und verbarg sein Gesicht in den Händen. Man hörte nichts, aber an dem Zucken seiner Schultern konnte man erkennen, daß er weinte. Stille Tränen – furchtbare Tränen.

»Seien Sie ruhig«, sagte Marius, »ich werde Ihr Geheimnis für mich behalten.«

Er war vielleicht nicht so mitleidvoll, wie er hätte sein sollen; aber seit allzu kurzer Zeit mußte er sich mit einer schrecklichen und unerwarteten Wirklichkeit auseinandersetzen, mußte begreifen, daß er nicht Fauchelevent, sondern einen Galeerensträfling vor sich hatte.

»Ich muß Ihnen auch einige Worte wegen des Geldes sagen, das Ihnen zur Aufbewahrung gegeben wurde und das Sie so treu verwahrt haben. Das ist ein Beweis von hoher Ehrlichkeit. Sie müssen belohnt werden. Bestimmen Sie selbst den Betrag – scheuen Sie sich nicht, ihn hoch zu bemessen.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr«, antwortete Jean Valjean sanft.

Einen Augenblick lang blieb er in Nachdenken versunken, dann meinte er:

»Jetzt ist alles so ziemlich erledigt. So hätte ich nur noch …«

»Was?«

Jean Valjean zögerte, dann stammelte er mit erstickter Stimme:

»Glauben Sie jetzt, da Sie alles wissen und allein zu bestimmen haben, daß ich Cosette nicht wiedersehen soll?«

»Ich denke, es wäre wohl das beste«, antwortete Marius kalt.

»Ich werde sie nicht mehr sehen«, murmelte Jean Valjean. Er ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, schon ging die Tür auf. Aber noch immer stand er still. Jetzt wandte er sich nach Marius um. Er war totenblaß. Jetzt hatte er keine Tränen mehr in den Augen, aber ein seltsam unseliges Feuer leuchtete aus ihnen. Seine Stimme war eigentümlich ruhig.

»Wissen Sie, mein Herr«, sagte er, »wenn es Ihnen recht ist, werde ich doch kommen, Cosette besuchen. Ich sehne mich sehr danach, das können Sie mir glauben. Wenn ich nicht an ihr hinge, wäre ich abgereist, ohne mit Ihnen zu sprechen, wie ich es getan habe. Aber da ich bleiben wollte, wo Cosette ist, und sie auch wiedersehen, mußte ich Ihnen alles sagen. Sie verstehen mich doch, nicht wahr? Das ist ja leicht zu verstehen. Wissen Sie, ich habe das Kind neun Jahre lang bei mir gehabt. Erst wohnten wir in diesem Haus auf dem Boulevard, dann im Kloster, zuletzt in der Nähe des Luxembourg. Dort haben Sie uns das erstemal gesehen. Sie erinnern sich wohl noch an den blauen Plüschhut. Dann sind wir in das Quartier des Invalides gezogen, dort hatten wir das Haus mit dem Garten. Rue Plumet. Ich wohnte in dem kleinen Hinterhof, konnte sie immer singen und Klavier spielen hören. Das war mein Leben. Niemals trennten wir uns, neun Jahre und einige Monate. Ich war wie ihr Vater – sie war mein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie mich ganz verstehen, Herr Pontmercy, aber jetzt wegzugehen, sie nicht mehr zu sehen, nie mehr mit ihr zu sprechen, gar nichts von allem zu behalten, das ist schwer. Wenn Sie es erträglich finden, komme ich von Zeit zu Zeit zu Cosette. Ich muß ja nicht oft kommen, und ich werde nicht lange bleiben. Sagen Sie ihr, sie soll mich in dem kleinen Zimmer unten empfangen, im Erdgeschoß. Ich würde ja auch durch die andere Tür hereingehen, die für die Dienstboten ist, aber es würde auffallen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich durch das Haupttor gehe. Wirklich, ich möchte Cosette zuweilen sehen. Selten, nur sooft es Ihnen beliebt. Versetzen Sie sich in meine Lage. Ich habe ja sonst nichts. Wir müssen auch aufpassen. Wenn ich gar nicht mehr komme, wird es einen schlechten Eindruck machen, und man wird das seltsam finden. Doch kann ich, wenn Sie es wünschen, nur abends kommen, bei Einbruch der Dunkelheit.«

»Kommen Sie jeden Abend«, sagte Marius, »Cosette wird Sie erwarten.«

Marius verneigte sich, das Glück geleitete die Verzweiflung zur Tür, und die beiden Männer trennten sich.

Fünftes Buch
Dämmerung

Das Zimmer im Erdgeschoß

Am nächsten Tage, gegen Einbruch der Dämmerung, klopfte Jean Valjean an die Tür des Hauses Gillenormand. Baske öffnete. Ohne zu warten, daß Jean Valjean ihn anredete, sagte er:

»Der Herr Baron hat mich beauftragt, Sie zu fragen, ob Sie in den ersten Stock hinaufkommen oder unten bleiben wollen?«

»Ich bleibe unten«, antwortete Jean Valjean.

Baske, der es übrigens nicht an Respekt ermangeln ließ, öffnete die Tür des Zimmers im Erdgeschoß und sagte:

»Ich werde die gnädige Frau verständigen.«

Dieses Zimmer war ein feuchter Raum mit gewölbter Decke; er diente gelegentlich als Speicher, ging nach der Straße hinaus, war mit roten Fliesen bepflastert und empfing sein spärliches Licht durch ein vergittertes Fenster.

Hier blieb der Staub ungestört liegen. Noch war die Verfolgung der Spinnen nicht organisiert. Ein schönes, breites, mit toten Fliegen geschmücktes Gewebe spannte sich über die Fensterscheibe. In einer Ecke waren leere Flaschen aufgestapelt. Die Wände waren einst ockergelb getüncht gewesen, doch hatten sich große Stücke der Bemalung abgelöst. Im Kamin brannte ein Feuer. Offenbar hatte man also erwartet, daß Jean Valjean sagen würde:

»Ich bleibe unten.«

Zu beiden Seiten des Kamins standen Lehnstühle. An Stelle eines Teppichs hatte man einen alten Bettvorleger ausgebreitet, dessen Wolle schon ganz abgeschabt war.

Jean Valjean war sehr müde. Seit Tagen hatte er nicht mehr gegessen, nicht geschlafen. Er sank in einen der Stühle.

Baske kam wieder, stellte eine brennende Kerze auf den Kamin und zog sich zurück. Jean Valjean saß, das Kinn auf die Brust gestützt, in seinem Stuhl und bemerkte nichts.

Plötzlich fuhr er auf. Cosette stand hinter ihm. Er hatte sie nicht eintreten gesehen, fühlte aber, daß sie da war.

»Ach«, rief Cosette, »ich wußte, Vater, daß Sie eigentümliche Launen haben, aber das hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Welch eine Idee! Marius sagte, Sie verlangen, daß ich Sie hier empfange.«

»Ja, ich möchte es.«

»Auf diese Antwort war ich gefaßt. Gut, dann mögen Sie wissen, daß ich Ihnen jetzt gleich eine Szene machen werde. Fangen wir von vorne an. Küssen Sie mich, Papa.«

Sie bot ihm die Wange. Aber Jean Valjean rührte sich nicht.

»Sie rühren sich nicht. Ich stelle das fest. Das ist die Haltung des Schuldbewußtseins. Immerhin, ich verzeihe Ihnen. Jesus Christus hat gesagt: Haltet die andere Wange hin. Hier ist sie.«

Wieder rührte sich Jean Valjean nicht.

»Nun, jetzt wird die Sache ernst! Was habe ich Ihnen denn getan? Ich bin wirklich beleidigt. Sie sollten mich lieber versöhnen. Sie speisen heute mit uns.«

»Ich habe schon gegessen.«

»Das ist nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand sagen, daß er Sie ausschelten soll. Die Großväter sind wie geschaffen dazu, den Vätern die Leviten zu lesen. Gut, jetzt kommen Sie mit mir in den Salon, sofort.«

»Unmöglich.«

Cosette verlor ein wenig die Fassung. Jetzt gab sie es auf, Befehle zu erteilen, und begann zu fragen.

»Aber warum denn? Sie suchen das häßlichste Zimmer des Hauses aus … denn es ist scheußlich hier …«

»Du weißt … Sie wissen, Baronin, daß ich meine Eigenheiten habe. Es sind Schrullen …«

Cosette schlug die Hände zusammen.

»Baronin! Sie wissen … Das sind ja lauter Neuigkeiten. Was bedeutet denn das?«

Jean Valjean suchte seine Zuflucht bei einem schmerzlichen Lächeln.

»Nun, Sie wollten ja Frau Baronin sein, jetzt sind Sie es.«

»Aber doch nicht für Sie, Vater!«

»Nennen Sie mich nicht mehr Vater. Nennen Sie mich Herr Jean, oder Jean, wenn Sie wollen.«

»Nicht mehr Vater? Bin ich nicht mehr Cosette? Herr Jean? Was ist denn das? Die reinste Revolution! Was ist denn geschehen? Sehen Sie mir doch in die Augen! Und Sie wollen nicht bei uns bleiben? Was soll denn das?«

»Nichts.«

»Also?«

»Alles ist wie immer.«

»Aber warum wechseln Sie dann den Namen?«

»Sie haben ihn ja auch geändert, Sie sind jetzt Frau Baronin Pontmercy, ich bin Herr Jean.«

»Ich verstehe kein Wort davon. Das ist alles barer Unsinn. Ich werde meinen Mann bitten, daß er erlaubt, Sie Herr Jean zu nennen. Ich hoffe, er wird nicht darauf eingehen. Sie bereiten mir großen Kummer. Schrullen kann man ja haben, aber darum muß man Cosette nicht Kummer machen. Sie haben kein Recht, böse zu sein, denn Sie sind ja gut.«

Er antwortete nicht.

Lebhaft ergriff sie seine Hände, hob sie mit einer unwiderstehlichen Gebärde zu ihrem Gesicht und preßte sie zwischen ihren Hals und ihr Kinn. Diese Geste war von unbeschreiblicher Zärtlichkeit.

»Seien Sie wieder gut«, sagte sie. »Ich meine damit, Sie sollen freundlich sein und zu uns kommen. Es gibt hier Vögel, wie in der Rue Plumet. Sie sollen hier wohnen und dieses Loch in der Rue de l’Homme Armé verlassen, uns nicht Rätsel aufgeben, sich benehmen wie alle Leute, kurz, wieder mein Vater sein.«

Er löste seine Hände aus den ihren.

»Sie brauchen keinen Vater mehr, Sie haben einen Gatten.«

Cosette wurde zornig.

»Aber das hat wirklich keinen Sinn mehr!«

»Wenn Toussaint hier wäre«, begann Jean Valjean wieder, der sich auf andere zu berufen suchte, wie man in der Not nach dem schwächsten Ast greift, »so würde sie bestätigen, daß ich immer meine eigenen Ideen hatte. Das ist nichts Neues. Mir war mein Winkel im Dunkel immer lieb.«

»Aber hier ist es kalt und gar nicht hell. Und es ist auch unerträglich, daß Sie sich Herr Jean nennen lassen wollen. Ich will auch nicht, daß Sie zu mir ›Sie‹ sagen. Ich bin wütend! Seit gestern haben es alle darauf abgesehen, mich zornig zu machen. Ich begreife überhaupt nichts mehr. Ich richte ein Zimmer aufs netteste ein – wenn ich den lieben Gott selber hineinsetzen hätte können – ich hätte es getan. Jetzt läßt man mir mein Zimmer stehen. Mein Mieter bleibt den Zins schuldig. Ich bestelle ein gutes kleines Abendessen – holla, schon will man nicht bei mir essen. Vater Fauchelevent will plötzlich Herr Jean heißen und nur in einem häßlichen, verschimmelten Keller empfangen werden, wo die Mauern einen Bart haben und wo es nichts gibt als leere Flaschen und Spinnweben! Sie sind sonderbar, das weiß ich, gut, es ist Ihre Art, aber Leuten, die jung vermählt sind, gewährt man Waffenstillstand. Sie hätten etwas später mit diesen eigentümlichen Neigungen hervortreten sollen. Und Sie sind vollkommen glücklich in dieser widerwärtigen Rue de l’Homme Armé? Ich war trostlos dort! Was haben Sie nur gegen mich? Pfui!«

Dann wurde sie scharf, sah Jean Valjean ernst an und sagte:

»Sind Sie etwa böse, weil ich glücklich bin?«

Die Naivität dringt oft, ohne es selbst zu wissen, tief in das Wesen der Dinge ein. Diese Frage schien Cosette einfach, Jean Valjean aber furchtbar. Cosette zerfleischte sein Herz.

Er erblaßte und schwieg eine Zeitlang, dann murmelte er, als ob er mit sich selbst spräche:

»Ihr Glück war das Ziel meines Lebens. Jetzt kann Gott mich abberufen, Cosette, du bist glücklich; meine Zeit ist um.«

»Jetzt haben Sie wenigstens du gesagt!« rief Cosette.

Und sie fiel ihm um den Hals.


Abwärts

Am nächsten Tage kam Jean Valjean zur selben Stunde. Cosette fragte jetzt nicht mehr, wunderte sich kaum noch; auch lud sie ihn nicht mehr ein, in den Salon zu treten. Sie vermied es, ihn Vater oder Herr Jean anzureden. Auch wehrte sie sich nicht dagegen, daß er sie Baronin ansprach. Doch war sie nicht mehr so froh wie früher. Wenn sie jetzt fähig gewesen wäre, traurig zu sein, gewiß wäre sie traurig gewesen.

Offenbar hatte sie mit Marius eine jener Auseinandersetzungen gehabt, bei welchen der geliebte Mann sagt, was er will, und nichts erklärt. Die Neugierde der Verliebten geht nicht über ihre Liebe hinaus.

Das Zimmer im Erdgeschoß war ein wenig komfortabler gemacht worden. Baske hatte die Flaschen fortgeschafft, Nicolette die Spinnweben entfernt.

Und an allen weiteren Tagen kam Jean Valjean zur selben Stunde. Täglich kam er, denn er wagte nicht, Marius’ Erlaubnis anders als wörtlich zu nehmen. Der junge Mann richtete es so ein, daß er nie zu Hause war, wenn Jean Valjean kam. Allmählich gewöhnte sich das Haus an Herrn Fauchelevents neue Schrulle. Toussaint erklärte sogar:

»Er ist immer so gewesen.«

Und der Großvater sagte: »Ein Original.« Damit war alles gesagt.

So verstrichen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemächtigte sich allmählich Cosettes. Beziehungen, die aus der Heirat entstanden waren, Besucher, Sorgen des Haushalts, Vergnügungen, alle diese ernsten Dinge. Cosettes Luxus war nicht teuer. Er bestand nur im Zusammensein mit Marius. Mit ihm auszugehen, wenn er ausging, zu Hause zu bleiben, wenn er blieb, das war ihre größte Sorge. Immer wieder genoß sie die neue Freude, Arm in Arm mit ihm ausgehen zu dürfen am hellichten Tage, sich mit ihm ohne Begleiter in der Öffentlichkeit zu zeigen. Auch gab es allerlei Widerwärtigkeiten. Toussaint konnte sich mit Nicolette nicht vertragen und ging. Marius hatte viel zu tun, das Gericht nahm ihn oft in Anspruch.

Die Unterdrückung des vertraulichen »Du«, die Anrede als Baronin – alles das bewirkte, daß »Herr Jean« für Cosette ein anderer wurde. Er hatte sich ja bemüht, sie von sich zu entfernen, nun gelang es ihm. Sie wurde wieder heiter, war aber weniger zärtlich. Doch liebte sie ihn immer noch, das fühlte er wohl. Einmal sagte sie zu ihm: »Sie waren mein Vater, jetzt sind Sie es nicht mehr, dann waren Sie mein Onkel, jetzt sind Sie auch das nicht mehr. Erst Fauchelevent, jetzt Jean. Wer sind Sie eigentlich? Alles das ist mir recht unlieb. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie so gut sind, würde ich mich vor Ihnen fürchten.«

Aber er wohnte noch immer in der Rue de l’Homme Armé, wollte das Stadtviertel nicht verlassen, in dem auch Cosette lebte.

Seit einiger Zeit beobachtete Jean Valjean, daß das junge Paar recht zurückgezogen lebte. Die Sparsamkeit Marius’ hatte für Jean Valjean eine eigentümliche Bedeutung.

»Warum halten Sie sich nicht einen eigenen Wagen?« fragte er einmal Cosette. »Ein hübsches Coupé kostet nicht mehr als fünfhundert Franken monatlich. Sie sind reich.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Cosette.

»Und Toussaint ist weggegangen, ohne daß Sie Ersatz gesucht haben, warum?«

»Nicolette genügt mir.«

»Aber Sie brauchen doch eine Zofe.«

»Ich habe Marius.«

»Sie sollten ein eigenes Haus führen, Bedienstete haben, einen Wagen und eine Loge in der Oper. Es gibt nichts, was für Sie zu schön ist. Warum wollen Sie nicht daraus Nutzen ziehen, daß Sie reich sind? Der Reichtum ist gut, wenn er sich mit dem Glück verbindet.«

Cosette antwortete nicht.

Jean Valjeans Besuche wurden nicht kürzer. Im Gegenteil, wenn das Herz ausgleitet, gerät es auf eine schiefe Ebene. Oft stimmte er, wenn er seinen Besuch in die Länge ziehen wollte, ein Loblied auf Marius an, fand ihn schön, edel, tapfer, geistvoll, beredt, gütig. Cosette zu sehen, in ihrer Gegenwart alles zu vergessen, war sein Glück. Nur so konnte er seine Wunde schließen.

Es geschah, daß Baske kam und bestellte:

»Herr Gillenormand läßt die Frau Baronin daran erinnern, daß bereits serviert ist.«

Sehr nachdenklich ging Valjean weg.

Einmal blieb er länger als gewöhnlich. Am nächsten Tag bemerkte er, daß der Kamin nicht geheizt worden war. Halt, dachte er, kein Feuer! Aber sofort fand er eine Erklärung. Es hat weiter nichts zu besagen, meinte er, wir sind im April, es ist nicht mehr kalt.

»Mein Gott, wie kalt es hier ist!« rief Cosette, als sie eintrat.

»Nicht doch!«

»Haben Sie Baske gesagt, er solle nicht heizen?«

»Ja. Wir sind bald im Mai.«

»Aber hier im Hause wird bis Juni geheizt. Dieser Keller da braucht das ganze Jahr Feuer.«

»Ich dachte, es wäre unnütz.«

»Das ist wieder eine von Ihren Ideen«, erwiderte Cosette.

Am nächsten Tag war geheizt, aber die beiden Lehnstühle standen in der anderen Ecke des Zimmers, gleich neben der Tür.

Was bedeutet das? fragte sich Jean Valjean.

Er stellte die Lehnstühle wieder an ihren alten Platz. Doch fand er einigen Trost darin, daß wieder geheizt war. Diesmal blieb er noch länger als sonst. Als er aufstand, um zu gehen, sagte Cosette:

»Gestern hat Marius etwas Sonderbares gesagt.«

»Was denn?«

»Er sagte: wir haben dreißigtausend Livres Rente. Siebenundzwanzigtausend von dir, dreitausend von meinem Großvater. Würdest du den Mut haben, mit dreitausend auszukommen?

Gewiß doch, sagte ich, mit dir natürlich. Aber warum fragst du? Ich wollte es nur wissen, sagte er.«

Jean Valjean hatte nichts dazu zu sagen. Cosette erwartete wohl von ihm eine Erklärung, aber er schwieg. Als er in die Rue de l’Homme Armé zurückkehrte, war er so versonnen, daß er das Haustor verwechselte und in ein Nachbarhaus eintrat. Erst im zweiten Stock bemerkte er, daß er sich geirrt hatte.

Allerlei Vermutungen beschäftigten ihn. Offenbar machte sich Marius Gedanken über den Ursprung der sechshunderttausend Franken und befürchtete, sie stammten aus einer unreinen Quelle. Vielleicht hatte er entdeckt, daß sie von ihm, Jean Valjean, kamen, und scheute sich vor diesem verdächtigen Reichtum. Er zog es sogar vor, mit Cosette in Armut zu leben, statt einen zweifelhaften Reichtum zu genießen.

Auch ahnte Jean Valjean, daß man ihn los sein wollte.

Am nächsten Tag erschrak er, als er in das Zimmer eintrat. Die Lehnstühle waren verschwunden. Nicht einmal ein Sessel war da.

»Ach, wo sind denn die Lehnstühle?« fragte Cosette, als sie eintrat.

»Fort«, erwiderte Jean Valjean.

»Aber das ist stark!«

»Ich habe Baske gesagt, er solle sie nehmen«, stammelte Jean Valjean.

»Und warum?«

»Ich bleibe nur einige Minuten.«

»Aber daß Sie kurz bleiben, ist doch kein Grund zu stehen!«

Cosette zuckte die Achseln.

»Heute lassen Sie die Lehnstühle hinausschaffen, neulich ließen Sie das Feuer löschen. Sie sind wirklich seltsam.«

»Adieu«, murmelte Jean Valjean.

Er sagte nicht: Adieu, Cosette, aber er brachte es auch nicht übers Herz zu sagen: Adieu, Frau Baronin.

Diesmal hatte er begriffen.

Am nächsten Tag kam er nicht. Cosette bemerkte es erst am Abend. Es tat ihr weh, aber ein Kuß Marius’ tröstete sie.

Und am zweitnächsten Tag kam er wieder nicht.

Cosette wurde nicht weiter aufmerksam, aber sie sandte Nicolette zu Herrn Jean, um zu fragen, warum er nicht gekommen sei. Nicolette brachte den Bescheid, Herr Jean habe viel zu tun, er werde bald kommen, sobald als möglich. Auch wolle er verreisen. Die gnädige Frau werde sich ja erinnern, daß er von Zeit zu Zeit verreisen müßte. Kein Grund, sich zu beunruhigen. Man möge sich nicht darüber Gedanken machen.

Sechstes Buch
Dunkelheit und letztes Licht

Letztes Aufflackern der verlöschenden Lampe

Eines Tages ging Jean Valjean die Treppe hinunter, ging einige Schritte auf der Straße und setzte sich auf jenen Prellstein, auf dem ihn in der Nacht vom 5. zum 6. Juni Gavroche gesehen hatte. Er blieb einige Minuten sitzen, dann stieg er wieder hinauf. Das war die letzte Schwingung des Pendels. Am nächsten Tag ging er nicht mehr aus. Und am übernächsten verließ er das Bett nicht mehr.

Die Pförtnerin, die seine bescheidene Mahlzeit bereitete, etwas Kohl, einige Kartoffeln und Speck, blickte in den irdenen Topf und sagte:

»Aber Sie haben ja gestern nichts gegessen, lieber Mann!«

»Doch.«

»Aber der Topf ist ja noch ganz voll!«

»Sehen Sie den Wasserkrug. Er ist ganz leer.«

»Das beweist nur, daß Sie getrunken haben, und wenn einer trinkt, aber nicht ißt, so ist das Fieber.«

»Ich werde morgen essen.«

»Oder am Dreifaltigkeitstag! Warum denn nicht heute? Wer sagt denn, ich esse morgen? Mein ganzes Essen unberührt lassen! Die Bohnen haben Sie nicht einmal angerührt, und sie waren doch so gut.«

Jean Valjean ergriff die Hand der alten Frau.

»Ich verspreche Ihnen, alles aufzuessen«, sagte er freundlich.

»Ich bin gar nicht zufrieden mit Ihnen«, entgegnete die Pförtnerin.

Jean Valjean sah keinen anderen Menschen als diese Frau. Es gibt in Paris Straßen, die kein Mensch benützt, Häuser, die niemand betritt. In einer solchen Straße und in einem solchen Hause wohnte Jean Valjean.

Eine Woche verstrich, ohne daß Jean Valjean ausging. Er blieb im Bett. Die Pförtnerin sagte zu ihrem Mann:

»Der gute Alte da oben steht nicht mehr auf und ißt nicht mehr. Das kann nicht lange dauern. Er hat wohl Kummer. Ich bin überzeugt, daß seine Tochter schlecht verheiratet ist.«

»Wenn er reich ist«, antwortete der Pförtner im Ton ehemännlicher Überlegenheit, »so kann er einen Arzt holen lassen, ist er arm, so kann er es nicht. Wenn er keinen Arzt holt, stirbt er.«

»Und wenn er doch einen holt?«

»Dann stirbt er auch«, erklärte der Pförtner.

Am selben Tage sah die Pförtnerin auf der Straße einen Arzt, der in jener Gegend wohnte. Sie bat ihn auf eigene Verantwortung, zu dem Alten hinaufzugehen.

Als der Arzt wieder herunterkam, fragte ihn die Pförtnerin:

»Nun, Herr Doktor?«

»Ihr Kranker ist wirklich krank.«

»Was hat er denn?«

»Alles und nichts. Soviel mir scheint, hat er jemand verloren, an dem er sehr hängt. Manche Leute sterben an solchen Sachen.«

»Und was hat er Ihnen gesagt?«

»Daß es ihm gut geht.«

»Kommen Sie wieder?«

»Ja, aber besser wäre, es käme ein anderer an meiner Statt.«


Erlöschen

Eines Abends hatte Jean Valjean Mühe, sich auf dem Ellbogen aufzurichten; er fühlte seinen Puls und fand ihn kaum. Sein Atem war kurz und setzte zuweilen ganz aus.

Von Todesahnungen aufgeschreckt, raffte er sich zusammen, stand auf und kleidete sich an. Dabei mußte er mehrere Male einhalten; als er in den Rock schlüpfte, trat ihm Schweiß auf die Stirn. Seit er allein war, hatte er sein Bett in das Vorzimmer gestellt, um die verödeten Räume möglichst wenig zu benützen.

Jeder Schritt, den er von einem Möbelstück zum andern tat, ermüdete ihn so sehr, daß er sich setzen mußte. Das war nicht die gewöhnliche Müdigkeit, die Erschöpfung ist und zugleich Sammlung neuer Kraft; es war der schwache Rest der Lebenskraft, die verströmt und sich nicht mehr erneuert.

Einer der Stühle, auf den er sich fallen ließ, stand vor dem Spiegel, der ihm einst so verhängnisvoll geworden war, als er darin Cosettes Schrift las. Er blickte hinein und erkannte sich kaum. Er war achtzig Jahre alt! Bevor Cosette geheiratet hatte, hätte man ihm kaum fünfzig gegeben; dieses einzige Jahr zählte für dreißig. Auf seiner Stirn waren nicht die Runzeln des Greisenalters, sondern das geheimnisvolle Mal des Todes. Man fühlte die unerbittliche Klaue des Schicksals. Seine Wangen waren schlaff, die Haut hatte eine Farbe, die an Erde erinnerte; die beiden Mundwinkel waren herabgezogen wie bei den Masken, die man auf antiken Gräbern sieht. Vorwurfsvoll blickte er ins Leere.

Jetzt befand er sich im letzten Stadium der Verzweiflung, in jenem Zustand, wo der Schmerz sozusagen nicht mehr beweglich ist, sondern erstarrt; eine Schicht der Verzweiflung lag auf seiner Seele.

Es war dunkel geworden. Er schleppte sich mühsam an einen Tisch, auf dem Feder, Tinte und Papier bereitlag. Seine Hand zitterte, als er schrieb:

»Ich segne dich, Cosette. Du sollst alles wissen. Dein Gatte hat recht, daß er mir zu verstehen gab, ich sollte mich fortpacken; doch ist manches nicht wahr, was er glaubt; und doch hat er recht. Er ist ein vorzüglicher Mensch. Du sollst ihn immer lieben, wenn ich tot sein werde. Cosette, ich will Dir sagen, daß das Geld Dir gehört. So verhält es sich damit: der weiße Jett kommt aus Norwegen, der schwarze aus England, das schwarze Glas aus Deutschland. Jett ist leichter, kostbarer, teurer. Man kann in Frankreich Imitationen herstellen so gut wie in Deutschland. Dazu braucht man einen kleinen, zwei Quadratzoll großen Amboß und eine Spirituslampe, um die Wachsmasse zu schmelzen. Früher verwendete man Harz, das mit Ruß versetzt wurde und vier Franken pro Pfund kostete. Ich habe entdeckt, daß man auch Gummilack und Terpentin verwenden kann. Dann kostet das Pfund nur dreißig Sous, und der Stoff ist sogar besser. Die runden Buckel werden aus violettem Glas gemacht und auf einem kleinen Eisenrahmen in die Harzmasse eingesetzt. Für schwarzen Schmuck muß das Glas violett sein, für Goldschmuck schwarz. Besonders die Spanier kaufen das gern. Spanien ist das Land des Jetts …«

Hier unterbrach er sich. Die Feder fiel ihm aus der Hand, er begann verzweifelt zu schluchzen.

In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft.


Ein Verleumder, der zum Ehrenretter wird

An demselben Tage oder, genauer gesagt, am selben Abend, als Marius sich in sein Arbeitskabinett zurückgezogen hatte, um einen Akt zu studieren, brachte ihm Baske einen Brief und meldete, der Schreiber warte im Vorzimmer.

Ein Brief kann, ebenso wie ein Mensch, ordinär aussehen. Grobes Papier, schlechte Faltung mißfallen auf den ersten Blick. Der Brief, den Baske brachte, war von dieser Art. Er roch nach Tabak. Nichts weckt leichter Erinnerungen als ein Geruch. Marius erkannte ihn. Er las die Anschrift, die lautete: »An den Herrn Baron Pommerci, im eigenen Hause.« Der Tabakgeruch half ihm, die Schrift wiederzuerkennen.

Das war das Papier, das dieselbe Tinte; die gleiche Schrift, der gleiche Tabak: die Stube Jondrettes tauchte in seiner Erinnerung auf.

Seltsam, jetzt wurde er auf eine der beiden Spuren verwiesen, die er so lange gesucht und bereits verloren geglaubt hatte.

Hastig entsiegelte er das Schreiben und las folgendes:

»Herr Baron, wenn das Höchste Wesen mich mit den nötigen Talenten ausgestattet hätte, wäre ich der Baron Thénard, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, aber so bin ich es nicht. Ich habe nur denselben Namen wie er und bin glücklich, wenn dieser Name mich Ihrer Güte empfiehlt. Die Wohltat, die Sie mir erweisen, wird gegenseitig sein. Ich besitze ein Geheimnis, das eine Person betrifft. Dieses Geheimnis stelle ich Ihnen zur Verfügung, damit ich Ihnen nützen kann. Sie sollen ein einfaches Mittel finden, aus Ihrer ehrenwerten Familie das Individuum zu verjagen, das kein Recht darauf hat, denn die Frau Baronin ist von guter Herkunft. Die Tugend soll nicht länger mit dem Verbrechen zusammenwohnen.

Ich erwarte im Vorzimmer die Befehle des Herrn Barons.«

Der Brief war unterzeichnet: Thénard. Diese Unterschrift war nicht gefälscht. Der Schreiber hatte sich begnügt, sie etwas zu verkürzen.

Der schwülstige Stil und die schlechte Orthographie hätten genügt, um Marius auf die rechte Spur zu lenken. Jetzt bestand kein Zweifel mehr.

Marius war tief erregt. Nach einer ersten Wallung des Staunens empfand er ein intensives Glücksgefühl. Jetzt brauchte er nur noch den andern zu finden, den Mann, der ihn gerettet hatte, dann war er wunschlos.

Er zog eine Lade aus seinem Schreibtisch, entnahm ihr einige Noten, steckte sie in die Tasche und gab Baske Bescheid:

»Lassen Sie den Mann eintreten.«

»Herr Thénard!« meldete Baske.

Und noch einmal war Marius überrascht. Der Mann, der eintrat, war ihm vollkommen unbekannt. Es war ein Greis mit einer plumpen Nase, der das Kinn im Halstuch verbarg und grüne Brillen aufhatte; die glatten Haare hingen in die Stirn wie bei den Perücken der Kutscher vornehmer englischer Herren. Er hatte graue Haare und war von Kopf bis Fuß in ein schwarzes, schäbiges, aber sauberes Gewand gekleidet. Eine Unmenge Berlocken baumelten über der Westentasche und ließen eine Uhr ahnen. Er hatte einen alten Hut in der Hand. Übrigens ging er gebückt, und die Krümmung seines Rückens betonte die Tiefe seiner Verneigung.

Marius war so enttäuscht, daß er den Unbekannten ziemlich übellaunig empfing. Er musterte ihn von Kopf bis Fuß, während der Fremde sich maßlos tief verneigte, dann fragte er barsch:

»Was wollen Sie?«

Der Mann antwortete mit einem liebenswürdigen Lächeln.

»Es scheint mir unmöglich, daß ich nicht schon die Ehre gehabt haben sollte, dem Herrn Baron in irgendeinem Salon zu begegnen. Wenn ich nicht irre, habe ich Sie vor einigen Jahren bei der Fürstin Bagration und im Salon des Grafen Dambrai, Pairs von Frankreich, gesehen.«

Marius beobachtete die Sprechweise des Unbekannten scharf. Seine Enttäuschung wuchs. Der Mann sprach in einem näselnden Tonfall, der ganz und gar nicht der scharfen, trockenen Redeweise Thénardiers entsprach.

»Ich kenne weder die Fürstin Bagration noch den Grafen Dambrai.«

Diese Antwort war kurz. Aber der Unbekannte verneigte sich um so tiefer.

»Wollen der Herr Baron mich anhören. Es gibt in Amerika, nicht weit von Panama, einen Ort namens La Joya. Dieser Ort besteht aus einem einzigen Haus. Es ist ein viereckiger, dreistöckiger Bau aus Ziegeln, die in der Sonne gebrannt sind. Jede Seite des Hauses ist fünfhundert Fuß lang, und jedes Stockwerk springt gegen das untere zwölf Fuß zurück, läßt also eine Terrasse frei, die wie ein Rundgang um das ganze Haus läuft. In der Mitte ist ein Hof, in dem Vorräte und Munition aufbewahrt werden. Das Haus hat weder Fenster noch Türen. Man begnügt sich mit Schießscharten und Strickleitern, auf welchen man vom Fußboden zum ersten Stock, von diesem zum zweiten und dritten hinaufsteigen und von da wieder in den Hof hinabgelangen kann. Auch die Zimmer sind nicht durch Türen verbunden, denn im Hause gibt es nur Leitern. Abends werden sie eingezogen, man legt die Karabiner in den Schießscharten bereit. Niemand kann eindringen. So ist dieser Ort, der achthundert Einwohner hat, des Nachts eine Zitadelle. Warum so viel Vorsicht? Nun, das Land ist gefährlich. Es wimmelt von Menschenfressern. Warum geht man also dahin? Ach, es ist ein wunderbares Land. Man findet dort Gold.«

»Was soll das alles?« unterbrach ihn Marius, dessen Enttäuschung jetzt in Ungeduld umschlug.

»Ich bin ein alter Diplomat, Herr Baron, aber ich bin europamüde. Unsere alte Zivilisation geht mir auf die Nerven. Jetzt will ich es mit den Wilden versuchen.«

»Und?«

»Herr Baron, der Egoismus ist das höchste Gesetz auf Erden. Die elende Bäuerin wendet sich um, wenn die Kutsche vorüberfährt; die Bäuerin, die eigenes Land besitzt, wendet sich nicht um. Der Hund des Armen bellt den Reichen an, der Hund des Reichen den Armen. Jeder für sich! Das Interesse bestimmt alle menschlichen Handlungen. Das Gold ist der Magnet, der uns alle anzieht.«

»Kommen Sie zum Schluß!«

»Ich möchte nach La Joya gehen. Wir sind unserer drei. Ich habe eine Frau und eine Tochter; das Mädchen ist sehr schön. Die Reise ist lang und teuer. Ich brauche dazu etwas Geld.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Hat denn der Herr Baron meinen Brief nicht gelesen?«

Allerdings: der Inhalt des Schreibens war Marius entgangen. Er hatte nur die Schrift aufmerksam geprüft. Überdies hatte er einen neuen Fingerzeig empfangen: Der Unbekannte hatte gesagt, meine Frau und meine Tochter. Wieder sah Marius ihn scharf an wie ein Untersuchungsrichter. Schließlich sagte er:

»Äußern Sie sich deutlicher.«

Der Unbekannte steckte die Hände in die Taschen und streifte Marius durch seine Brillen mit einem grünen Blick.

»Gut, Herr Baron. Deutlicher. Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten.«

»Und was ist das?«

»Ich beginne gratis«, sagte der Unbekannte, »Sie werden gleich sehen, daß die Sache Sie interessiert. Sie haben, Herr Baron, einen Dieb und Mörder im Hause. Beachten Sie wohl, Herr Baron, daß ich hier nicht von alten, weit zurückliegenden, verjährten Dingen spreche, die durch Amnestie und Reue getilgt sein können. Ich spreche von Verbrechen, die in jüngster Zeit begangen wurden, von Verbrechen, die der Justiz noch nicht bekannt sind. Es ist diesem Manne gelungen, Ihr Vertrauen zu erringen und unter falschem Namen in Ihre Familie einzudringen, Ich weiß seinen wirklichen Namen. Und ich will ihn Ihnen gratis sagen. Er heißt Jean Valjean.«

»Das weiß ich.«

»Und ich will Ihnen auch sagen, was er ist. Er ist ein Galeerensträfling.«

»Auch das weiß ich.«

»Sie wissen es, seit ich die Ehre gehabt habe, es Ihnen zu sagen.«

»Nein, ich wußte es schon früher.«

Die kalte Antwort Marius’ stimmte den Unbekannten zornig. Verstohlen warf er Marius einen wütenden Blick zu. Sofort besänftigte er sich wieder, aber es gibt Blicke, die man wiedererkennt, und dieser entging Marius nicht. Gewisse Flammen können nur aus bestimmten Seelen aufzucken. Brillen verbergen nichts. Man sieht die Hölle auch durch ein Fenster.

»Ich erlaube mir nicht, Herrn Baron Lügen zu strafen«, erwiderte der Unbekannte lächelnd. »Jedenfalls sehen Sie jetzt, daß ich gut informiert bin. Jetzt sollen Sie aber etwas erfahren, was nur mir bekannt ist. Dieser Punkt geht das Vermögen der Frau Baronin an. Es ist ein außerordentlich wichtiges Geheimnis, ich will es verkaufen. Billig. Es kostet zwanzigtausend Franken.«

»Ich kenne dieses Geheimnis so gut wie die andern.«

Der Unbekannte fand es angemessen, den Preis zu senken.

»Geben Sie zehntausend, Herr Baron, und ich spreche.«

»Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir nichts zu sagen haben. Ich weiß alles, was Sie mir mitteilen wollen.«

Wieder blitzte es auf in den Augen des Unbekannten.

»Ich muß doch essen, Herr Baron. Es ist ein außerordentlich wertvolles Geheimnis. Geben Sie zwanzig Franken, und ich spreche.«

Marius sah ihn scharf an.

»Ich kenne Ihr wertvolles Geheimnis. Mir ist der Name Jean Valjeans ebenso bekannt wie der Ihre.«

»Der war nicht schwer zu erraten, Herr Baron. Ich hatte die Ehre, ihn unter meinen Brief zu setzen. Thénard.«

»…dier.«

»Wie bitte?«

»Thénardier.«

In der Gefahr streckt das Stachelschwein seine Stacheln aus, der Käfer stellt sich tot, die Soldaten bilden ein Karree. Dieser Mann lachte. Dann schnippte er mit den Fingern ein Stäubchen von seinem Ärmel.

»Und Sie sind auch der Arbeiter Jondrette«, fuhr Marius fort, »der Schauspieler Favantou, der Dichter Genflot, der Spanier Don Alvarez und Frau Balizard.«

»Frau wie?«

»Und in Montfermeil hatten Sie eine Herberge.«

»Eine Herberge? Niemals!«

»Und ich sage Ihnen, daß Sie Thénardier heißen und ein Lump sind.«

Marius griff in die Tasche, zog eine Banknote heraus und warf sie ihm ins Gesicht.

»Danke! Verzeihung! Fünfhundert Franken – Herr Baron!«

Fassungslos prüfte der Mann das Papier.

»Gut«, sagte er endlich mit einem wilden Entschluß. »Dann ohne Umschweife.«

Und mit der Behendigkeit eines Affen nahm er seine Haare ab, riß die Brille herunter – kurz, er nahm sein Gesicht ab, wie ein anderer den Hut lüftet. Jetzt trat seine zerbeulte, widerwärtige runzelige Stirn hervor, die Nase wurde scharf wie ein Schnabel, das wilde, listige Gesicht des Beutemachers wurde sichtbar.

»Der Herr Baron ist unfehlbar«, sagte er mit einer Stimme, die nicht mehr näselte. »Ich bin Thénardier.«

Und in diesem Augenblick verschwand auch der Buckel.

Thénardier war gedemütigt. Er sah diesen Baron Pontmercy zum erstenmal, und doch erkannte ihn der Baron sogar in seiner Verkleidung. Ja, er war nicht nur über Thénardier, er war sogar über Jean Valjean aufgeklärt.

Wie der Leser sich erinnert, war Thénardier einige Zeit Marius’ Nachbar gewesen, hatte ihn aber, wie das in Paris wohl geschieht, niemals zu Gesicht bekommen. Der Gedanke, daß jener Marius dieser Baron Pontmercy sei, lag ihm fern.

Übrigens hatte seine Tochter Azelma, die er mit der Ausforschung der Neuvermählten beauftragt hatte, allerlei herausgebracht, und auch er hatte manche geheimnisvolle Zusammenhänge aufgespürt. Durch emsige Nachforschungen war es ihm gelungen, zu erraten, wer der Mann war, dem er damals am Ausgang der Sammelkloake begegnet war. Dann hatte er den Namen herausgebracht. Er wußte, daß die Baronin Pontmercy niemand anderes war als Cosette. Aber über diesen Punkt wünschte er sich nicht zu äußern. Wer war Cosette? Er wußte es ja selbst nicht. Irgendein uneheliches Kind offenbar, denn die Geschichte Fantines war ihm immer unglaubwürdig erschienen. Wozu aber sollte er davon sprechen? Sollte er sein Schweigen verkaufen? Er hatte bessere Trümpfe auszuspielen. Oder er glaubte es wenigstens. Überdies würde der Baron Pontmercy aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn man ihm ohne alle weiteren Beweise sagte, seine Frau sei ein uneheliches Kind, kaum mit einer anderen Münze zahlen als mit einem Fußtritt.

Thénardier sah Marius fast zärtlich an.

»Thénardier«, begann Marius, »ich habe Ihnen Ihren Namen genannt. Was Ihr Geheimnis betrifft: wollen Sie, daß ich es Ihnen sage? Ich bin auch informiert. Sie werden sehen, daß ich mehr weiß als Sie. Sie sagen, daß Jean Valjean ein Mörder und Dieb ist. Er ist ein Dieb, denn er hat einen reichen Fabrikanten bestohlen, dessen Ruin er verursacht hat, einen gewissen Madeleine. Und er ist ein Mörder, denn er hat den Polizeiagenten Javert ermordet.«

Thénardier warf Marius jetzt den stolzen Blick eines Mannes zu, der schon geschlagen war und in letzter Minute das verlorene Terrain wiedergewinnt.

»Sie sind hier auf einer falschen Spur, Herr Baron.«

»Wie, Sie bestreiten das? Es sind Tatsachen.«

»Nein, es sind Schimären. Das Vertrauen, mit dem der Herr Baron mich beehrt, macht es mir zur Pflicht, Ihnen das zu sagen. Jean Valjean hat Javert nicht getötet.«

»Wieso nicht?«

»Er hat weder Javert getötet noch Madeleine bestohlen. Madeleine kann er nicht bestohlen haben, denn Jean Valjean ist selbst Madeleine.«

»Aber was erzählen Sie da?«

»Und zum zweiten hat er nicht Javert getötet, weil Javert Selbstmord begangen hat.«

»Beweisen Sie das!« schrie Marius außer sich.

»Der Polizeiagent Javert wurde unter dem Pont-au-Change aus dem Wasser gezogen.«

»Beweise!«

Thénardier zog einen Umschlag aus der Tasche, in dem zusammengefaltete Blätter von verschiedener Größe lagen.

»Das sind meine Akten«, sagte er ruhig. »Herr Baron, ich habe mich in Ihrem Interesse gründlich mit Jean Valjean beschäftigt. Wenn ich sage, daß Jean Valjean Madeleine ist und daß Javert sich selbst getötet hat, so habe ich auch die Beweise in der Hand. Nicht geschriebene, denn diese sind ja verdächtig, man kann schreiben, was man will, aber gedruckte.«

Er zog zwei vergilbte, rauchgeschwängerte Zeitungsblätter heraus.

»Zwei Tatsachen, zwei Berichte«, sagte er.

Er reichte Marius die beiden Blätter, die der Leser bereits kennt. Das eine, ältere, war eine Nummer des »Drapeau blanc« vom 25. Juli 1823, in der die Identität Madeleines und Jean Valjeans festgestellt wurde. Das andere eine Nummer des »Moniteur« vom 15. Juni 1832, in der der Selbstmord Javerts gemeldet und von einem Bericht des Polizeiagenten erzählt wurde, daß er auf der Barrikade in der Rue de la Chanvrerie durch den hochherzigen Entschluß eines Insurgenten gerettet worden sei, der ihn, statt ihn befehlsgemäß zu erschießen, laufen ließ.

Marius las. Hier hatte er es mit unanzweifelbaren Tatsachen zu tun, denn diese Blätter konnten nicht gedruckt worden sein, nur um Thénardiers Behauptungen zu bestätigen. Der Bericht des »Moniteur« war ein Communiqué der Polizeipräfektur. Marius konnte nicht zweifeln. Der Kassierer hatte sich offenbar getäuscht. Plötzlich wuchs Jean Valjean zu gewaltiger Größe an, trat aus dem Dunkel hervor.

»Ja, aber dann ist dieser Unglückliche ein bewunderungswürdiger Mann! Das Vermögen gehörte ihm also wirklich! Er ist Madeleine, der Retter Javerts! Ein Held! Ein Heiliger!«

»Weder ein Held, noch ein Heiliger«, antwortete Thénardier. »Ein Dieb und ein Mörder.«

»Noch immer?«

»Noch immer. Er hat zwar nicht Madeleine bestohlen, aber er ist ein Dieb. Er hat nicht Javert ermordet, aber er ist ein Mörder. Ich will Ihnen alles sagen, Herr Baron, und ich verlasse mich, was die Entlohnung betrifft, auf Ihre Güte. Dieses Geheimnis ist gemünztes Gold wert. Herr Baron, am 6. Juni 1832, vor etwa einem Jahre, an dem Tag der Rebellion, hielt sich ein Mann in der Sammelkloake auf, dort, wo sie sich in die Seine ergießt, zwischen dem Pont-des-Invalides und dem Pont-d’Jéna. Dieser Mann mußte sich aus Gründen, die übrigens nichts mit Politik zu tun hatten, verbergen. Darum hatte er die Kloake zu seinem Wohnsitz auserkoren und sich einen Schlüssel verschafft. Dies geschah, wiederhole ich, am 6. Juni. Es mochte gegen acht Uhr abends sein. Da hörte dieser Mann in der Kloake ein Geräusch. Sehr verwundert duckte er sich und hielt Ausschau. In der Dunkelheit näherten sich Schritte. Es war sonderbar, in dieser Kloake befand sich außer ihm noch ein Mann. Das Gitter war nicht weit von dieser Stelle entfernt. Immerhin ließ es genug Licht durch, daß jener Mann den Neuankömmling ziemlich gut sehen und etwas bemerken konnte. Dieser Mann ging gebückt. Er trug etwas auf dem Rücken. Und dieser Mann, der da gebückt ging, war ein alter Galeerensträfling, der Gegenstand aber, den er auf dem Rücken trug, war ein Leichnam. Also: ein Mörder, in flagranti ertappt. Was den Diebstahl betrifft, so versteht er sich von selbst. Denn für nichts und wieder nichts bringt man niemand um. Der Sträfling wollte also seinen Leichnam in den Fluß werfen. Ein Umstand war besonders auffällig. Bevor der Mörder zu dem Gitter gelangen konnte, mußte er an einem Schlammloch vorüberkommen, und in dieses hätte er die Leiche ganz gut werfen können. Allerdings, die Kanalräumer hätten am nächsten Tage den Toten gefunden, und man hätte sich nach dem Mörder auf die Suche gemacht. So hatte er es vorgezogen, mit seiner Last durch dieses Schlammloch hindurchzuwaten, und das muß furchtbar schwer gewesen sein. Da hieß es sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Mir ist es noch heute unbegreiflich, wie er dabei lebendig herausgekommen ist. Herr Baron, die Kloake ist nicht das Marsfeld. Man ist dort etwas beengt. Wenn zwei Menschen in der Kloake sind, müssen sie einander notwendigerweise begegnen. Und das geschah. Der Mann, der hier seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, und der andere, der nur vorbeikam – diese beiden mußten einander guten Tag sagen, so unlieb es ihnen auch war. Und der Fremde sagte zu dem Kloakenbewohner: du siehst, was ich da auf dem Rücken habe. Ich muß hinaus, du hast den Schlüssel, gib ihn mir. Dieser Sträfling sah fürchterlich aus. Er war nicht einer, dem man etwas abschlägt. Der andere versuchte zu parlamentieren, um wenigstens Zeit zu gewinnen. Er sah sich den Toten an, konnte aber nur bemerken, daß er jung aussah, hübsch angezogen war, einem Reichen glich und viel Blut im Gesicht hatte. Während er sich also mit dem Sträfling unterhielt, fand er eine Gelegenheit, unauffällig einen Fetzen von dem Rock des Ermordeten abzureißen. So etwas ist ein Beweisstück, begreifen Sie? Das genügt, um eine Spur zu verfolgen und einen Verbrecher zu überführen. Dann öffnete er, ließ den andern mit seiner Last auf dem Buckel hinaus, sperrte wieder zu und zog sich zurück. Sie begreifen jetzt wohl. Der Mann, der diesen Toten trug, war Jean Valjean, und jener mit dem Schlüssel spricht gerade mit Ihnen; der Fetzen Tuch aber …«

Thénardier zog ein etwa zwei Zoll langes, schwarzes, zerrissenes Stück Tuch aus der Tasche.

Marius war aufgestanden. Er vermochte kaum zu atmen. Wortlos, ohne das Stück Tuch aus dem Auge zu lassen, eilte er zur Wand, suchte tastend den Schlüssel eines neben dem Kamin eingebauten Wandschranks. Er fand ihn, schloß auf, griff, ohne hinzusehen, in den Schrank und warf dann einen alten, schwarzen, blutbefleckten Rock auf den Boden.

»Der junge Mann war ich, und dies hier ist der Rock!« rief er.

Thénardier erstarrte zu Stein. Verzweifelt und strahlend zugleich richtete sich Marius auf. Wieder griff er in die Tasche, trat vor Thénardier hin, hielt ihm die Faust, in der er noch einige Banknoten hatte, unter die Nase und schrie:

»Sie sind ein Schurke! Sie sind ein elender Lügner, ein Verleumder und Schuft! Sie kommen hierher, um jenen Mann anzuklagen, und Sie haben ihn nur gerechtfertigt! Sie wollten ihn zugrunde richten, aber Sie haben seine Ehre wiederhergestellt! Sie sind ein Dieb, und Sie sind ein Mörder! Ich habe Sie sehr wohl damals auf dem Boulevard de l’Hôpital gesehen, Thénardier-Jondrette! Ich weiß genug, um Sie sofort in das Bagno zu schicken. Mehr noch, wenn Sie wollen! Da haben Sie noch tausend Franken, Sie Hund! Feiger Schurke! Mag Ihnen das eine Lehre sein, Sie Schacherer mit Geheimnissen, nehmen Sie noch diese fünfhundert Franken und packen Sie sich fort! Nur Waterloo bewahrt Sie vor dem Schlimmsten!«

»Waterloo?« murmelte Thénardier und steckte die beiden Banknoten ein.

»Allerdings, Sie Mörder, Sie haben einem Obersten das Leben gerettet …«

»Einem General«, antwortete Thénardier und hob den Kopf.

»Einem Obersten«, schrie Marius, »für einen General würde ich keinen Pfifferling geben. Und jetzt kommen Sie hierher aus purer Niedertracht! Es gibt kein Verbrechen, das Sie nicht begangen hätten. Verschwinden Sie! Fort mit Ihnen aus Paris! Lassen Sie sich anderswo aufhängen.«

Thénardier verneigte sich tief.

»Ewigen Dank, Herr Baron«, sagte er.

Und er ging.

Auch wir wollen mit diesem Menschen fertig werden. Zwei Tage später schiffte er sich unter falschem Namen nach Amerika ein. Das moralische Elend dieses Menschen war unabänderlich. Er war in Amerika, was er einst in Europa gewesen. Mit dem Geld, das Marius ihm gegeben, wurde er Sklavenhändler.

Sobald Thénardier fort war, eilte Marius zu Cosette in den Garten.

»Cosette!« rief er, »komm schnell! Baske, eine Droschke! Komm, Cosette! Großer Gott, er ist es, der mir das Leben gerettet hat! Wir dürfen keine Minute verlieren!«

Cosette gehorchte.

Marius war fassungslos. Jetzt erschien ihm Jean Valjean als eine erhabene, unvergleichliche Gestalt. Dieser Sträfling nahm die Gestalt Christi an.

Im nächsten Augenblick stand die Droschke vor der Tür. Marius hob Cosette hinein und folgte ihr.

»Kutscher«, rief er, »Rue de l’Homme Armé Nr. 7!«


Letzte Nacht. Der Tag bricht an

Jean Valjean hörte an die Tür klopfen und wandte sich um.

»Herein«, sagte er schwach.

Die Tür ging auf, Cosette und Marius erschienen.

Die junge Frau eilte an den Tisch. Marius blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich an den Türpfosten.

»Cosette«, sagte Jean Valjean und richtete sich in seinem Lehnstuhl auf. Eine unaussprechliche Freude war in seinen Augen.

Außer sich vor Rührung sank ihm Cosette an die Brust.

»Vater!« rief sie.

»Cosette!« stammelte Jean Valjean, »du bist es! Großer Gott!« Er schloß sie in seine Arme. »Also du bist es! Du verzeihst mir also!«

Marius, der die Lider niederschlagen mußte, um die Tränen zu unterdrücken, trat vor und murmelte, krampfhaft mit dem Schluchzen kämpfend:

»Vater!«

»Also auch Sie verzeihen mir?«

Marius konnte nicht sprechen.

Jetzt saß Cosette bei dem Greis, strich ihm seine weißen Haare aus der Stirn und küßte ihn.

Unendlich beglückt, ließ Jean Valjean sie gewähren. Es war, als ob Cosette ein wenig begriffe und die Schuld Marius’ abtragen wollte.

»Ach«, stammelte Jean Valjean, »wie dumm man doch ist! Ich glaubte schon, ich würde sie nie wiedersehen. Stellen Sie sich vor, Herr Pontmercy, ich dachte mir: Nie werde ich sie wiedersehen. Wie dumm! Man zählt nie auf Gott. Oh, ich war sehr unglücklich. Wahrhaftig, ich mußte Cosette zuweilen sehen. Auch ein Herz braucht, wie ein Hund, den Knochen, an dem es nagen kann. Aber ich begriff, daß ich überzählig war. Wohl überlegte ich mir alles. Sie brauchen mich nicht mehr, dachte ich, bleib in deinem Winkel, man darf sich nicht ewig den Leuten aufdrängen. Aber, Gott sei gesegnet, ich sehe sie wieder. Weißt du, Cosette, daß dein Mann sehr hübsch ist? Ach, Herr Pontmercy, erlauben Sie, daß ich du zu ihr sage. Es ist nur für kurze Zeit.«

»Das war schlecht von dir«, sagte Cosette, »daß du uns so allein gelassen hast. Wo warst du denn nur? Früher dauerten deine Reisen immer nur drei oder vier Tage. Ich habe oft Nicolette geschickt, aber immer bekam sie den Bescheid: noch verreist. Seit wann bist du denn zurück? Warum hast du uns nicht gleich verständigt? Marius, er ist sehr krank, fühle nur, wie seine Hand kalt ist!«

»Also ihr seid da! Sie verzeihen mir also, Herr Pontmercy!«

Bei diesem Wort schmolz Marius’ Herz, er schrie auf.

»Cosette, hörst du es? Er verlangt, daß ich ihm verzeihe! Weißt du auch, was er getan hat? Er hat mir das Leben gerettet. Mehr noch, dich hat er mir geschenkt. Und dann hat er sich selbst geopfert. Und ich Undankbarer, Unbarmherziger, ich stehe da, und er sagt zu mir: Danke! Cosette, wenn ich mein Leben lang vor diesem Mann auf den Knien gelegen wäre, es wäre nicht genug! Die Barrikade, die Kloake, das Schlammloch – alles für mich und für dich, Cosette! Tausendfach hat er mich vor dem Tod bewahrt und sich dem Tode ausgesetzt! Er besitzt jede Art von Mut, Tugend, Heroismus – er ist ein Engel!«

»Still«, sagte Jean Valjean, »warum sagen Sie das?«

»Warum haben Sie nichts gesagt? Sie sind selbst schuld. Sie retten den Leuten das Leben und verstecken sich! Mehr noch, unter dem Vorwand, sich zu demaskieren, verleumden Sie sich selbst! Es ist schrecklich!«

»Ich habe die Wahrheit gesagt«, antwortete Jean Valjean.

»Nein, denn nur die ganze Wahrheit ist wahr. Sie sind Madeleine, warum haben Sie das nicht gesagt? Sie haben Javert gerettet, warum haben Sie es verheimlicht? Ich schulde Ihnen mein Leben, warum sagten Sie es nicht?«

»Ich dachte wie Sie. Sie hatten ja recht. Ich mußte gehen. Wenn Sie von der Kloake gewußt hätten, hätten Sie mich gezwungen, bei Ihnen zu bleiben. Also mußte ich schweigen. Wenn ich gesprochen hätte, wäre ich Ihnen hinderlich gewesen.«

»Wer? Uns hinderlich? Glauben Sie wirklich, daß Sie jetzt hierbleiben werden? Nein, wir nehmen Sie mit. Großer Gott, wenn ich bedenke, daß nur ein Zufall mich aufgeklärt hat! Wir nehmen Sie gleich mit. Sie gehören zu uns. Sie sind Cosettes und mein Vater. Keinen Tag mehr sollen Sie in diesem schrecklichen Haus zubringen.«

»Ich werde morgen nicht mehr hier sein, aber auch nicht bei Ihnen.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Marius. »Oh, wir werden nicht erlauben, daß Sie wieder verreisen. Sie dürfen uns nicht mehr verlassen. Sie gehören uns, wir lassen Sie nicht.«

»Diesmal für immer«, bestätigte Cosette. »Der Wagen wartet unten. Ich nehme dich gleich mit. Wenn es nötig ist, auch mit Gewalt. Dein Zimmer in unserem Haus erwartet dich. Wenn du nur wüßtest, wie hübsch der Garten jetzt ist. Die Azaleen gedeihen prächtig. Auch kannst du frische Erdbeeren aus meinem Garten essen. Ich begieße sie immer selbst. Und jetzt ist es aus mit Frau Baronin und Herr Jean, bei uns ist Republik, alle Welt duzt sich, nicht wahr, Marius? Wir sind alle fröhlich und glücklich. Großvater wird sich sehr freuen. Du sollst ein eigenes Beet im Garten bekommen, dann wollen wir sehen, ob deine Erdbeeren ebensogut gedeihen wie meine. Ich werde alles tun, was du willst, aber du mußt mir auch gehorchen.«

Jean Valjean lauschte ihren Worten, ohne zu hören. Er fühlte nur die Musik ihrer Stimme.

»Ja«, sagte er schließlich, »das wäre sehr schön, wenn wir zusammenleben könnten. Ich könnte zu den Leuten gehören, die einander fröhlich guten Tag zurufen. Schon am frühen Morgen sieht man einander. Jeder könnte ein Beet bebauen. Sie wird mich ihre Erdbeeren essen lassen, ich schenke ihr meine Rosen. Sehr schön, nur … schade!«

Jean Valjean lächelte.

Cosette nahm seine Hände in die ihren.

»Mein Gott«, rief sie, »deine Hände sind ja noch kälter geworden. Bist du krank?«

»Oh, ich fühle mich sehr wohl. Nur …«

»Nur?«

»Ich sterbe.«

»Sterben!« rief Marius.

»Ja, aber es bedeutet nichts«, entgegnete Jean Valjean. »Cosette, sprich weiter, ich will deine Stimme hören.«

Marius starrte wortlos den Greis an.

»Vater«, rief Cosette, »du wirst leben! Ich will, daß du lebst!«

Jean Valjean sah sie innig an.

»Ja, verbiete mir nur zu sterben. Wer weiß, vielleicht gehorche ich dir. Ich war schon dabei, als ihr kamt. Das hat mich aufgehalten. Mir scheint, ich bin wiedergeboren.«

»Aber Sie sind ja noch voll Lebenskraft«, rief Marius, »wie können Sie glauben, daß man so leicht stirbt? Sie hatten Kummer, gut, aber das ist jetzt zu Ende. Jetzt bitte ich Sie um Verzeihung, und auf den Knien! Sie werden leben, mit uns und lange! Wir sind zwei, aber wir haben nur einen einzigen Gedanken, Ihr Wohlergehen.«

»Siehst du wohl, Vater«, sagte Cosette weinend, »auch Marius sagt, daß du nicht sterben wirst.«

Wieder lächelte Jean Valjean.

Jetzt wurde an die Tür geklopft. Es war der Arzt.

»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte Jean Valjean. »Dies sind meine Kinder.«

Marius näherte sich dem Arzt. Er fragte nur »Herr Doktor …?«, aber in dieser Frage lag alles. Mit einem bedeutungsvollen Blick antwortete der Arzt.

Jetzt schwiegen alle bedrückt. Jean Valjean betrachtete Cosette, als ob er ihr Bild in die Ewigkeit mitnehmen wollte. Der Arzt fühlte seinen Puls.

»Also Sie sind es, die er brauchte!« murmelte er.

Jean Valjean sah jetzt auch Marius und den Arzt heiter an. Man hörte, wie er mit schwacher Stimme sagte:

»Sterben bedeutet nichts. Es ist schrecklich, nicht zu leben.«

Plötzlich richtete er sich auf. Die Rückkehr der Körperkraft ist zuweilen ein Vorbote des Todeskampfes.

»Ihr seid beide gut«, sagte Jean Valjean. »Ich will euch sagen, was mich gekränkt hat. Es tat mir leid, Herr Pontmercy, daß Sie das Geld nicht anrühren wollten. Dieses Geld gehört wirklich Ihrer Frau. Der schwarze Jett kommt aus England, der weiße aus Norwegen. Ihr findet das alles in dem Brief da. Was die Armbänder betrifft, habe ich entdeckt, daß es gar nicht gut ist, die Verschlüsse zu löten. Ungelötet sind sie hübscher und kommen billiger. Wenn ihr das lest, werdet ihr begreifen, daß man auf diese Weise viel Geld verdienen kann. Ich sage euch das alles nur, damit ihr beruhigt seid.«

Er winkte Cosette und Marius, sie sollten näher treten. Leise, als ob er schon aus der Ferne spräche, fuhr er fort:

»Tretet näher, ihr beiden! Ich liebe euch sehr. Auch du liebst mich, Cosette. Es ist schön, so zu sterben. Wußte ich es doch, daß du den Alten immer gern hattest! Du wirst doch ein wenig um mich weinen, nicht wahr? Aber nicht zuviel! Ich will nicht, daß du wirklich Kummer hast. Ihr sollt euch amüsieren, Kinder. Fast hätte ich vergessen, euch zu sagen, daß die Schnallen besser sind und einträglicher, wenn man den Dorn wegläßt. Wir haben schließlich sogar mit den Berliner Fabrikanten erfolgreich konkurriert. Gegen das schwarze Glas aus Deutschland kann man aber nicht kämpfen. Ein Gros, zwölfhundert gutgedrechselte Perlen, kostet nur drei Franken. Wenn man von den Schnallen zwölf Dutzend für zehn Franken herstellt, kann man sie für sechzig verkaufen. Da dürft ihr euch nicht wundern, wo die sechshunderttausend Franken herkommen. Es ist sauberes Geld. Ihr könnt mit gutem Gewissen reich sein. Ihr sollt euch einen Wagen halten, von Zeit zu Zeit ins Theater gehen und euren Freunden Gesellschaften geben. Ich habe Cosette geschrieben, sie wird den Brief finden. Er liegt dort auf dem Kamin zwischen den beiden Leuchtern. Sie sind aus Silber, aber für mich sind sie Gold, ja sogar Diamanten. Wenn man ein Talglicht in sie steckt, wird es zu einer Kerze. Ich weiß nicht, ob er, der sie mir geschenkt hat, da droben zufrieden mit mir ist. Ich tat, was ich konnte. Vergeßt nicht, liebe Kinder, daß ich ein armer Mann bin, und laßt mich in irgendeiner Ecke begraben. Ich will das so. Setzt keinen Namen auf meinen Stein. Wenn Cosette zuweilen mich besuchen will, wird es mich freuen. Auch Sie sollen kommen, Herr Pontmercy. Ich war, offen gesagt, nicht gerade immer Ihr Freund, Verzeihen Sie mir. Aber ich weiß, daß Sie Cosette glücklich machen, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich war immer glücklich, wenn das Kind rosig war, immer traurig, wenn ich sie blaß sah. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfrankenschein. Ich habe nichts davon verbraucht. Gebt das Geld den Armen. Cosette, siehst du dort auf dem Bett das Kinderkleid? Erkennst du es? Erinnerst du dich an Montfermeil, Cosette? Du hattest damals große Angst. Erinnerst du dich noch, wie ich dir den Eimer abnahm? Damals habe ich zum erstenmal dein armes, kleines Händchen berührt. Ach, es war so kalt! Du hattest rote Hände, damals, aber jetzt sind sie weiß. Und die große Puppe! Erinnerst du dich? Du nanntest sie Katherine. Es tat dir so leid, daß du sie nicht ins Kloster mitnehmen durftest! Wie oft habe ich lachen müssen über dich, mein Engel! Wenn es geregnet hatte, warfst du Strohhalme in den Rinnstein und sahst ihnen nach. Einmal kaufte ich dir einen Schläger und einen Ball mit gelben, blauen und grünen Federn. Du hast es vergessen. Und die Thénardiers waren sehr schlecht zu dir. Man muß es ihnen nicht verübeln. Du sollst jetzt auch den Namen deiner Mutter wissen. Sie hieß Fantine. Merk dir diesen Namen: Fantine. Knie immer nieder, wenn du ihn aussprichst. Sie hat viel gelitten und dich sehr geliebt. Cosette, es war nicht meine Schuld, daß ich all die Zeit über nicht zu dir kam. Mir hat es das Herz zerrissen; Kinder, ich sehe nicht mehr ganz klar, ich hätte euch noch vieles zu sagen, aber es ist ja nicht wichtig. Denkt ein wenig an mich. Ihr seid gesegnete Geschöpfe. Ich weiß nicht, was das ist, aber ich sehe jetzt Licht. Kommt noch näher. Gebt mir eure lieben Köpfe, damit ich meine Hände darauf lege.«

Cosette und Marius knieten nieder und legten die Hände Jean Valjeans, die bereits reglos waren, auf ihre Köpfe. Er saß zurückgelehnt im Licht der beiden Leuchter, sein weißes Gesicht war dem Himmel zugewandt.

Er war tot.

Diese Nacht war tiefdunkel und von keinem Stern erhellt.


Das Gras wuchert darauf, und der Regen verwischt es

Auf dem Père Lachaise, unweit des Massengrabs, fern von dem vornehmen Viertel der Gräberstadt, fern von diesen Phantasiegräbern, die im Angesicht der Ewigkeit einer scheußlichen Mode huldigen, in einem stillen Winkel, an einer alten Mauer findet man unter einer Eibe einen Grabstein. Auch an ihm hat der Zahn der Zeit genagt, Moos und Flechten überwuchern ihn, das Wasser macht ihn grün, die Luft schwarz. Es führt kein Pfad dahin, denn das Gras wächst dort hoch, niemand will seine Füße naß machen. Wenn die Sonne scheint, kommen die Eidechsen aus ihren Verstecken hervor. Ringsum wiegt sich im Winde wilder Hafer.

Der Stein ist kahl. Man hat ihn nicht länger und breiter gemacht, als nötig war, um einen Leichnam zu bedecken.

Es steht kein Name darauf.

Doch hat vor vielen Jahren eine Hand mit Bleistift vier Verse darauf geschrieben, die der Regen und der Staub schon etwas verwischt haben und die heute gewiß schon verlöscht sind:


»Er schläft. Sein Schicksal seltsam war.

Er starb, als seinen Engel er verlor.

Und dies geschah von ungefähr,

So wie die Nacht dem Tage folgt.«

Загрузка...