»Es ist nicht so schlimm«, antwortete McNeil. »Es hat sich eine ganze Menge nicht dringender Dinge angesammelt, aber mit dem Wichtigen bin ich auf dem laufenden geblieben.« Er fügte hinzu: »Seddons hat eine ganze Menge geholfen. Ich habe ihm geraten, bei der Pathologie zu bleiben, statt zur Chirurgie zurückzugehen.«

Ein anderer Gedanke hatte Coleman geplagt. Er fragte den Assistenten: »Diese Lernschwester, die mit der Amputation. Ist das Bein schon seziert worden?« Er hatte nicht vergessen, daß er in der Diagnose mit Pearson nicht übereingestimmt hatte.

»Nein.« McNeil suchte eine Krankengeschichte auf dem Schreibtisch heraus. »Vivian Loburton«, las er vor, »so heißt das Mädchen. Es war nicht dringend, darum stellte ich die Untersuchung zurück. Das Bein ist noch im Kühlschrank. Wollen Sie es selbst machen?«

»Ja«, antwortete Coleman, »ich habe die Absicht.«

Er nahm die Krankengeschichte und ging in das Zimmer, das an den Obduktionsraum grenzte. Aus dem Kühlschrank der Leichenkammer nahm er das Bein und begann die Gazeumhüllungen zu entfernen. Das Fleisch war kalt und weich, das Blut, wo das Glied in der Mitte des Oberschenkels abgetrennt worden war, geronnen. Er tastete nach dem Tumor und fand ihn sofort. Einen harten Klumpen an der Innenseite gerade unterhalb des Knies. Er nahm ein Messer und schnitt tief hinein. Sein Interesse wuchs bei dem, was er fand.

Der Diener nahm Kent O'Donnells Hut und Mantel entgegen, hängte beides in einen Schrank in der finsteren, vornehmen Halle. O'Donnell sah sich um und fragte sich verwundert, warum wohl jemand - reich oder nicht - in dieser Umgebung freiwillig lebte. Dann überlegte er, daß diese kahle Weitläufigkeit, diese schweren Deckenbalken und diese hohe Täfelung, diese Wände aus kaltem, behauenem Stein einem Mann wie Eustace Swayne vermutlich das Gefühl einer feudalen Macht verliehen und für ihn eine Brücke durch die Geschichte zu alten Zeiten und versunkenen Stätten bildete. O'Donnell fragte sich, was aus dem Haus werden würde, wenn der alte Mann starb. Höchstwahrscheinlich ein Museum oder eine Kunstgalerie, vielleicht würde es auch nur leerstehen und verfallen wie viele Häuser dieser Art. Daß jemand anders die Absicht haben könnte, darin zu leben, erschien ihm unvorstellbar. Es war ein Haus, bei dessen Anblick man sich sagen mußte, daß sein Eingang um fünf Uhr nachmittags abgeschlossen wurde und bis zum nächsten Morgen verschlossen blieb. Dann erinnerte er sich, daß Denise ihre Kindheit innerhalb dieser düsteren Wände verbracht haben mußte. Ob sie hier glücklich gewesen war? fragte er sich.

»Mr. Swayne ist heute etwas erschöpft, Sir. Er läßt fragen, ob Sie etwas dagegen haben, wenn er Sie in seinem Schlafzimmer empfängt.«

»Keineswegs«, antwortete O'Donnell. Ihm kam der Gedanke, daß das Schlafzimmer für das, was er zu sagen hatte, vielleicht der geeignetste Ort war. Falls Eustace Swayne infolge der Unterhaltung einen Schlaganfall erlitt, war wenigstens gleich der richtige Platz da, um ihn hinzulegen. Er folgte dem Diener die breite, geschwungene Treppe hinauf und einen Korridor entlang. Ihre Schritte wurden durch dicke Läufer gedämpft. Der Diener klopfte leise an eine schwere, geschnitzte Tür, drückte auf die schmiedeeiserne Klinke und ließ O'Donnel in das geräumige Zimmer eintreten.

Zunächst konnte O'Donnell Eustace Swayne nicht sehen. Sein Blick wurde von einem massiven Kamin festgehalten, in dem ein Holzfeuer loderte. Die Wärme des Feuers traf ihn wie ein Schlag; der Raum war an dem an sich schon warmen Vormittag im späten August fast unerträglich warm. Dann erkannte er Swayne, von Kissen gestützt, in einem riesigen Bett mit vier Pfosten. Um seine Schultern lag ein Morgenmantel mit Monogramm. Als O'Donnell näher trat, bemerkte er mit einem Schock, wie sehr der alte Mann seit ihrer ersten Begegnung -dem Abend mit Orden Brown und Denise - verfallen war.

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte Swayne. Auch seine Stimme klang schwächer als früher. Er bedeutete seinem Besucher, auf einem Stuhl neben dem Bett Platz zu nehmen.

Während O'Donnell sich setzte, sagte er: »Mir wurde mitgeteilt, daß Sie mich zu sehen wünschten.« In Gedanken revidierte er bereits einige seiner rückhaltlosen Erklärungen, die abzugeben er beabsichtigt hatte. Selbstverständlich konnte nichts seinen Standpunkt hinsichtlich Joe Pearson ändern, aber wenigstens konnte er dabei freundlich sein. O'Donnell wünschte nicht, mit einem kränkelnden alten Mann aneinanderzugeraten. Für eine harte Auseinandersetzung waren die Voraussetzungen zu ungleich.

»Joe Pearson ist bei mir gewesen«, sagte Swayne, »vor drei Tagen war es, glaube ich.«

Hier hatte sich Pearson also in den Stunden aufgehalten, als er vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen. »Ja«, antwortete O'Donnell. »Ich hatte erwartet, daß er zu Ihnen kommen würde.«

»Er teilte mir mit, daß er das Krankenhaus verläßt.« Die Stimme des alten Mannes klang erschöpft. Sie enthielt keine Andeutung der Anschuldigungen, die O'Donnell gegen sich erwartet hatte. Neugierig, was als nächstes kommen würde, antwortete er: »Ja, das ist richtig.«

Der alte Mann schwieg. Dann sagte er: »Wahrscheinlich gibt es Dinge, über die niemand Macht hat.« Jetzt war eine Spur Erbitterung zu erkennen, oder war es Resignation? Es war schwer zu entscheiden.

»Das gibt es, glaube ich«, antwortete O'Donnell vorsichtig.

»Als Joe Pearson zu mir kam«, sagte Swayne, »richtete er zwei Bitten an mich. Die erste war, daß an meine Spende für den Baufonds des Krankenhauses keine Bedingung geknüpft werden solle. Ich habe dem zugestimmt. « Es folgte eine Pause. O'Donnell schwieg, während ihm die Bedeutung der Worte aufging. Der alte Mann fuhr fort: »Die zweite Bitte betraf etwas Persönliches. Sie haben einen Angestellten in dem Krankenhaus - er heißt Alexander, glaube ich.«

»Ja«, antwortete O'Donnell verwundert. »John Alexander, er ist Laborant.«

»Er hat ein Kind verloren.«

O'Donnell nickte.

»Joe Pearson bat mich, dem Jungen sein Medizinstudium zu bezahlen. Das kann ich natürlich - ganz mühelos. Geld hat wenigstens noch ein paar nützliche Zwecke.«

Swayne griff nach einem dicken Umschlag, der vor ihm auf der Decke gelegen hatte. »Ich habe meine Anwälte bereits angewiesen. Es wird ein Fonds zur Verfügung stehen. Er reicht für die Studienkosten und einen auskömmlichen Lebensunterhalt für ihn und seine Frau. Wenn er sich später entschließt, sich zu spezialisieren, steht auch dafür Geld zur Verfügung.« Der alte Mann schwieg, als ob das Sprechen ihn ermüde. Dann fuhr er fort: »Mir schwebt nun etwas Bleibenderes vor. Es wird später noch mehr junge Leute geben, die eine Förderung vielleicht ebenso verdienen. Ich möchte, daß der Fonds bestehenbleibt und von dem medizinischen Ausschuß des Three Counties Hospitals verwaltet wird. Daran knüpfe ich nur eine Bedingung.«

Eustace Swayne sah O'Donnell fest an. Herausfordernd sagte er: »Der Fonds wird den Namen >Joseph-Pearson-Studienstiftung< tragen. Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?«

Gerührt und beschämt antwortete O'Donnell: »Ganz im Gegenteil, Sir. Meiner Meinung nach wird das immer eine Ihrer größten Wohltaten bleiben.«

»Bitte, sag mir die Wahrheit, Mike«, sagte Vivian, »ich muß es wissen.«

Sie sahen sich an. Vivian in ihrem Krankenhausbett und Mike Seddons, der bedrückt und unsicher daneben stand.

Es war ihre erste Begegnung nach der Trennungszeit. Gestern abend, nachdem Vivians Verlegung rückgängig gemacht worden war, hatte sie ein zweites Mal versucht, Mike telefonisch zu erreichen, aber vergeblich. Heute morgen war er gekommen, ohne daß sie ihn gerufen hatte, wie sie es vor fünf Tagen vereinbart hatten. Jetzt versuchten ihre Augen, in seinem Gesicht zu lesen. Angst bedrückte sie, ihr Instinkt sagte ihr, was ihr Verstand zu erkennen sich weigerte.

»Vivian«, sagte Mike, und sie sah, wie er zitterte, »ich muß mit dir sprechen.«

Sie antwortete nicht, nur ihr fester Blick begegnete seinem. Seine Lippen waren trocken. Er feuchtete sie mit der Zunge an. Er wußte, daß sein Gesicht gerötet war, spürte, wie sein Herz klopfte. Gewaltsam unterdrückte er den Wunsch, sich umzudrehen und fortzulaufen. Verkrampft stand er vor ihr, tastete zögernd nach Worten, die er nicht finden konnte.

»Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst, Mike.« Vivians Stimme war tonlos, schien jede Empfindung verloren zu haben. »Du willst mich nicht mehr heiraten. Ich wäre eine Last für dich wie ich jetzt bin.«

»Oh, Vivian, Liebling.«

»Nicht, Mike«, unterbrach sie ihn, »bitte nicht.«

Drängend flehte er: »Hör mich bitte an, Vivian. Hör mich zu Ende, so einfach ist es nicht.« Wieder versagten sich ihm die Worte.

Drei Tage lang hatte er nach den richtigen Worten und den richtigen Sätzen für diesen Augenblick gesucht, und wußte doch, wie er es auch ausdrückte, die Wirkung konnte immer nur die gleiche sein. Seit ihrer letzten Begegnung hatte Mike Seddons die tiefsten Klüfte seiner Seele und seines Gewissens durchforscht. Was er fand, hatte in ihm Abscheu und Verachtung für sich selbst hervorgerufen, aber er hatte die Wahrheit entdeckt. Er wußte mit Gewißheit, daß eine Ehe zwischen ihm und Vivian niemals glücklich sein konnte nicht wegen ihrer Mängel, sondern wegen seiner eigenen.

In den Augenblicken forschender Selbstüberprüfung hatte er sich gezwungen, sich alle Situationen vorzustellen, die sie zusammen erleben mußten. In seiner Phantasie hatte er gesehen, wie sie zusammen einen belebten Raum betraten. Er jung, kraftvoll, unbehindert, aber Vivian an seinem Arm ging langsam, unbeholfen, vielleicht mit einem Stock, und so gut, wie es ein künstliches Bein erlaubte. Er hatte sich selbst in der Brandung tauchen oder fast nackt am Strand in der Sonne liegen sehen, während Vivian voll angezogen blieb und das alles nicht teilen konnte, weil die Prothese einen häßlichen Anblick bot und sie, wenn sie sie abnahm, ein groteskes, unbewegliches Monstrum sein mußte - ein Objekt des Mitleids oder abgewendeter Blicke.

Und mehr als das. Er überwand jede Hemmung und jeden instinktiven Anstand und hatte sich die sexuelle Seite vorgestellt. Er hatte sich ein Bild der Szene am Abend vor dem Zubettgehen gemacht. Würde Vivian ihr künstliches Bein selbst abschnallen, oder würde er ihr dabei helfen? Konnte die Intimität des Auskleidens eintreten, des Wissens, was anschließend kam? Und wie würden sie lieben? Mit dem Bein angeschnallt oder nicht? Wie mußte es sein, wenn es angeschnallt blieb? Der harte, unnachgiebige Kunststoff, der an seinen begehrenden Körper drückte. Und wenn es abgeschnallt war, wie würde sich der Stumpf unter ihm anfühlen? Konnte es Erfüllung geben in der Vereinigung mit einem Körper, der nicht länger ganz war?

Mike Seddons brach der Schweiß aus. Er war in die Tiefe eingedrungen und hatte seine geheimsten Empfindungen aufgedeckt.

Vivian sagte: »Du brauchst es nicht zu erklären, Mike.« Diesmal klang ihre Stimme gepreßt.

»Aber ich will es, ich muß es erklären. Es gibt so vieles, an das wir beide denken müssen.« Jetzt kamen die Worte schnell, überstürzten sich in dem Bemühen, sich Vivian verständlich zu machen, ihr die Qualen zu schildern, die er in Gedanken durchlitten hatte, ehe er zu ihr kam. Selbst in diesem Augenblick brauchte er ihr Verständnis.

Er begann wieder: »Verstehe mich doch, Vivian. Ich habe darüber nachgedacht, und es ist für dich besser.«

Er sah ihren musternden Blick. Es war ihm bisher nicht aufgefallen, wie fest und gerade er war. »Lüge mich bitte nicht an, Mike«, sagte sie, »ich glaube, du gehst besser.«

Er wußte, es war nutzlos. Jetzt wollte er nur noch von ihr fort, nicht mehr Vivians Augen sehen. Aber er zögerte noch. Er fragte: »Was wirst du tun?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe tatsächlich noch nicht darüber nachgedacht.« Vivians Stimme klang fest, aber sie verriet die Mühe, die es sie kostete. »Vielleicht bleibe ich weiter Schwester, wenn sie mich haben wollen. Ich weiß natürlich nicht, ob ich wirklich geheilt bin, und wenn nicht, wie lange ich dann noch habe. So ist es doch, Mike?«

Verlegen und beschämt wendete er seine Augen ab.

Von der Tür sah er zum letztenmal zu ihr zurück. »Leb wohl, Vivian«, sagte er.

Sie versuchte zu antworten, aber das überforderte ihre Selbstbeherrschung.

Von der zweiten Etage ging Mike Seddons über die Treppe zur Pathologie hinunter. Er betrat den Obduktionsraum und fand im Nebenzimmer David Coleman, der ein Bein sezierte. Seddons blickte auf das Bein. Es war weiß und leblos, und dunkles Blut sickerte aus Colemans Messerschnitten. Einen Augenblick stellte er es sich voller Grauen von einem Nylonstrumpf bekleidet vor, mit einer hochhackigen Sandale. Dann folgte er einem entsetzlichen Zwang. Er trat näher und las den Namen auf der offenliegenden Krankengeschichte.

Als er das getan hatte, ging er schnell in den Gang hinaus und übergab sich.

»Ah, Dr. Coleman, kommen Sie bitte herein.«

Kent O'Donnell stand liebenswürdig von seinem Schreibtisch auf, als der junge Pathologe in sein Zimmer trat. David Coleman war gerade dabeigewesen, nach der Sektion aufzuräumen, als ihn die Benachrichtigung des Chefs der Chirurgie erreicht hatte.

»Nehmen Sie bitte Platz.« O'Donnell hielt ihm sein graviertes, goldenes Zigarettenetui hin: »Zigarette?«

»Danke.« Coleman nahm eine Zigarette und das Feuer, das O'Donnell ihm anbot. Er lehnte sich erwartungsvoll in dem tiefen Ledersessel zurück. Sein Gefühl sagte ihm, daß er vor einem Wendepunkt in seinem Leben stand.

O'Donnell trat hinter dem Schreibtisch zum Fenster, blieb, den Rücken der Morgensonne hinter sich zugewendet, stehen. »Ich nehme an, Sie wissen schon, daß Dr. Pearson zurückgetreten ist«, begann er.

»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Coleman ruhig und fuhr zu seiner eigenen Überraschung fort: »Es ist Ihnen natürlich bekannt, daß er sich in den letzten Tagen nicht geschont hat. Er war Tag und Nacht hier.«

»Ja, das weiß ich.« O'Donnell betrachtete das glimmende Ende seiner Zigarette. »Aber das ändert nichts an der Situation. Das ist Ihnen doch klar?«

Coleman wußte, daß der Chef der Chirurgie recht hatte. »Ja«, antwortete er, »das ist wohl richtig.«

»Joe hat den Wunsch ausgesprochen, sofort auszuscheiden«, fuhr O'Donnell fort. »Das bedeutet, daß bei uns sofort die Stelle des Direktors der Pathologie frei wird. Wollen Sie sie übernehmen?«

Eine Sekunde lang zögerte David Coleman. Das war das, was er suchte. Eine Abteilung für sich, die Freiheit, sie zu reorganisieren, die neuen Hilfsmittel der Wissenschaft heranzuziehen, gute Medizin zu praktizieren und die Pathologie den Beitrag leisten zu lassen, den sie bieten konnte. Das war der Gral, nach dem er strebte. Kent O'Donnell hatte ihn greifbar vor ihn hingestellt.

Dann überfiel ihn Angst. Plötzlich schreckte er vor der überwältigenden Verantwortung zurück, die er zu tragen hatte. Er erkannte, daß er keinen Vorgesetzten haben würde, der ihm Entscheidungen abnahm. Das endgültige Urteil - die letzte Diagnose würde bei ihm liegen. War er dem gewachsen? War er dazu schon bereit? Er war noch jung. Wenn er wollte, konnte er noch einige Jahre an zweiter Stelle bleiben. Später würden sich ihm noch andere Möglichkeiten öffnen, viele im Laufe der Jahre. Dann wurde ihm bewußt, daß es hier kein Ausweichen gab, daß dieser Augenblick von der ersten Stunde seiner Ankunft im Three Counties Hospital an unaufhaltsam auf ihn zugekommen war.

»Ja«, sagte er, »wenn mir die Stellung angeboten wird, werde ich annehmen.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß sie Ihnen angeboten werden wird.« O'Donnell lächelte. Er fragte: »Würden Sie mir eine Frage erlauben?«

»Gewiß, wenn ich sie beantworten kann.«

Der Chef der Chirurgie schwieg. Er suchte nach den richtigen Worten für die Frage, die er stellen wollte. Er spürte, daß das, was jetzt gesagt wurde, für sie beide wichtig war. Schließlich sagte er: »Würden Sie mir Ihre Einstellung erklären - gegenüber der Medizin und gegenüber unserem Krankenhaus?«

»Das ist schwer in Worte zu fassen«, antwortete Coleman.

»Wollen Sie es nicht versuchen?«

Coleman überlegte. Es gab Dinge, an die er glaubte. Aber selbst in seinen Gedanken hatte er nur selten versucht, sie zu formulieren. Jetzt war vielleicht die Zeit gekommen, um sie auszusprechen.

»Worauf es wirklich ankommt ist, glaube ich, daß alles - wir Ärzte, das Krankenhaus, die praktische Medizin - nur für einen Zweck existiert: für die Patienten - um Kranke zu heilen. Ich glaube, das vergessen wir manchmal. Mir scheint, wir versenken uns in die Medizin, verlieren uns in der Wissenschaft, streben nach besseren Krankenhäusern, vergessen darüber aber, daß es für alle diese Dinge nur eine Rechtfertigung gibt - Menschen. Menschen, die uns brauchen, die bei der Medizin Hilfe suchen« Er schwieg. »Ich habe es sehr plump ausgedrückt.«

»Nein«, antwortete O'Donnell, »Sie haben es sehr gut ausgedrückt.« Er empfand Triumph und Hoffnung. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht: er hatte gut gewählt. Er sah voraus, daß sie beide, er als Chef der Chirurgie und Coleman als Direktor der Pathologie, gut zusammen paßten. Sie würden weiterstreben und aufbauen, und durch sie würde das Three Counties Hospital gedeihen. Nicht alles, was sie leisteten, würde vollkommen sein. Das gab es nicht. Es würden Mängel und Versager auftreten, aber wenigstens hätten sie die gleichen Ziele, folgten sie den gleichen Empfindungen. Sie mußten in engem Kontakt bleiben. Coleman war jünger als er, und es gab Gebiete, auf denen O'Donnell ihm durch seine größere Erfahrung helfen konnte. In den letzten Wochen hatte der Chef der Chirurgie selbst viel dazugelernt. Er hatte gelernt, daß Eifer ebenso unausweichlich zur Überheblichkeit führen konnte wie Gleichgültigkeit und daß man auf vielen Wegen auf Katastrophen stieß. Aber von nun an wollte er in jeder Richtung gegen Überheblichkeit kämpfen, und die Pathologie mit dem jungen Dr. Coleman an ihrer Spitze konnte dabei ein starker, rechter Arm sein.

Ihm kam ein Gedanke. Er fragte: »Noch etwas. Was halten Sie von Joe Pearson und von der Art seines Ausscheidens?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete David Coleman, »ich wollte, ich wüßte es.«

»Es ist gar nicht so schlecht, wenn man manchmal unsicher ist. Es behütet uns vor einer Erstarrung des Denkens.« O'Donnell lächelte. »Es gibt bei Dr. Pearson einiges, das Sie meiner Meinung nach wissen sollten. Ich habe mich mit einigen der älteren Ärzte hier unterhalten. Sie berichteten mir über seine Tätigkeit hier, über die auch ich nicht viel wußte. Joe Pearson hat in den zweiunddreißig Jahren hier viel für das Krankenhaus getan, Dinge, die heute zum größten Teil vergessen sind und die Leute, wie Sie und ich, kaum Gelegenheit haben zu erfahren. Er hat die Blutbank eingerichtet, müssen Sie wissen. Heute erscheint es unverständlich, aber damals gab es eine ziemlich starke Opposition dagegen. Dann setzte er sich für die Bildung eines Gewebeausschusses ein. Man hat mir gesagt, daß eine ganze Reihe Ärzte ihn deswegen erbittert bekämpfte, aber er setzte den Ausschuß durch und trug damit viel dazu bei, den Standard der Chirurgie hier zu heben. Joe hat auch Forschungsarbeiten durchgeführt - über die Ursache und das Auftreten von Schilddrüsenkrebs. Der größte Teil seiner Arbeit hat heute allgemeine Anerkennung gefunden, aber nur wenige erinnern sich, daß sie von Joe Pearson stammt.«

»Davon wußte ich nichts«, sagte Coleman. »Danke, daß Sie es mir mitgeteilt haben.«

»Nun, Dinge dieser Art werden vergessen. Joe führte auch vieles Neue in den Labors ein - neue Tests, neue Geräte. Unglücklicherweise kam dann die Zeit, in der er das Neue vernachlässigte. Er ließ sich selbst treiben und fuhr sich in alten Geleisen fest. Das geschieht manchmal.«

Plötzlich dachte Coleman an seinen Vater, an seinen starken Verdacht, daß das sensibilisierte Blut, das das Kind der Alexanders tötete, von einer der Transfusionen stammte, die sein Vater vor Jahren angeordnet und gegeben hatte - gegeben hatte, ohne den Rh-Faktor festzustellen, obwohl die Gefahren damals schon bekannt waren.

»Ja«, bestätigte er, »das kommt wohl vor.«

Beide waren aufgestanden und zur Tür gegangen. Als sie hinaustraten, sagte O'Donnell leise: »Es ist für uns alle gut, wenn wir Mitgefühl haben, verstehen Sie? Man weiß nie, ob man es eines Tages nicht selbst braucht.«

Lucy Grainger sagte: »Sie sehen müde aus, Kent.«

Es war früh am Nachmittag, und Kent war im Hauptgang im Erdgeschoß stehengeblieben. Ohne daß er es bemerkte, war sie neben ihn getreten.

Liebe Lucy, dachte er - sie ist unverändert, warm und zartfühlend, ein schutzverheißender Hafen in einem wogenden Meer der Ungewißheit.

War es wirklich kaum eine Woche her, daß er erwogen hatte, Burlington zu verlassen und Denise zu heiraten? Im Augenblick schien das alles so fern zu liegen, ein sehnsüchtiges Zwischenspiel, das heute nichts mehr bedeutete. Hier gehörte er hin, an diesem Ort lag sein Schicksal, im Guten oder Bösen.

Er ergriff sie am Arm. »Lucy, wir müssen uns bald sehen. Es gibt so vieles zu besprechen.«

»Gern.« Sie lächelte voller Zuneigung. »Sie können mich morgen zum Abendessen einladen.«

Nebeneinander gingen sie durch den Gang, und es gab ihm irgendwie Zuversicht, daß sie neben ihm war. Er betrachtete ihr Profil und erkannte mit Gewißheit, daß ihnen gemeinsam noch vieles Gute bevorstand. Vielleicht brauchte es Zeit, sich einander anzupassen. Aber schließlich, das wußte er, würden sie ihre gemeinsame Zukunft finden.

Lucy dachte: Träume werden doch wahr. Meiner auch -vielleicht irgendwann bald.

In der Pathologie dämmerte es früh. Das kam daher, daß sie im Souterrain des Krankenhauses untergebracht war. Als David Coleman das Licht einschaltete, beschloß er, als eines seiner ersten Ziele durchzusetzen, daß die Abteilung bessere Räume erhielt. Die Tage, in denen die Pathologen automatisch in die abgelegenen Räume der Krankenhäuser verbannt wurden, waren vorüber. Licht und Luft waren für sie eine ebenso wichtige Voraussetzung wie für jeden anderen Zweig der Medizin.

Er trat in die Pathologie und fand Pearson an seinem Schreibtisch. Der alte Mann leerte die Schubladen. Als Coleman eintrat, sah er auf.

»Komisch«, sagte er, »wieviel Müll sich in zweiunddreißig Jahren ansammelt.«

Einen Augenblick beobachtete David Coleman ihn. Dann sagte er: »Es tut mir leid.«

»Ihnen braucht nichts leid zu tun«, antwortete Pearson grob. Er schloß die letzte Schublade und schob Papiere in seine Aktentasche. »Ich habe gehört, Sie bekommen einen neuen Posten. Gratuliere.«

Coleman antwortete aufrichtig: »Ich wünschte, es wäre auf andere Weise zustande gekommen.«

»Zu spät, sich darum zu sorgen.« Pearson schnappte den Verschluß der Aktentasche zu und sah sich suchend um. »Das ist, glaube ich, alles. Wenn Sie noch etwas finden, können Sie es mir ja mit meiner Pension zuschicken lassen.«

»Ich möchte Ihnen noch etwas sagen«, begann Coleman.

»Was gibt es?«

Coleman wählte seine Worte überlegt. »Die Lernschwester, der das Bein amputiert wurde - ich habe das Bein heute morgen seziert. Sie hatten recht. Ich habe mich geirrt. Es war bösartig -ohne jeden Zweifel ein Osteosarkom.«

Der alte Mann schwieg. Es hatte den Anschein, als wäre er in Gedanken weit fort.

»Ich bin froh, daß ich mich nicht geirrt habe«, sagte er dann langsam, »in diesem Fall wenigstens nicht.«

Er nahm seinen Mantel und ging zur Tür. Er schien im Begriff, hinauszugehen, drehte sich dann um. Fast schüchtern fragte er: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen einen Rat gebe?«

Coleman schüttelte den Kopf. »Aber nein, bitte.«

»Sie sind jung«, sagte Pearson. »Sie sind voller Saft und Kraft. Das ist gut. Sie können auch etwas. Sie sind auf dem laufenden, wissen Dinge, von denen ich nie etwas gehört habe und die ich nie mehr lernen werde. Folgen Sie meinem Rat: versuchen Sie, so zu bleiben. Es wird schwer werden. Geben Sie sich darüber keiner Täuschung hin.« Er winkte zu dem Schreibtisch, den er gerade ausgeräumt hatte. »Sie werden in dem Stuhl da sitzen, und dann klingelt das Telefon, und es ist der Verwaltungsdirektor, der Ihnen wegen des Etats in den Ohren liegt. In der nächsten Minute kommt einer aus dem Labor und will kündigen. Und Sie müssen ihm das ausreden. Und die Ärzte kommen und wollen dies und jenes wissen.« Der alte Mann lächelte dünn. »Dann kommen die Vertreter, der Mann mit den unzerbrechlichen Reagenzgläsern und dann der mit dem Brenner, der nie ausgeht. Und kaum sind Sie mit dem fertig, kommt wieder einer und noch einer und noch einer. Und wenn der Tag vorbei ist, fragen Sie sich verwundert, wo er geblieben ist und was Sie geleistet, was Sie vollbracht haben.«

Pearson schwieg, und Coleman wartete. Er spürte, daß der alte Pathologe sich mit seinen Worten von einem Teil seiner Vergangenheit löste.

»Und so kann es am nächsten Tag gehen und am übernächsten und am Tag danach«, fuhr Pearson fort. »Bis Sie feststellen, daß ein Jahr vergangen ist und dann das nächste und dann noch eines. Und während Sie alles das tun, schicken Sie andere zu Kursen, um sich über die neuesten Entdeckungen in der Medizin zu unterrichten, weil Sie selbst sich nicht die Zeit nehmen können, fortzufahren. Und nach und nach hören Sie auf, zu forschen und nachzuforschen, und weil Ihre Arbeit so anstrengend ist, sind Sie abends müde, und Sie bringen nicht mehr die Energie auf, Fachliteratur zu lesen. Eines Tages stellen Sie plötzlich fest, daß alles, was Sie wissen, veraltet ist. Und dann ist der Punkt erreicht, an dem es zu spät ist, um das noch zu ändern.«

Von seinem Gefühl überwältigt, versagte ihm die Stimme. Pearson legte eine Hand auf Colemans Arm. Eindringlich fuhr er fort: »Hören Sie auf einen alten Mann, der das alles durchgemacht hat, der den Fehler beging, zurückzubleiben. Lassen Sie nicht zu, daß es Ihnen auch so geht. Schließen Sie sich in einen Schrank ein, wenn es sein muß. Halten Sie sich das Telefon vom Hals und die Ablage und die Papiere, und lesen und lernen Sie, und halten Sie Augen und Ohren auf, und bleiben Sie auf dem laufenden. Dann kann man Ihnen nie etwas anhaben, wird nie von Ihnen sagen können: er ist fertig, überholt, von gestern. Denn Sie werden dann ebensoviel wissen wie die anderen und mehr, und Sie haben zu Ihrem Wissen Ihre Erfahrung. «

Pearson verstummte und wendete sich ab.

»Ich werde es nicht vergessen«, antwortete Coleman. Respektvoll fragte er: »Darf ich Sie bis zur Tür bringen?«

Sie stiegen die Treppe von der Pathologie hinauf. Auf dem Hauptgang des Krankenhauses setzte gerade das lebhafte Hin und Her des frühen Abends ein. Eine Schwester eilte mit einem Tablett an ihnen vorbei, ihre gestärkte Uniform rauschte. Sie traten zur Seite, um einem Rollstuhl Platz zu machen. Darin saß ein Mann in mittlerem Alter, ein Bein in einem Gipsverband, und hielt ein paar Krücken wie in ein Boot eingezogene Ruder. Lachend kamen drei Lernschwestern an ihnen vorbei. Eine Frau, die für einen Wohltätigkeitsverein arbeitete, schob einen Wagen mit Zeitschriften vor sich her. Ein Mann mit einem Blumenstrauß in der Hand ging zu den Fahrstühlen. Irgendwo, nicht sichtbar, weinte ein Kind. Es war die Krankenhauswelt. Ein lebender Organismus, ein Spiegel der großen Welt draußen.

Pearson sah sich um. Coleman dachte, zweiunddreißig Jahre, und vielleicht sieht er das alles zum letztenmal. Er fragte sich, wie wird es sein, wenn meine Zeit kommt? Werde ich mich in dreißig Jahren an diesen Augenblick erinnern? Werde ich es dann besser verstehen?

Durch den Lautsprecher im Gang rief eine Stimme aus: »Dr. David Coleman! Dr. David Coleman bitte zur chirurgischen Abteilung.«

»Es hat angefangen«, sagte Pearson. »Es wird ein Gefrierschnitt sein. Es ist besser, Sie gehen hinauf.« Er streckte seine Hand aus. »Viel Glück.«

Coleman fand es schwer, zu sprechen. »Danke«, sagte er nur.

Der alte Mann nickte und wendete sich ab.

»Gute Nacht, Dr. Pearson.« Das war eine der älteren Schwestern des Krankenhauses.

»Gute Nacht«, antwortete Pearson. Dann blieb er auf dem Weg hinaus unter einem Schild >Nicht rauchen< stehen, um sich eine Zigarre anzuzünden.

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