I

Am späten Vormittag eines drückend heißen Sommertages verebbte das Leben im Three Counties Hospital und verlief sich wie das Meer bei Niedrigwasser um eine vorgelagerte Insel. Außerhalb des Krankenhauses schwitzten die Einwohner von Burlington, Pennsylvania, bei einer Temperatur von dreiunddreißig Grad im Schatten und achtundsiebzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Unten bei den Stahlwerken und beim Güterbahnhof, wo es kaum Schatten und keine Thermometer gab, wären die Ablesungen - falls sich jemand die Mühe gemacht hätte - noch höher gewesen. In dem Krankenhaus war es kühler als draußen, wenn auch nicht sehr viel. Von den Patienten und dem Stab entgingen nur die Glücklichen oder die Einflußreichen in den Räumen mit Klimaanlagen der schlimmsten Hitze.

Die Aufnahmeabteilung im Erdgeschoß besaß keine Klimaanlage, und Madge Reynolds griff nach dem fünfzehnten Papiertaschentuch an diesem Morgen in ihren Schreibtisch, tupfte ihr Gesicht ab und entschied, daß es wieder Zeit sei, ihren Platz kurz zu verlassen, um sich durch ein desodorierendes Mittel zu erfrischen. Miss Reynolds war Leiterin der Aufnahme. Sie war achtunddreißig Jahre alt, und sie verfolgte aufmerksam die Anzeigen für Mittel zur Förderung der weiblichen Hygiene. Infolgedessen hatte sie einen Horror davor, nicht vollkommen gepflegt zu sein, und bei heißem Wetter unterhielt sie einen Pendelverkehr zwischen ihrem Schreibtisch und der Damentoilette am anderen Ende des Ganges. Zuerst allerdings, entschied sie, mußte sie vier Patienten benachrichtigen, die heute noch aufgenommen werden konnten.

Vor ein paar Minuten hatte sie von den Krankenstationen die Entlassungsscheine für diesen Tag erhalten. Daraus hatte Miss Reynolds ersehen, daß heute sechsundzwanzig Patienten nach Hause geschickt wurden, statt der vierundzwanzig, mit denen sie gerechnet hatte. Zusätzlich der beiden Todesfälle, die während der Nacht eingetreten waren, ergab sich daraus, daß sie aus der langen Warteliste des Krankenhauses vier weitere Namen zur sofortigen Aufnahme heraussuchen konnte. Irgendwo in vier Wohnungen in und um Burlington würde dann ein Quartett von Patienten, die entweder hoffnungsvoll oder furchtsam auf die Benachrichtigung warteten, einpacken, was ihnen unentbehrlich erschien, und sich der Medizin anvertrauen, wie sie im Three Counties Hospital praktiziert wurde. Mit ihrem sechzehnten Papiertaschentuch in der Hand schlug Miss Reynolds jetzt einen Aktendeckel auf, griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch und begann zu wählen.

Vom Glück begünstigter als die Angestellten in der Anmeldung waren bei der Hitze jene, die in den ambulanten Kliniken auf Behandlung warteten. Dort, im entgegengesetzten Flügel im Erdgeschoß, herrschte jetzt voller Betrieb. Die Patienten dort kamen wenigstens in den Genuß der Klimaanlagen, wenn sie an der Reihe waren, eines der sechs Sprechzimmer zu betreten, die an den allgemeinen Warteraum grenzten. In den Sprechzimmern standen sechs Fachärzte mit ihren besonderen Fähigkeiten jedem frei zur Verfügung, der sich die Honorare nicht leisten konnte, die diese Spezialisten von den Patienten in ihrer Privatpraxis im Medical Arts Building in der Stadt verlangten.

Der alte Rudy Hermant, der nur noch gelegentlich als Hilfsarbeiter arbeitete, wenn seine Familie ihn dazu zwang, lehnte sich in der komfortablen Kühle gelassen zurück, während Dr. McEwan, der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist, nach der Ursache für Rudys steigende Taubheit forschte. Im Grunde störte die Taubheit Rudy nicht sehr. Manchmal, wenn Vorarbeiter verlangten, daß er etwas anderes tun oder schneller arbeiten solle, fand er sie vorteilhaft. Aber Rudys ältester Sohn hatte entschieden, der alte Mann solle sich die Ohren untersuchen lassen, und folglich war er hier.

Dr. McEwan knurrte gereizt, als er das Otoskop aus dem Ohr des alten Rudy zurückzog. »Es wäre leichter für mich, wenn Sie sich den Dreck vorher herausgewaschen hätten«, bemerkte er bissig.

Diese Übellaunigkeit war für McEwan ungewöhnlich. Allerdings hatte seine Frau an diesem Morgen beim Frühstück eine Auseinandersetzung über die Haushaltskosten fortgesetzt, die sie am vorhergehenden Abend begonnen hatte, und dadurch war er so verärgert, daß er seinen neuen Oldsmobile ohne die nötige Vorsicht rückwärts aus der Garage fuhr und dabei den rechten hinteren Kotflügel verschrammte.

Rudy sah verständnislos zu ihm auf. »Was meinen Sie?« fragte er.

»Ich sagte, es wäre leichter... Ach, lassen Sie!« McEwan überlegte, ob das Leiden des alten Mannes eine Alterserscheinung oder ob es auf einen kleinen Tumor zurückzuführen sei. Es war ein interessanter Fall, und sein berufliches Interesse verdrängte bereits seine Gereiztheit.

»Ich habe nicht verstanden«, sagte der alte Mann wieder.

McEwan hob seine Stimme. »Es hat nichts zu bedeuten, lassen Sie nur.« In diesem Moment war er über die Taubheit des alten Rudy froh und schämte sich etwas über seinen eigenen Temperamentsausbruch.

In der Klinik für innere Medizin entzündete der wohlbeleibte Dr. Toynbee, ein Internist, eine neue Zigarette am Stummel der alten und sah den Patienten auf der anderen Seite seines Schreibtisches an. Während er den Fall überdachte, verspürte er ein leichtes Brennen im Magen und entschied, daß er für ein oder zwei Wochen auf chinesische Küche verzichten müsse. Doch das war in Anbetracht der zwei Diners, die ihm in dieser Woche noch bevorstanden, und des Gourmetclubs am nächsten Dienstag nicht allzu schwer zu ertragen. Während er seine Diagnose festlegte, sah er seinen Patienten an und sagte: »Sie sind zu dick, mein Lieber. Ich werde Ihnen eine Diät verordnen, und Sie müssen auch das Rauchen aufgeben.«

Etwa hundert Meter von dem Ort entfernt, wo die Spezialisten Hof hielten, eilte Miss Mildred, die Leiterin des Archivs im Three Counties Hospital, schweißüberströmt durch einen der belebten Gänge im Erdgeschoß. Doch Hitze und Unbehagen konnten sie nicht zurückhalten, und sie verfolgte ihr Wild, das sie gerade um die nächste Ecke verschwinden sah, noch schneller.

»Dr. Pearson! Dr. Pearson!«

Erst ab sie ihn einholte, blieb der alte Pathologe des Krankenhauses stehen. Er schob die große Zigarre, die er rauchte, in einen Mundwinkel und fragte gereizt: »Was gibt es? Was wollen Sie denn?«

Die kleine Miss Mildred, zweiundfünfzig, altjüngferlich und selbst mit ihren höchsten Absätzen gerade nur ein Meter fünfzig, zitterte vor Dr. Pearsons Stirnrunzeln, aber Akten, Formulare, Krankengeschichten waren ihr Lebensinhalt, und sie faßte Mut. »Diese Obduktionsbefunde müssen unterschrieben werden, Dr. Pearson. Das Gesundheitsamt hat Abschriften angefordert.«

»Ein andermal. Ich bin in Eile.« Joe Pearson war in denkbar ungnädiger Laune.

Miss Mildred ließ sich nicht einschüchtern. »Bitte, Doktor. Es dauert doch nur einen Augenblick. Seit drei Tagen versuche ich, Sie zu erreichen.«

Unwillig knurrend gab Pearson nach. Er nahm den Kugelschreiber und die Formulare, die Miss Mildred ihm reichte, trat an einen Schreibtisch und kritzelte brummend Unterschriften. »Ich weiß gar nicht, was ich hier unterschreibe.

Was ist denn das?«

»Der Fall Howden, Dr. Pearson.«

Pearson war immer noch ungehalten. »Howden! Howden! Ich kann doch nicht jeden Fall im Kopf haben.«

Geduldig erklärte Miss Mildred: »Das war der Arbeiter, der an den Folgen eines Sturzes von einem hohen Laufsteg starb. Sie erinnern sich bestimmt noch. Seine Firma behauptet, der Unfall sei durch einen Herzanfall verursacht worden, denn andernfalls hätten ihre Sicherheitsvorrichtungen den Sturz verhindert.«

Pearson grunzte: »Ah ja.« Während er weiter unterschrieb, fuhr Miss Mildred mit ihrer Zusammenfassung fort; denn wenn sie etwas anfing, führte sie es auch richtig und ordnungsgemäß zu Ende. »Die Obduktion ergab jedoch, daß der Mann ein gesundes Herz hatte und auch keine anderen Symptome aufwies, die einen Unfall veranlaßt haben könnten.«

Pearson schnitt ihr das Wort ab: »Das weiß ich alles.«

»Verzeihung, Doktor, ich dachte.«

»Es war ein Unfall. Die Firma wird der Witwe eine Pension bezahlen müssen«, knurrte Pearson dazwischen, schob seine Zigarre im Mund zurecht und kritzelte eine weitere Unterschrift, wobei er fast das Papier zerriß. Es ist beinahe noch mehr Ei als gewöhnlich auf seiner Krawatte, dachte Miss Mildred, und sie fragte sich, vor wie vielen Tagen der Pathologe sein graues, störrisches Haar zum letztenmal gebürstet haben mochte. Im Three Counties Hospital war man sich nicht einig, ob Joe Pearsons äußere Erscheinung als Witz oder als Skandal angesehen werden sollte. Seit seine Frau vor etwas über zehn Jahren gestorben war und er allein lebte, war er äußerlich immer mehr verlottert. Jetzt, mit Sechsundsechzig, ließ seine Erscheinung manchmal eher an einen Landstreicher denken als an den Leiter einer Hauptabteilung des Krankenhauses. Unter dem offenstehenden Ärztemantel bemerkte Miss Mildred eine gestrickte Wollweste mit ausgefransten Knopflöchern und zwei weiteren Löchern, die wahrscheinlich von Säure gefressen worden waren. Seine graue, ungebügelte Hose fiel über ausgetretene Schuhe, die dringend hätten geputzt werden müssen.

Joe Pearson unterzeichnete das letzte Papier und schob den Stoß mit einer fast wilden Bewegung der kleinen Miss Mildred hin. »Vielleicht darf ich jetzt mit meiner wirklichen Arbeit weitermachen, wie?« Seine Zigarre wippte auf und ab und verstreute Asche, zum Teil auf ihn selbst, zum Teil auf den glänzenden Linoleumboden. Pearson war so lange im Three Counties Hospital, daß er sich Grobheiten erlauben konnte, die bei einem jüngeren Mann nie geduldet worden wären, und auch die Schilder >Nicht rauchen< zu ignorieren, die in Abständen gut sichtbar in den Krankenhausgängen hingen.

»Danke, Doktor. Danke vielmals.«

Er nickte kurz und ging weiter zur Haupthalle, um mit dem Fahrstuhl in das Souterrain zu fahren. Aber beide Fahrstühle befanden sich in den oberen Stockwerken. Mit einem unmutigen Brummen eilte er die Treppe hinunter, die zu seiner eigenen Abteilung führte.

In der chirurgischen Abteilung, drei Etagen höher, war die Atmosphäre ausgeglichener. In der gesamten Operationsabteilung wurden Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgfältig kontrolliert, damit die Chirurgen des Krankenhauses, die Assistenten und die Schwestern, die unter ihren grünen Operationsanzügen nur ihre Unterwäsche trugen, unbeeinträchtigt arbeiten konnten. Manche der Chirurgen hatten ihre ersten Operationen an diesem Morgen bereits hinter sich und schlenderten für eine Tasse Kaffee zu dem Aufenthaltsraum, ehe sie zu ihrem nächsten Fall übergingen. Aus den Operationsräumen zu beiden Seiten des Ganges, der vom übrigen Teil des Krankenhauses aseptisch abgeschlossen war, schoben Schwestern Patienten, die noch in der Narkose lagen, in eines der beiden Zimmer, wo die Patienten unter Beobachtung blieben, bis sie wieder zu sich gekommen waren und in die ihnen zugeteilten Krankenbetten gebracht werden konnten.

Zwischen Schlückchen von siedendheißem Kaffee verteidigte Lucy Grainger, eine orthopädische Chirurgin, die Anschaffung eines Volkswagens, den sie sich am Tage vorher gekauft hatte.

»Sie müssen entschuldigen, Lucy«, sagte Dr. Bartlett, »aber ich fürchte, ich bin auf dem Parkplatz versehentlich draufgetreten.«

»Macht nichts, Gil«, antwortete sie. »Aber für Sie ist die körperliche Bewegung nur gesund, wenn Sie um Ihr Ungeheuer aus Detroit herumlaufen müssen.«

Gil Bartlett, einer der allgemeinen Chirurgen des Krankenhauses, war als Besitzer eines cremefarbenen Cadillacs bekannt, den man selten anders als in fleckenlosem Glanz strahlend sah. Im Grunde war der Wagen ein Ausdruck der peinlichen Sorgfalt seines Besitzers, der unbestreitbar einer der bestangezogenen Ärzte am Three Counties Hospital war. Bartlett war auch der einzige Arzt, der sich mit einem Bart präsentierte, einen immer sauber gestutzten van Dyck, der beim Sprechen auf- und abwippte, ein Vorgang, den Lucy faszinierend zu beobachten fand.

Kent O'Donnell kam zu ihnen herübergeschlendert. O'Donnell war Chef der Chirurgie und gleichzeitig Präsident des medizinischen Ausschusses des Krankenhauses. Bartlett begrüßte ihn.

»Sie habe ich gesucht, Kent. Ich halte vor den Schwestern nächste Woche einen Vortrag über Mandeloperationen bei Erwachsenen. Haben Sie ein paar Farbdias von Luftröhrenentzündungen und durch Aspiration verursachte Lungenentzündungen?«

O'Donnell überflog in Gedanken seine Sammlung von Farbfotos für Lehrzwecke. Er wußte, was Bartlett meinte. Er bezog sich auf eine der weniger bekannten Komplikationen, die manchmal nach der Ausschälung der Rachenmandeln bei Erwachsenen auftritt. Wie den meisten Chirurgen war O'Donnell bekannt, daß selbst bei der größten Sorgfalt während der Operation gelegentlich ein winziges Stück der Mandel der Pinzette des Operateurs entging und von dem Patienten in die Lunge eingeatmet wurde, wo es eine Infektion verursachte. Er erinnerte sich, daß er eine Serie von Bildern der Luftröhre und der Lungen besaß, die einen derartigen Fall zeigten. Sie waren während einer Obduktion aufgenommen worden. »Ich glaube ja«, antwortete er. »Ich werde sie heute abend heraussuchen.«

»Wenn Sie keines von der Luftröhre haben, dann geben Sie ihm eins vom Dickdarm«, riet Lucy Grainger. »Er kann es doch nicht unterscheiden.« Gelächter lief durch das Ärztezimmer.

Auch O'Donnell lächelte. Er und Lucy waren alte Freunde, und manchmal fragte er sich, ob sie nicht mehr werden könnten, wenn ihnen Zeit und Gelegenheit gegeben würden. Er hatte Lucy aus vielen Gründen gern, nicht zuletzt wegen der Art und Weise, in der sie sich in einer Umgebung behauptete, die manchmal als eine Männerwelt angesehen wird, und in der sie dennoch niemals ihre Fraulichkeit verlor.

Der Operationsanzug, den sie jetzt trug, ließ sie formlos wie alle anderen, fast anonym, erscheinen. Er wußte aber, daß sich darunter eine hübsche, schlanke Figur verbarg, die im allgemeinen dezent, elegant und modisch angezogen war.

Seine Gedanken wurden von einer Krankenschwester unterbrochen, die geklopft hatte und unbemerkt eingetreten war.

»Dr. O'Donnell. Die Familie Ihres Patienten wartet draußen.«

»Sagen Sie bitte, ich käme sofort.« Er trat in das Umkleidezimmer und begann, seinen Operationsanzug abzustreifen. Auf seinem Programm für heute stand nur eine Operation, die er bereits beendet hatte. Wenn er die Familie draußen getröstet und ihr Mut zugesprochen hatte - gerade hatte er dem Patienten erfolgreich Gallensteine entfernt -, war seine nächste Aufgabe ein Besuch beim Verwaltungsdirektor.

Ein Stockwerk über der chirurgischen Abteilung, in dem Krankenzimmer für Privatpatienten Nr. 28, hatte George Andrew Dunton die Fähigkeit verloren, Wärme oder Kälte wahrzunehmen, und stand fünfzehn Sekunden vor dem Tod. Während Dr. McMahon das Handgelenk seines Patienten hielt und darauf wartete, daß der Puls aussetzte, stellte Schwester Penfield den Ventilator am Fenster auf stark, weil durch die Anwesenheit der Angehörigen die Luft im Zimmer unbehaglich stickig geworden war. Das ist eine ordentliche Familie, dachte sie, die Frau, der erwachsene Sohn, die jüngere Tochter. Die Frau schluchzte leise vor sich hin, die Tochter weinte tonlos, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen, der Sohn hatte sich abgewendet, aber seine Schultern zuckten. Wenn ich einmal sterbe, dachte Elaine Penfield, hoffe ich, daß auch um mich jemand weint. Tränen sind der beste Nachruf, den es gibt.

Jetzt ließ Dr. McMahon das Handgelenk seines Patienten sinken und sah zu den anderen hinüber. Es waren keine Worte erforderlich, und methodisch notierte Schwester Penfield die Todeszeit: zehn Uhr zweiundfünfzig.

In den Krankensälen und den Zimmern der Privatpatienten an diesem Gang gehörte diese Zeit zu den stillen Stunden des Tages. Die Morgenmedikamente waren ausgegeben, die Visiten beendet, und es herrschte vorübergehend Stille, bis die Essenszeit wieder einen Höhepunkt der Betriebsamkeit brachte. Manche der Schwestern waren zur Kantine Kaffee trinken gegangen, andere, die zurückgeblieben waren, füllten ihre Krankenblätter aus. »Klagt über fortgesetzte Leibschmerzen«, hatte Schwester Wilding auf dem Krankenblatt einer Patientin notiert. Sie war im Begriff, eine weitere Bemerkung hinzuzufügen, unterbrach sich aber.

Zum zweiten Male an diesem Morgen griff Schwester Wilding, grauhaarig und mit sechsundfünfzig Jahren eine der ältesten Pflegerinnen des Krankenhauses, in ihre Schwesternuniform und zog den Brief heraus, den sie bereits zweimal gelesen hatte, seit er zusammen mit der Post ihrer Patienten auf ihren Schreibtisch gelegt worden war. Das Foto eines jungen Marineleutnants mit einem hübschen Mädchen am Arm fiel heraus, als sie ihn auseinanderfaltete, und sie betrachtete einen Augenblick lang das Bild, ehe sie den Brief noch einmal las. »Liebe Mutter«, begann er, »es wird dich sicher sehr überraschen, aber ich habe hier in San Franzisko ein Mädchen kennengelernt, und gestern haben wir geheiratet. Ich weiß, daß das für dich in mancher Weise eine große Enttäuschung bedeutet, da du immer gesagt hast, du wolltest an meiner Hochzeit teilnehmen. Aber ich bin überzeugt, du wirst es verstehen, wenn ich dir sage...«

Schwester Wilding ließ ihre Augen von dem Brief abschweifen und dachte an den Jungen, den sie in Erinnerung und den sie so selten gesehen hatte. Nach der Scheidung hatte sie für Adam gesorgt, bis er aufs College ging. Dann war Annapolis gefolgt, mit ein paar Wochenendbesuchen und kurzen Ferien. Danach kam die Marine. Und jetzt war er ein Mann, der einer anderen gehörte. Sie durfte nicht vergessen, nachher ein Telegramm mit vielen lieben und guten Wünschen an sie aufzugeben. Vor Jahren hatte sie immer gesagt, daß sie ihren Beruf aufgeben werde, sobald Adam auf eigenen Füßen stehen und sich selbst erhalten könne, aber sie hatte es dann doch nicht getan, und jetzt würde die Pensionierung schnell genug kommen, ohne daß sie etwas dazu tat. Sie schob Brief und Foto in die Tasche zurück und griff nach der Feder, die sie niedergelegt hatte. Dann fügte sie in sorgfältigen Buchstaben auf dem Krankenblatt hinzu: »Leichtes Erbrechen und Durchfall.

Dr. Reubens benachrichtigt.«

In der Entbindungsstation im vierten Stock konnte nie vorausgesagt werden, zu welcher Stunde des Tages es ruhig sein würde. Babys, dachte Dr. Charles Dornberger, während er sich neben zwei anderen Geburtshelfern die Hände wusch, hatten die lästige Angewohnheit, in Gruppen zu kommen. Es gab Stunden und selbst Tage, während derer alles ordentlich und ruhig verlief und Kinder ordentlich eines nach dem anderen zur Welt gebracht werden konnten. Dann brach plötzlich der Teufel los, und ein halbes Dutzend wartete darauf, gleichzeitig geboren zu werden. Einer dieser Augenblicke war jetzt gekommen.

Seine eigene Patientin, eine dralle, ewig fröhliche Negerin, stand im Begriff, ihr zehntes Kind zur Welt zu bringen. Weil sie spät in das Krankenhaus gekommen war und die Wehen schon weit fortgeschritten waren, hatte man sie von der Notaufnahme auf einem Wagen heraufgebracht. Während Dornberger noch seine Hände bürstete, konnte er einen Teil ihrer Unterhaltung draußen mit dem Medizinalpraktikanten hören, der sie in die Abteilung hinauf begleitet hatte.

Anscheinend hatte der Praktikant den Personenaufzug unten im Erdgeschoß von anderen Fahrgästen frei gemacht, wie es in dringe nden Fällen üblich war.

»Haben Sie wegen mir all die netten Leute aus dem Aufzug geschickt?« fragte sie. »So wichtig bin ich noch nie im Leben genommen worden.« Darauf hörte Dornberger, wie der Praktikant ihr beruhigend zuredete, sie solle sich nicht aufregen. »Ich mich aufregen, mein Sohn?« antwortete sie. »Aber ich bin doch ganz ruhig. Ich bin immer ganz ruhig, wenn ich ein Baby bekomme. Das ist die einzige Zeit, wo ich mal nicht spülen muß, und nicht waschen und kochen. Ich freue mich immer, hierherzukommen. Für mich ist das wie ein Urlaub.« Sie schwieg, als Schmerzen nach ihr griffen, und murmelte dann zwischen zusammengepreßten Zähnen: »Neun Kinder hab' ich schon. Das ist mein zehntes. Der älteste ist so groß wie Sie, mein Sohn. Sie können mit mir auch im nächsten Jahr rechnen. Ich verspreche Ihnen, dann komme ich wieder.« Dornberger hörte ihr Kichern verklingen, nachdem die Schwestern des Kreißsaales sie übernommen hatten, während der Praktikant an seinen Platz in der Notaufnahme zurückkehrte.

Und dann folgte Dr. Dornberger gewaschen, im Operationsanzug, steril, aber vor Hitze schwitzend, seiner Patientin in den Entbindungsraum.

In der Krankenhausküche, wo die Hitze sich weniger drückend auswirkte, weil die Leute, die dort arbeiteten, an sie gewöhnt waren, probierte Hilda Straughan, die Küchenleiterin, ein Stück Rosinenkuchen und nickte dem feisten Konditor anerkennend zu. Sie befürchtete zwar, die Kalorien aus der Kostprobe würden sich zusammen mit anderen in einer Woche auf der Waage in ihrem Badezimmer zeigen, beruhigte ihr Gewissen aber damit, daß sie sich sagte, es gehöre zu ihren Pflichten, von den Speisen der Krankenhausküche so viele wie möglich zu kosten. Außerdem war es für Mrs. Straughan jetzt schon etwas spät, um sich noch wegen der Kalorien und ihres Körpergewichts Sorgen zu machen. Infolge zahlloser früherer Kostproben zeigte ihre Waage gegenwärtig rund zweihundert Pfund, von denen sich ein großer Teil in ihren prächtigen Brüsten befand, Zwillingsvorgebirgen, die im ganzen Krankenhaus berühmt waren und ihrem Gang die Majestät eines Flugzeugträgers, verliehen, dem zwei Schlachtschiffe als Geleit vorauslaufen.

Aber ebensosehr wie das Essen liebte Mrs. Straughan ihre Arbeit. Zufrieden sah sie sich um und überblickte ihr Reich: die schimmernden Stahlherde und Serviertische, die glänzenden Küchengeräte, die schneeweißen Schürzen der Köche und ihrer Helfer. Bei diesem Anblick wurde ihr warm ums Herz.

Es war die arbeitsreichste Zeit in der Küche. Das Mittagessen war die größte Mahlzeit des Tages, weil außer allen Patienten der gesamte Stab des Krankenhauses in der Kantine verpflegt werden mußte. In etwa zwanzig Minuten mußten die Tabletts mit den Speisen in die Krankenstationen hinaufgeschickt werden, und die anschließende Ausgabe des Essens in der Kantine dauerte zwei Stunden. Dann begannen die Köche mit der Vorbereitung des Abendbrots, während das Hilfspersonal das Geschirr spülte und aufräumte.

Der Gedanke an das Geschirr veranlaßte Mrs. Straughan zu einem sorgenvollen Stirnrunzeln, und sie begab sich in den hinteren Teil der Küche, wo zwei große, veraltete Geschirrspülmaschinen standen. Dieser Teil ihres Reiches war weniger glänzend und modern als die anderen, und die Küchenleiterin empfand nicht zum erstenmal, daß sie glücklich wäre, wenn sie auch hier wie in der übrigen Küche eine Modernisierung durchsetzen könnte. Sie sah allerdings ein, daß nicht alles auf einmal geschehen könne, und mußte zugeben, daß sie in den zwei Jahren, die sie ihre Stellung im Three Counties Hospital innehatte, der Krankenhausverwaltung eine ganze Menge kostspieliger neuer Anlagen abgezwungen hatte. Dessen ungeachtet entschloß sie sich, während sie weiterging, um die Wärmplatten im Eßsaal zu kontrollieren, den Verwaltungsdirektor bald wieder wegen ihrer Geschirrspüler anzusprechen.

Die Küchenleiterin war nicht die einzige Person in dem Krankenhaus, die ans Essen dachte. In der Röntgenabteilung, in der zweiten Etage, war ein ambulanter Patient - Mr. James Bladwick, Vizepräsident für Verkauf bei einer der drei führenden Autovertretungen in Burlington - nach seinen eigenen Worten >hungrig wie ein Wolfe.

Das hatte seinen Grund. Auf Anweisung seines Arztes hatte Jim Bladwick seit Mitternacht gefastet und befand sich jetzt im Röntgenraum Nr. 1, bereit zu einer Durchleuchtung der Verdauungsorgane. Die Röntgenstrahlen sollten den Verdacht, daß in Bladwicks Eingeweiden ein Zwölffingerdarmgeschwür wuchere, bestätigen oder widerlegen. Jim Bladwick hoffte, daß der Verdacht unbegründet sei. Tatsächlich hoffte er inbrünstig, daß sich weder ein Geschwür noch etwas anderes verschworen hatte, ihn jetzt zu behindern, grade jetzt, da sein Eifer und seine Opfer der letzten drei Jahre, seine Bereitschaft, angestrengter und länger als jeder andere im Verkaufsstab zu arbeiten, sich endlich bezahlt machten. Gewiß hatte er Sorgen. Wer hätte keine, wenn man jeden Monat die Absatzquote einer Vertretung erfüllen mußte. Aber es durfte einfach kein Geschwür sein. Es mußte etwas anderes sein, etwas Geringfügiges, das schnell in Ordnung gebracht werden konnte. Er war nicht länger als sechs Wochen Vizepräsident für Verkauf, aber trotz des hochtrabenden Titels wußte er besser als jeder andere, daß die Erhaltung dieser Stellung von seiner unverminderten Fähigkeit zu arbeiten abhing. Und um zu arbeiten, mußte er auf der Höhe bleiben: zäh, einsatzbereit, gesund. Kein ärztliches Attest konnte eine sinkende Absatzkurve ausgleichen. Jim Bladwick hatte diesen Augenblick seit einiger Zeit hinausgeschoben. Es war vermutlich zwei Monate her, daß er Unbehagen und unbestimmbare Schmerzen in der Magengegend bemerkt und auch häufiges Aufstoßen, manchmal in den ungeeignetsten Augenblicken, wenn er mit Kunden verhandelte, beobachtet hatte. Eine Zeitlang versuchte er, sich einzureden, es handle sich um nichts Besonderes, aber schließlich hatte er ärztlichen Rat gesucht, und die jetzige morgendliche Verabredung war das Ergebnis. Er hoffte allerdings, daß sie nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmen würde. Der Abschluß mit Fowlers für sechs Lastwagen stand kurz bevor, und er brauchte diesen Abschluß dringend. Mein Gott, was hatte er für einen Hunger!

Für Dr. Ralf Bell, den leitenden Röntgenarzt - >Dingdong< nannten ihn die meisten Kollegen am Krankenhaus - bedeutete die Untersuchung nichts anderes als eine weitere Durchleuchtung der Verdauungsorgane, die sich von hunderten anderer in nichts unterschied. Diesmal entschloß er sich aber, >ja< zu tippen und spielte damit mit sich selbst ein Spiel, wie er es manchmal tat. Dieser Patient war der Typ für ein Geschwür. Durch seine Hornbrille mit den dicken Gläsern hatte Bell seinen Patienten unauffällig beobachtet. Der sieht wie einer aus, der sich Sorgen macht, dachte Bell; offensichtlich kocht er jetzt schon. Der Röntgenarzt rückte Bladwick hinter dem Leuchtschirm in die richtige Stellung und reichte ihm ein Glas mit Bariumbrei. »Wenn ich es Ihnen sage, trinken Sie das«, erklärte er.

Als er bereit war, befahl er: »Jetzt.« Bladwick leerte das Glas. Auf dem Leuchtschirm beobachtete Bell den Weg des Bariums, wie es zuerst durch die Speiseröhre, dann in den Magen und von dort in den Zwölffingerdarm lief. Durch den undurchlässigen Brei abgehoben, ließen die Röntgenstrahlen die Umrisse jedes Organs klar erkennen, und bei verschiedenen Stadien drückte Bell auf einen Knopf und hielt das Röntgenbild auf einem Film fest. Nun preßte er auf den Leib des Patienten, um das Barium umherzubewegen. Dann konnte er es sehen: einen Krater im Zwölffingerdarm. Klar und unverkennbar ein Geschwür. Die Wette habe ich wieder mal gewonnen, dachte er. Laut sagte er: »Das ist alles, Mr. Bladwick. Ich danke Ihnen.«

»Nun, Doc, wie lautet Ihr Urteil? Bleibe ich am Leben?«

»Sie bleiben am Leben.« Die meisten wollten wissen, was er auf dem Bildschirm sah. »Zauberspiegel an der Wand, wer ist der Gesündeste im ganzen Land?« Es war allerdings nicht seine Aufgabe, diese Auskunft zu geben. »Ihr behandelnder Arzt erhält morgen die Filme. Ich nehme an, er wird mit Ihnen sprechen.« Pech, mein Freund, dachte er, ich hoffe, Sie genießen gern viel Ruhe und eine Diät aus Milch und weichen Eiern.

Zweihundert Meter vom Hauptgebäude des Krankenhauses entfernt, in einem vernachlässigten Gebäude, das früher einmal eine Möbelfabrik gewesen war und jetzt den Schwestern als Wohnheim diente, hatte die Lernschwester Vivian Loburton Schwierigkeiten mit einem Reißverschluß, der sich nicht reißen lassen wollte.

»Verflucht und zugenäht.« Sie redete den Reißverschluß mit den Worten an, die ihr Vater gern gebrauchte, der durch Holzfällen ein ansehnliches Vermögen erworben hatte, aber darin keinen Grund sah, zu Hause anders zu reden ab in den Wäldern.

Die neunzehnjährige Vivian zeigte manchmal in einem interessanten Kontrast gleichzeitig die Robustheit ihres Vaters und die angeborene neuenglische Zartheit ihrer Mutter, die auch durch das enge Zusammenleben mit den Holzfällern Oregons nicht beeinträchtigt worden war. Während der ersten drei Monate ihrer Ausbildung als Krankenschwester hatte Vivian in ihren Reaktionen auf das Krankenhaus und die Krankenpflege bereits manche Züge ihrer beiden Eltern an sich entdeckt. Gleichzeitig und in gleicher Weise war sie von Ehrfurcht ergriffen und fasziniert, abgestoßen und angewidert. Sie vermutete, daß die erste nahe Begegnung mit Krankheit und Leiden für einen Neuling immer mit einem Schock verbunden sei, aber diese Erkenntnis half nicht viel, wenn sich einem der Magen umdrehen wollte, und es erforderte die ganze Willenskraft, die man besaß, sich nicht abzuwenden und davonzulaufen.

Nach Augenblicken wie diesen fühlte sie die Notwendigkeit eines Tapetenwechsels, eines reinigenden Gegenmittels. Und in gewissem Umfang hatte sie das in einer alten Liebe gefunden: in der Musik. Überraschenderweise besaß Burlington für eine Stadt seiner Größe ein ausgezeichnetes Symphonieorchester, und nachdem Vivian das entdeckt hatte, war sie eine seiner Verehrerinnen geworden. Sie beobachtete, daß der Wechsel im Tempo, die Wohltat guter Musik ihr halfen, fest und ihrer selbst sicher zu werden. Sie bedauerte es, als die Konzerte durch die Sommerpause unterbrochen wurden, und in letzter Zeit hatte es Augenblicke gegeben, in denen sie das Bedürfnis nach etwas empfand, das an deren Stelle treten konnte.

Allerdings war im Augenblick keine Zeit für abschweifende, seltsame Gedanken. Die Pause zwischen dem Vormittagsunterricht und dem Dienstantritt in einem Krankensaal war kurz genug. Und jetzt dieser Reißverschluß!... Sie zerrte wieder, und plötzlich faßten die Zähne, der Reißverschluß schloß sich. Erleichtert lief sie zur Tür, blieb dann stehen, um sich über das Gesicht zu wischen. Himmel, war es heiß. Diese Anstrengung hatte sie in idiotisches Schwitzen versetzt.

So verging dieser Vormittag wie alle anderen Vormittage im ganzen Krankenhaus. In den Kliniken, den Säuglingsstationen, Laboratorien, Operationsräumen; in der Psychiatrie, der Kinderabteilung, der Hautklinik; in der Orthopädie, der Augenklinik, der Frauenklinik, der Urologie, in den Krankensälen der Fürsorge und den Pavillons der Privatpatienten; in den anderen Abteilungen - Verwaltung, Buchhaltung, Einkauf, Haushalt; in den Wartezimmern, Korridoren, Aufzügen. Durch die fünf Stockwerke, das Souterrain und den Keller des Three Counties Hospitals fluteten und ebbten die Wogen und Strömungen der Menschlichkeit und der Medizin.

Es war elf Uhr am fünfzehnten Juli.

II

Zwei Blocks vom Three Counties Hospital entfernt schlug die Uhr vom Turm der Erlöserkirche die volle Stunde, als Kent O'Donnell von der chirurgischen Abteilung zur Verwaltung hinunterging. Die Töne der Glocke, seit eh und je durch einen Fehler bei ihrem lange zurückliegenden Guß verstimmt, drangen durch ein offenes Fenster ins Treppenhaus. Automatisch verglich ODonnell die Zeit auf seiner Armbanduhr und wich einer Gruppe von Praktikanten aus, die eilig an ihm vorbei die Treppe für Angestellte des Krankenhauses heraufdrängten. Ihre Schritte dröhnten laut auf den eisernen Stufen. Die Praktikanten verlangsamten ihr Tempo etwas, als sie den Präsidenten des medizinischen Ausschusses sahen, und grüßten mit einem respektvollen »Guten Morgen, Doktor«, als sie an ihm vorbeikamen. Im Gang auf der zweiten Etage blieb O'Donnell stehen, um eine Schwester mit einem Rollstuhl vorbeizulassen. In ihm saß ein etwa zehnjähriges Mädchen mit einem Verband über einem Auge. Neben ihr ging, schützend hinuntergebeugt, eine Frau, offensichtlich die Mutter.

Die Schwester, der er zulächelte, obwohl er sie nicht wiedererkannte, taxierte ihn verstohlen. Trotz seiner Anfang Vierzig drehten Frauen sich immer noch nach O'Donnell um. Er hatte sich die Form erhalten, dank der er in der Rugbymannschaft seines Colleges ein geschätzter Quarterback gewesen war, seine große, aufrechte Gestalt, mit kräftigen, breiten Schultern und muskulösen Armen. Selbst heute noch hatte er die Eigenart, die Schultern zu heben, wenn er sich bereit machte, eine schwierige Aufgabe anzupacken oder eine Entscheidung zu treffen, als ob er sich unwillkürlich darauf vorbereite, den Angriff eines wild entschlossenen Stürmers abzuwehren. Doch trotz seines Gewichts, vorwiegend Muskeln und Knochen mit kaum einem Pfund überflüssigen Fetts, bewegte er sich leichtfüßig, und regelmäßiger Sport - Tennis im Sommer und Skilaufen im Winter - hatten ihn gesund und elastisch erhalten.

O'Donnell galt nie als schön im adonischen Sinn, sondern besaß kräftige, faltige, unregelmäßige Gesichtszüge (seine Nase zeigte immer noch die Narbe von einer alten Fußballverletzung), die Frauen an Männern unbegreiflicherweise so häufig anziehend finden. Nur sein Haar zeigte erkennbare Spuren seiner Jahre; vor nicht langer Zeit noch pechschwarz, ergraute es jetzt schnell, als ob das Pigment plötzlich kapituliert und den Rückzug angetreten hätte.

Jetzt hörte O'Donnell hinter sich seinen Namen rufen. Er blieb stehen und sah sich um. Es war Bill Rufus, einer der älteren Chirurgen des Krankenhauses.

»Wie geht es, Bill?« O'Donnell hatte Rufus gern. Er war gewissenhaft und zuverlässig, ein guter Chirurg mit einer umfangreichen Praxis. Seine Patienten vertrauten ihm wegen seiner aufrichtigen Zuverlässigkeit, die zum Ausdruck kam, wenn er sprach. Er wurde von seinen Kollegen respektiert, Praktikanten und Assistenzärzte schätzten ihn, weil sie fanden, daß Dr. Rufus eine angenehme, nicht verletzende Art besaß, vernünftige Belehrungen zu erteilen und sie dabei als seinesgleichen zu behandeln, ein Verhalten, das bei anderen Chirurgen nicht immer zu finden war.

Seine einzige Absonderlichkeit, wenn man es so nennen wollte, war die Gewohnheit, unmöglich grelle Krawatten zu tragen. O'Donnell schauderte innerlich, als er die Schöpfung sah, mit der sein Kollege sich heute zur Schau stellte: türkisfarbene Kreise und zinnoberrote Blitze auf einem Grund in Mauve und Zitronengelb. Bill Rufus nahm eine ganze Menge Anzüglichkeiten über seine Krawatten hin. Einer der Psychiater hatte kürzlich behauptet, sie stellten einen Eiterherd eines innerlichen Garens unter einer konserva tiven Oberfläche dar. Aber Rufus hatte nur gut gelaunt gelacht. Heute schien er allerdings in Sorge zu sein.

»Kent, ich möchte mit Ihnen reden«, sagte Rufus.

»Sollen wir in mein Zimmer gehen?« O'Donnell war neugierig. Rufus war nicht der Mann, der zu ihm kam, wenn es sich um etwas Unwichtiges handelte.

»Nein, wir können hier so gut reden wie irgendwo anders. Hören Sie, Kent, es handelt sich um die Befunde der Pathologie.«

Sie traten zu einem Fenster, um dem Hin und Her in dem Gang auszuweichen, und O'Donnell dachte: Das habe ich befürchtet. Zu Rufus sagte er: »Was haben Sie für Sorgen, Bill?«

»Die Berichte brauchen zu lange. Viel zu lange.« O'Donnell kannte das Problem gut. Wie andere Chirurgen, operierte Rufus häufig Patienten mit einem Tumor. Wenn ein Tumor freigelegt war, wurde er zur Überprüfung durch den Pathologen des Hospitals, Dr. Joseph Pearson, entfernt. Der Pathologe nahm zwei Untersuchungen des Gewebes vor. Zuerst ließ er einen kleinen Teil gefrieren und untersuchte das Gewebe unter dem Mikroskop. Das geschah in einem kleinen Labor unmittelbar neben dem Operationsraum, während der Patient noch in der Narkose lag. Diese Untersuchung ergab eines von zwei möglichen Urteilen. Lautete es auf >bösartig<, bedeutete es, daß Krebs vorlag, und wies auf die Notwendigkeit einer weiteren großen Operation des Patienten hin. Das Urteil >gutartig< bedeutete eine Erlösung und besagte im allgemeinen, daß der Patient nach der Entfernung des Tumors keiner weiteren Behandlung bedurfte. Wenn die Untersuchung des Gefrierschnittes die Diagnose >bösartig< ergab, wurde die Operation sofort weitergeführt. Andererseits war das Urteil >gutartig< des Pathologen für den Chirurgen das Signal, den Operationsschnitt zu schließen und den Patienten in den Aufwachraum bringen zu lassen.

»Bei den Gefrierschnitten treten doch keine Verzögerungen auf, oder?« O'Donnell hatte noch keine Klage darüber gehört, aber er wollte Gewißheit haben.

»Nein«, antwortete Rufus, »es gäbe auch ein schönes Geschrei, wenn das der Fall wäre. Aber die Befunde über die Gesamtuntersuchung des Gewebes, die brauchen zu lange.«

»Ich verstehe.« O'Donnell versuchte Zeit zu gewinnen, um zu überlegen. Im Geist überprüfte er das Verfahren. Nach der Untersuchung des Gefrierschnittes wurde der entfernte Tumor in das Labor der Pathologie geschickt, wo ein Laborant verschiedene Gewebeschnitte vorbereitete, wobei er gründlicher und unter günstigeren Bedingungen arbeiten konnte. Später untersuchte der Pathologe die Schnitte und gab sein endgültiges Urteil ab. Manchmal erwies sich ein Tumor, der bei dem Gefrierschnitt als gutartig oder zweifelhaft klassifiziert worden war, bei dieser späteren, genaueren Untersuchung als bösartig, und es galt nicht als ungewöhnlich, wenn der Pathologe nach seiner zweiten Untersuchung sein erstes Urteil revidierte. In diesen Fällen wurde der Patient in den Operationssaal zurückgebracht und die notwendige Operation vorgenommen. Ganz eindeutig war es aber wichtig, daß der Pathologe seinen zweiten Befund schnell abgab. O'Donnell hatte bereits erkannt, daß hierin der Kern von Rufus' Beschwerde lag.

»Wenn es nur einmal passiert wäre«, beklagte sich Rufus, »würde ich nicht davon reden. Ich weiß, daß die Pathologie sehr viel zu tun hat, und ich will auch nichts gegen Joe Pearson sagen, aber es ist eben nicht nur dieser eine Fall, Kent. Es ist dauernd so.«

»Nennen Sie mir ein spezifisches Beispiel, Bill«, forderte O'Donnell knapp. Er bezweifelte allerdings keinen Augenblick, daß Rufus seine Beschwerde durch Tatsachen belegen könnte.

»Also gut. Ich operierte in der vergangenen Woche eine Patientin, eine Mrs. Mason, mit einem Brusttumor. Ich entfernte den Tumor, und nach dem Gefrierschnitt erklärte Joe Pearson: gutartig. Später allerdings, in seinem pathologischen Befund, bezeichnete er ihn als bösartig.« Rufus hob die Schultern. »Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist bei der ersten Untersuchung nicht immer eindeutig zu erkennen.«

»Aber?« Jetzt, nachdem O'Donnell wußte, um was es ging, wollte er die Sache hinter sich bringen.

»Pearson brauchte für den pathologischen Befund acht Tage. Als ich den Bericht endlich erhielt, war die Patientin bereits entlassen.«

»So, so.« Das ist tatsächlich böse, dachte O'Donnell. Das konnte er nicht einfach übergehen.

»Es ist nicht einfach«, fuhr Rufus ruhig fort, »eine Frau zurückzuholen und ihr zu erklären, daß man sich geirrt habe, daß sie doch Krebs habe und daß sie noch einmal operiert werden müsse.«

Nein, das war nicht einfach; O'Donnell wußte es nur zu gut. Einmal, ehe er zum Three Counties Hospital gekommen war, hatte er das gleiche erlebt. Er hoffte, daß er es nie wieder tun mußte.

»Bill, wollen Sie mich die Geschichte auf meine Art in Ordnung bringen lassen?« O'Donnell war froh, daß es Rufus war, der ihm den Fall vortrug. Mit einem der anderen Chirurgen wäre es schwieriger gewesen.

»Gewiß, wenn etwas Definitives geschieht.« Rufus' Hartnäckigkeit war gerechtfertigt. »Verstehen Sie, es handelte sich nicht um einen vereinzelten Fall. Zufällig ist es diesmal ein sehr böser.«

Auch hier wußte O'Donnell, daß das stimmte. Das Schwierige war, daß Rufus verschiedene andere Probleme nicht kannte, die damit in Zusammenhang standen.

»Heute nachmittag noch werde ich mit Joe Pearson reden«, versprach er. »Nach der Konferenz über die Todesfälle in der Chirurgie. Sie kommen doch?«

Rufus nickte. »Gewiß, ich komme.«

»Dann sehe ich Sie dort, Bill. Danke, daß Sie mich unterrichtet haben. Ich verspreche Ihnen, daß etwas geschehen wird.«

Etwas, dachte O'Donnell, während er durch den Korridor ging. Aber was? Er dachte immer noch über dieses Problem nach, als er in die Verwaltungsabteilung kam und die Tür zu Harry Tomasellis Büro öffnete.

O'Donnell bemerkte Tomaselli erst, als ihn der Verwaltungsdirektor anrief. »Hier, Kent.« Tomaselli stand auf der anderen Seite des birkegetäfelten Raumes über einen Tisch gebeugt, statt an seinem Schreibtisch zu sitzen, an dem er den größten Teil seiner Arbeitszeit verbrachte. Vor ihm aufgerollt lagen Baupläne und Zeichnungen. O'Donnell ging über den dicken Teppich zu ihm und blickte gleichfalls auf die Pläne.

»Luftschlö sser, Harry?« Er deutete auf eine der Zeichnungen. »Wissen Sie, ich bin überzeugt, daß wir für Sie da oben eine prächtige Dachwohnung einbauen können, oben auf dem Ostflügel.«

Tomaselli lächelte. »Ich werde mich gern fügen, vorausgesetzt, Sie überzeugen den Ausschuß, daß es notwendig ist.« Er nahm seine randlose Brille ab und begann die Gläser zu polieren. »Hier ist es also - das neue Jerusalem.«

O'Donnell studierte die Silhouette des Three Counties Hospitals mit den prächtigen neuen Erweiterungsbauten, die der Architekt gezeichnet hatte. Die Planung war bereits weitgehend abgeschlossen. Die Neubauten umfaßten einen ganzen Flügel und ein neues Schwesternheim. »Gibt es sonst etwas Neues?« Er wandte sich Tomaselli zu.

Der Verwaltungsdirektor hatte seine Brille wieder aufgesetzt. »Ich habe heute morgen wieder mit Orden gesprochen.« Orden Brown, Präsident des zweitgrößten Stahlwerkes in Burlington, war Vorsitzender des Krankenhausausschusses.

»Ja, und?«

»Er ist überzeugt, daß wir bis Januar mit einem Baufonds von einer halben Million Dollars rechnen können. Das bedeutet, daß wir im März mit dem Ausschachten beginnen können.«

»Und die andere halbe Million? Letzte Woche sagte mir Orden, er glaube, damit würde es bis Dezember dauern.« Selbst das, dachte O'Donnell, halte ich für übertrieben optimistisch seitens des Vorsitzenden.

»Ich weiß«, antwortete Tomaselli. »Aber er bat mich, Ihnen zu sagen, daß er seine Ansicht geändert habe. Gestern hatte er wieder eine Besprechung mit dem Bürgermeister. Sie sind überzeugt, daß sie die zweite halbe Million im nächsten Sommer zusammenbekommen und die Sammelaktion im Herbst abschließen können.«

»Das ist eine gute Nachricht.« O'Donnell entschloß sich, seine bisherigen Vorbehalte aufzugeben. Wenn Orden Brown sich in dieser Weise festlegte, schaffte er es zweifellos auch.

»Ja. Und außerdem«, fuhr Tomaselli mit gespielter Beiläufigkeit fort, »haben Orden Brown und der Bürgermeister am nächsten Mittwoch eine Besprechung mit dem Gouverneur. Es sieht aus, als ob wir schließlich doch noch den höheren Staatszuschuß bekämen.«

»Sonst noch etwas?« fragte O'Donnell den Verwaltungsdirektor mit gespielter Knappheit.

»Ich meine, Sie können damit zufrieden sein«, sagte Tomaselli.

»Mehr als zufrieden«, antwortete O'Donnell. In gewisser Weise konnte man das als den ersten Schritt zur Erfüllung einer Vision bezeichnen. Es war eine Vision, die vor dreieinhalb Jahren bei seiner Ankunft im Three Counties Hospital ihre ersten Umrisse angenommen hatte. Seltsam, wie man sich an einen Ort gewöhnt, dachte O'Donnell. Wenn ihm jemand auf der Harvard Medical School oder später, als er erster chirurgischer Assistent am Columbia Presbyterian Hospital war, vorausgesagt hätte, daß er in einem rückständigen Krankenhaus wie Three Counties Hospital landen würde, hätte er nur spöttisch gelächelt. Und als er dann zu Barts nach London ging, um seine Erfahrungen als Chirurg zu vervollständigen, tat er es in der festen Absicht, nach seiner Rückkehr in den Stab eines der Krankenhäuser mit einem großen Namen wie John Hopkin oder Massachusetts General Hospital einzutreten. Mit dem, was er vorzuweisen hatte, stand ihm die Wahl so gut wie frei. Aber ehe er Zeit fand, sich zu entscheiden, kam Orden Brown zu ihm nach New York und überredete ihn, Burlington und Three Counties Hospital zu besuchen.

Was er dort sah, entsetzte ihn. Das Krankenhaus war heruntergekommen, schlecht organisiert und verwaltet, der medizinische Standard, von wenigen Ausnahmen abgesehen, niedrig. Die Leiter der chirurgischen und der inneren Abteilungen hatten ihre Positionen seit Jahren inne. O'Donnell hatte gespürt, daß ihr Lebensziel darin bestand, einen für sie angenehmen Status quo zu erhalten. Der Verwaltungsdirektor -die Schlüsselstellung für die Beziehungen zwischen dem Leitungsausschuß des Krankenhauses, der aus Laien bestand, und dem medizinischen Stab - war schwach und unfähig. Das Ausbildungsprogramm des Krankenhauses für Praktikanten und Assistenzärzte war verrufen, für Forschung standen keine Mittel zur Verfügung, die Verhältnisse, unter denen die Schwestern lebten und arbeiteten, waren fast mittelalterlich. Orden Brown hatte ihm alles gezeigt und nichts vorenthalten. Anschließend fuhren sie zusammen in das Haus des Vorsitzenden. O'Donnell nahm die Einladung zum Abendessen an, beabsichtigte aber, ein Nachtflugzeug zurück nach New York zu nehmen. Er war angewidert und wollte Burlington und das Three Counties Hospital nie wieder sehen.

Beim Abendessen in dem stillen Eßzimmer mit den bespannten Wänden in Orden Browns Haus auf einem Berg hoch über Burlington war ihm alles geschildert worden. Die Geschichte war ihm nicht neu oder unbekannt. Three Counties Hospital, das einmal ein fortschrittliches und modernes Krankenhaus gewesen war und in dem Staat ein hohes Ansehen besessen hatte, war der Überheblichkeit und der Trägheit zum Opfer gefallen. Ein alternder Industrieller, der seine Verantwortung meistens auf einen anderen abschob und nur gelegentlich aus gesellschaftlichen Anlässen im Krankenhaus erschien, war Vorsitzender des Leitungsausschusses. Der Mangel an Führung hatte sich nach unten ausgebreitet. Die Abteilungsleiter hatten ihre Stellungen überwiegend seit vielen Jahren inne und waren jedem Wechsel abgeneigt. Die jüngeren Leute unter ihnen hatten zuerst dagegen gemurrt, es dann aufgegeben und waren woandershin abgewandert. Schließlich war der Ruf des Krankenhauses so gesunken, daß junge, hochqualifizierte Ärzte nicht länger versuchten, dort eine Stellung zu finden. Aus diesem Grunde wurden weniger qualifizierte Leute aufgenommen. So lag die Situation zu der Zeit, als O'Donnell auf der Bildfläche erschien.

Der einzige Wechsel war mit der Berufung Orden Browns selbst eingetreten. Drei Monate vorher war der alte Vorsitzende gestorben. Eine Gruppe einflußreicher Bürger hatte Brown überredet, die Nachfolge zu übernehmen. Die Wahl erfolgte nicht einstimmig. Ein Teil der alten Garde im Krankenhausausschuß wünschte den Vorsitz für ihren eigenen Kandidaten, ein altes Ausschußmitglied namens Eustace Swayne. Aber die Mehrheit hatte sich für Brown entschieden, und nun versuchte er, andere Ausschußmitglieder für einige seiner Ideen zur Modernisierung des Three Counties Hospitals zu gewinnen.

Es erwies sich, daß er seinen Kampf nach oben führen mußte.

Zwischen den konservativen Elementen des Ausschusses, für die Eustace Swayne Sprecher war, und einer Gruppe der älteren Ärzte des Krankenhauses bestand eine Allianz. Gemeinsam widersetzten sie sich Veränderungen. Brown mußte vorsichtig vorgehen und diplomatisch handeln.

Eines der Dinge, die er wünschte, war eine Vergrößerung des Krankenhausausschusses, um neue, aktivere Mitglieder hineinzubringen. Er beabsichtigte, einige der jüngeren leitenden Männer aus der Wirtschaft Burlingtons dafür zu gewinnen, aber bisher hatte der Ausschuß in dieser Frage noch keine Einmütigkeit erreicht, und der Plan wurde bis auf weiteres zurückgestellt.

Wenn Orden Brown gewollt hätte, konnte er, wie er O'Donnell offen erklärte, eine entscheidende Auseinandersetzung erzwingen und seine Absichten durchsetzen. Wenn er wünschte, konnte er durch seinen Einfluß einige der Männer der älteren passiven Mitglieder aus dem Ausschuß verdrängen. Aber das wäre kurzsichtig gewesen, weil die meisten wohlhabende Männer und Frauen waren, und das Krankenhaus war auf die Zuwendungen angewiesen, die es im allgemeinen erhielt, wenn einer seiner Förderer starb. Wenn sie jetzt ausgeschaltet wurden, konnten einige der Betroffenen ihre Testamente ändern und das Krankenhaus ausschließen. Eustace Swayne, der einen Warenhauskonzern beherrschte, hatte diese Möglichkeit bereits angedeutet. Daher war Orden Brown gezwungen, behutsam und diplomatisch vorzugehen.

Dennoch waren einige Fortschritte erzielt worden. Und einer der Schritte, die der Vorsitzende mit der Zustimmung der Ausschußmehrheit unternahm, war die Suche nach einem neuen Chef der Chirurgie. Deshalb hatte er sich an O'Donnell gewandt.

Bei dem Abendessen hatte O'Donnell den Kopf geschüttelt. »Ich fürchte, das ist nichts für mich.«

»Vielleicht nicht«, hatte Brown geantwortet. »Aber ich möchte Sie bitten, mich trotzdem zu Ende anzuhören.«

Er sprach überzeugend, dieser Industrielle, der, obwohl er selbst aus einer wohlhabenden Familie stammte, sich den ganzen Weg durch das Stahlwerk, vom Hochofenarbeiter in die Verwaltung und schließlich auf den Präsidentenstuhl, hochgearbeitet hatte. Er besaß auch ein Gefühl für Menschen. Das hatte er sich in den Jahren Schulter an Schulter mit den Arbeitern im Walzwerk erworben. Dies mochte einer der Gründe sein, warum er sich die Last aufbürdete, Three Counties Hospital aus dem Sumpf herauszuziehen, in dem es versackt war. Aber aus welchem Grunde auch immer, selbst in der kurzen Zeit, die O'Donnell mit ihm zusammen war, hatte er die Hingabe des älteren Mannes an seine Aufgabe gespürt. »Falls Sie hierherkommen«, hatte Brown kurz vor Beendigung ihrer Unterhaltung gesagt, »kann ich Ihnen nichts versprechen.

Ich würde Ihnen gern sagen, Sie werden freie Hand haben. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, daß Sie sich alles, was Sie wollen, erkämpfen müssen. Sie werden auf Opposition stoßen, auf Widerstände, Hauspolitik, Ablehnung. Es wird Gebiete geben, auf denen ich Ihnen nicht helfen kann und Sie allein stehen.« Brown hatte eine Pause gemacht und dann still hinzugefügt: »Vermutlich ist das einzig Gute, was man über die Situation hier sagen kann, daß sie vom Standpunkt eines Mannes wie Sie eine Herausforderung, eine Aufgabe darstellt. In gewisser Weise die größte Aufgabe, die ein Mann auf sich nehmen kann.«

Das war das letzte Wort, das Orden Brown an diesem Abend über das Krankenhaus sagte. Anschließend sprachen sie von anderen Dingen, von Europa, den bevorstehenden Wahlen, dem Auferstehen des Nationalismus in Mittelost. Brown war weit gereist und gut informiert. Später wurde O'Donnell von seinem Gastgeber zum Flughafen gebracht, und auf dem Flugsteig drückte man sich die Hände. »Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen«, sagte Orden Brown, und O'Donnell erwiderte das Kompliment aufrichtig. Dann stieg er in sein Flugzeug, in der Absicht, Burlington abzuschreiben und an diese Reise nur als an eine weitere nützliche Erfahrung zu denken.

Auf dem Rückflug versuchte er, in einer Zeitschrift zu lesen; einen Artikel über Tennismeisterschaften, der ihn interessierte. Aber sein Verstand nahm die Worte nicht auf. Er dachte weiter über Three Counties Hospital nach, über das, was er dort gesehen hatte und was dort geschehen müßte. Dann begann er plötzlich, zum ersten Mal seit vielen Jahren, seine eigene Einstellung gegenüber der Medizin zu überprüfen. Was bedeutet sie überhaupt? fragte er sich. Was suche ich für mich selbst? Welche Ziele habe ich mir gesetzt? Was habe ich selbst zu geben? Was werde ich am Ende hinterlassen? Er hatte nicht geheiratet, wahrscheinlich würde er es nie. Er hatte Liebeserlebnisse gehabt - im Bett und außerhalb -, aber nichts darunter von Dauer. Wo führt dieser Weg mich hin, fragte er sich, von Harvard über Presbyterian und Barts.? Plötzlich wußte er die Antwort. Er wußte: Es war Burlington und das Three Counties Hospital. Die Entscheidung war gefallen und die Richtung unwiderruflich bestimmt. Bei der Landung auf dem La-Guardia-Flughafen schickte er Orden Brown ein Telegramm. Es lautete einfach: »Ich nehme an.«

Während O'Donnell jetzt auf die Pläne dessen heruntersah, was der Verwaltungsdirektor anzüglich >das neue Jerusalem< nannte, dachte er an die dreieinhalb Jahre, die hinter ihm lagen. Orden Brown hatte recht behalten, als er sagte, sie würden nicht leicht sein. Alle Hindernisse, die der Ausschußvorsitzende vorausgesagt hatte, waren aufgetreten. Nach und nach waren die schwersten Hürden allerdings überwunden worden.

Nach O' Donnells Ankunft war sein Vorgänger als Chef der Chirurgie unauffällig verschwunden. O'Donnell hatte einige der Chirurgen, die bereits zum Stab des Krankenhauses gehörten und sich für eine Steigerung des Standards in dem Krankenhaus einsetzten, für sich gewonnen. Unter sich hatten sie die chirurgischen Richtlinien verschärft und einen energischen Ausschuß eingesetzt, der dafür sorgte, daß sie in den Operationsräumen befolgt würden. Ein anderer Ausschuß, der fast in Vergessenheit geraten war, wurde neu belebt. Seine Aufgabe war zu sichern, daß Fehler bei Operationen, insbesondere die unnötige Entfernung gesunder Organe, nicht wieder vorkamen.

Die weniger befähigten Chirurgen wurden freundlich, aber nachdrücklich gedrängt, sich auf Operationen zu beschränken, die im Rahmen ihrer Fähigkeiten lagen. Ein paar der Metzger, der Blinddarmentferner am laufenden Band, der Unfähigen, wurden vor die Wahl gestellt, sich unauffällig zurückzuziehen oder offiziell ausgeschlossen zu werden. Wenn das für manche auch den Verlust eines Teiles ihres Lebensunterhaltes bedeutete, so zogen die meisten doch vor, stillschweigend zu verschwinden. Darunter befand sich auch ein Chirurg, der tatsächlich einem Kranken eine Niere herausgenommen hatte, ohne sich vorher zu vergewissern, daß seinem Patienten bei einer früheren Operation die andere Niere bereits entfernt worden war. Dieses furchtbare Versehen wurde bei der Obduktion aufgedeckt.

Die Beseitigung dieses Arztes aus dem Stab des Krankenhauses war leicht gewesen. Bei einigen anderen hatte es sich indessen als schwieriger erwiesen. Es war zu Auseinandersetzungen vor dem medizinischen Ausschuß des Counties gekommen, und zwei Chirurgen, die früher zum Krankenhaus gehörten, hatten vor Gericht Klage gegen das Three Counties Hospital erhoben. Das bedeutete, wie O'Donnell wußte, erbitterte gerichtliche Auseinandersetzungen, und er fürchtete die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, die dadurch zweifellos erregt wurde.

Aber trotz dieser Probleme hatten sich O'Donnell und die Ärzte, die hinter ihm standen, durchgesetzt, und die entstandenen Lücken des Stabes wurden sorgfältig und mühevoll mit neuen, fähigen Männern geschlossen - darunter mancher Absolvent seiner eigenen Alma mater -, die O'Donnell gedrängt und überredet hatte, sich in Burlington niederzulassen.

Inzwischen hatte auch die innere Abteilung einen neuen Leiter, Dr. Chandler, erhalten, der zwar schon unter dem alten Regime dem Krankenhaus angehörte, sich aber häufig gegen die Mißstände ausgesprochen hatte. Chandler war Internist, und wenn er und O'Donnell in Fragen der Leitung des Krankenhauses manchmal auch verschiedener Meinung waren und O'Donnell den anderen mitunter anmaßend fand, nahm Chandler zumindest, wenn es darum ging, den medizinischen Standard hochzuhalten, eine kompromißlose Haltung ein.

In O'Donnells dreieinhalb Jahren waren auch die Verwaltungsmethoden geändert worden. Ein paar Monate nach seinem eigenen Antritt hatte O'Donnell mit Orden Brown über einen jungen stellvertretenden Verwaltungsdirektor gesprochen, einen der besten Leute, die er in seiner Krankenhauspraxis kennengelernt hatte. Der Vorsitzende hatte sich ins Flugzeug gesetzt und war zwei Tage später mit einem unterschriebenen Vertrag zurückgekehrt. Einen Monat danach wurde der alte Verwaltungsdirektor, erleichtert, eine Last abzulegen, die über seine Kräfte hinausgewachsen war, ehrenvoll pensioniert, und Harry Tomaselli trat an seine Stelle. Jetzt kam in der gesamten Verwaltung des Krankenhauses Tomasellis zielbewußte, aber verbindliche Tüchtigkeit zum Ausdruck.

Vor einem Jahr war O'Donnell zum Präsidenten des medizinischen Ausschusses des Krankenhauses gewählt worden, wodurch er zum leitenden Arzt des Three Counties Hospitals wurde. Seitdem hatten er, Tomaselli und Dr. Chandler erfolgreich das Ausbildungsprogramm des Krankenhauses für Praktikanten und Assistenzärzte erweitert, und die Anträge auf Einstellung nahmen zu.

Noch lag ein weiter Weg vor ihnen. O'Donnell wußte, daß sie in mancher Hinsicht erst am Anfang eines umfangreichen Programmes standen, das die drei Grundsäulen der Medizin umfaßte: Heilung, Ausbildung, Forschung. Er selbst war jetzt zweiundvierzig, wurde in wenigen Monaten dreiundvierzig. Er bezweifelte, ob er in den aktiven Jahren, die ihm noch bevorstanden, die Aufgabe vollenden konnte, die er sich gestellt hatte. Aber der Anfang war gut. Soweit war er zuversichtlich, und er wußte, daß seine Entscheidung vor dreieinhalb Jahren im Flugzeug richtig gewesen war. Natürlich gab es bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge noch schwache Punkte. Das konnte nicht anders sein. Eine so große Aufgabe war weder leicht noch schnell zu lösen. Einige der älteren Mitglieder des Ärztestabes kämpften unvermindert gegen jede Veränderung, und sie übten einen starken Einfluß auf die älteren Ausschußmitglieder aus, von denen einige immer noch im Amt waren - Eustace Swayne, halsstarrig wie immer, an ihrer Spitze. Vielleicht war das sogar gut, dachte O' Donnell, und vielleicht war die Behauptung, daß >junge Männer zu viele Änderungen zu schnell vornehmem, manchmal gerechtfertigt. Aber diese Gruppe und ihr Einfluß erzwangen, daß die Planung in manchen Fällen aus Vorsicht verwässert werden mußte. O'Donnell selbst unterwarf sich dieser Notwendigkeit, hatte aber manchmal Schwierigkeiten, die jüngeren Mitglieder des Ärztestabes davon zu überzeugen.

Es war gerade diese Tatsache, die ihn nach dem Gespräch mit Bill Rufus nachdenklich stimmte. Die Pathologie im Three Counties Hospital war immer noch eine Bastion des alten Regimes. Dr. Joseph Pearson, der die Pathologie wie sein eigenes Reich regierte, gehörte seit zweiunddreißig Jahren zum Krankenhaus. Er kannte die meisten der alten Ausschußmitglieder gut und spielte mit Eustace Swayne häufig Schach. Genaugenommen war Joe Pearson durchaus nicht unfähig. Seine Leistungen und Kenntnisse waren beachtlich. In jüngeren Jahren war er durch seine Forschungsarbeiten bekannt und zeitweise Präsident der State Pathology Association gewesen. Das wirkliche Problem bestand darin, daß die Arbeitslast in der Pathologie so angewachsen war, daß ein Mann allein die Zügel nicht mehr in Händen halten konnte. O'Donnell vermutete auch, daß ein Teil der technischen Verfahren in der Pathologie einer Erneuerung bedurfte. Aber so wünschenswert eine Änderung auch erschien, in diesem Falle würde sie schwierig sein.

Da mußte die Sammelaktion für die Erweiterung des Krankenhauses berücksichtigt werden. Wenn es zu Reibungen zwischen O'Donnell und Joe Pearson kam, wie würde Pearsons Einfluß bei Eustace Swayne sich auf Orden Browns Plan, das ganze Geld bis zum nächsten Herbst aufzubringen, auswirken? Swaynes eigener Beitrag mußte normalerweise hoch sein. Und schon allein dieser Verlust war ernst. Aber ebenso ernst war Swaynes Einfluß auf andere Leute in der Stadt. In gewisser Weise besaß der alte Finanzhai die Macht, ihre nächsten Zukunftspläne gelingen oder scheitern zu lassen.

Weil so viele Dinge in der Schwebe hingen, hatte O'Donnell gehofft, er könne das Problem der Pathologie eine Weile auf sich beruhen lassen. Aber ungeachtet dessen mußte er wegen Bill Rufus' Beschwerde etwas unternehmen, und das bald.

Er wendete sich von den Plänen ab. »Harry«, sagte er zu dem Verwaltungsdirektor, »ich fürchte, wir müssen mit Joe Pearson Krieg anfangen.«

III

Im Gegensatz zu der Hitze und der regen Tätigkeit in den oberen Stockwerken war es in dem weißgekachelten Korridor im Souterrain des Krankenhauses still und kühl. Die Stille wurde auch nicht durch eine kleine Prozession gestört: Schwester Penfield und neben ihr eine fahrbare Trage, die leise auf kugelgelagerten Rollen glitt und von einem Pfleger in einer weißen Pflegeruniform und mit gummibesohlten Schuhen geschoben wurde.

Wie oft hatte sie diesen Weg wohl schon zurückgelegt, überlegte Schwester Penfield, während sie auf die verhüllte Gestalt auf der Trage hinunterblickte. Vielleicht fünfzigmal in den letzten elf Jahren, vielleicht öfter. Das war etwas, worüber man nicht Buch führte, diese letzte Fahrt zwischen dem Krankenzimmer und der Leichenkammer, zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten.

Dieser unauffällig eingefügte letzte Gang mit einem gestorbenen Patienten gehörte zur Tradition. Der Weg führte durch die Hintergänge des Krankenhauses und mit dem Lastenaufzug hinunter, um den Lebenden den dunklen, bedrückenden Anblick des nahen Todes zu ersparen. Es war der letzte Dienst, den die Pflegerin ihrem Pflegling erwies, eine Anerkennung dessen, daß der Patient nicht fallengelassen worden war, wenn auch die Medizin versagt hatte. Der Akt der Pflege, des Dienens, des Heilens wurde wenigstens symbolisch fortgesetzt, obwohl die Schwelle schon überschritten war.

Der weiße Korridor zweigte hier nach zwei Richtungen ab. Aus dem Gang von rechts klang das Surren von Maschinen. Dort befanden sich die Maschinenanlagen des Krankenhauses, die Heizung, die Heißwasseranlagen, die Stromerzeuger, der Notgenerator. In die andere Richtung wies ein einziges Schild:

>Pathologische Abteilung - Leichenkammer <.

Als Weidman, der Pfleger, mit dem Wagen nach links abbog, senkte ein Hausmeister, der entweder eine Pause machte oder sich heimlich von seinem Arbeitsplatz fortgeschlichen hatte, die Cola-Flasche, aus der er gerade trank, und trat zur Seite. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, deutete dann auf den Wagen. »Hat's diesmal nicht mehr geschafft, wie?« Die Frage galt Weidman. Es war ein freundschaftlicher Eröffnungszug eines oft gespielten Spiels.

Auch Weidman war das Spiel vertraut. »Seine Nummer war diesmal wohl dran, Jack.«

Der Hausmeister nickte, hob dann die Flasche wieder an den Mund und trank weiter.

Wie kurz ist die Spanne zwischen dem Leben und dem Obduktionsraum, dachte Schwester Penfield. Vor weniger als einer Stunde noch war die Gestalt unter dem Leichentuch George Andrew Dunton gewesen, lebendig, dreiundfünfzig Jahre alt, Ingenieur. Diese Einzelheiten waren ihr von dem Krankenblatt auf der Notiztafel unter ihrem Arm bekannt.

Die Familie hatte sich nach dem Tode so gefaßt verhalten wie vorher: erschüttert, gewiß, und betroffen, aber keine hemmungslosen Ausbrüche. Das hatte es Dr. McMahon erleichtert, um die Erlaubnis zur Obduktion zu bitten. »Mrs. Dunton«, hatte er still gesagt, »ich weiß, wie schwer es für Sie sein muß, jetzt darüber zu sprechen und daran zu denken, aber ich muß Sie um etwas bitten: um Ihre Erlaubnis, an Ihrem Mann eine Obduktion vorzunehmen. «

Er hatte weitergesprochen, die üblichen Sätze, ihr erklärt, wie das Krankenhaus versuche, seinen medizinischen Standard zum Wohle aller aufrechtzuerhalten, wie die Diagnose des Arztes überprüft und die medizinischen Kenntnisse gefördert werden konnten, daß es auch eine Vorbeugungsmaßnahme im Interesse der Familie und jedes anderen sei, der in Zukunft in das Krankenhaus komme, daß sie aber nicht ohne Erlaubnis vorgenommen werden könne...

Der Sohn hatte ihn freundlich unterbrochen: »Wir verstehen. Wenn Sie das, was erforderlich ist, aufsetzen wollen, wird meine Mutter unterschreiben.«

Darauf hatte Schwester Penfield das Obduktionsformular ausgefüllt, und nun war George Andrew Dunton, tot, dreiundfünfzig Jahre alt, hier und für das Messer des Pathologen bereit.

Die Tür des Obduktionsraumes öffnete sich. Der Diener in der Pathologie, George Rinne, ein Neger - der Totenwächter -, sah auf, als der Wagen hereinrollte. Er hatte gerade den Obduktionstisch gesäubert. Jetzt glänzte er in fleckenlosem Weiß. Weidman begrüßte ihn mit dem abgedroschenen Scherz: »Hier kommt ein Patient für euch.« Höflich, als hätte er diesen Kalauer nicht schon hundertmal gehört, entblößte Rinne seine Zähne zu einem flüchtigen Lächeln. Er deutete auf den weißemaillierten Tisch. »Hier, bitte.«

Weidman schob den Wagen neben den Tisch, und Rinne zog das Laken weg, das die nackte Leiche von George Andrew Dunton bedeckte. Er faltete es ordentlich zusammen und reichte es Weidman. Ungeachtet des Todes - die Krankenstation mußte über das Leichentuch Rechenschaft ablegen. Dann hoben die beiden Männer den Toten mit dem zweiten Tuch unter ihm auf den Tisch hinüber.

George Rinne schnaufte, als er das Gewicht spürte. Der Tote war ein schwerer Mann gewesen, von über ein Meter achtzig, der gegen Ende seines Lebens zugenommen hatte. Als Weidman die Bahre zurückschob, grinste er. »Du wirst alt, George. Du bist auch bald dran.«

Rinne schüttelte den Kopf. »Ich werde noch hier sein, um dich auf den Tisch da zu legen.«

Die Szene lief glatt ab. Sie hatte schon viele Aufführungen gesehen. Vielleicht hatten die beiden in ferner Vergangenheit mit ihren makabren kleinen Scherzen aus dem Gefühl heraus begonnen, dadurch zwischen sich und dem Tod, mit dem sie täglich lebten, eine Barriere aufzurichten. Aber wenn das der Grund gewesen war, hatten sie ihn lange vergessen. Jetzt war es eine Formalität, die erfüllt werden mußte, die von ihnen erwartet wurde. Sonst nichts. Sie waren mit dem Tod zu vertraut, um ihm gegenüber noch Grauen oder Furcht zu empfinden.

Auf der anderen Seite des Obduktionsraumes stand der Assistenzarzt der Pathologie, Dr. McNeil. Er hatte einen weißen Kittel übergezogen, als Schwester Penfield mit ihrem toten Pflegling hereinkam. Jetzt sah er die Krankengeschichte und die anderen Papiere durch, die sie ihm gereicht hatte, und spürte bewußt die Nähe und die Wärme Schwester Penfields. Er nahm ihre leicht gestärkte Uniform wahr, den schwachen Duft nach Parfüm, ihre etwas in Unordnung geratene Frisur unter der Haube. Ihr Haar mußte weich sein, wenn man darüberstrich. Er zwang seine Gedanken zu den Papieren in seiner Hand zurück.

»Gut, es scheint alles dabei zu sein.«

Sollte er es bei Schwester Penfield einmal versuchen oder nicht? Es war jetzt sechs Wochen her, und im Alter von siebenundzwanzig sind sechs Wochen im Zölibat eine lange Zeit. Schwester Penfield war überdurchschnittlich anziehend. Vermutlich war sie zweiunddreißig; jung genug, um reizvoll zu sein, alt genug, daß es lange her sein mußte, seit sie ihre Unschuld verlor. Sie schien intelligent und freundlich und hatte auch eine gute Figur. Er konnte erkennen, wo sich unter ihrem weißen Kittel ihr Unterkleid abzeichnete. Es war anzunehmen, daß sie bei der Hitze nicht viel mehr darunter anhatte. Roger McNeil überlegte. Wahrscheinlich müßte er ein paarmal mit ihr ausgehen, ehe es soweit käme. Damit war die Sache erledigt, denn in diesem Monat ging es nicht mehr - das Geld war zu knapp. Spare es für mich, Ela Penfield, du wirst wiederkommen. Andere Patienten werden sterben und dich herbringen.

»Danke, Doktor.« Sie lächelte und wendete sich ab. Es war zu machen - dessen war er sicher.

Er rief ihr nach: »Bringen Sie mehr, Schwester. Wir müssen in Übung bleiben.« Auch das war ein abgedroschener Scherz, ein abwehrender Zynismus vor dem Angesicht des Todes.

Elaine Penfield folgte dem Pfleger hinaus. Ihre Reise war beendet, die Tradition erfüllt, der besondere, unverlangte Dienst geleistet. Sie hatte ihre zweite Meile zurückgelegt. Jetzt lag ihre Pflicht bei den Kranken, den Lebenden. Sie hatte allerdings gespürt, daß Dr. McNeil dicht vor einem Annäherungsversuch gestanden hatte. Doch dazu würde sich wieder eine Gelegenheit ergeben.

Während George Rinne dem Toten eine hölzerne Kopfstütze unter den Nacken schob, ihm die Arme an den Seiten ausstreckte, begann McNeil die Instrumente zu ordnen, die sie für die Obduktion benötigten: Messer, Rippenschere, Klammern, die Motorsäge für den Schädel. alles war sauber -Rinne war ein gewissenhafter Arbeiter -, aber nicht steril, wie es in den Operationsräumen vier Stockwerke weiter oben sein mußte. Hier brauchte man eine Infektion des Patienten auf dem Tisch nicht mehr zu fürchten. Der Pathologe mußte nur auf sich selbst aufpassen.

George Rinne sah McNeil fragend an, und der Assistenzarzt nickte. »Rufen Sie die Schwesternstation an, George. Sagen Sie, daß die Lernschwestern jetzt herunterkommen können, und benachrichtigen Sie Dr. Pearson, es sei alles bereit.«

»Ja, Doktor.« Rinne ging, um den Auftrag auszuführen. McNeil war als Assistenzarzt der Pathologie sein Vorgesetzter, selbst wenn das Gehalt des Arztes nur wenig höher als das des Helfers war. Es würde allerdings nicht lange dauern, bis sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Mit dreieinhalb Jahren Assistenzzeit hinter sich, trennten McNeil nur noch sechs Monate von der Aussicht, die Stellung eines Pathologen im

Ärztestab eines Krankenhauses zu übernehmen. Dann konnte er einige der mit zwanzigtausend Dollar im Jahr dotierten Stellungen in Betracht ziehen, da die Nachfrage für Pathologen glücklicherweise nach wie vor größer als das Angebot war. Er brauchte sich dann nicht mehr zu überlegen, ob er es sich leisten könne, sich Schwester Penfield oder auch anderen zu nähern.

Roger McNeil lächelte innerlich bei dem Gedanken, obwohl sein Gesicht nichts verriet. Leute, die mit McNeil zu tun hatten, hielten ihn für unzugänglich, was er oft war, und manchmal sprachen sie ihm Humor ab, allerdings zu Unrecht. Unbestreitbar war, daß er sich mit Männern nicht leicht anfreundete. Aber Frauen fanden ihn anziehend, eine Tatsache, die er frühzeitig entdeckt und zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte. In seiner Praktikantenzeit fanden seine Kollegen das rätselhaft. McNeil, die mürrische, brütende Gestalt im Ärztezimmer, hatte einen unheimlichen Erfolg, Lernschwestern, eine nach der anderen, schnell in sein Bett zu zaubern, häufig auch solche, bei denen andere, die sich auf ihre Erfolge als Liebhaber viel zugute hielten, gescheitert waren.

Die Tür des Obduktionsraumes ging auf, und Mike Seddons stürmte herein. Seddons war Assistent in der Chirurgie, zeitweise der Pathologie zugeteilt, und stürmte immer. Sein rotes Haar stand an den seltsamsten Stellen von seinem Kopf ab, als ob ein von ihm selbst verursachter Wind es nie glatt liegen ließe. Sein jungenhaftes, offenes Gesicht war ständig zu einem liebenswürdigen Grinsen verzogen. McNeil hielt Seddons für einen Exhibitionisten, obwohl zu seinen Gunsten zugegeben werden mußte, daß der Junge sich mit der Pathologie bereitwilliger befaßte als mancher andere der chirurgischen Assistenten, die McNeil gesehen hatte.

Seddons sah auf die Leiche auf dem Tisch. »Aha, neue Arbeit.«

McNeil deutete auf die Krankenpapiere, und Seddons nahm sie auf. Er fragte: »Woran starb er?« Dann, als er las: »Herz, wie?«

McNeil antwortete: »Das steht da.«

»Machen Sie das?«

Der Assistent der Pathologie schüttelte den Kopf. »Pearson kommt selbst.«

Seddons blickte fragend auf. »Der große Chef selbst? Was ist an dem Fall Besonderes?«

»Nichts Besonderes.« McNeil klammerte das vierseitige Obduktionsformular auf der Notiztafel an. »Ein paar Lernschwestern kommen, um es sich anzusehen. Wahrscheinlich will er ihnen eine Vorstellung geben.«

»Eine Galavorstellung also.« Seddons grinste. »Die muß ich auch erleben.«

»Dann können Sie ja auch was Nützliches tun.« McNeil reichte ihm die Notiztafel. »Wollen Sie das Formular bitte ausfüllen.«

»Gewiß.« Seddons nahm die Notiztafel und begann, seine Befunde über den Zustand der Leiche einzutragen. Er murmelte bei der Arbeit vor sich hin: »Hier hat er eine hübsche, saubere Blinddarmnarbe. Da ein kleines Muttermal am linken Arm.« Er drehte den Arm zur Seite. »Verzeihen Sie, alter Herr.« Er machte eine Notiz. »Leichte Leichenstarre.« Er hob ein Augenlid und schrieb: »Pupillen rund, 0,3 cm Durchmesser.« Er zwängte die schon steifen Kiefer auseinander: »Nun zeigen Sie mal Ihre Zähne.«

Von dem Korridor draußen waren Schritte zu hören. Dann wurde die Tür des Obduktionsraumes geöffnet, und eine Schwester, in der McNeil eine Schulschwester erkannte, blickte herein. Sie sagte: »Guten Morgen, Dr. McNeil.« Hinter ihr drängte sich eine Gruppe junger Lernschwestern.

»Guten Morgen.« Der Assistenzarzt winkte. »Kommen Sie alle herein.«

Nacheinander traten die Lernschwestern durch die Tür. Es waren sechs, und während sie eintraten, blickte jede beklommen nach der Leiche auf dem Tisch. Mike Seddons grinste. »Beeilt euch, Kinder. Noch findet ihr die besten Plätze.«

Seddons betrachtete die Gruppe Mädchen abschätzend. Es waren ein paar Neue dabei, die er vorher noch nicht gesehen hatte. Eine davon war brünett. Er betrachtete sie noch einmal. Tatsächlich. Selbst unter der Hülle der spartanischen Lernschwesternuniform war unverkennbar: die hier war etwas Besonderes. Mit scheinbarer Beiläufigkeit durchquerte er den Obduktionsraum, und als er zurückkam, gelang es ihm, sich zwischen das Mädchen, das ihm aufgefallen war, und die übrige Gruppe zu drängen. Er lächelte breit zu ihr hinunter und sagte leise: »Ich kann mich nicht entsinnen, Sie schon einmal gesehen zu haben.«

»Ich bin genauso lange hier wie die anderen.« Sie musterte ihn ungeniert und neugierig und fügte dann spöttisch hinzu: »Übrigens hat man mich belehrt, daß die Herren Ärzte Lernschwestern im ersten Jahr überhaupt nicht bemerken.«

Er schien darüber nachzudenken. »Nun, das ist die allgemeine Regel. Aber manchmal machen wir Ausnahmen. Es hängt natürlich von der Lernschwester ab.« Mit offen bewundernden Blicken fügte er hinzu: »Im übrigen, ich heiße Mike Seddons.«

Sie antwortete: »Und ich heiße Vivian Loburton.« Dann bemerkte sie den mißbilligenden Blick der Schulschwester und brach plötzlich ab. Vivian gefiel dieser rothaarige junge Arzt, irgendwie schien es aber unangebracht, hier zu plaudern und zu scherzen. Schließlich war der Mann auf dem Tisch tot. Er sei gerade gestorben, war ihnen oben gesagt worden. Das war der Grund, weshalb sie und die anderen Lernschwestern von ihrer Arbeit abgerufen worden waren, um bei der Obduktion zuzusehen. Der Gedanke an das Wort Obduktion brachte sie zu dem zurück, was hier geschehen sollte. Vivian fragte sich, wie sie darauf reagieren würde; sie fühlte sich jetzt schon unbehaglich. Sie nahm an, daß sie sich als Krankenschwester an den Anblick von Toten gewöhnen müsse, aber im Augenblick war er noch fremd und ziemlich furchterregend.

Durch den Gang näherten sich Schritte. Seddons berührte sie am Arm und flüsterte: »Wir werden uns wiedersehen, bald.« Dann wurde die Tür aufgestoßen, und die Lernschwestern zogen sich respektvoll zurück, als Dr. Joseph Pearson eintrat. Er grüßte sie mit einem knappen »Guten Morgen«, ging, ohne auf die gemurmelte Antwort zu warten, auf den Schrank zu, streifte seinen weißen Mantel ab und stieß seine Arme in einen Kittel, den er aus dem Schrank genommen hatte. Pearson winkte Seddons, der zu ihm trat, und die Bänder im Rücken des Kittels zuband. Darauf traten die beiden wie eine gut gedrillte Mannschaft an ein Waschbecken, wo Seddons aus einer Dose Talkum über Pearsons Hände streute, dann ein paar Gummihandschuhe bereithielt, in die der alte Mann seine Hände hineinstieß. Alles das vollzog sich schweigend. Jetzt verschob Pearson seine Zigarre etwas und knurrte ein »Danke«.

Er trat an den Tisch, nahm die Notiztafel, die McNeil ihm entgegenhielt und begann zu lesen, anscheinend, ohne etwas anderes zu bemerken. Bisher hatte Pearson noch nicht einen Blick auf die Leiche geworfen. Während auch Seddons an den Tisch trat, beobachtete er verstohlen diese Szene, und unwillkürlich verglich er sie mit dem Auftreten eines Dirigenten vor einem Symphonieorchester. Es fehlte nur der Applaus.

Nachdem auch Pearson die Krankengeschichte durchgelesen hatte, untersuchte er die Leiche, verglich seine Befunde mit Seddons Aufzeichnungen. Dann legte er die Notiztafel nieder, nahm die Zigarre aus dem Mund und sah die Schwestern auf der anderen Seite des Tisches an. »Es ist das erste Mal, daß Sie einer Obduktion beiwohnen, vermute ich?«

Die Mädchen murmelten: »Ja, Sir« oder »Ja, Doktor«.

Pearson nickte. »Dann will ich Ihnen mitteilen, daß ich Dr.

Pearson, der Pathologe an diesem Krankenhaus, bin. Diese Herren sind Dr. McNeil, der Assistenzarzt in der Pathologie, und Dr. Seddons, Assistenzarzt in der Chirurgie im dritten Jahr.« Er wendete sich zu Seddons. »Das stimmt doch?« Seddons lächelte. »Genau, Dr. Pearson.« Pearson fuhr fort: » Im dritten Jahr Assistenzarzt der Chirurgie, der uns gegenwärtig eine Zeitlang die Ehre gibt, in der Pathologie tätig zu sein.« Er sah Seddons an. »Dr. Seddons wird sich bald qualifiziert haben, sich als Chirurg niederzulassen, und wird dann auf eine gutgläubige Menschheit losgelassen werden.«

Zwei der Mädchen kicherten, die anderen lächelten. Seddons grinste. Das machte ihm Spaß. Pearson ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, einen Hieb gegen die Chirurgen und die Chirurgie zu führen. Wahrscheinlich mit gutem Grund. In seinen vierzig Jahren in der Pathologie mußte der alte Mann einer Menge chirurgischer Scharlatane begegnet sein. Er sah zu McNeil hinüber. Der Assistenzarzt runzelte die Stirn. Er billigt das nicht, dachte Seddons, Mac zieht die Pathologie ohne Randbemerkungen vor. Jetzt sprach Pearson wieder:

»Der Pathologe ist häufig als der Arzt bekannt, den der Patient selten sieht. Dennoch haben wenige Abteilungen eines Krankenhauses eine größere Bedeutung für die Gesundheit der Patienten.« Jetzt kommt das Verkaufsgespräch, dachte Seddons, und Pearsons nächste Worte gaben ihm recht.

»In der Pathologie wird das Blut eines Patienten untersucht, und seine Exkremente. Es wird seiner Krankheit nachgespürt, entschieden, ob sein Tumor gutartig oder bösartig ist. Es ist die Pathologie, die den Arzt des Patienten über die Krankheit berät, und manchmal, wenn alles andere in der Medizin versagt« -Pearson machte eine Pause; er sah bedeutungsvoll auf die Leiche von George Andrew Dunton hinunter, und die Augen der Lernschwestern folgten seinem Blick -, »ist es der Pathologe, der die abschließende, die letzte Diagnose stellt.«

Wieder machte Pearson eine Pause. Was für ein großartiger Schauspieler ist der alte Mann, dachte Seddons. Was für ein ungehemmter, geborener Komödiant.

Jetzt hob Pearson achtunggebietend seine Zigarre. »Ich empfehle«, sagte er zu den Schwestern, »ein paar Worte, die Sie an den Wänden vieler Obduktionsräume finden werden, Ihrer Aufmerksamkeit.« Ihre Blicke folgten seiner Hand zu einem gerahmten Spruch, der von einem geschäftstüchtigen Lieferanten für Laboratoriumsmaterial als Werbegabe geliefert worden war: Mortui vivos docent. Pearson las den lateinischen Text laut vor und übersetzte dann: »Die Toten lehren die Lebenden.« Er blickte wieder auf die Leiche hinunter. »Das wird jetzt geschehen. Dieser Mann starb dem Anschein nach« -er betonte die Worte »dem Anschein nach« - »an Herzthrombose. Die Obduktion wird feststellen, ob das stimmt.«

Damit zog Pearson tief an seiner Zigarre, und Seddons, der wußte, was kam, trat näher. Er selbst war vielleicht nicht mehr als ein Statist bei dieser Szene, aber er hatte nicht die Absicht, einen Auftritt zu verpassen. Als Pearson geräuschvoll eine blaue Rauchwolke von sich stieß, reichte er Seddons die Zigarre, der sie nahm und von dem Obduktionstisch entfernt niederlegte. Jetzt überprüfte Pearson die vor ihm ausgelegten Instrumente und wählte ein Messer. Mit den Augen schätzte er ab, wo er schneiden würde, setzte dann die scharfe Stahlklinge an und schnitt schnell, sauber und tief.

McNeil beobachtete verstohlen die Lernschwestern. Weiche und empfindsame Naturen sollten niemals gezwungen werden, an einer Obduktion teilzunehmen, dachte er. Aber selbst für Erfahrene ist der erste Einschnitt manchmal schwer zu ertragen. Bis zu diesem Punkt hatte die Leiche auf dem Tisch zumindest äußerlich Ähnlichkeit mit einem Lebenden gezeigt. Aber wenn das Messer erst einmal angesetzt wurde, dachte er, ist keine Illusion mehr möglich. Dies ist dann kein Mann, keine Frau, kein Kind mehr, nur noch Fleisch und Knochen, etwas, das einem lebenden Wesen ähnelte, aber kein Leben mehr war. Dies war die letzte Wahrheit, das Ende, das allen bevorstand. Dies war die Erfüllung des Alten Testaments: Aus Staub bist du geschaffen und zu Staub sollst du wieder werden.

Mit dem Können, der Übung und der Schnelligkeit langer Erfahrung begann Pearson die Obduktion mit einem tiefen >YY<. Von diesem Punkt schnitt er nach unten und öffnete von der Brust bis zu dem Geschlechtsteil hinunter den Leib. Es gab ein zischendes, fast reißendes Geräusch, als er das Messer durch die Haut zog, sie teilte und die darunterliegende gelbliche Fettschicht bloßlegte.

McNeil, der ständig die Lernschwestern beobachtete, bemerkte, daß zwei totenblaß geworden waren. Eine dritte holte mit offenem Mund tief Luft und wendete sich ab. Die drei anderen sahen stoisch zu. Der Assistenzarzt behielt eine der Blaßgewordenen im Auge. Es war nicht ungewöhnlich, daß eine Schwester bei ihrer ersten Obduktion umkippte. Aber diese sechs sahen so aus, als ob sie durchhalten würden. Bei den zweien, die er beobachtete, kehrte langsam die Farbe zurück, und das dritte Mädchen hatte sich wieder umgedreht, obwohl sie ihr Taschentuch gegen den Mund drückte. Gleichmütig sagte McNeil zu den Schwestern: »Wenn eine von Ihnen für ein paar Augenblicke hinausgehen will, macht es nichts. Das erste Mal ist es immer etwas angreifend.« Sie sahen ihn dankbar an, aber keine rührte sich. McNeil war bekannt, daß manche Pathologen keine Schwestern zu einer Obduktion zuließen, ehe nicht die ersten Schnitte vollzogen waren. Pearson allerdings hielt nichts davon, jemand etwas ersparen zu wollen. Er war der Ansicht, die Lernschwestern sollten die Obduktion von Anfang an mit ansehen, und das war ein Punkt, in dem McNeil ihm zustimmte. Eine Krankenschwester mußte sich an vieles gewöhnen, das schwer zu ertragen war: Verletzungen, zerrissene Glieder, Verwesung, Operationen. Je früher sie lernten, sich mit dem Anblick und den Gerüchen der Medizin abzufinden, desto besser für alle Beteiligten, einschließlich ihrer selbst.

Jetzt zog McNeil seine eigenen Handschuhe über und begann mit Pearson zu arbeiten. Inzwischen hatte der alte Mann mit schnellen Bewegungen die Haut von der Brust gelöst, mit einem größeren Messer von den Muskeln getrennt und die Rippen bloßgelegt. Als nächstes öffnete er mit der scharfen, kräftigen Rippenschere den Brustkorb und legte den Herzbeutel und die Lungen frei. Die Handschuhe, die Instrumente und der Tisch begannen sich jetzt mit Blut zu bedecken. Seddons, auch mit Handschuhen neben ihm am Tisch, durchtrennte die unteren Muskellappen und öffnete die Bauchhöhle. Er ging durch den Raum, um einen Eimer zu holen, und nahm den Magen und die Eingeweide heraus, die er, nachdem er sie kurz betrachtet hatte, in den Eimer legte. Der Gestank begann sich bemerkbar zu machen. Jetzt banden Pearson und Seddons gemeinsam die großen Arterien ab, schnitten sie heraus, damit der Leichenbestatter keine Schwierigkeiten bei der Einbalsamierung hatte. Seddons griff nach einem kleinen Schlauch oberhalb des Tisches, drehte einen Hahn an und begann, das in die Bauchhöhle ausgeflossene Blut abzusaugen, und nach einem Nicken Pearsons tat er das gleiche in der Brusthöhle.

Inzwischen hatte McNeil sich dem Kopf zugewandt. Als erstes vollzog er einen Schnitt um die Schädelbasis. Er setzte unmittelbar hinter dem einen Ohr an und schnitt oberhalb des Haaransatzes hintenherum zum anderen Ohr hinüber, so daß der Schnitt nicht sichtbar war, wenn die Familie des Toten den Verstorbenen zum letzten Mal betrachtete. Dann zog er unter Anwendung aller Kraft seiner Hände die Kopfhaut in einem Stück nach vorn über den Schädel, so daß sie sich über den oberen Teil des Gesichtes legte und die Augen bedeckte. Damit war der ganze Schädel freigelegt, und McNeil griff nach einer kleinen Motorsäge, deren Kabel bereits angeschlossen war. Ehe er den Strom einschaltete, blickte er kurz zu den Lernschwestern hinüber und bemerkte, daß sie ihn mit einer Mischung von ungläubigem Staunen und Entsetzen beobachteten. Immer mit der Ruhe, Kinderchen, dachte er, gleich werdet ihr alles sehen.

Pearson hob behutsam das Herz und die Lungen aus der Brusthöhle, während McNeil die Säge an dem Schädel ansetzte. Das metallische Knirschen, mit dem sich die Stahlzähne des rotierenden Sägeblatts durch den Knochen fraßen, schnitt grausig durch den stillen Raum. Als er aufblickte, sah er, wie das Mädchen mit dem Taschentuch zusammenzuckte. Wenn sie sich übergeben muß, tut sie es hoffentlich nicht hier drin, dachte er. Er schnitt mit der Säge weiter, bis die Schädeldecke ringsum durchtrennt war, legte sie dann fort. George Rinne würde später das Instrument säubern und das Blut davon abwaschen. Jetzt hob McNeil vorsichtig das Schädeldach ab und legte die weiche Hirnhaut frei, die das darunterliegende Gehirn bedeckte. Wieder sah er zu den Schwestern hinüber. Sie hielten tapfer stand. Wenn sie diesen Anblick ertrugen, konnten sie alles ertragen. Nachdem der knochige Teil des Kopfes entfernt war, nahm er eine scharfe Schere und öffnete die große Vene - den Sinus sagittalis superior -, die in der Mitte der Membrane von vorn nach hinten verlief. Das Blut schoß heraus, ergoß sich über die Schere und seine Hand. Es war flüssiges Blut, bemerkte er, zeigte kein Anzeichen einer Thrombose. Sorgfältig prüfte er die Hirnhaut, durchschnitt sie dann und löste sie ab, um die darunterliegende Gehirnmasse freizulegen. Mit einem Messer trennte er das Gehirn sorgfältig vom Rückenmark ab und hob es heraus. Seddons trat zu ihm, hielt ihm ein mit Formalin halb gefülltes Glasgefäß hin, und behutsam ließ McNeil das Gehirn hineingleiten.

Während Seddons McNeil und seinen sicheren und geschickten Händen zusah, überraschte er sich bei der Frage, was im Kopf des Assistenzarztes vorgehen mochte. Er kannte McNeil seit zwei Jahren, zunächst als Kollegen, Assistenzarzt wie er selbst, wenn er auch im hierarchischen System des Krankenhauses dienstälter war, und lernte ihn später während der wenigen Monate, die er in der Pathologie arbeitete, näher kennen. Seddons interessierte sich für Pathologie. Trotzdem war er froh, daß er sie nicht als sein Spezialgebiet gewählt hatte. An seiner Entscheidung für die Chirurgie war ihm nie ein Zweifel gekommen, und er würde froh sein, wenn er in ein paar Wochen dorthin zurückkehrte. Im Gegensatz zu diesem Reich der Toten gehörte der Operationsraum zum Gebiet der Lebenden. Dort pulsierte das Leben, dort wurde jede Bewegung von einem Geist, einem Sinn für das Ziel, bestimmt, den er hier niemals finden konnte. Jedem das Seine, dachte er, und die Pathologie den Pathologen.

Es war noch etwas anderes an der Pathologie. Man konnte bei ihr den Sinn für die Wirklichkeit verlieren, das Bewußtsein, daß Medizin die Menschen betraf und ihnen diente. Und jetzt dieses Gehirn hier. Seddons wurde sich plötzlich deutlich bewußt, daß es vor wenigen Stunden noch das Gedankenzentrum eines Mannes gewesen war, der Koordinator seiner Sinne - des Fühlens, Riechens, Sehens, Schmeckens. Es hatte Gedanken entwickelt, Liebe gekannt, Angst und Triumphe. Gestern, vielleicht heute noch, hatte es den Augen befehlen können, zu weinen, dem Mund, zu schwatzen. Der Tote war Ingenieur gewesen, hatte er aus den Krankenpapieren ersehen. Dies war also ein Gehirn, das sich der Mathematik bedient hatte, das Spannungen und Drücke verstand, Konstruktionsmethoden erdachte, vielleicht Häuser gebaut hatte, eine Straße, ein Wasserwerk, eine Kathedrale - das Erbe dieses Gehirn für andere Menschen, die damit leben und es benutzen würden. Aber was war das Gehirn jetzt? Nicht mehr als eine Gewebemasse, die sterilisiert wurde und nur noch bestimmt war, zerschnitten, untersucht und dann verbrannt zu werden.

Seddons glaubte nicht an Gott, und es war ihm schwer begreiflich, daß gebildete Menschen es konnten. Wissen, Wissenschaft, Denken - je weiter sie fortschritten, desto unglaubwürdiger wurde jede Religion. Er glaubte aber an etwas, das er, weil ihm bessere Worte fehlten, als >den Funken der Menschlichkeit, das Credo des Individuums < bezeichnete. Als Chirurg würde er es natürlich nicht immer mit Individuen zu tun haben. Er würde seine Patienten auch nicht immer kennen. Und selbst wenn, würde es seinem Bewußtsein entschwinden, wenn er sich auf die technischen Probleme seiner Arbeit konzentrierte. Aber schon vor langem hatte er sich vorgenommen, nie zu vergessen, daß hinter allem ein Patient, ein Individuum stand. Während seiner Studienzeit hatte Seddons beobachtet, wie sich bei anderen eine isolierende Schicht bildete, eine Schutzwand gegen den zu engen Kontakt mit dem einzelnen Patienten. Manchmal geschah es zur Abwehr, war es eine vorsätzliche Isolierung gegen persönliche Empfindungen und persönliche Anteilnahme. Indessen fühlte er sich stark genug, um ohne diese Isolierung auszukommen. Außerdem zwang er sich manchmal, über das, was er gerade tat, nachzudenken und Selbstgespräche zu führen, um sich zu vergewissern, daß die Isolierschicht nicht wuchs. Vielleicht hätte es einige seiner Freunde, die Mike Seddons nur als einen ungehemmten Extrovertierten kannten, überrascht, wenn sie manche seiner innersten Gedanken erfahren hätten - vielleicht aber auch nicht. Der Verstand, das Gehirn - oder wie man es sonst nennen wollte - ist eine unvorausberechenbare Maschine.

Wie war das bei McNeil? Empfand er etwas? Oder hatte sich auch um den Assistenzarzt der Pathologie eine Schale gebildet? Seddons wußte es nicht; er nahm es aber an. Und Pearson? Hier hatte er keinen Zweifel. Joe Pearson war durch und durch kalt und klinisch. Trotz seiner großen Szene war er während der Jahre in der Pathologie ausgeglüht. Seddons sah den alten Mann an. Er hatte das Herz aus der Leiche herausgenommen und untersuchte es sorgfältig. Jetzt wendete er sich an die Lernschwestern:

»Die Krankengeschichte dieses Mannes zeigt, daß er vor drei Jahren einen ersten Herzanfall erlitt und einen zweiten zu Beginn dieser Woche. Darum wollen wir als erstes die Herzkranzgefäße untersuchen.« Während die Schwestern gespannt zusahen, öffnete Pearson behutsam die Blutgefäße des Herzmuskels.

»Irgendwo hier sollten wir das Gebiet der Thrombose finden. Ja, da ist es.« Mit der Spitze einer Metallsonde deutete er darauf. Im Hauptzweig der linken koronaren Arterie, einen Zoll vor ihrem Anfang entfernt, hatte er ein halb Zoll großes Gerinnsel bloßgelegt. Er hielt das Herz hoch, damit die Mädchen es sehen konnten.

»Jetzt wollen wir das Herz selbst untersuchen.« Pearson legte das Organ auf ein Sektionsbrett und schnitt es in der Mitte der Länge nach auf. Er klappte die beiden Hälften nebeneinander auf, betrachtete sie und winkte dann die Lernschwestern näher heran. Zögernd traten sie näher.

»Sehen Sie dieses vernarbte Gebiet in dem Muskel?« Pearson deutete auf einige Streifen weißlichen, faserigen Gewebes in dem Herz, und die Schwestern reckten die Hälse über die klaffende, rote Körperhöhle, um besser zu sehen. »Das sind die Folgen des Herzanfalles von vor drei Jahren; ein alter Infarkt, der ausgeheilt ist.«

Nach einer Pause fuhr Pearson fort: »Die Anzeichen für den letzten Anfall haben wir hier in der linken Herzkammer. Beachten Sie das zentrale blasse Gebiet, das von einer stark durchbluteten Zone umgeben ist.« Er deutete auf einen kleinen, dunkelroten Fleck mit einem hellen Mittelpunkt, der sich von dem rotbraunen Gewebe des übrigen Herzmuskels abhob.

Pearson wandte sich an den chirurgischen Assistenten: »Stimmen Sie mit mir überein, Dr. Seddons, daß die Diagnose >Tod infolge Herzthrombose< damit glaubwürdig bestätigt ist?«

»Gewiß«, antwortete Seddons höflich. Daran besteht kein Zweifel, dachte er. Ein winziges Blutgerinnsel, nicht viel dicker als ein Stückchen Spaghetti. Das genügte für das Ende. Er beobachtete, wie der alte Pathologe das Herz beiseite legte.

Vivian war jetzt gefaßter. Sie glaubte, sich fest in der Hand zu haben. Am Anfang, als sie sah, wie die Säge in den Schädel des toten Mannes schnitt, hatte sie bemerkt, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich, wie ihr Bewußtsein verschwamm. Sie spürte, daß sie dicht vor einer Ohnmacht stand, war aber fest entschlossen, nicht schwach zu werden. Ohne jeden Grund erinnerte sie sich plötzlich an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. In den Ferien war ihr Vater tief in den Wäldern Oregons in ein offenes Jagdmesser gefallen und hatte sich am Bein schwer verletzt. Überraschenderweise erlitt der kräftige Mann bei dem Anblick seines eigenen, hervorquellenden Blutes einen Schwächeanfall, und ihre Mutter, die sich in ihrem Wohnzimmer im allgemeinen sicherer und heimischer fühlte als im Wald, zeigte plötzlich eine unerwartete Stärke. Sie hatte am Bein abgebunden, den Blutstrom gestillt und Vivian schnell fortgeschickt, um Hilfe zu holen. Während Vivians Vater dann auf einer improvisierten Bahre aus Zweigen durch den Wald getragen wurde, lockerte sie alle halbe Stunde die Bandage, um die Durchblutung des Beines im Gang zu halten, zog sie dann wieder fest an, um die Blutung zu stillen. Später hatten die Ärzte gesagt, dadurch habe sie das Bein vor der Amputation gerettet. Vivian hatte dieses Erlebnis längst vergessen, aber als sie sich jetzt daran erinnerte, empfand sie neue Kraft. Nun war sie sicher, daß es für sie kein Problem mehr sei, bei einer Obduktion zuzusehen.

»Irgendeine Frage?« kam es von Dr. Pearson.

Vivian hatte eine. »Die Organe, die Sie aus dem Körper entfernen, was geschieht später mit ihnen, bitte?«

»Wir bewahren sie auf. Voraussichtlich für eine Woche. Das gilt für Herz, Lungen, Magen, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz und das Gehirn. Dann nehmen wir eine Gesamtuntersuchung vor, deren Ergebnisse in allen Einzelheiten festgehalten werden. Gleichzeitig untersuchen wir auch die Organe, die bei anderen Obduktionen zurückbehalten wurden. Im allgemeinen sind es sechs bis zwölf Fälle.«

Das klingt so kalt und unpersönlich, dachte Vivian. Aber vielleicht mußte man so werden, wenn man das ständig tat. Unwillkürlich schauderte sie. Mike Seddons' Blick traf den ihren, und er lächelte ein wenig. Sie fragte sich, ob er sich über sie amüsiere oder Mitgefühl zeigen wolle. Sie war sich nicht sicher. Dann stellte ein anderes Mädchen eine Frage. Sie sprach sie zögernd aus, fast ab ob sie sich fürchte. »Der Tote, wie wird er begraben. nur so, wie er jetzt ist?«

Das war eine bekannte Frage. Pearson antwortete: »Das hängt davon ab. Lehrstätten wie unser Krankenhaus führen im allgemeinen gründlichere Studien durch, als es an Krankenhäusern geschieht, die keine Ärzte und Schwestern ausbilden. In unserem Krankenhaus wird nur die äußere Hülle der Leiche an den Bestatter übergeben.« Dann fügte er noch erläuternd hinzu: »Er würde es uns übrigens nicht danken, wenn wir die Organe wieder in den Körper hineinlegten. Er hätte dadurch nur Schwierigkeiten, wenn er die Leiche einsargt.«

Das ist richtig, dachte McNeil. Vielleicht ist es so nicht in der taktvollsten Weise ausgedrückt, aber es stimmt trotzdem. Er hatte sich selbst manchmal gefragt, ob die Hinterbliebenen und andere, die von einem Toten Abschied nehmen, wußten, wie wenig nach einer Obduktion von einer Leiche übrig war. Nach einer Obduktion wie der hier, und je nachdem, wie beschäftigt die pathologische Abteilung war, konnte es Wochen dauern, bis die inneren Organe endgültig beseitigt wurden. Und selbst dann wurden kleine Proben noch unendlich lange aufbewahrt.

»Gibt es dabei keine Ausnahme?« Die Lernschwester, die diese Frage stellte, schien hartnäckig zu sein. Pearson hatte aber offenbar nichts dagege n einzuwenden. Dem Anschein nach hat er heute seinen geduldigen Tag, dachte McNeil. Gelegentlich gab es das bei dem alten Mann.

»Doch, das kommt vor«, antwortete Pearson. »Ehe wir eine Obduktion vornehmen können, müssen wir die Genehmigung der Familie des Verstorbenen haben. Manchmal wird diese Genehmigung vorbehaltlos erteilt, wie in dem vorliegenden Fall, und dann können wir den ganzen Körper und den Kopf untersuchen. In anderen Fällen sind mit der Genehmigung Einschränkungen verbunden. Beispielsweise kann eine Familie verlangen, daß der Schädel unberührt bleibt. In unserem Krankenhaus werden diese Wünsche stets respektiert.«

»Danke, Doktor.« Anscheinend war das Mädchen zufrieden, aus welchen Gründen sie auch gefragt haben mochte.

Aber Pearson war noch nic ht zu Ende.

»Man stößt auf Fälle, bei denen aus religiösen Gründen verlangt wird, daß die Organe mit der Leiche bestattet werden. Selbstverständlich fügen wir uns diesem Verlangen.«

»Wie ist es bei Katholiken?« Diese Frage stellte ein anderes Mädchen. »Bestehen sie darauf?«

»Die meisten nicht. Aber es gibt katholische Krankenhäuser, in denen es geschieht. Das erschwert uns Pathologen die Arbeit. Im allgemeinen wenigstens.«

Bei seinen letzten Worten warf Pearson einen hämischen Blick zu McNeil hinüber. Beide wußten, woran Pearson dachte. In einem der großen katholischen Krankenhäuser auf der anderen Seite der Stadt bestand die strenge Bestimmung, daß nach einer Obduktion alle Organe zur Bestattung in die Leiche zurückgelegt wurden. Aber manchmal half man sich dort mit einem kleinen Trick. Die vielbeschäftigte pathologische Abteilung des Krankenhauses bewahrte sich häufig Organe zur Reserve auf. Wenn also eine neue Obduktion vorgenommen wurde, ersetzte man die entfernten Organe aus der Reserve, so daß die Leiche vorschriftsmäßig zur Bestattung übergeben wurde und die entnommenen Organe trotzdem in aller Ruhe untersucht werden konnten. Diese Organe wurden dann ihrerseits in die nächste Leiche gelegt. Dadurch hatten die Pathologen immer einen Vorsprung.

McNeil wußte, daß Pearson diese Praxis mißbilligte, obwohl er kein Katholik war. Und was man auch sonst über den alten Mann sagen konnte, er bestand immer darauf, daß die Genehmigung zu einer Obduktion dem Buchstaben und dem Geist nach streng befolgt wurde. Das offizielle Formular für die Genehmigung enthielt einen Satz, der lautete: »Obduktion auf die Öffnung der Bauchhöhle beschränkt.« Manche Pathologen, die er kannte, führten eine vollständige Obduktion mit einem einzigen Bauchschnitt durch. Er hatte gehört, wie einer das einmal formulierte: »Wenn man will, kann man mit einem Bauchschnitt nach oben alles, einschließlich der Zunge, erreichen und herausnehmen.« Zu Pearsons Gunsten muß gesagt werden, dachte McNeil, daß er das nie zuläßt. Im Three Counties Hospital bedeutete die Genehmigung zur Öffnung der Bauchhöhle ausschließlich die Untersuchung der dort gelegenen Organe.

Pearson hatte seine Aufmerksamkeit wieder der Leiche zugewandt.

»Wir wollen jetzt mit der Untersuchung fortfahren...« Er brach ab und blickte scharf hinunter, griff nach einem Skalpell und sondierte behutsam. Dann stieß er ein überraschtes Knurren aus.

»McNeil, Seddons, sehen Sie sich das an.«

Pearson trat zur Seite, und sein Assistenzarzt beugte sich über das Gebiet, das Pearson untersucht hatte. Er nickte. Das Rippenfell, im allgemeinen eine durchsichtige, schimmernde Membrane, die die Lungen bedeckt, zeigte einen dicken, narbigen Überzug aus dichtem, weißem, faserigem Gewebe. Es war ein Anzeichen für Tuberkulose. Ob alt oder aus jüngerer Zeit, würden sie gleich wissen. Er machte Seddons Platz.

»Tasten Sie die Lungen ab, Seddons«, sagte Pearson. »Ich vermute, Sie werden weitere Anzeichen finden.«

Der chirurgische Assistent nahm die Lungen, drückte sie mit den Fingern ab. Er fand sofort die Kavernen unter ihrer Oberfläche. Er sah zu Pearson auf und nickte. McNeil hatte sich der Krankengeschichte zugewandt. Um die Blätter nicht zu beschmutzen, blätterte er sie mit einem sauberen Skalpell um.

»Wurde bei der Aufnahme die Brust durchleuchtet?« fragte Pearson.

Der Assistenzarzt schüttelte den Kopf. »Der Patient befand sich im Schock. Hier steht vermerkt, daß er nicht geröntgt wurde.«

»Wir wollen einen senkrechten Schnitt machen, um festzustellen, was zu sehen ist.« Pearson sprach wieder zu den Schwestern, als er an den Tisch trat. Er nahm die Lunge heraus und durchtrennte mit einem glatten Schnitt einen Flügel in der Mitte. Da war es unverkennbar - tuberkeldurchsetztes Gewebe im fortgeschrittenen Stadium. Die Lunge wies bis zur Mitte des Flügels eine wabenartige Struktur auf, fast wie zusammengeklebte Pingpongbälle; ein schwärender, fortschreitender Verfall, dem der Herzanfall nur zuvorgekommen war, um den Tod herbeizuführen.

»Können Sie es sehen?«

Seddons antwortete auf Pearsons Frage: »Es sieht aus, als sei der Tuberkulose durch Zufall der Herzinfarkt gerade noch zuvorgekommen,«

»Es ist immer ein Glücksspiel, woran wir sterben.« Pearson sah zu den Schwestern hinüber. »Dieser Mann litt an einer weit fortgeschrittenen Tuberkulose. Wie Dr. Seddons bemerkte, wäre er sehr bald daran gestorben. Vermutlich war weder ihm selbst noch seinem Arzt seine Erkrankung bekannt.«

Jetzt streifte Pearson seine Handschuhe ab und begann, seinen Kittel auszuziehen. Die Vorstellung ist vorüber, dachte Seddons. Die Statisten und die Bühnenarbeiter werden anschließend aufräumen. McNeil und er würden die wichtigen Organe in einen Eimer legen und ihn mit der Krankennummer des Verstorbenen versehen. Das andere würde in den Körper zurückgelegt werden, die leere Höhlung, wo erforderlich, mit Watte ausgestopft und dann mit großen, weitgesetzten Stichen -hinein, hinaus - geschlossen, da der Teil des Körpers, den sie aufgeschnitten hatten, im Sarg durch die Bekleidung der Leiche verhüllt wurde. Und wenn sie damit fertig waren, kam die Leiche in den Kühlraum, bis sie von dem Leichenbestatter abgeholt wurde.

Pearson hatte den weißen Ärztekittel wieder angezogen, in dem er den Obduktionsraum betreten hatte, und entzündete eine frische Zigarre. Es war typisch für ihn, daß er auf seinen Wegen durch das Krankenhaus eine Fährte von halbgerauchten Zigarren hinter sich zurückließ, und anderen blieb es überlassen, diese Reste in einen Aschenbecher zu legen. Er wandte sich an die Schwestern:

»Im Verlauf Ihrer Tätigkeit«, sagte er, »werden Sie auch Patienten pflegen, die sterben werden. Dann ist es notwendig, von den nächsten Verwandten die Genehmigung zur Obduktion zu erhalten. Diese Aufgabe fällt manchmal dem Arzt zu, manchmal aber auch Ihnen. Dabei werden Sie gelegentlich auf Widerstand stoßen. Es fällt jedem schwer - selbst nach dem Tode -, der Verstümmelung eines Menschen zuzustimmen, den man geliebt hat. Das ist nur verständlich.«

Pearson schwieg. Seddons entdeckte, daß er den alten Mann in diesem Augenblick plötzlich mit anderen Augen sah. Sollte er trotz allem etwas Wärme, etwas Menschlichkeit besitzen?

»Wenn Sie Argumente benötigen«, fuhr Pearson fort, »um jemand von der Notwendigkeit einer Obduktion zu überzeugen, dann werden Sie sich hoffentlich daran erinnern, was Sie heute hier gesehen haben, und es als Beispiel anführen.«

Während er sprach, hatte er seine Zigarre angezündet und deutete mit ihr auf den Tisch. »Dieser Mann litt seit vielen Monaten an Tuberkulose. Es besteht die Möglichkeit, daß er andere in seiner Umgebung angesteckt hat - seine Familie, die Menschen, mit denen er arbeitete, selbst jemanden in diesem Krankenhaus. Ohne diese Obduktion bliebe vielleicht unbekannt, ob nicht auch einige dieser Menschen an Tuberkulose erkrankt sind, und ihr Leiden würde nicht entdeckt, wie bei dem Toten hier, bis es zu spät ist.«

Zwei der Lernschwestern zogen sich instinktiv vom Tisch zurück.

Pearson schüttelte den Kopf. »Innerhalb vernünftiger Grenzen besteht hier keine Infektionsgefahr. Tuberkulose ist eine Erkrankung der Atmungsorgane. Aber auf Grund dessen, was wir heute gefunden haben, werden die Leute, die mit diesem Mann in enger Berührung standen, genau untersucht und mehrere Jahre lang in regelmäßigen Abständen streng kontrolliert werden.«

Zu seiner eigenen Überraschung entdeckte Seddons, daß Pearsons Worte ihn bewegten. Das hat er gut gesagt, dachte er. Und was mehr ist, er glaubt selbst an seine Worte. In diesem Augenblick fand er, daß er den alten Mann leiden konnte.

Als ob Pearson Seddons Gedanken erraten hätte, sah er zu dem Chirurgen hinüber. Mit einem spöttischen Lächeln fügte er hinzu: »Auch die Pathologie kennt ihre Siege, Dr. Seddons.«

Er nickte den Schwestern zu. Dann war er verschwunden und ließ eine Wolke Zigarrenrauch hinter sich zurück.

IV

Die monatliche Konferenz über die chirurgischen Sterbefälle war für zwei Uhr dreißig angesetzt. Drei Minuten vor der Zeit trat Dr. Lucy Grainger, etwas verhetzt, als ob die Zeit gegen sie arbeite, in den Vorraum der Verwaltungsabteilung. »Komme ich zu spät?« fragte sie die Sekretärin am Empfangstisch.

»Es hat, glaube ich, noch nicht angefangen, Dr. Grainger. Sie sind gerade erst in den Sitzungssaal gegangen.« Das Mädchen wies auf eine eichene Doppeltür an der anderen Seite des Raumes, und als Lucy auf die Tür zuging, vernahm sie gemurmelte Unterhaltung dahinter.

Als sie den großen Raum mit dem dicken Teppich, dem langen Nußbaumtisch und den geschnitzten Stühlen betrat, fand sie sich neben Kent O'Donnell und einem jüngeren Mann, den sie nicht kannte. Ringsherum erklang das Stimmengewirr von Gesprächen, und die Luft war dick von Tabakrauch. Die Teilnahme an der monatlichen Konferenz der Sterbefälle galt im allgemeinen als Pflicht, und die meisten der über vierzig Chirurgen des Krankenhauses waren bereits anwesend, ebenso die festangestellten Assistenzärzte und Praktikanten.

»Lucy.« Sie lächelte zwei Kollegen grüßend zu und wandte sich nach O'Donnell um, der sie angerufen hatte. Er brachte den jüngeren Mann mit sich.

»Lucy, ich möchte Sie mit Dr. Roger Hilton bekannt machen. Er ist gerade bei uns eingetreten. Sie erinnern sich vielleicht, seinen Namen schon gehört zu haben.«

»Ja, ich erinnere mich.« Sie lächelte Hilton zu.

»Dies ist Dr. Grainger.« O'Donnell legte immer Wert darauf, neue Mitglieder des Ärztestabes bekannt zu machen. Er fügte hinzu: »Lucy ist orthopädische Chirurgin bei uns.«

Sie reichte Hilton ihre Hand, und er ergriff sie. Sein Händedruck war fest, sein Lächeln jungenhaft. Sie schätzte ihn auf siebenund zwanzig. »Falls Sie es nicht schon zu oft gehört haben«, sagte sie, »herzlich willkommen.«

»Offen gesagt, ich höre es gern.« Hilton sah sich um, als ob es ihm hier gefiele.

»Ist das Ihre erste Stellung an einem Krankenhaus?«

Hilton nickte. »Ja. Ich war vorher chirurgischer Assistent im Michael Reese.«

Jetzt erinnerte sich Lucy genauer. Hilton war ein Mann, um den O'Donnell sich sehr bemüht hatte, ihn nach Burlington zu bekommen, und das bedeutete zweifellos, daß Hilton hohe Qualifikationen besaß.

»Kommen Sie einen Moment mit mir, Lucy.« Kent O'Donnell war unmittelbar hinter sie getreten und winkte ihr.

Sie entschuldigte sich bei Hilton und folgte dem Chef der Chirurgie zu einem der Fenster des Konferenzsaales, wo sie nicht unmittelbar neben anderen standen.

»Hier ist es etwas besser. Zumindest kann man sich verständlich machen.« O'Donnell lächelte. »Wie geht es Ihnen, Lucy? Außer im Dienst habe ich Sie schon lange nicht mehr gesehen.«

Sie schien zu überlegen. »Nun, mein Puls ist normal, die Temperatur um 36,9, den Blutdruck habe ich in der letzten Zeit nicht gemessen.«

»Warum lassen Sie mich das nicht tun?« fragte O'Donnell. »Bei einem Abendessen zum Beispiel.«

»Halten Sie das für klug? Womöglich lassen Sie den Blutdruckmesser in die Suppe fallen.«

»Begnügen wir uns also mit dem Essen und lassen das andere.«

»Herzlich gern, Kent«, antwortete Lucy. »Aber ich muß erst in meinem Terminkalender nachsehen.«

»Tun Sie das. Ich rufe Sie an. Versuchen wir, es irgendwann nächste Woche zu schaffen.« O'Donnell legte seine Hand leicht auf ihre Schulter, ehe er sich abwendete. »Es wird wohl Zeit, mit der Vorstellung zu beginnen.«

Während Lucy ihm nachsah, wie er sich durch die Gruppen der Ärzte zu dem Mitteltisch drängte, dachte sie nicht zum erstenmal daran, wie sehr sie Kent O'Donnell bewunderte, als Kollegen sowohl wie als Mann. Die Einladung zum Abendessen war keine Überraschung. Sie hatten früher schon manchmal einen Abend zusammen verbracht, und eine Zeitlang hatte sie sich gefragt, ob sich daraus vielleicht stillschweigend ein Verhältnis entwickeln würde. Beide waren unverheiratet, und Lucy war mit ihren fünfunddreißig sieben Jahre jünger als der Chef der Chirurgie. Aber O'Donnell hatte durch sein Verhalten nicht erkennen lassen, daß er in ihr mehr als eine angenehme Gesellschafterin sah.

Lucy selbst hatte das Gefühl, daß aus ihrer Bewunderung für O'Donnell etwas Tieferes und Persönlicheres erwachsen könne, wenn sie es zuließe. Sie hatte aber nicht versucht, die Entwicklung voranzutreiben, weil sie es für richtiger hielt, den Dingen so, wie sie kamen, ihren Lauf zu lassen, und falls sich nichts ergab - nun, dann war auch nichts verloren.

Das war zumindest einer der Vorzüge der Reife gegenüber dem ersten Überschwang der Jugend. Man lernte, nichts erzwingen zu wollen, und entdeckte, daß das Ende des Regenbogens viel weiter entfernt als nur hinter der nächsten Straßenkreuzung liegt.

»Wollen wir beginnen, meine Herren?« O'Donnell hatte das Kopfende des Tisches erreicht und erhob seine Stimme über das Geplauder der Anwesenden. Auch er freute sich über den kurzen Wortwechsel mit Lucy und fand den Gedanken, daß er bald wieder mit ihr zusammen sein sollte, angenehm. Tatsächlich hätte er sie gern schon längst angerufen, aber sein Zögern hatte einen Grund. Die Wahrheit war, daß sich Kent O'Donnell mehr und mehr von Lucy angezogen fühlte, sich aber nicht völlig sicher war, ob das für beide gut sei.

Mit den Jahren hatte seine Lebensweise ein ziemlich festes Schema angenommen. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, allein zu leben und unabhängig zu sein, und manchmal bezweifelte er, ob er sich noch in etwas anderes einfügen könne. Er vermutete, daß für Lucy ähnliches zutreffe, und auch aus ihrer gleichartigen Berufstätigkeit mochten sich Probleme ergeben. Nichtsdestoweniger fühlte er sich in ihrer Gegenwart wohler als in der irgendeiner anderen Frau, die er kannte. Sie besaß eine große seelische Wärme - in seinen Gedanken hatte er sie einmal als Herzensgüte bezeichnet -, die gleichzeitig entspannend und anregend wirkte. Und er wußte, daß es andere Menschen gab, insbesondere Lucys Patienten, auf die sie die gleiche Wirkung ausübte.

Dabei war Lucy eine charmante Frau. Sie besaß eine echte, reife Schönheit, die sehr anziehend war. Als er sie jetzt beobachtete - sie war stehengeblieben, um mit einem der Assistenten zu sprechen -, sah er, wie sie die Hand hob und ihr Haar aus ihrem Gesicht schob. Sie trug es kurz; in weichen Wellen umrahmte es ihr Gesicht und war fast golden. Er bemerkte allerdings auch ein paar ergrauende Strähnen. Nun, das schien die Medizin beinahe jedem anzutun. Aber es erinnerte ihn daran, daß die Jahre vergingen. War es falsch von ihm, diese Angelegenheit nicht energischer zu betreiben? Hatte er lange genug gewartet? Nun, er wollte sehen, wie das Abendessen mit ihr in der nächsten Woche verlief.

Das Geplauder war nicht verstummt, und dieses Mal wiederholte er seine Aufforderung, mit der Sitzung zu beginnen, lauter.

Bill Rums rief ihm zu: »Ich glaube nicht, daß Joe Pearson schon hier ist.« Die grelle Krawatte, die O'Donnell schon am Vormittag aufgefallen war, hob Rufus aus den umstehenden Kollegen heraus. »Ist Joe noch nicht hier?« ODonnell schien überrascht, während er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ.

»Hat jemand Joe Pearson gesehen?« fragte er. Ein paar der Kollegen schüttelten den Kopf.

Einen Augenblick verzog O'Donnell mißmutig sein Gesicht. Dann beherrschte er sich. Er ging auf die Tür zu. »Wir können die Konferenz nicht ohne den Pathologen beginnen. Ich werde nachsehen, was ihn abgehalten hat.« Aber ehe er die Tür erreichte, trat Pearson ein.

»Wir wollten gerade nach Ihnen suchen, Joe.« O'Donnells Ton war freundlich, und Lucy fragte sich, ob sie sich geirrt hatte, als sie eine kurze Gereiztheit an ihm zu bemerken glaubte.

»Hatte eine Obduktion. Dauerte länger, als ich dachte. Dann holte ich mir schnell noch ein Sandwich.« Pearsons Worte klangen undeutlich, hauptsächlich weil er zwischen den Worten kaute. Vermutlich das Sandwich, dachte Lucy. Dann sah sie, daß Pearson den Rest seines Sandwichs in eine Papierserviette gewickelt mit einem Stoß Papieren und Akten trug. Sie lächelte. Nur Joe Pearson konnte es sich erlauben, kauend zu einer Konferenz der Sterbefälle zu erscheinen.

O'Donnell stellte Hilton Pearson vor. Während die beiden Männer sich die Hände schüttelten, entglitt Pearson einer seiner Aktendeckel - und ein Stoß Papiere verstreute sich über den Boden. Grinsend sammelte Bill Rufus sie ein und schob den Aktendeckel Pearson wieder unter den Arm. Pearson nickte zum Dank und sagte dann unvermittelt zu Hilton: »Chirurg?«

»Ja, Sir«, antwortete Hilton höflich. Ein guterzogener junger Mann, dachte Lucy. Er zeigt vor älteren Leuten Respekt.

»Neuer Nachschub für die Knochenschlosser also«, sagte Pearson. Auf seine laut und scharf gesprochenen Worte legte sich eine plötzliche Stille über den Raum. Im allgemeinen wäre die Bemerkung als Scherz hingenommen worden, Pearsons Ton schien aber irgendwie eine Spitze, einen Anklang an Verachtung zu enthalten.

Hilton lachte. »So kann man es nennen«, antwortete er, aber Lucy erkannte, daß Pearsons Ton ihn überraschte.

»Machen Sie sich nichts aus Joes Scherzen«, sagte O'Donnell gutmütig. »Er hat etwas gegen Chirurgen. Nun? Können wir jetzt beginnen?«

Sie traten an den langen Tisch, die älteren des Ärztestabes nahmen automatisch die Stühle an dem Tisch ein, die anderen setzten sich in die hintere Reihe. Lucy selbst saß vorn. O'Donnell hatte den Platz am Kopfende des Tisches inne, Pearson mit seinen Papieren saß links von ihm. Während die anderen Platz nahmen, sah sie, wie Pearson wieder von seinem Sandwich abbiß. Er gab sich nicht die Mühe, es unauffällig zu tun.

Weiter unten am Tisch bemerkte sie Charlie Dornberger, einen der Geburtshelfer am Three Counties Hospital. Er stopfte sich andächtig und sorgfaltig seine Pfeife. Immer wenn Lucy Dr. Dornberger sah, schien er seine Pfeife entweder zu stopfen oder zu reinigen oder anzuzünden. Zu rauchen schien er sie selten. Dornberger gegenüber saß Gil Bartlett und neben ihm Dingdong Bell von der Röntgenabteilung und John McEwan. McEwan mußte heute an einem Fall interessiert sein, denn der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist nahm üblicherweise nicht an den chirurgischen Konferenzen teil.

»Wir wollen beginnen, meine Herren.« Während O'Donnell den Tisch entlang sah, verstummten die letzten Unterhaltungen. Er blickte in seine Notizen. »Der erste Fall. Samuel Lobitz, weiß, männlich, fünfunddreißig Jahre alt. Dr. Bartlett, bitte.«

Gil Bartlett, wie immer untadelhaft gekleidet, schlug sein Notizbuch auf. Unwillkürlich fixierte Lucy den gestutzten Bart, wartete darauf, daß er sich in Bewegung setzen würde. Fast sofort begann er auf- und abzuwippen. Mit ruhiger Stimme fing Bartlett an: »Der Patient wurde am 12. Mai an mich

überwiesen.«

»Etwas lauter, Gil.« Die Bitte kam vom anderen Ende des Tisches.

Bartlett hob seine Stimme etwas. »Ich will es versuchen. Aber vielleicht gehen Sie nachher mal zu Dr. McEwan.« Ein Gelächter lief um den Tisch, dem sich der Hals-, Nasen- und Ohren-Mann anschloß.

Lucy beneidete alle, die bei diesen Sitzungen unbefangen sein konnten. Sie war es nie, besonders dann nicht, wenn einer ihrer eigenen Fälle besprochen wurde. Es war für jeden eine Belastung, seine Diagnose darzulegen und die Behandlung eines Patienten zu schildern, der gestorben war, anschließend die Meinungen anderer und schließlich den Obduktionsbefund des Pathologen anzuhören. Und Joe Pearson schonte niemals jemanden.

Es gab ehrliche Fehler, die jedem Mediziner unterlaufen konnten - selbst wenn es mitunter Fehler waren, die dem Patienten das Leben kosteten. Nur wenige Ärzte konnten im Laufe ihrer Tätigkeit diesen Fehlern völlig entgehen. Das wichtigste war, daraus zu lernen und den gleichen Fehler nicht zu wiederholen. Das war der Grund, weshalb diese Konferenzen über die Sterbefälle abgehalten wurden: damit jeder, der daran teilnahm, daraus lernte.

Gelegentlich waren die Fehler unentschuldbar, und man konnte es immer spüren, wenn ein derartiger Fall bei den monatlichen Zusammenkünften zur Sprache kam. Dann herrschte ein unbehagliches Schweigen, und man vermied, einander anzusehen. Selten kam es zu offener Kritik, weil sie überflüssig war, und ferner, weil keiner wissen konnte, wann er selbst ihr einmal unterworfen werden würde.

Lucy erinnerte sich an einen Vorfall, der einen angesehenen Chirurgen an einem anderen Krankenhaus betraf, in dem sie früher tätig gewesen war. Der Chirurg operierte einen Patienten im Unterleib, weil er den Verdacht auf Krebs an den Verdauungsorganen hegte. Als er das erkrankte Gebiet erreichte, kam er zu der Ansicht, daß der Fall nicht mehr zu operieren sei, und statt zu versuchen, die Geschwulst zu entfernen, stellte er eine neue Verbindung des Dünndarms zum Dickdarm her, um die Geschwulst zu umgehen. Drei Tage später war der Patient tot, und bei der Obduktion zeigte sich, daß überhaupt kein Krebs vorlag. Der Blinddarmfortsatz des Patienten war durchgebrochen und hatte einen Abszeß verursacht. Der Chirurg hatte das nicht erkannt und dadurch den Mann zum Tode verurteilt. Lucy würde nie die entsetzte Totenstille vergessen, mit der der Bericht des Pathologen aufgenommen worden war.

Über Fälle dieser Art dringt natürlich nie etwas an die Öffentlichkeit. Das sind Augenblicke, in denen sich die Mediziner fest zusammenschließen. Aber in guten Krankenhäusern ist es damit nicht getan. Im Three Counties Hospital führte O'Donnell jetzt mit jedem, der sich derartiges zuschulden kommen ließ, ein Gespräch unter vier Augen, und wenn es ein böser Fall war, wurde der Schuldige für einige Zeit streng kontrolliert. Lucy selbst hatte nie ein derartiges Gespräch führen müssen, aber sie hatte gehört, daß der Chef der Chirurgie hinter verschlossenen Türen außerordentlich scharf werden konnte.

Gil Bartlett berichtete weiter: »Der Fall wurde mir von Dr. Cymbalist überwiesen.« Lucy wußte, daß Cymbalist ein praktischer Arzt in Burlington war, der selbst nicht zum Three Counties Hospital gehörte. Auch ihr selbst waren von ihm schon Patienten überwiesen worden.

»Dr. Cymbalist rief mich zu Hause an«, sagte Bartlett, »und teilte mir mit, er vermute ein durchgebrochenes Magengeschwür. Die von ihm beschriebenen Symptome schienen seine Diagnose zu bestätigen. Inzwischen befand sich der Patient in einem Krankenwagen auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich rief den diensthabenden Assistenzarzt in der Chirurgie an und benachrichtigte ihn von dem Eintreffen des Patienten.«

Dr. Bartlett sah in seine Notizen. »Ich selbst sah den Patienten ungefähr eine halbe Stunde später. Er hatte starke Schmerzen im Oberbauch und befand sich im Schockzustand. Sein Blutdruck war siebzig über vierzig. Er war aschgrau und von kaltem Schweiß bedeckt. Ich verordnete eine Transfusion, um dem Schock entgegenzuwirken, und Morphium. Bei der Untersuchung erwies sich der Leib als hart und als schmerzempfindlich bei Druck.«

Bill Rufus fragte: »Haben Sie eine Durchleuchtung des Brustkorbes vorgenommen?«

»Nein. Der Patient erschien mir zu krank, um ihn erst noch in die Röntgenabteilung zu schaffen. Ich stimmte mit Dr. Cymbalists Diagnose auf ein durchgebrochenes Magengeschwür überein und entschloß mich, sofort zu operieren.«

»Überhaupt keine Zweifel, Doktor?« Diesmal kam die Zwischenfrage von Pearson. Bisher hatte der Pathologe in seine Papiere gesehen. Jetzt wandte er sein Gesicht Bartlett zu.

Einen Augenblick zögerte Bartlett, und Lucy dachte: Etwas ist hier falsch. Die Diagnose war ein Irrtum, und Joe Pearson wartet darauf, eine Falle zuschlagen zu lassen. Dann fiel ihr ein, daß alles, was Pearson wußte, inzwischen auch Bartlett wissen mußte, es ihn also nicht mehr überraschen konnte. Auf jeden Fall hatte Bartlett vermutlich der Obduktion beigewohnt. Das taten die meisten gewissenhaften Chirurgen, wenn einer ihrer Patienten starb. Nach der kurzen Pause fuhr der Chirurg unbeirrt fort:

»Man hat in diesen dringenden Notfällen immer Zweifel, Dr. Pearson. Aber ich kam zu der Überzeugung, daß alle Symptome eine sofortige Probelaparatomie rechtfertigten.« Bartlett machte eine Pause. »Allerdings war kein aufgebrochenes Geschwür vorhanden, und der Patient wurde anschließend in ein Krankenzimmer gebracht. Ich zog Dr. Toynbee zu einer Konsultation hinzu, aber noch ehe er eintraf, starb der Patient.«

Gil Bartlett schloß sein Notizbuch und sah sich an dem Tisch um.

Die Diagnose war also falsch gewesen, und trotz Bartletts äußerlich ruhigem Auftreten wußte Lucy, daß er innerlich wahrscheinlich unter quälenden Selbstvorwürfen litt. Auf Grund der vorliegenden Symptome konnte allerdings zweifellos gesagt werden, daß die Operation gerechtfertigt war.

Jetzt wandte sich O'Donnell an Joe Pearson. Höflich bat er: »Wollen Sie uns jetzt bitte den Obduktionsbefund mitteilen.« Lucy überlegte, daß der Chef der Chirurgie zweifellos schon wußte, was kam. Automatisch sahen die Abteilungsleiter Obduktionsberichte vor sich, die ihre eigenen Mitarbeiter betrafen.

Pearson blätterte in seinen Papieren, zog dann eines hervor. Seine Blicke schossen um den Tisch herum. »Wie Dr. Bartlett Ihnen mitteilte, lag kein durchgebrochenes Magengeschwür vor. Tatsache ist, daß der Leib völlig normal war.« Wie um der dramatischen Wirkung willen machte er eine Pause, ehe er fortfuhr: »Dagegen lag im Brustraum eine Lungenentzündung im frühen Stadium vor. Zweifellos hatte sie heftige Schmerzen am Rippenfell verursacht.«

Das war es also. Lucy überdachte noch einmal alle angeführten Symptome. Es stimmte. Äußerlich mußten sie in beiden Fällen identisch sein. O'Donnell fragte: »Wünscht jemand das Wort?«

Es folgte ein unbehagliches Schweigen. Ein Fehler war unterlaufen, aber er konnte nicht als fahrlässig bezeichnet werden. Den meisten in dem Raum war in bedrückender Weise bewußt, daß ihnen das gleiche widerfahren konnte. Bill Rufus sprach es aus. »Bei den beschriebenen Symptomen würde ich sagen, daß die Probelaparatomie gerechtfertigt war.«

Darauf hatte Pearson gewartet. Er begann nachdenklich: »Nun, ich weiß nicht recht.« Dann warf er fast beiläufig ohne jede Warnung wie eine Handgranate die Worte hin: »Es ist uns allen gut bekannt, daß Dr. Bartlett selten über die Bauchhöhle hinaussieht.« Dann schoß er in dem drückenden Schweigen direkt auf Bartlett die Frage ab: »Haben Sie die Brust überhaupt untersucht?«

Seine Bemerkung und seine Frage waren eine Ungeheuerlichkeit. Selbst wenn Bartlett ein Vorwurf gemacht werden konnte, war das O'Donnells Aufgabe, aber nicht Pearsons, und außerdem hatte es unter vier Augen zu geschehen. Bartlett stand keineswegs im Ruf der Sorglosigkeit. Alle, die mit ihm gearbeitet hatten, kannten ihn als gründlich, und wenn überhaupt etwas an ihm auszusetzen war, dann, daß er zu übertriebener Vorsicht neigte. In diesem Fall hatte er offensichtlich vor der Notwendigkeit einer schnellen Entscheidung gestanden.

Bartlett sprang auf. Sein Stuhl scharrte, als er ihn zurückstieß, sein Gesicht war dunkelrot. »Selbstverständlich habe ich die Brust untersucht.« Er bellte die Worte heraus, mit auf- und abwippendem Bart. »Ich habe bereits erklärt, daß der Patient in einem Zustand war, der eine Brustdurchleuchtung nicht erlaubte. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre.«

»Meine Herren, meine Herren!« Das war O'Donnell. Aber Bartlett ließ sich nicht unterbrechen.

»Es ist sehr leicht, es nachher besser zu wissen, und Dr. Pearson versäumt keine Gelegenheit, uns das zu zeigen.«

Von der anderen Seite des Tisches winkte Charlie Dornberger mit seiner Pfeife. »Ich glaube nicht, daß Dr. Pearson beabsichtigte.«

Wütend unterbrach Bartlett ihn: »Natürlich glauben Sie das nicht. Sie sind ja auch sein Freund. Und außerdem: die Geburtshelfer verfolgt er nicht mit seiner Blutrache.«

»Meine Herren, das kann ich nicht zulassen.« O'Donnell stand jetzt auch und schlug hart auf den Tisch. Er hatte die Schultern zurückgenommen, und seine athletische Gestalt ragte über die Sitzenden an dem Tisch hoch hinaus. Lucy dachte, er ist ein richtiger Mann. »Dr. Bartlett, würden Sie die Güte haben, sich wieder zu setzen.« Er wartete stehend, bis Bartlett seinen Platz wieder eingenommen hatte.

O'Donnells äußere Erregung ließ seinen Zorn erkennen. Joe Pearson hatte kein Recht, die Konferenz in dieser Weise zu gefährden. O'Donnell wußte, daß die Diskussion jetzt nicht mehr ruhig und sachlich geführt werden konnte; er mußte sie abbrechen. Es kostete ihn große Überwindung, seinem Ärger über Joe Pearson nicht sofort Luft zu machen, aber ihm war bewußt, daß er die Lage dadurch nur verschärfen würde.

O'Donnell teilte nicht Bill Rufus' Ansicht, daß Gil Bartlett für den Todesfall kein Vorwurf gemacht werden konnte. Er neigte zu einer kritischeren Haltung. Der Schlüsselfaktor des Falles lag in dem Versäumnis, die Brust des Patienten zu röntgen. Wenn Bartlett bei der Einlieferung eine Röntgenaufnahme angeordnet hätte, bestand die Möglichkeit, nach Anzeichen für eine Gasbildung oberhalb der Leber und unter dem Zwerchfell zu suchen. Das waren eindeutige Hinweise auf ein durchgebrochenes Geschwür. Ihr Fehlen wäre Bartlett zweifellos nicht entgangen. Ferner hätte das Röntgenbild auch eine Verschattung der Lungenbasis gezeigt und auf die Lungenentzündung hingewiesen, die Joe Pearson später bei der Obduktion feststellte. Der eine oder der andere dieser Faktoren hätte Bartlett leicht dazu veranlassen können, seine Diagnose zu berichtigen, und damit wären die Aussichten des Patienten, am Leben zu bleiben, gestiegen.

Gewiß, überlegte O'Donnell, Bartlett hatte behauptet, der Patient sei für die Durchleuchtung zu krank gewesen. Wenn der Mann aber tatsächlich so krank war, durfte Bartlett dann überhaupt die Operation wagen? O'Donnell war der Ansicht, er hätte nicht mehr operieren dürfen.

O'Donnell wußte, daß bei einem durchgebrochenen Geschwür üblicherweise innerhalb von vierundzwanzig Stunden operiert werden muß. Nach dieser Zeit war die Sterblichkeitsrate mit der Operation höher als ohne sie, weil die ersten vierundzwanzig Stunden die gefährlichsten sind. Wenn der Patient sie überlebte, waren die eigenen Abwehrkräfte des Körpers geweckt, um den Durchbruch zu schließen. Nach den von Bartlett geschilderten Symptomen schien es wahrscheinlich, daß der Patient die Vierundzwanzig-Stunden-Grenze fast erreicht oder gar schon überschritten hatte. In diesem Fall hätte O'Donnell selbst den Patienten nicht mehr operiert, in der Absicht, später eine endgültige Diagnose zu stellen. Auf der anderen Seite war sich O'Donnell bewußt, daß es in der Medizin hinterher feicht war, alles besser zu wissen. Man befand sich aber in einer ganz anderen Situation, wenn das Leben des Patienten auf dem Spiele stand und man auf der Stelle eine dringliche Diagnose stellen mußte.

Alles dies hätte der Chef der Chirurgie in der üblichen Weise auf der Sterblichkeitskonferenz vorgebracht, ruhig und objektiv. Er hätte Gil Bartlett veranlaßt, den einen oder anderen Punkt selbst anzuführen. Bartlett war ehrlich und fürchtete sich nicht vor einer kritischen Selbstüberprüfung. Die fraglichen Punkte, auf die es ankam, wären jedem anschaulich geworden. Dazu war nicht erforderlich, daß jemand heftig wurde oder Vorwürfe gemacht wurden. Für Bartlett wäre es selbstverständlich kein Vergnügen gewesen, er wäre aber auch nicht gedemütigt worden. Und noch wichtiger: die Diskussion hätte O'Donnells Zielen gedient, und dem ganzen chirurgischen Stab wäre durch einen praktischen Fall die Notwendigkeit für verschiedene diagnostische Methoden nachdrücklich vor Augen gehalten worden.

Das konnte jetzt nicht mehr geschehen. Brachte O'Donnell in diesem Stadium noch die Punkte vor, die ihm vorschwebten, hätte es den Anschein gehabt, als ob er Pearson unterstütze, und dadurch hätte sich eine noch schärfere Verurteilung Bartletts ergeben. Das durfte um Bartletts eigener Moral wegen nicht geschehen. Selbstverständlich mußte er mit Bartlett privat sprechen, aber die Möglichkeit zu einer wertvollen, offenen Diskussion war verloren. Dieser verdammte Joe Pearson!

Nun hatte sich die Erregung gelegt. O'Donnells Auf-den-Tisch-Klopfen - ein seltenes Ereignis - hatte gewirkt. Bartlett hatte sich wieder gesetzt, sein Gesicht immer noch wütend gerötet. Pearson war anscheinend in seine Papiere vertieft, in denen er blätterte.

»Meine Herren.« O'Donnell wartete. Er wußte, was er zu sagen hatte. Es mußte knapp und präzise sein. »Ich brauche wohl kaum auszusprechen, daß niemand von uns eine Wiederholung dieses Vorfalles zu erleben wünscht. Die Sterblichkeitskonferenz dient zum Erfahrungsaustausch, nicht zu persönlichen Vorwürfen oder erhitzten Auseinandersetzungen. Dr. Pearson, Dr. Bartlett, ich hoffe, mich verständlich ausgedrückt zu haben.« O'Donnell sah beide an und verkündete dann, ohne auf eine Zustimmung oder Antwort zu warten: »Den nächsten Fall, bitte.«

Es standen noch vier weitere Fälle auf der Tagesordnung, aber keiner bot etwas Ungewöhnliches, und die Diskussion verlief ruhig. Das ist ganz gut, dachte Lucy. Auseinandersetzungen, wie die vorangegangene, waren nicht geeignet, die Moral der Ärzte zu fördern. Man kam immer wieder in die Zwangslage, eine dringliche Diagnose zu stellen. Das verlangte Mut. Selbstverständlich rechnete man damit, auch wenn man sich unglücklicherweise geirrt hatte, daß man sich dafür verantworten mußte. Persönliche Angriffe aber waren etwas anderes. Kein Chirurg brauchte es sich bieten zu lassen, wenn er nicht grob fahrlässig handelte oder einfach unfähig war.

Lucy fragte sich nicht zum erstenmal, wie viele von Joe Pearsons Zensuren gelegentlich auf persönlichen Motiven beruhten. Heute war Joe Pearson gegen Gil Bartlett ungehobelter vorgegangen, als sie es je bei einer Sterblichkeitskonferenz erlebt hatte, obwohl es sich weder um ein fahrlässiges Versehen handelte noch Bartlett häufig Irrtümer unterliefen. Er hatte am Three Counties Hospital manche gute Arbeit geleistet, besonders bei verschiedenen Krebsformen, die man noch vor kurzer Zeit für unoperierbar hielt.

Pearson wußte das natürlich auch. Warum also diese Feindschaft? War der Grund, daß Gil Bartlett in der Medizin etwas darstellte, worum Pearson ihn beneidete und was er nie erreicht hatte? Sie sah über den Tisch zu Bartlett hinüber. Seine Züge waren starr; er hatte seine Erregung noch nicht überwunden. Im allgemeinen war er gelassen, umgänglich, liebenswürdig, alles Eigenschaften, die man bei einem erfolgreichen Mann von Anfang Vierzig erwarten konnte. Gil Bartlett und seine Frau waren bekannte Erscheinungen in der Burlingtoner Gesellschaft. Lucy hatte erlebt, wie unbefangen er auf Cocktailpartys und in den Heimen seiner reichen Patienten auftrat. Seine Praxis ging sehr gut. Lucy vermutete, daß sein jährliches Einkommen bei fünfzigtausend Dollars lag.

War das der Punkt, der Joe Pearson stach? Jenen Joe Pearson, der nie neben dem Glanz eines Chirurgen standhalten konnte? Dessen Arbeit wichtig war, aber undramatisch verlief? Der einen Zweig der Medizin gewählt hatte, der selten an das Licht der Öffentlichkeit gelangt? Lucy selbst hatte Leute fragen hören: »Was macht ein Pathologe eigentlich?« Niemand fragte jemals: »Was macht ein Chirurg?« Sie wußte, daß es Leute gab, die einen Pathologen für eine Art medizinischen Assistenten hielten, die nicht wußten, daß ein Pathologe zunächst einmal ein Arzt mit einem vollen, abgeschlossenen medizinischen Studium sein muß, ehe er die zusätzlichen Ausbildungsjahre auf sich nehmen kann, um ein hochqualifizierter Spezialist zu werden.

Auch das Geld war manchmal ein wunder Punkt. Im Stab des Three Counties Hospitals hatte Gil Bartlett die Stellung eines Belegarztes inne, der kein Gehalt von dem Krankenhaus erhielt, sondern von seinen Patienten bezahlt wurde. Lucy selbst und alle anderen Belegärzte waren auf der gleichen Basis Mitglieder des Krankenhausstabes. Aber im Gegensatz dazu war Joe Pearson Angestellter des Krankenhauses, der ein Jahresgehalt von fünfundzwanzigtausend Dollars erhielt, ungefähr die Hälfte dessen, was ein erfolgreicher Chirurg, der viele Jahre jünger war als er, verdienen konnte. Lucy hatte einmal die etwas zynische Zusammenfassung des Unterschiedes zwischen einem Chirurgen und einem Pathologen gelesen:

»Ein Chirurg erhält fünfhundert Dollars dafür, daß er einen Tumor entfernt. Der Pathologe erhält fünf Dollars dafür, daß er den Tumor untersucht, die Diagnose stellt, die Weiterbehandlung empfiehlt und die Zukunft des Patienten voraussagt.«

Lucy selbst kannte in ihrer Zusammenarbeit mit Joe Pearson keine Schwierigkeiten. Aus Gründen, die sie selbst mit Sicherheit nicht nennen konnte, schien er sie zu mögen, und es gab Augenblicke, in denen sie ähnliches empfand und seine Sympathie erwiderte. Das erwies sich manchmal als Hilfe, wenn sie mit ihm über eine Diagnose sprechen mußte.

Nun wurde die Diskussion beendet. O'Donnell schloß die Sitzung. Lucy wendete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zu. Sie hatte während des letzten Falles ihre Gedanken abschweifen lassen. Das war nicht gut. Sie mußte auf sich selbst aufpassen. Alle hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Joe Pearson hatte seine Papiere aufgenommen und schlurfte hinaus. O'Donnell hielt ihn an. Sie sah, wie der Chef der Chirurgie den alten Mann auf die Seite zog.

»Kommen Sie einen Augenblick mit hier hinein.« O'Donnell öffnete die Tür zu einem kleinen Büro. Es grenzte an den Sitzungssaal und wurde manchmal für Ausschußsitzungen verwendet. Jetzt war es unbenutzt. Pearson folgte dem Chef der Chirurgie.

O'Donnell sprach vorsätzlich unbetont. »Joe, ich bin der Ansicht, Sie sollten die Kollegen bei diesen Sitzungen nicht in dieser Weise attackieren.«

»Warum?« Pearsons Frage war geradezu.

Nun gut, dachte O'Donnell, wenn Sie es so haben wollen. Laut sagte er: »Weil es zu nichts führt.« Er gab seiner Stimme einen scharfen Ton. Im allgemeinen brachte er den Altersunterschied zum Ausdruck, wenn er mit dem alten Mann sprach, aber in diesem Augenblick mußte er seine eigene Autorität wahren. Wenn O'Donnell auch als Chef der Chirurgie keine unmittelbare Kontrolle über Pearsons Tätigkeit ausübte, so besaß er doch gewisse Vorrechte, wenn sich die Arbeit der Pathologie auf seinen eigenen Bereich bezog.

»Ich habe eine falsche Diagnose klargestellt. Das ist alles.« Jetzt war Pearson selbst aggressiv. »Wollen Sie sagen, daß wir über derartige Dinge schweigen sollen?«

»Sie wissen selbst, wie unsinnig diese Frage ist.« O'Donnells Antwort klang scharf, er bemühte sich diesmal nicht, die harte Kälte in seiner Stimme zu mildern. Er sah, wie Pearson zögerte, und nahm an, daß der alte Mann erkannte, er sei zu weit gegangen.

Knurrend räumte Pearson ein: »So habe ich es auch nicht gemeint.«

Gegen seinen Willen lächelte Kent O'Donnell. Sich zu entschuldigen fiel Joe Pearson nicht leicht. Diese Äußerung mußte ihn einiges gekostet haben. Etwas ruhiger fuhr O'Donnell fort: »Ich meine, daß es bessere Methoden gibt, Joe. Wenn Sie damit einverstanden sind, bin ich dafür, daß Sie bei den Konferenzen den Obduktionsbefund bekanntgeben und es mir überlassen, die anschließende Diskussion zu leiten. Ich glaube, wir können dann diskutieren, ohne daß jemand herausgefordert wird.«

»Ich sehe nicht ein, warum sich jemand herausgefordert sah.«

Pearson knurrte immer noch, aber O'Donnell bemerkte, daß er nachgab.

»Wie dem auch sei, Joe. Ich möchte die Sitzungen auf meine Weise leiten.« Ich will ihm nicht zu hart zusetzen, dachte O'Donnell, aber diesmal muß ich ihm die Lage eindeutig klarmachen.

Pearson hob die Schultern. »Wenn Sie es unbedingt wollen.«

»Danke, Joe.« O'Donnell erkannte, daß er gewonnen hatte. Es war leichter gegangen, als er erwartet hatte. Vielleicht war das eine günstige Gelegenheit, eine andere Frage aufzuwerfen. »Da wir schon zusammen sind, Joe, ich habe noch etwas.«

»Ich habe viel zu tun. Hat das nicht Zeit?« Als Pearson antwortete, konnte O'Donnell fast seine Gedanken lesen. Der Pathologe brachte klar zum Ausdruck, daß er seine Unabhängigkeit nicht aufgegeben hatte, weil er in diesem einen Punkt nachgab.

»Meiner Ansicht nach nicht. Es handelt sich um die pathologischen Befunde.«

»Was ist damit?« Pearsons Reaktion war aggressive Abwehr.

Kühl fuhr O'Donnell fort: »Ich habe Beschwerden erhalten. Es dauert bei manchen Berichten zu lange, bis sie von der Pathologie heraufkommen.«

»Rufus wahrscheinlich.« Pearson war unverkennbar verbittert. Man konnte ihn fast denken hören: Noch so ein Chirurg, der Schwierigkeiten macht.

O'Donnell war entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. Ruhig erwiderte er: »Bill Rufus auch. Aber es waren noch andere. Das wissen Sie, Joe.«

Einen Augenblick antwortete Pearson nicht, und ODonnell ging es durch den Kopf, daß ihm der alte Mann in gewisser Weise leid tue. Die Jahre verstrichen. Pearson war jetzt Sechsundsechzig. Im günstigsten Falle standen ihm noch fünf oder sechs aktive Jahre bevor. Manche Menschen unterwerfen sich unvermeidlichen Veränderungen, finden sich damit ab, daß Jüngere aufsteigen und die Führung übernehmen. Aber nicht Pearson, und er gab seinen Widerstand klar zu erkennen. O'Donnell fragte sich, was hinter dieser Haltung stehe. Fühlte er, daß er nachließ, daß er nicht in der Lage war, mit den jüngsten Entwicklungen in der Medizin Schritt zu halten? Falls das zutraf, war er nicht der erste. Und trotzdem sprach bei all seiner Kratzbürstigkeit vieles für Joe Pearson. Das war einer der Gründe für O'Donnells behutsames Vorgehen.

»Ja, ich weiß es.« Pearsons Antwort hatte einen resignierten Unterton. Mit der Tatsache hatte er sich also abgefunden. Das ist für ihn typisch, dachte O'Donnell. Von Anfang an hatte er im Three Counties Hospital Pearsons Gradheit geschätzt und sie mitunter benutzt, um den Standard der Chirurgie zu heben.

O'Donnell erinnerte sich, daß zu den Problemen, denen er in der Anfangszeit an dem Krankenhaus gegenüberstand, gehörte, unnötige Operationen auszuschalten. Unter diese Bezeichnung fiel eine unnatürlich große Zahl von Hysterectomien. Und in zu vielen Fällen waren von den Chirurgen des Krankenhauses eine gesunde, normale Gebärmutter entfernt worden. Das geschah durch Ärzte, die im Operieren eine bequeme und gewinnbringende Methode sahen, weibliche Beschwerden aller Art zu heilen, selbst in Fällen, die durch Medikamente behandelt werden konnten. In diesen Fällen griff man zu beschönigenden Diagnosen, wie >chronische Myometritis< oder >Fibrose des Uterusc, und benutzte sie als Nebelwand, um den Befund der Pathologie über die entfernten Organe zu tarnen. O'Donnell erinnerte sich, wie er zu Pearson gesagt hatte: »Wenn Sie über Gewebebefunde berichten, wollen wir die Dinge beim rechten Namen und eine gesunde Gebärmutter eine gesunde Gebärmutter nennen.« Pearson hatte gegrinst und im vollen Umfang mitgearbeitet. Die Folge war, daß der größte Teil der unnötigen Operationen aufhörte. Die Chirurgen empfanden es peinlich, wenn Organe, die sie aus ihren Patientinnen entfernt hatten, vor ihren Kollegen offiziell als normal und nicht erkrankt beurteilt wurden.

»Hören Sie, Kent.« Pearsons Ton war jetzt entgegenkommend. »In letzter Zeit bin ich besonders mit Arbeit überhäuft. Sie machen sich keine Vorstellung, wieviel wir zu tun haben.«

»Doch, ich weiß es genau, Joe.« Das war die Eröffnung gewesen, auf die O'Donnell gehofft hatte. »Viele von uns meinen, daß es für Sie zuviel wird. Es ist Ihnen gegenüber nicht fair.« Er war versucht, >...in Ihrem Alter< hinzuzufügen, hielt es aber für unangebracht. Statt dessen sagte er: »Wie wäre es mit einer Hilfe?«

Die Reaktion erfolgte sofort. Pearson schrie fast: »Sie sagen mir, ich brauche Hilfe? Aber Mann Gottes, seit Monaten bettele ich um mehr Laboranten. Wir brauchen mindestens drei. Und wieviel wurden mir zugestanden? Einer! Und Schreibkräfte. Seit Wochen häufen sich bei mir die Berichte, aber wer soll sie denn schreiben?« Ohne auf Antwort zu warten fuhr er ungestüm fort: »Ich etwa? Wenn die Verwaltung ihre Phantastereien aufgäbe, könnte vielleicht einiges geschehen, einschließlich schnellerer Erledigung pathologischer Befunde. Und nun sagen Sie mir, ich sollte Hilfe bekommen. Das hört man gern.«

O'Donnell hatte ruhig zugehört. »Nun«, fragte er, »sind Sie fertig, Joe?«

»Ja.« Pearsons Antwort klang gedämpft. Er schien über seinen Ausbruch fast beschämt.

»Ich dachte nicht an Laboranten oder Schreibkräfte«, erklärte O'Donnell. »Wenn ich Hilfe sage, meine ich einen weiteren Pathologen. Jemand, der Sie bei der Leitung der Abteilung unterstützen kann. Der vielleicht hier und da etwas modernisiert.«

Bei dem Wort >modernisiert< war Pearson aufgefahren, aber O'Donnell ließ sich nicht unterbrechen. »Immer mit der Ruhe. Ich habe Ihnen zugehört, Joe, jetzt hören Sie auch mich an. Ich dachte an einen vernünftigen jüngeren Mann, der Ihnen einen Teil Ihrer Arbeit abnehmen kann.«

»Ich brauche keinen zweiten Pathologen.«

Das war eine eindeutige Antwort, heftig und unnachgiebig.

»Warum, Joe?«

»Weil für zwei qualifizierte Leute nicht genug Arbeit anfällt. Ich kann mit der ganzen Pathologie allein fertig werden - ohne jede Hilfe. Außerdem habe ich schon einen Assistenzarzt in meiner Abteilung.«

O'Donnell blieb ruhig, aber hartnäckig. »Ein Assistent ist zur Ausbildung bei uns, Joe, und im allgemeinen immer nur für kurze Zeit. Gewiß, er kann einen Teil der Arbeit übernehmen, aber Sie können ihm keine Verantwortung übertragen, und Sie können ihn nicht an der Leitung beteiligen. Und das ist es, wozu Sie gegenwärtig dringend Hilfe brauchen.«

»Überlassen Sie das nur mir. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit, und ich bin mit den pathologischen Befunden auf dem laufenden.«

Es war offensichtlich, daß Joe Pearson nicht beabsichtigte, nachzugeben. O'Donnell hatte mit Widerstand gegen die Anstellung eines neuen Pathologen gerechnet, aber die Schärfe des anderen verwunderte ihn. Lag der Grund seines Widerstandes in der Abneigung, sein persönliches Reich zu teilen, oder wollte er nur einfach seine Stellung schützen? Befürchtete er, ein neuer und jüngerer Mann könne sie untergraben? Bisher war O'Donnell noch nicht der Gedanke gekommen, Pearson von seiner Stellung zu entfernen. Auf dem Gebiet der pathologischen Anatomie war seine langjährige Erfahrung nur schwer zu ersetzen. O'Donnells Absicht war, die Abteilung zu stärken und damit das gesamte Krankenhaus. Vielleicht sollte er diesen Punkt eindeutig hervorheben.

»Joe, es steht keine grundlegende Umstellung zur Diskussion. Daran denkt niemand. Sie behalten nach wie vor die Leitung.«

»In diesem Fall lassen Sie mich die Pathologie auf meine Weise leiten.«

O'Donnell fühlte, wie sich seine Geduld erschöpfte. Er entschied, daß er im Augenblick in dieser Sache genug getan hatte. Er würde ein oder zwei Tage verstreichen lassen und es dann wieder versuchen. Eine endgültige Auseinandersetzung wollte er vermeiden, sofern es möglich war. Ruhig sagte er: »An Ihrer Stelle würde ich es mir überlegen.«

»Da gibt es nichts zu überlegen.« Pearson war an der Tür. Er nickte kurz und ging hinaus.

Das wäre es also, dachte O'Donnell. Die Kampfstellungen sind bezogen. Er stand da und überlegte, welches der nächste Zug sein mußte.

V

Die Kantine des Three Counties Hospitals war der traditionelle Treffpunkt für die meisten Ärzte und Angestellten des Krankenhauses. Es war auch der Umschlagplatz für den Krankenhausklatsch, von dem sich die Kanäle und Abzweigungen weit in alle Abteilungen und Stationen erstreckten. Wenig ereignete sich in dem Krankenhaus -Beförderungen, Skandale, Entlassungen und Neueinstellungen -, was nicht in der Kantine schon lange bekannt war und diskutiert wurde, ehe es offiziell verkündet wurde.

Die Ärzte benutzten die Kantine häufig zu >Straßenrandkonsultationen< mit Kollegen, die sie außer bei den Mahlzeiten oder in einer Kaffeepause selten zu sehen bekamen. An den Kantinentischen wurden viele medizinische Probleme ernsthaft diskutiert, und gewichtige Urteile von Spezialisten, die unter anderen Umständen mit einer erheblichen Rechnung verbunden waren, wurden frei über den Tisch gegeben. Häufig erfolgten sie zum großen Nutzen von Patienten, die, wenn sie sich später von einem Leiden erholten, das sich zunächst als schwierig zu behandeln anließ, nie auf die Vermutung kamen, auf welche in gewisser Weise beiläufige Art ihre endgültige Behandlung zustande kam.

Es gab Ausnahmen. Ein paar der Ärzte widersetzten sich hin und wieder dieser formlosen Ausnutzung ihrer mühevoll erworbenen Kenntnisse und verwahrten sich gegen die Versuche von Kollegen, sich in die Diskussion bestimmter Fälle hineinziehen zu lassen. Bei solchen Gelegenheiten war ihre übliche Antwort: »Das beste wäre, wenn Sie mich in meiner Praxis aufsuchen. Dann läuft auch das Tachometer.«

Gil Bartlett war einer, der diese Versuche mißbilligte, und mitunter zeigte er sich bei der Ablehnung dieser nebenbei erteilten Beratungen sehr unverblümt. Eine Anekdote, die über seine persönliche Abwehrtaktik erzählt wurde, spielte nicht in der Kantine, sondern bei einer Cocktailparty in einem Privathaus. Seine Gastgeberin, eine große Dame der Burlingtoner Gesellschaft, hatte Bartlett am Knopf festgehalten und ihn mit Fragen über ihre wirklichen und eingebildeten Leiden überschüttet. Bartlett hatte eine Weile zugehört und dann mit lauter Stimme, die den überfüllten Salon zum Schweigen brachte, verkündet: »Gnädige Frau, nach dem, was Sie mir sagen, scheinen Sie an Menstruationsbeschwerden zu leiden. Wenn Sie sich bitte freimachen wollen, werde ich Sie gleich untersuchen.«

In den meisten Fällen akzeptierten die Ärzte jedoch, sosehr sie sich sonst gegen formlose Konsultationen außerhalb des Krankenhauses verwahrten, den Meinungsaustausch in der Kantine auf Grund der Tatsache, daß jeder dabei ebensoviel gewann, wie er verlieren konnte. Und manche Ärzte des Krankenhauses verwendeten den schon reichlich abgestandenen Scherz: »Ich bin in meiner zweiten Sprechstunde«, wenn sie hinterließen, wo sie zu finden waren. Damit war keine weitere Erklärung erforderlich.

Im allgemeinen war die Kantine ein demokratisches Gebiet, wo die Hierarchie des Krankenhauses, wenn auch nicht vergessen, so doch zumindest zeitweise ignoriert wurde. Eine Ausnahme bildete vielleicht die Gepflogenheit, eine Gruppe von Tischen nur den Ärzten vorzubehalten. Mrs. Straughan, die Küchenleiterin, kontrollierte dieses Gebiet regelmäßig, weil sie wußte, daß selbst geringfügige Verstöße gegen die Sauberkeit oder Mängel in der Bedienung zu scharfen Beschwerden auf der nächsten Sitzung des medizinischen Ausschusses führen würden.

Mit wenigen Ausnahmen benutzten die älteren Ärzte die reservierten Tische. Der Hausstab dagegen nahm es weniger genau, und die Assistenzärzte und Praktikanten dokumentierten mitunter ihre Unabhängigkeit, indem sie sich den Schwestern oder anderen Gruppen anschlossen. Es war also nichts Ungewöhnliches daran, daß sich Mike Seddons gegenüber von Vivian Loburton niederließ, die, früher als ihre Mitlernschwestern von einer Arbeit entlassen, allein vor ihrem Mittagessen saß.

Seit sie sich vor zehn Tagen im Obduktionsraum begegnet waren, hatte Vivian Mike Seddons verschiedentlich im Krankenhaus gesehen, und bei jeder Gelegenheit hatte er ihr -seine störrische rote Mähne und sein breites Grinsen von Ohr zu Ohr - besser gefallen. Intuitiv hatte sie erwartet, daß er sich ihr bald unmittelbar nähern würde, und hier war er also.

»Hallo«, sagte Seddons.

»Hallo.« Vivians Gruß klang etwas undeutlich, denn sie hatte gerade mit gesundem Appetit in ein Hühnerbein gebissen. Sie deutete auf ihren Mund und muffelte: »Entschuldigen Sie.«

»Macht gar nichts«, sagte Seddons. »Lassen Sie sich Zeit. Ich sitze hier, um Ihnen einen Antrag zu machen.«

Sie schluckte den Bissen Huhn hinunter und sagte dann: »Ich dachte immer, das käme später.«

Mike Seddons grinste. »Haben Sie noch nichts davon gehört? Wir leben im Düsenzeitalter. Keine Zeit mehr zu Formalitäten. Hier ist mein Antrag: Übermorgen ins Theater, vorher Abendessen im Cuban Grill.«

Vivian fragte vorsichtig: »Können Sie sich das leisten?« Zwischen den angestellten Ärzten und den Lernschwestern war Geldmangel ein in Ehren grau gewordenes Gebiet für klägliche Witze.

Seddons senkte seine Stimme zu einem Bühnenflüstern. »Verraten Sie es keiner Seele. Aber ich habe eine Quelle für Nebeneinnahmen gefunden. Die Patienten, die zur Obduktion kommen... Viele haben Goldzähne... Es ist ganz einfach...«

»Oh, hören Sie auf! Sie verderben mir den Appetit.« Sie biß wieder in ihr Hühnerbein, und Seddons griff über den Tisch und nahm sich zwei ihrer Pommes frites.

Mit Genuß kaute er. »Hm, hm, nicht schlecht. Ich muß öfter essen. Die Geschichte ist folgende.« Er zog zwei Theaterbillets aus der Tasche und einen vorgedruckten Gutschein. »Sehen Sie sich das an. Die Anerkennung eines dankbaren Patienten.« Die Billets waren für eine Gastvorstellung eines BroadwayMusicals. Der Gutschein galt für ein Abendessen für zwei Personen im Cuban Grill.

»Was haben Sie angefangen?« Vivian zeigte offen ihre Neugier. »Eine Herzoperation?«

»Nein. Vergangene Woche sprang ich für eine halbe Stunde für Frank Worth in der Unfallambulanz ein. Ein Mann mit einem bösen Schnitt an der Hand kam, den ich nähte. Ein paar Tage später brachte mir die Post das hier.« Er lachte. »Worth ist jetzt natürlich wütend. Er sagt, er wird nie wieder seinen Posten verlassen. Kommen Sie mit?«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Vivian aufrichtig.

»Großartig. Ich werde Sie um sieben Uhr im Schwesternheim abholen. Alles klar?« Während er sprach, betrachtete Mike Seddons das Mädchen mit noch größerem Interesse als bisher. Plötzlich war ihm bewußt, daß sie sehr vieles mehr als nur ein hübsches Gesicht und eine gute Figur hatte. Wenn sie ihn ansah und lächelte, löste sie in ihm die Empfindung von etwas Warmem und Duftigem aus. Er sagte: »Schade, daß ich Sie nicht schon heute, sondern erst übermorgen treffe. Bis dahin ist noch so lang.« Dann gab ihm eine schwache, warnende Stimme zu bedenken: Vorsicht vor Bindungen. Vergiß nicht Seddons Politik: Liebe sie und lasse sie. Sei glücklich mit den Erinnerungen. Sich trennen ist süß und schmerzlich, aber es ist sehr praktisch, wenn man sich nicht binden will.

»Gut«, antwortete Vivian. »Ich komme vielleicht ein paar Minuten später, aber nicht sehr lange.«

Anderthalb Wochen waren vergangen, seit Harry Tomaselli O'Donnell mitgeteilt hatte, daß geplant wurde, im Frühjahr mit dem Erweiterungsbau des Krankenhauses zu beginnen. Jetzt trafen er und Kent ODonnell mit Orden Brown im Büro des Verwaltungsdirektors zusammen, um über die unmittelbar nächsten Schritte zu beraten.

Vor Monaten hatten die drei gemeinsam mit einem Architekten detaillierte Pläne für jede Abteilung ausgearbeitet, die in dem neuen Flügel untergebracht werden sollte. Die Wünsche der Leiter der medizinischen Abteilungen mußten auf die Mittel, die vermutlich zur Verfügung standen, abgestimmt werden. Orden Brown hatte als Schiedsrichter gewirkt und O'Donnell als medizinischer Berater. Wie immer war der Vorsitzende knapp und entschieden gewesen, aber seine grundsätzliche Härte wurde durch seinen Humor gemildert. Manchmal hatten sie allem zugestimmt, was verlangt wurde. In anderen Fällen, wenn sie vermuteten, daß einer sich aus eigensüchtigen Gründen ein Reich aufbauen wollte, hatten sie schonungslos den Gründen für die Wünsche nachgeforscht.

Einer der Abteilungsleiter, der Chefapotheker, hatte hartnäckig daraufgedrängt, daß in dem Entwurf für sein Arbeitszimmer eine eigene Toilette vorgesehen werden solle. Als der Architekt darauf hinwies, daß ausreichende, allgemein zugängliche sanitäre Einrichtungen zwölf Meter weiter im Gang lagen, hatte der Apotheker sich nicht gescheut, dem entgegenzuhalten, zwölf Meter seien ein langer Weg, wenn man unter einem der periodischen Anfälle von Durchfall leide. Darauf hatte Orden Brown nur trocken bemerkt, im Krankenhaus gebe es eine Abteilung für innere Medizin.

Ein paar Projekte, die es wert waren, mußten ausschließlich aus Kostenrücksichten abgelehnt werden. Dingdong Bell, der Chef der Röntgenabteilung, hatte sich überzeugend für eine Kamera für kinematographische Röntgenaufnahmen eingesetzt, die für die Diagnose und Behandlung von Herzkrankheiten eine wesentliche Verbesserung darstellte. Als man aber feststellte, daß diese Anlage allein fünfzigtausend Dollars kostete, mußte der Plan mit dem größten Bedauern abgelehnt werden.

Aber jetzt, nachdem die Hauptplanung beendet war, konzentrierten sich alle Bemühungen auf das praktische Problem, das Geld zu beschaffen. Genaugenommen gehörte das zu den Aufgaben des Krankenhausausschusses, aber man erwartete auch Beiträge von der Ärzteschaft. Orden Brown sagte: »Wir schlagen für die Ärzte Quoten vor: sechstausend für die leitenden Ärzte, viertausend für die älteren Belegärzte und zweitausend für die jüngeren.«

O'Donnell stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich fürchte, da werden wir auf Widerstand stoßen«, erklärte er dem Vorsitzenden.

Brown lächelte. »Wir müssen versuchen, ihn zu überwinden.«

Harry Tomaselli warf ein: »Die Zahlungen können über vier Jahre verteilt werden, Kent. Wenn wir die schriftliche Verpflichtung vorliegen haben, bekommen wir darauf Geld von der Bank.«

»Die Sache hat noch eine andere Seite«, sagte Brown. »Wenn in der Stadt bekannt wird, daß sich die Ärzte selbst an den Spenden beteiligen, wird unsere Sammelaktion sehr gefördert werden.«

»Und Sie wollen dafür sorgen, daß es bekannt wird?«

»Selbstverständlich«, versicherte Brown lächelnd.

O'Donnell überlegte, daß es ihm zufallen würde, diesen Plan bei einer Zusammenkunft der Ärzte bekanntzugeben. Er sah ihre erbitterten Mienen jetzt schon vor sich. Ihm war bekannt, daß die meisten Ärzte wie die meisten Menschen heutzutage überhaupt ihr Einkommen für ihren Lebensunterhalt verbrauchten. Natürlich konnte man nicht erzwingen, daß sie die festgelegten Quoten einhielten, aber es würde dem einzelnen schwerfallen, gegen ihre Höhe zu protestieren, insbesondere, da die Ärzte selbst durch eine Vergrößerung des Krankenhauses viel zu gewinnen hatten. Ein großer Teil würde den vorgeschlagenen Betrag zweifellos spenden und, wie die menschliche Natur nun einmal geartet war, würden gerade sie auch darauf drücken, daß die anderen in gleicher Weise bluteten. Ein Krankenhaus war ein Nährboden für Intrigen und bot viele Möglichkeiten, einem Nonkonformisten das Leben sauer zu machen.

Wie immer verstand Harry Tomaselli intuitiv O'Donnells Bedenken und versicherte: »Keine Sorge, Kent. Ich werde Sie vor dieser Konferenz gründlich informieren. Wir werden alle überzeugenden Argumente zusammenstellen. Nach Ihren Ausführungen sind manche vielleicht sogar bereit, die Quote zu überschreiten.«

»Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf.« O'Donnell lächelte. »Sie stehen im Begriff, ein paar Kollegen an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen: ihrer Brieftasche.«

Tomaselli lächelte verständnisvoll zurück. Wenn der Chef der Chirurgie seinen Appell vor den Ärzten vorbrachte, würde das so klar und gründlich geschehen wie alles andere, was O'Donnell tat. Das wußte Tomaselli. Nicht zum erstenmal ging es ihm durch den Kopf, wie gut es sich mit einem Mann von O'Donnells Charakter zusammenarbeiten ließ. An dem Krankenhaus, an dem Tomaselli die Stellung als stellvertretender Verwaltungsdirektor innegehabt hatte, war der Präsident des medizinischen Ausschusses ein Mann gewesen, der nach Popularität haschte und seine Segel stets nach dem Wind setzte. Infolgedessen hatte es keine rechte Führung gegeben, worunter der Standard in dem Krankenhaus entsprechend litt.

Harry Tomaselli bewunderte Leute, die sich ohne Umschweife und rasch entschlossen, vorwiegend, weil das die Art und Weise war, in der er selbst als Verwaltungsdirektor das Three Counties Hospital leitete. Bei schnellen Entschlüssen begeht man manchmal Fehler. Aber im ganzen gesehen erreichte man damit mehr, und durchschnittlich stieg im Laufe der Zeit die Zahl der richtigen Entscheidungen. Schnelligkeit im Reden und Denken sowohl als auch im Handeln hatte Harry Tomaselli im Gerichtssaal gelernt, lange ehe er daran dachte, daß seine Laufbahn ihn hinter einen Schreibtisch in einem Krankenhaus führen würde.

Nach seiner Collegezeit hatte er Jura studiert und begann gerade die Grundlagen für eine gute Praxis zu legen, als der Krieg dazwischenkam. In der Erwartung, daß er doch eingezogen würde, hatte er sich zur Marine gemeldet. Er wurde zum Offizier befördert und der Sanitätsverwaltung zugewiesen. Später, als sich die Marinelazarette mit Verwundeten füllten, hatte Leutnant Tomaselli sich als fähiger Verwaltungsfachmann mit einem gesunden Instinkt für die schwer erfaßbare Grenzlinie zwischen der medizinischen Praxis und der Arbeit der Lazarettverwaltung erwiesen.

Nach dem Krieg stand er vor der Wahl, wieder Rechtsanwalt zu werden oder bei der Krankenhausarbeit zu bleiben. Er entschied sich für das letztere und trat in die Schule für Krankenhausverwaltung bei der Columbia Universität ein. Sein Abschlußexamen bestand er zu einer Zeit, als sich die Ansicht durchsetzte, daß die Krankenhausverwaltung ein Spezialgebiet sei, für das ein medizinisches Studium weder notwendig noch besonders nützlich war. Das führte zu einer lebhaften Nachfrage nach guten Verwaltungsleuten. Und nach zwei Jahren als stellvertretender Verwaltungsdirektor nahm er Orden Browns Angebot für den leitenden Posten beim Three Counties Hospital an.

Die Arbeit dort war Harry Tomaselli ans Herz gewachsen. Er teilte Kent O'Donnells Ansichten über die Notwendigkeit eines hohen medizinischen Standards und respektierte die Geschäftstüchtigkeit und die bedächtige Vorsicht des Ausschußvorsitzenden Orden Brown. Als Verwaltungsdirektor bestand Tomasellis Aufgabe darin, dafür zu sorgen, daß alle Zweige des Krankenhauses - Krankenpflege, Haushaltsführung, die technischen Abteilungen, die Gebäude, die Buchhaltung und ihre Unterabteilungen - den Anforderungen entsprachen, die die beiden anderen Männer stellten.

Er löste seine Aufgabe durch Übertragung der Verantwortung - er bewies eine glückliche Hand für die Ernennung guter Abteilungsleiter - und durch ein starkes persönliches Interesse an allem, was in dem Krankenhaus geschah. Fast nichts von Bedeutung entging Harry Tomaselli. Jeden Tag konnte man seine kleine, untersetzte Gestalt durch die Korridore des Krankenhauses eilen sehen, wobei er aber häufig stehenblieb, um sich mit Schwestern, Patienten, Hausmeistern, Büroangestellten, Köchen und jedem, der ihm etwas über das Krankenhaus sagen oder Anregungen vorbringen konnte, wie es besser zu machen sei, zu unterhalten. Neue Gedanken regten ihn an. Sein eigener Eifer spornte andere an. Manchmal stand er mit vorgeschobenem Kopf und hinter seiner schwarzgefaßten Brille funkelnden Augen da und sprudelte die Worte heraus, um mit seinen galoppierenden Gedanken Schritt zu halten, wobei seine Hände jeden wichtigen Punkt, den er äußerte, unterstrichen.

Bei seinen Streifzügen machte sich Harry Tomaselli selten eine Notiz. Seine Erfahrung als Rechtsanwalt ermöglichte ihm, die verschiedenst gearteten Fakten im Kopf zu behalten und bereit zu haben. Aber nach jeder Inspektionstour feuerte er eine Salve knapp gefaßter Memoranden nach allen Orten, großen und kleinen, wo seiner Ansicht nach in der Verwaltung des Three Counties Hospitals etwas verbessert werden konnte.

Zu all dem besaß er ein diplomatisches Gefühl für den richtigen Ton und das richtige Wort und verärgerte selten jemand. Er äußerte eine Beanstandung, sprach dann aber unbefangen von etwas anderem weiter. Und wenn er auch nie ein Wort zuviel verwendete, war der Ton seiner Memoranden immer freundlich. Er verabscheute es, einen Angestellten zu entlassen, wenn kein unentschuldbarer Verstoß vorlag. Häufig erklärte er seinen Abteilungsleitern: »Wenn bei uns jemand über einen Monat gearbeitet hat, haben wir in seine Erfahrung Kapital investiert. Es ist zu unserem Vorteil, wenn wir ihn erziehen und an uns gewöhnen, statt es mit einem anderen zu versuchen, der andere Fehler haben mag, an die wir nicht dachten.« Weil dieser Grundsatz respektiert und anerkannt wurde, herrschte bei den Angestellten eine hohe Arbeitsmoral.

In der Verwaltung gab es allerdings immer noch Dinge, die ihm Sorgen machten. Von einigen Abteilungen wußte er, daß dort besser gearbeitet werden konnte. Es bestanden noch Möglichkeiten, die Pflege der Patienten zu verbessern. Ein großer Teil der alten Einrichtungen mußte verschrottet und ersetzt werden. Es gab neuentwickelte Geräte - die kinematographische Röntgenkamera war ein Beispiel -, die ein Krankenhaus unter idealen Voraussetzungen besitzen mußte. Durch den geplanten Neubau konnte ein Teil der vorhandenen Mängel behoben werden, aber nicht alle. Wie ODonnell war ihm bewußt, daß Jahre der Arbeit vor ihnen lagen und daß manches Ziel vielleicht nie zu erreichen war. Aber das war schließlich der Weg, der zum Erfolg führte: man versuchte immer, etwas mehr anzustreben, als man erfüllen konnte.

Seine Gedanken wurden durch Orden Brown in die Gegenwart zurückgerufen. Der Vorsitzende setzte O'Donnell auseinander: »Natürlich sind im Verlauf der Sammelaktion eine ganze Reihe gesellschaftlicher Veranstaltungen unvermeidlich. Ja, und noch etwas. Ich fände es eine gute Idee, Kent, wenn Sie vor dem Rotary Club einen Vortrag hielten. Sie könnten dort erklären, was mit dem Neubau erreicht werden soll, über unsere Zukunftspläne sprechen und so weiter.«

O'Donnell, der wenig Neigung verspürte, öffentlich aufzutreten, besonders nicht in der reglementiert wohlwollenden Atmosphäre eines Klubs, unterdrückte gerade noch eine Grimasse. Statt dessen sagte er: »Wenn Sie glauben, daß es nützt, bin ich dazu bereit.«

»Einer meiner Leute gehört zum Vorstand des Rotary Clubs«, erklärte Orden Brown. »Ich werde dafür sorgen, daß er alles arrangiert. Am besten in der Woche, in der die Sammelaktion beginnt. In der darauffolgenden Woche könnten wir vielleicht das gleiche bei den Kiwanis versuchen.«

O'Donnell überlegte, ob er dem Vorsitzenden nahelegen solle, ihm noch Zeit zum Operieren zu lassen, weil er sonst kaum seine Beitragsquote erfüllen könne. Aber er ließ es dann lieber.

»Übrigens«, fragte Orden Brown, »sind Sie übermorgen zum Abendessen frei?«

»Ja«, antwortete O'Donnell bereitwillig. Die stille, gediegene Würde eines Abendessens in dem Haus auf dem Berg lockte ihn immer.

»Dann möchte ich, daß Sie mit mir zu Eustace Swayne kommen.« Als er O'Donnells Überraschung sah, fügte der Vorsitzende hinzu: »Es stimmt schon. Sie sind eingeladen. Er bat mich, es Ihnen mitzuteilen.«

»Ja, ich komme gern.« Dennoch überraschte ihn die Einladung in das Haus des konservativsten Mitgliedes des Krankenhausausschusses. Natürlich hatte O'Donnell Swayne ein paarmal gesehen, aber er hatte ihn nie näher kennengelernt.

»Tatsächlich stammt der Vorschlag von mir«, erklärte Brown. »Ich möchte, daß Sie sich mit ihm ganz allgemein über das Krankenhaus unterhalten. Er soll ein paar Ihrer Gedanken verstehen, falls Sie sie ihm klarmachen können. Offen gesagt ist die Zusammenarbeit im Ausschuß mit ihm manchmal problematisch. Aber das wissen Sie natürlich selbst.«

»Ich werde tun, was ich kann.« Nachdem O'Donnell begriff, um was es ging, fand er den Gedanken einer engeren

Beteiligung an der Ausschußpolitik wenig reizvoll. Bisher war es ihm gelungen, sich von ihr fernzuhalten. Aber er konnte Orden Browns Wunsch nicht ablehnen.

Der Vorsitzende griff nach seiner Aktentasche und schickte sich an, zu gehen. Tomaselli und O'Donnell erhoben sich mit ihm.

»Es wird nur eine kleine Gesellschaft«, erklärte Orden Brown. »Vielleicht ein halbes Dutzend Personen. Sollen wir Sie auf dem Weg durch die Stadt nicht abholen? Ich rufe Sie an, ehe wir abfahren.«

O'Donnell bedankte sich murmelnd, während der Vorsitzende mit einem freundlichen Kopfnicken das Zimmer verließ.

Kaum hatte sich die Tür hinter Orden Brown geschlossen, als die große, schlanke Kathy Cohen, Tomasellis Sekretärin, eintrat. »Entschuldigen Sie, daß ich störe«, sagte sie.

»Was gibt es, Kathy?«

Sie wandte sich an den Verwaltungsdirektor. »Da ist ein Mann am Telefon, der Sie unbedingt sprechen will. Ein Mr. Bryan.«

»Ich habe jetzt mit Dr. O'Donnell zu tun. Sagen Sie ihm, ich rufe zurück.« Tomaselli schien überrascht. Normalerweise brauchte er Kathy etwas derartig Grundlegendes nicht zu sagen.

»Das habe ich ihm schon erklärt, Mr. Tomaselli«, antwortete sie zögernd. »Aber er ist sehr hartnäckig. Er sagt, er sei der Mann einer Patientin. Ich hielt es für richtig, Sie zu benachrichtigen.«

»Vielleicht können Sie kurz mit ihm sprechen, Harry.« O'Donnell nickte der Sekretärin zu. »Erlösen Sie Kathy von ihm. Ich warte solange.«

»Also gut.« Der Verwaltungsdirektor griff nach einem seiner beiden Telefone.

»Es ist Leitung vier.« Die Sekretärin wartete, bis die Verbindung hergestellt war, und ging dann in das Vorzimmer zurück.

»Verwaltung.« Tomasellis Ton war freundlich. Dann hörte er mit etwas gerunzelter Stirn dem Mann am anderen Ende der Leitung zu.

O'Donnell konnte die knarrende Stimme aus dem Hörer vernehmen. Er verstand einzelne Worte: ».unmögliche Situation.. .Belastung für die Familie. muß geklärt werden.«

Tomaselli legte seine Hand über die Sprechmuschel. Zu O'Donnell sagte er: »Er ist wirklich in Fahrt. Irgend etwas mit seiner Frau. Ich verstehe noch nicht ganz.« Er hörte noch einen Augenblick zu. »Bitte, Mr. Bryan. Erklären Sie mir von Anfang an genau, um was es sich handelt.« Er griff nach einem Block und nach einem Bleistift und sagte dann: »Ja, Sir.« Eine Pause. »Nun sagen Sie mir bitte, wann Ihre Frau im Krankenhaus aufgenommen wurde.« In dem Hörer rauschte es wieder, und der Verwaltungsdirektor notierte schnell. »Und wer ist Ihr Arzt?« Wieder eine Notiz. »Und das Datum der Entlassung?« Eine Pause. »Ja, ich verstehe.«

O'Donnell verstand die Worte: ».kann keine befriedigende Erklärung bekommen.« Dann sprach Tomaselli wieder.

»Nein, Mr. Bryan, ich entsinne mich im einzelnen nicht an den Fall, aber ich werde nachforschen. Das verspreche ich Ihnen.« Er hörte wieder zu und antwortete: »Ja, Sir, mir ist bekannt, was eine Krankenhausrechnung für eine Familie bedeutet. Aber wie Sie wissen, arbeitet das Krankenhaus zu Selbstkosten.«

O'Donnell konnte immer noch die Stimme in dem Hörer vernehmen, aber sie klang ruhiger, durch Tomasellis entgegenkommenden Ton besänftigt. Jetzt sagte der Verwaltungsdirektor: »Nun, Sir, der Arzt trifft die Entscheidung, wie lange ein Patient im Krankenhaus bleibt. Ich rate Ihnen, noch einmal mit dem Arzt Ihrer Frau zu sprechen, und inzwischen werde ich durch unsere Buchhaltung Ihre Rechnung Punkt für Punkt überprüfen lassen.« Er hörte noch einmal kurz zu. Dann: »Danke, Mr. Bryan. Guten Tag.« Er legte den Hörer zurück, riß das Blatt mit den Notizen ab und legte es in einen Korb mit der Aufschrift >Diktat<.

»Was wollte er denn?« fragte O'Donnell beiläufig. In einem vielbeschäftigten Krankenhaus sind Beschwerden über die Behandlung oder über die Rechnungen nicht selten.

»Er beschwert sich, daß seine Frau zu lange hierbehalten wurde. Nun muß er Schulden machen, um die Rechnung zu bezahlen.«

O'Donnell entgegnete scharf: »Woher weiß er, daß sie zu lange hierbehalten wurde?«

»Er sagt, er habe sich erkundigt, was er damit auch meint.« Nachdenklich fügte Tomaselli hinzu: »Es kann natürlich notwendig gewesen sein, aber die Frau war fast drei Wochen hier.«

»Und was folgt daraus?«

»Normalerweise würde ich dem keine große Bedeutung beimessen, aber wir haben ungewöhnlich viele Beschwerden dieser Art erhalten. Sie sind nicht immer so scharf wie diese hier, liegen allerdings in der gleichen Richtung.«

Ein Gedanke ging O'Donnell durch den Kopf: das Wort Pathologie. Laut fragte er: »Wer war der behandelnde Arzt?«

Tomaselli sah in seine Notizen. »Reubens.«

»Wir wollen versuchen, ihn hierherrufen zu lassen.«

Tomaselli schaltete die Sprechanlage ein: »Kathy«, sagte er, »versuchen Sie, Dr. Reubens zu finden.«

Sie warteten schweigend. Von dem Gang draußen konnten sie die gedämpfte Stimme aus der Lautspreche ranlage des Krankenhauses hören: »Dr. Reubens, Dr. Reubens.« Gleich darauf schnarrte das Telefon. Tomaselli nahm den Hörer ab und meldete sich. Dann reichte er ihn O'Donnell.

»Reub? Hier ist Kent O'Donnell.«

»Ja, was kann ich für Sie tun?« O'Donnell vernahm die dünne, präzise Stimme von Reubens durch den Apparat.

»Hatten Sie eine Patientin« - er blickte auf Tomasellis Notizen, die der Verwaltungsdirektor ihm hingeschoben hatte -, »eine Mrs. Bryan?«

»Ja, das stimmt. Was ist denn? Hat ihr Mann sich beschwert?«

»Sie wissen also davon?«

»Natürlich weiß ich davon.« Reubens klang verärgert. »Persönlich bin ich der Meinung, daß er allen Grund hat, sich zu beschweren.«

»Woran lag es denn, Reub?«

»Es geht darum, daß ich Mrs. Bryan unter Verdacht eines Brustkrebses einwies. Ich habe die Geschwulst entfernt. Sie erwies sich als gutartig.«

»Warum haben Sie die Frau dann drei Wochen hierbehalten?« Während er fragte, ging es O'Donnell durch den Kopf, daß man mit Reubens immer dieses Frage-und-Antwort-Spiel durchlaufen mußte. Er gab selten von sich aus Auskünfte. Jetzt antwortete er: »Fragen Sie am besten Joe Pearson.«

»Es ist einfacher, wenn Sie es mir sagen, Reub.« O'Donnell blieb hartnäckig. »Schließlich handelt es sich um Ihre Patientin.«

Es folgte ein Schweigen. Dann antwortete die dünne, knappe Stimme: »Also gut. Ich sagte schon, daß der Tumor gutartig war. Aber es nahm zwei und eine halbe Woche in Anspruch, um das festzustellen. Solange dauerte es, bis Pearson ihn sich unter dem Mikroskop vornahm.«

»Haben Sie ihn daran erinnert?«

»Nicht nur einmal, sondern über ein halbes Dutzend Mal.

Wahrscheinlich hätte es noch länger gedauert, wenn ich nicht ständig hinter ihm hergewesen wäre.«

»Und das ist der Grund, weshalb Sie Mrs. Bryan hierbehalten haben? Ganze drei Wochen?«

»Natürlich.« Die Stimme am Telefon nahm einen sarkastischen Klang an. »Oder wollen Sie andeuten, ich hätte sie entlassen sollen?«

Reubens hatte in diesem Fall Grund, verärgert zu sein, dachte O'Donnell. Fraglos war er in eine schwierige Lage gebracht worden. Wenn er die Patientin entließ, konnte er gezwungen sein, sie zu einer weiteren Operation ins Krankenhaus zurückzuholen, wie es Bill Rufus passiert war. Andererseits bedeutete jeder Tag mehr im Krankenhaus eine zusätzliche finanzielle Belastung für die Familie. Er antwortete verbindlich: »Ich will nichts andeuten, Reub. Ich stelle nur ein paar Fragen.«

Offensichtlich hatte Reubens sich mit dem Problem beschäftigt. »Dann täten Sie gut daran, mit noch ein paar anderen zu reden. Ich bin nicht der einzige, dem das widerfahren ist. Kennen Sie die Geschichte von Bill Rufus?«

»Ja, ich kenne sie. Offen gesagt war ich der Ansicht, es sei inzwischen besser geworden.«

»Davon habe ich noch nichts gemerkt. Was gedenken Sie wegen Bryans Rechnung zu unternehmen?«

»Ich weiß nicht, ob sich da etwas tun läßt. Schließlich war seine Frau drei Wochen hier im Krankenhaus. Das Krankenhaus ist knapp bei Kasse, wie Sie wissen.« O'Donnell fragte sich: Wie wird Reubens wohl auf die Aufforderung reagieren, sechstausend Dollars zum Baufonds des Krankenhauses beizusteuern?

»Das ist bedauerlich. Der Mann ist sehr ordentlich. Tischler oder so was, der selbständig arbeitet, und er ist nicht versichert. Daran wird er lange zu kauen haben.« O'Donnell antwortete nicht. Seine Gedanken liefen bereits voraus, waren auf das nächste gerichtet.

Wieder kam Reubens Stimme durch die Leitung: »War das alles?«

»Ja, Reub, das war alles. Danke.« Er reichte Harry Tomaselli den Hörer zurück.

»Harry, ich möchte heute nachmittag eine Besprechung abhalten.« O'Donnell hatte sich entschlossen, was er tun wollte. »Wir wollen versuchen, ein halbes Dutzend der älteren Ärzte zu versammeln. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir uns hier treffen, und ich möchte, daß Sie daran teilnehmen.« Tomaselli nickte. »Das läßt sich machen.« O'Donnell ging im Geist die Namen durch. »Selbstverständlich brauchen wir Harvey Chandler als Chef der inneren Abteilung. Und es wäre gut, wenn auch Bill Rufus und Reubens dabei wären.« Er überlegte. »O ja, und Charlie Dornberger. Er könnte eine Hilfe sein. Wieviel sind das?«

Der Verwaltungsdirektor überflog die Namen, die er niedergeschrieben hatte. »Sechs mit Ihnen und mir. Wie wäre es mit Lucy Grainger?«

O'Donnell zögerte kurz. Dann sagte er: »Also gut, dann sollen es sieben sein.«

»Die Tagesordnung?«Tomaselli hielt seinen Bleistift hoch. O'Donnell schüttelte den Kopf. »Wir brauchen keine. Es gibt nur ein Thema: Die Verhältnisse in der Pathologie.«

Als der Verwaltungsdirektor Lucy Graingers Namen nannte, hatte O'Donnell nur aus einem Grund gezögert. Es erinnerte ihn an sein Zusammensein mit Lucy am Abend vorher.

Sie trafen sich zum Abendessen - das Ergebnis von O'Donnells Einladung an Lucy am Tag der Sterblichkeitskonferenz -, und im Palmenhof des Roosevelt Hotels tranken sie zusammen Cocktails und aßen anschließend geruhsam zu Abend. Es war ein angenehmes, entspanntes Zusammensein, und sie plauderten unbeschwert von sich, von Leuten, die sie kannten und von ihren eigenen Erlebnissen innerhalb und außerhalb der Medizin.

Später brachte O'Donnell Lucy nach Hause. Sie war kürzlich nach Benvenuto Grange umgezogen, in einen großen, eleganten Apartmentblock am Nordrand der Stadt. »Sie kommen doch sicher noch zu einem Nightcap mit hinauf?«

Er überließ seinen Wagen dem uniformierten Pförtner des Apartmenthauses zum Parken und folgte ihr. In einem schimmernden, lautlosen Fahrstuhl fuhren sie in den fünften Stock hinauf und gingen dann den mit Birke getäfelten Korridor entlang, über einen dicken, weichen Teppich, der jeden Laut verschluckte. Er zog die Augenbrauen hoch, und Lucy lächelte. »Es ist ziemlich imposant, wie? Ich bin selbst noch tief beeindruckt.«

Mit ihrem Schlüssel öffnete sie die Tür und schaltete das Licht ein. Geschmackvolle, gedämpfte Lampen leuchteten ringsum in einem eleganten Wohnraum auf. Er konnte die halboffene Schlafzimmertür unmittelbar vor sich sehen. »Ich mache uns etwas zu trinken«, sagte sie.

Sie drehte ihm den Rücken zu, Eis klirrte in Gläsern. O'Donnell fragte: »Waren Sie je verheiratet, Lucy?«

»Nein.« Sie antwortete, ohne sich umzudrehen.

Leise sagte er: »Ich habe mich manchmal gewundert, weshalb.«

»Das ist ganz einfach. Es ist recht lange her, daß ich darum gebeten wurde.« Lucy drehte sich um und brachte die Drinks, die sie gemixt hatte. Sie reichte O'Donnell sein Glas, ließ sich dann in einen Sessel nieder. Nachdenklich sagte sie: »Wenn ich es heute überlege, zeigte sich nur eine Möglichkeit, zumindest nur eine, die Bedeutung hatte. Damals war ich sehr viel jünger.«

O'Donnell trank einen Schluck aus seinem Glas. »Und Sie sagten nein?«

»Ich wollte Ärztin werden. Das erschien mir damals ungeheuer wichtig. Ich hielt es mit einer Ehe für unvereinbar.«

Beiläufig fragte er: »Haben Sie es je bedauert?«

Lucy überlegte. »Eigentlich nicht, glaube ich. Ich habe erreicht, was ich wollte, und es hat sich in vieler Weise gelohnt. Sicher, manchmal frage ich mich, was wohl geworden wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte. Aber das ist schließlich nur menschlich, oder nicht?«

»Doch, ich glaube schon.« O'Donnell fühlte sich seltsam bewegt. Lucy strahlte Tiefe und Zärtlichkeit aus, eine friedvolle Ruhe und das Gefühl des Nach-Hause-Kommens. Sie sollte Kinder haben, dachte er. Dann fragte er: »Sind Sie noch der gleichen Ansicht - über Heirat und Medizin? Soweit es Sie betrifft, meine ich?«

»Ich bin in nichts mehr dogmatisch.« Sie lächelte. »Das wenigstens habe ich gelernt.«

O'Donnell fragte sich, wie von seinem Standpunkt aus eine Ehe mit Lucy aussehen mochte. Würde sie liebevoll und anschmiegsam sein? Oder war ihr Leben zu weit und zu lange auf parallelen Gleisen verlaufen, als daß sie es jetzt noch ändern und sich anpassen konnte? Wie mochten sie ihre Mußestunden verbringen, wenn sie verheiratet wären? Würden ihre Gespräche vertraulich sein und sich mit ihrem Privatleben befassen? Oder würden sie vom Krankenhaus reden? Würden beim Abendessen Krankengeschichten auf dem Tisch liegen und der Nachtisch mit diagnostischen Problemen gewürzt werden? Er sagte: »Wissen Sie, Lucy, ich war immer der Ansicht, daß wir vieles gemeinsam haben.«

»Ja, Kent«, antwortete Lucy, »das glaube ich auch.«

O'Donnell trank sein Glas aus und stand auf, um zu gehen. Er war sich bewußt, daß sie beide sehr viel mehr gesagt hatten, als ihre Worte ausdrückten. Jetzt wollte er Zeit, um darüber nachzudenken und alles genau zu überlegen. Es ging um zuviel für eine hastige Entscheidung.

»Sie brauchen wirklich noch nicht zu gehen, Kent. Bleiben Sie, wenn Sie mögen.« Lucy sagte es einfach, und er wußte, wenn er bliebe, hing es von ihm ab, was als nächstes geschah.

Er war halb geneigt, zu bleiben, aber seine Vorsicht und die Gewohnheit siegten. Er nahm ihre Hände. »Gute Nacht, Lucy. Wir wollen uns das alles überlegen.«

Als sich der Fahrstuhl hinter ihm schloß, stand sie noch in der offenen Tür ihres Apartments.

VI

»Ich habe Sie hierhergebeten«, sagte O'Donnell zu der Gruppe um den Tisch im Sitzungszimmer, »weil ich Sie um Ihre Unterstützung bitten möchte.«

Die anderen hörten aufmerksam zu. Von den Gebetenen waren alle außer Reubens erschienen, der für diese Zeit eine Bruchoperation angesetzt hatte.

O'Donnell fuhr fort: »Ich denke, es ist uns allen bekannt, daß wir in der Pathologie vor einem Problem stehen. Ich glaube, Sie werden mir auch zustimmen, daß dieses Problem sowohl persönlicher als auch medizinischer Natur ist.«

»Was für ein Problem?« Das war Charlie Dornberger. Der alte Geburtshelfer stopfte seine Pfeife, während er sprach. »Ich glaube nicht, daß ich ganz verstehe, worauf Sie hinauswollen, Kent.«

O'Donnell hatte etwas Derartiges erwartet. Er wußte, daß Dornberger und Pearson eng befreundet waren. Höflich erwiderte er: »Ich möchte Sie bitten, mich zu Ende anzuhören, Charlie. Ich werde versuchen, mich klar auszudrücken.«

Methodisch legte er die Schwierigkeiten dar, um die es sich handelte - die Verzögerungen bei den pathologischen Befunden, die steigenden Anforderungen, die das Krankenhaus an die pathologische Abteilung stellte, seine persönlichen Zweifel, daß Joe Pearson allein sie erfüllen konnte. Er berichtete den Vorfall mit Bill Rufus' Patientin, wandte sich an Rufus um dessen Bestätigung und schilderte im Anschluß den Fall, den er an diesem Morgen von Reubens erfahren hatte. Er schilderte ferner sein eigenes Gespräch mit Pearson und die Weigerung des alten Mannes, einen zweiten Pathologen zu akzeptieren. Er schloß mit den Worten: »Ich bin überzeugt, daß wir einen neuen Mann brauchen, um Joe zu helfen. Ich möchte Sie um Ihre Unterstützung bitten, um das durchzusetzen.«

»Auch ich habe mir Gedanken über die Pathologie gemacht.« Unmittelbar nach O'Donnell ergriff Harvey Chandler, der Chef der inneren Abteilung, das Wort, als wolle er sichergehen, daß das Protokoll gewahrt werde. Seine Worte hatten den Ton, als ob er einer wohlüberlegten Meinung nachdrücklich Ausdruck geben wolle. Wie üblich enthielt selbst seine einfachste Erklärung einen leicht bombastischen Ton. Er fuhr fort: »Aber in Anbetracht von Joe Pearsons Haltung kann sich die Sache als schwierig erweisen. Schließlich ist er der Leiter der Abteilung, und wir müssen alles vermeiden, was so ausgedeutet werden könnte, als wollten wir seine Autorität untergraben.«

»Das ist ganz meine Ansicht«, erwiderte O'Donnell, »und deshalb suche ich ja Unterstützung.« Er klopfte mit dem Finger auf den Tisch, um seine Worte zu unterstreichen. »Ihre Unterstützung, um Joe Pearson davon zu überzeugen, daß es anders werden muß.«

»Ich weiß nicht, ob die Art unseres Vorgehens ganz richtig ist«, meinte Bill Rufus.

»Weshalb, Bill?« O'Donnell bemerkte, daß Rufus heute eine seiner weniger aufdringlichen Krawatten trug. Sie hatte nur drei statt der sonst üblichen vier grellen Farben.

»Ich glaube nicht, daß ein paar von uns, die sich in dieser Weise zusammensetzen, das Recht haben, über Veränderungen in der Pathologie zu verhandeln.« Rufus sah die anderen der Reihe nach an. »Gewiß, ich habe mit Joe Pearson Schwierigkeiten. Das haben wohl die meisten von uns. Aber das bedeutet noch nicht, daß ich mich einer geheimniskrämerischen Verschwörung anschließe, um ihn auszubooten.«

O'Donnell war froh, daß dieser Punkt aufgeworfen wurde, und er war darauf vorbereitet. »Darf ich mit allem Nachdruck versichern«, erklärte er, »daß weder meinerseits noch bei irgend jemand anderem die Absicht besteht, Dr. Pearson« - er sah Rufus an - »auszubooten, wie Sie es bezeichneten.« Ein allgemeines Murmeln stimmte ihm zu.

»Betrachten Sie es folgendermaßen«, fuhr O'Donnell fort. »Allgemein scheint man darin übereinzustimmen, daß ein Wandel in der Pathologie unerläßlich ist. Schon allein wegen der pathologischen Befunde. Jeder Tag Verzögerung in Fällen, in denen Operationen notwendig sind, bedeutet eine Gefährdung der Patienten. Ich weiß, daß ich diesen Punkt nicht weiter hervorzuheben brauche.«

Harry Tomaselli warf dazwischen: »Wir sollten auch nicht vergessen, daß durch unnötige Verzögerungen Krankenhausbetten belegt werden, die wir dringend brauchen. Unsere Warteliste für die Aufnahme ist immer noch sehr lang.«

O'Donnell ergriff wieder das Wort: »Selbstverständlich könnte ich mich auch an den Exekutivausschuß wenden, statt das Problem in dieser Weise anzufassen.« Er schwieg kurz. »Wenn es sein muß, werde ich das auch tun. Aber ich glaube, Sie wissen, was dann geschieht. Joe ist selbst ein Mitglied des Exekutivausschusses, und da wir Joe alle kennen, wissen wir, daß jede Diskussion zu einer schweren Auseinandersetzung ausarten wird. Und was hätten wir damit gewonnen, wenn wir in dieser Form auf eine Klärung der Frage drängen? Wir hätten Joe Pearson bewiesen, daß er seine eigene Abteilung nicht mehr in der Hand hat. Und damit würden wir medizinisch und in jeder anderen Weise unser eigenes Ansehen und das des Krankenhauses untergraben, wie Harvey es gerade bezeichnet hat.« O'Donnell dachte noch an etwas anderes, worüber er hier nicht sprechen konnte, daran, daß er auch Pearsons Einfluß auf die alte Garde im Krankenhausausschuß und die hauspolitischen Auswirkungen berücksichtigte, die eine schwerwiegende Auseinandersetzung nach sich ziehen mußte.

»Ich will damit nicht sagen, daß ich mich Ihnen anschließe, aber was wollen Sie vorschlagen?« Diese Frage kam von Charlie Dornberger. Er akzentuierte seine Worte mit Puffen an seiner Pfeife, während er sie in Brand setzte.

Rufus schnüffelte. »Wir beeilen uns wohl besser. Hier wird man bald nicht mehr atmen können. Importieren Sie diesen Kameldung selbst, Charlie?«

Während die anderen lächelten, entschloß sich O'Donnell, sie einzuweihen. »Mein Vorschlag, Charlie, besteht darin, daß Sie mit Joe sprechen - in unser aller Namen.«

»O nein.« Dornbergers Reaktion entsprach weitgehend dem, was O'Donnell erwartet hatte. In überredendem Ton fuhr er fort: »Charlie, wir wissen, daß Sie ein enger Freund von Joe sind, und das hatte ich berücksichtigt, ab ich Sie zu dieser Besprechung bat. Sie könnten ihn in diesem Punkt überreden.«

»Mit anderen Worten, ich soll für Sie das Kriegsbeil schwingen«, antwortete Dornberger trocken.

»Charlie, glauben Sie mir: es ist kein Kriegsbeil.«

Dr. Charles Dornberger zögerte. Er bemerkte, daß die anderen ihn beobachteten, während sie auf seine Antwort warteten. Er war unschlüssig. Sollte er das tun, worum O'Donnell ihn bat? Er wurde von zwei widerstrebenden Empfindungen hin und her gerissen: seiner Anteilnahme an dem Wohl des Krankenhauses und seiner persönlichen Freundschaft mit Joe Pearson.

In gewisser Weise hatten ihn die Mitteilungen über die Verhältnisse in der Pathologie nicht überrascht. Sie schilderten einen Zustand, den er schon seit einiger Zeit vermutete. Dessenungeachtet hatten ihn die beiden Vorfälle mit Rufus und Reubens unsagbar erschreckt. Dornberger war auch überzeugt, daß O'Donnell diese Zusammenkunft niemals einberufen hätte, wenn er nicht ernstlich besorgt gewesen wäre, und er respektierte das Urteil des Chefs der Chirurgie.

Gleichzeitig wünschte Charles Dornberger Joe Pearson zu helfen, falls er es konnte, und in diesem Augenblick war er über die Flut der Vorfälle bedrückt, die den alten Pathologen zu überschwemmen schienen. Aber davon abgesehen, klangen O'Donnells Worte aufrichtig, als er sagte, es bestehe keine Absicht, Pearson auszubooten, und die anderen schienen der gleichen Auffassung zu sein. Er sah ein, daß er vielleicht der geeignetste Vermittler war. Vielleicht konnte er Joe auf diese Weise am besten helfen.

Dornberger sah die anderen der Reihe nach einzeln an. »Ist das die einhellige Meinung?«

Nachdenklich erklärte Lucy Grainger: »Ich habe Joe sehr gern, wie wir alle, glaube ich. Aber mir scheint, daß einige Veränderungen in der Pathologie notwendig sind.« Es waren die ersten Worte, die Lucy sprach. Auch sie hatte sich über diese Besprechung mit Kent O'Donnell Gedanken gemacht. Die Ereignisse am Abend vorher in ihrer Wohnung hatten sie in einer seltsamen Weise beunruhigt, wie sie es seit Jahren nicht mehr kannte. Nachher hatte sie sich gefragt, ob sie O'Donnell liebe, sich dann selbst gesagt und sich nur halb geglaubt -, daß Worte dieser Art zwar gut für junge und temperamentvolle Menschen paßten, aber in ihrem Alter - bei ihrer Reife und Unabhängigkeit und mit einer eigenen Praxis - prüfte und überlegte man und überwand plötzlich aufwallende Gefühlsregungen. In diesem Augenblick war sie allerdings in der Lage, persönliche Gefühle vom beruflichen Standpunkt zu trennen und über die Probleme in der Pathologie sachlich zu urteilen. Man lernte das als Arzt sehr bald - private Dinge aus seinen Gedanken auszuschließen, wenn unmittelbare Fragen bedeutsamer waren.

O'Donnell sah Rufus an. »Bill?«

Der Chirurg nickte. »Gut. Wenn Charlie mit Pearson sprechen will, bin ich einverstanden.«

Harvey Chandler war der nächste. Gewichtig setzte der Chef der inneren Abteilung Dornberger auseinander: »Meiner Meinung nach ist das der beste Weg, die Angelegenheit zu behandeln. Sie werden uns allen und auch dem Krankenhaus dadurch einen sehr großen Dienst erweisen.«

»Also schön«, antwortete Dornberger, »ich will sehen, was ich tun kann.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, und O'Donnell empfand Erleichterung. Er wußte, daß das Problem verstanden worden war und daß jetzt wenigstens etwas geschehen würde. Wenn dieser Versuch fehlschlug, mußte er unmittelbare Schritte unternehmen. Manchmal, dachte er, wäre es einfacher, wenn das medizinische Protokoll weniger kompliziert wäre. In der Industrie wurde ein Mann, der seine Aufgabe nicht angemessen erfüllte, entlassen. Wenn man wünschte, daß ihm ein Assistent zur Seite stehe, wurde ihm das mitgeteilt, und im allgemeinen war der Fall damit erledigt. Aber in der Medizin und in einem Krankenhaus ging man weniger gradlinig vor. Die Grenzen der Autorität waren selten klar gezogen, und der Leiter einer medizinischen Abteilung war nach seiner Ernennung weitgehend Herr in seinem Reich. Noch wichtiger war, daß man vor wirklich drastischen Maßnahmen zurückscheute, weil man es mit mehr als nur einem Arbeitsplatz zu tun hatte. Man stellte ungern die Fähigkeiten eines Mannes in Frage, der, wie man selbst, von seinem beruflichen Ansehen abhing. Es war eine delikate Frage, bei der eine einzige Entscheidung die gesamte Zukunft und den Lebensunterhalt eines Kollegen beeinflussen konnte. Das war der Grund, weshalb man vorsichtig vorging, Dinge dieser Art sorgfältig verhüllte und dem Einblick von außen entzog.

Harry Tomaselli sagte leise: »Wir werden uns also nach einem Pathologen umsehen müssen, wenn ich richtig verstehe.«

»Ich denke, wir sollten damit anfangen«, antwortete O'Donnell dem Verwaltungsdirektor und sah dann die anderen an. »Ich nehme an, daß die meisten von uns Verbindungen besitzen, durch die man es verbreiten kann. Wenn Sie von irgend jemand hören - vielleicht einem guten Mann, der gerade seine Zeit als Assistenzarzt abgeschlossen hat -, wäre ich dankbar, wenn man mich informierte.«

»Pathologen können gegenwärtig weitgehend nach Belieben wählen«, meinte Bill Rufus.

»Ich weiß. Es wird gar nicht so leicht sein. Das ist ein Grund mehr, Joe vorsichtig zu behandeln«, fügte O'Donnell dann hinzu.

Harry Tomaselli hatte in eine seiner Schreibtischschubladen gegriffen und einen Aktendeckel herausgezogen. »Hier ist vielleicht etwas, das Sie interessiert«, sagte er.

»Was haben Sie denn da?« fragte Harvey Chandler.

»Ich habe kürzlich die Liste der frei werdenden Pathologen erhalten«, antwortete Tomaselli. »Offen gesagt, hatte ich etwas Ähnliches schon erwartet und darum gebeten. Vor ein oder zwei Wochen erhielt ich diesen Namen.«

»Darf ich sehen?« O'Donnell griff nach dem Papier, das Tomaselli in der Hand hielt. Er wußte, daß die sogenannte >Offene Liste< Krankenhäusern auf Verlangen in regelmäßigen Abständen zugeschickt wurde. Sie enthielt Informationen über Pathologen, die für offene Stellen zur Verfügung standen, und die genannten Männer hatten genehmigt, daß ihr Name aufgenommen wurde. Es gab ferner eine vertrauliche Liste, die aber ausschließlich den Mitgliedern des Fachverbandes der Pathologen zur Verfügung stand. Zum größten Teil enthielt die >Vertrauliche Liste < Ärzte, die mit ihrer gegenwärtigen Stellung unzufrieden waren und unauffällig nach einer anderen suchten. Krankenhäuser, die einen Pathologen einstellen wollten, teilten das dem Fachverband mit, der die Ärzte, die auf der >Vertraulichen Liste< standen, informierte. Dann konnte jeder, der wollte, sich direkt an das Krankenhaus wenden. Doch ungeachtet dieser Einrichtung wurden, wie O'Donnell bekannt war, die meisten Pathologen immer noch auf Grund persönlicher Verbindungen und Empfehlungen angestellt.

Er betrachtete das Blatt, das der Verwaltungsdirektor ihm gereicht hatte. Es nannte den Namen eines Dr. David Coleman, einunddreißig Jahre alt. O'Donnell zog die Augenbrauen hoch, als er Colemans Zeugnisse und Ausbildungsgang sah. Mit Auszeichnung die Universität von New York absolviert, Assistent im Bellevue, zwei Jahre in der Armee, den größten Teil als Pathologe, fünf Jahre Assistenzarzt für Pathologie, auf drei gute Krankenhäuser verteilt. Das war ein Mann, der sich um die denkbar beste Ausbildung bemüht hatte.

Er reichte das Papier an Rufus weiter. »Ich bezweifle sehr, daß er uns überhaupt in Frage ziehen wird«, sagte er zu Tomaselli. »Bei seinen Qualifikationen und dem Anfangsgehalt, das wir ihm bezahlen können, glaube ich es nicht.« O'Donnell wußte aus einem früheren Gespräch mit dem Verwaltungsdirektor, daß sich das Gehalt auf etwa zehntausend Dollars im Jahr beschränken mußte.

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