Rufus sah auf. »Das scheint mir auch. Der Mann kann zwischen den Krankenhäusern in den großen Städten wählen.« Er gab das Blatt an Harvey Chandler weiter.

»Nun, Tatsache ist.« Tomaselli schwieg. Sein Ton war ungewöhnlich zurückhaltend, als ob er seine Worte genau abwäge.

Neugierig fragte O'Donnell: »Ja, was, Harry?«

»Nun, Tatsache ist, daß sich Dr. Coleman für unser Krankenhaus durchaus interessiert.« Tomaselli machte eine Pause. »Ich vermute, daß er etwas von den Veränderungen in letzter Zeit und unseren Plänen für die Zukunft gehört hat.«

O'Donnell beendete das plötzliche Schweigen. »Woher wissen Sie das?«

»Ich habe mit ihm korrespondiert.«

»Ist das nicht etwas ungewöhnlich, Harry?« fragte Rufus.

»Vielleicht war ich voreilig. Aber nachdem ich das da erhielt« - Tomaselli deutete auf das Papier, das Lucy jetzt in Händen hielt -, »schrieb ich an Dr. Coleman. Selbstverständlich nichts Endgültiges. Es war nur ein Vorfühlen, um seine Ansicht kennenzulernen.« Er wandte sich an O'Donnell. »Das war nach unserer Unterhaltung vor etwa zwei Wochen. Sie erinnern sich, Kent?«

»Ja, ich entsinne mich.« O'Donnell wünschte, daß Harry ihn vorher darüber unterrichtet hätte. Natürlich konnte Tomaselli als Verwaltungsdirektor korrespondieren, mit wem er wollte. Er hatte das Krankenhaus damit in keiner Weise festgelegt. Vermutlich war der Briefwechsel vertraulich; er konnte sich möglicherweise als ein geschickter Zug erweisen. Zu Tomaselli sagte er: »Und Sie meinen, er sei interessiert?«

»Ja, er will gern herkommen und sich mit uns unterhalten. Wenn die Sprache nicht gerade darauf gekommen wäre, hätte ich Sie ohnedies unterrichtet.«

Dornberger hatte jetzt das Papier. Er klopfte mit dem Zeigefinger darauf. »Und was soll ich damit?«

O'Donnell sah die anderen um ihre Zustimmung suchend an, »Ich meine, Sie sollten es an sich nehmen, Charlie«, antwortete er, »und ich würde vorschlagen, daß Sie es Joe Pearson zeigen.«

VII

In dem an den Obduktionsraum angrenzenden Zimmer saß Roger McNeil, der Assistenzarzt der Pathologie, und war für das pathologische Kolloquium bereit. Nur Dr. Joseph Pearson fehlte noch, damit sie anfangen konnten.

Im Three Counties Hospital bildete wie in vielen Krankenhäusern das pathologische Kolloquium die zweite Phase der Obduktion. Vor einer halben Stunde hatte George Rinne, der Diener der Leichenkammer, die Organe hereingebracht, die bei den drei Obduktionen dieser Woche herausgenommen worden waren. In weißen Emailleeimern standen zwei Gruppen von Organen nebeneinander und dahinter in Glasgefäßen drei Gehirne. Die Mitte des Raumes nahm ein Steintisch mit einem großen, eingelassenen Becken und einem Wasserhahn darüber ein. Gegenwärtig war der Hahn aufgedreht. Darunter stand der dritte Eimer mit Organen, und das Wasser spülte das Formalin heraus, in dem die Organe aufbewahrt worden waren und das ihnen gleichzeitig einen Teil des schwer zu ertragenden Geruchs nahm.

McNeil warf einen letzten prüfenden Blick um sich. Pearson geriet leicht in Wut, wenn irgend etwas nicht griffbereit lag. Er fand, daß der Raum, in dem sie arbeiteten, seiner Aufgabe angemessen makaber wirkte. Besonders, wenn die Organe nebeneinandergereiht dalagen, wie es in wenigen Minuten der Fall sein würde, und ihm das Aussehen eines Metzgerladens gaben. Er hatte in Krankenhäusern Sezierräume gesehen, in denen alles nur aus schimmerndem, rostfreiem Stahl bestand. Aber das war die moderne Schule, die in der pathologischen Abteilung des Three Counties Hospitals noch keinen Eingang gefunden hatte. Jetzt hörte er die vertrauten, halb schlürfenden Schritte, und Pearson kam herein, von der unvermeidlichen Wolke Zigarrenrauch umgeben.

»Keine Zeit zu verlieren.« Pearson hielt sich selten mit Vorreden auf. »Es ist anderthalb Wochen her, daß ich diese Auseinandersetzung mit O'Donnell hatte, und wir hängen immer noch zurück.« Die Zigarre tanzte auf und ab. »Wenn wir damit fertig sind, wünsche ich eine Überprüfung aller rückständigen pathologischen Befunde. Welches ist der erste Fall?« Während er sprach, hatte er eine schwarze Gummischürze angelegt und Gummihandschuhe übergestreift. Jetzt trat er an den Tisch in der Mitte und nahm Platz. McNeil setzte sich auf einen Hocker neben ihn und sah in die Krankenpapiere des Falles.

»Fünfundfünfzigjährige Frau, Todesursache laut Diagnose des Arztes Brustkrebs.«

»Zeigen Sie her.« Pearson griff selbst nach den Papieren. Manchmal saß er geduldig da, während ihm der Assistenzarzt den Fall schilderte. In anderen Fällen wollte er alles selbst lesen. Darin war er, wie in allem anderen, unberechenbar.

»Hm.« Pearson legte die Papiere hin und drehte den Wasserhahn zu. Dann griff er in den Eimer und tastete darin herum, bis er das Herz fand. Er öffnete es mit beiden Händen.

»Haben Sie den Schnitt gemacht?«

Der Assistenzarzt schüttelte den Kopf.

»Habe ich auch nicht geglaubt.« Pearson betrachtete wieder das Herz. »Seddons?«

McNeil nickte etwas zögernd. Er hatte selbst bemerkt, daß das Herz schlecht aufgeschnitten worden war.

»Das Zeichen des Zorro.« Pearson grinste. »Sieht aus, als hätte er damit ein Duell veranstaltet. Wo ist Seddons übrigens?«

»Ich glaube, in der Chirurgie. Dort wird eine Operation vorgenommen, die er mit ansehen wollte.«

»Sagen Sie ihm, solange er der Pathologie zugeteilt ist, erwarte ich, daß er an allen Kolloquien teilnimmt. Also weiter.«

McNeil balancierte eine Notiztafel auf seinen Knien und war bereit, zu schreiben. Pearson diktierte: »Herz zeigt eine leichte Verdickung und Schrumpfung der mitralen Klappe. Sehen Sie es hier?« Er hob das Organ hoch.

McNeil beugte sich vor. »Ja, ich sehe es«, bestätigte er.

Pearson fuhr fort: »Die Klappenbänder sind verklebt, verkürzt und verdickt.« Beiläufig fügte er hinzu: »Sieht nach einem alten Gelenkrheuma aus. Das war allerdings nicht die Todesursache.«

Er schnitt ein kleines Stück des Gewebes ab und legte es in ein mit einem Schild versehenes Gefäß von der Größe eines Tintenglases. Es sollte später mikroskopisch untersucht werden. Dann schob er mit der Mühelosigkeit langer Übung das übrige Herz genau in ein Loch weiter unten am Tisch. Darunter stand ein Metallkübel. Nach dem Kolloquium wurde er geleert und gesäubert und sein Inhalt in einem Spezialofen zu feiner Asche verbrannt.

Nun nahm Pearson die Lungen. Er öffnete den ersten Lungenflügel wie zwei Seiten eines großen Buches und diktierte McNeil: »Lunge zeigt zahlreiche metastatische Knötchen.« Wieder hielt er das Gewebe hoch, so daß der Assistenzarzt es sehen konnte.

Er hatte sich dem zweiten Lungenflügel zugewandt, als sich hinter ihm eine Tür öffnete.

»Sehr beschäftigt, Dr. Pearson?«

Pearson drehte sich gereizt um. Es war die Stimme von Carl Bannister, dem ersten Laboranten der pathologischen Abteilung. Bannister hatte den Kopf vorsichtig durch die Tür geschoben. Hinter ihm im Gang stand noch jemand.

»Natürlich bin ich beschäftigt. Was wollen Sie?« Es war der Ton, halb drohend, halb vertraulich, den Pearson Bannister gegenüber gewohnheitsmäßig anschlug. Im Laufe der Jahre hatten sich beide daran gewöhnt. Jede etwas freundlichere Note hätte sie wahrscheinlich beide verwirrt.

Bannister blieb ungerührt. Er winkte mit dem Finger nach hinten. »Kommen Sie.« Dann sagte er zu Pearson: »Das ist John Alexander. Sie erinnern sich, der neue Laborant, den Sie in der vorigen Woche angestellt haben. Er beginnt heute mit der Arbeit.«

»Ah ja. Ich vergaß, daß es heute war. Kommen Sie 'rein.« Pearsons Ton war freundlicher als gegenüber Bannister. McNeil dachte, vielleicht will er den Neuen nicht schon am ersten Tag vergraulen.

McNeil musterte den Eintretenden neugierig. Zweiundzwanzig, dachte er. Später erfuhr er, daß er genau richtig geschätzt hatte. Es war ihm bereits bekannt, daß Alexander unmittelbar von einer Fachschule kam, an der er ein Examen als medizinischer Laborant abgelegt hatte. Nun, sie konnten hier so jemand brauchen. Bannister war zweifellos kein Louis Pasteur.

McNeil sah den ersten Laboranten an. Wie üblich kam ihm Bannister wie eine Art Volksausgabe Pearsons vor. Seine untersetzte, füllige Gestalt wurde von einem fleckigen Laborkittel zum Teil verhüllt. Er hatte den Mantel nicht zugeknöpft, sein Anzug darunter war abgetragen und ungebügelt. Bannister war fast kahl, und die wenigen Haare, die er noch besaß, sahen aus, als würden sie nie gepflegt.

Bannisters Lebensgeschichte war McNeil zum Teil bekannt. Er war ein oder zwei Jahre nach Pearson an das Three Counties Hospital gekommen. Er hatte die Oberschule besucht, und Pearson hatte ihn als Mädchen für alles angestellt - um die Bestände zu verwalten, für Botengänge, um die Instrumente zu reinigen. Im Laufe der Jahre hatte Bannister nach und nach in dem Labor eine ganze Menge praktischer Kenntnisse gesammelt und war mehr und mehr Pearsons rechte Hand geworden.

Offiziell arbeitete Bannister in der Serologie und der Biochemie. Aber er war so lange in der Abteilung, daß er als Techniker auch in den anderen Abteilungen des Labors aushelfen konnte und tat es häufig. Deshalb hatte Pearson ihm einen ganzen Teil der Verwaltung des Labors aufgeladen und ihn praktisch zum Vorgesetzten aller Laboranten in der Pathologie gemacht.

McNeil hielt es für wahrscheinlich, daß Bannister in seiner besten Zeit ein guter Laborant gewesen war und es bei einer besseren Ausbildung hätte weiterbringen können. Wie die Dinge aber lagen, hielt er Bannister für einen erfahrenen Praktiker mit geringen theoretischen Kenntnissen. Aus eigener Beobachtung wußte der Assistenzarzt, daß ein großer Teil von Bannisters Arbeiten im Labor vorwiegend auf mechanischer Übung statt auf bewußter Überlegung beruhten. Er konnte zwar serologische und chemische Untersuchungen durchführen, ohne aber die dahinterstehenden wissenschaftlichen Zusammenhänge wirklich zu verstehen. McNeil hatte oft gedacht, daß sich das eines Tages als gefährlich auswirken könne.

Alexander war natürlich ein anderer Fall. Er besaß die Ausbildung der meisten Laboranten heutzutage, mit drei Studienjahren auf dem College, das letzte in einer anerkannten Schule für medizinische Technologen. Der Ausdruck Technologe war manchmal für Leute wie Bannister ein wunder Punkt, die nur die Bezeichnung Techniker anerkannten.

Pearson deutete mit seiner Zigarre auf den freien Hocker neben dem Tisch. »Setzen Sie sich, John.«

»Danke, Doktor«, antwortete Alexander höflich. In seinem fleckenlosen Labormantel, dem frisch geschnittenen Haar, der gebügelten Hose und den geputzten Schuhen bildete er sowohl zu Pearson als auch zu Bannister einen auffälligen Gegensatz.

»Glauben Sie, daß es Ihnen bei uns gefallen wird?« Pearson sah auf die Lunge hinunter, die er immer noch in den Händen hielt, und fuhr mit seiner Untersuchung fort, während er sprach.

»Davon bin ich überzeugt, Doktor.«

Netter Junge, dachte McNeil, seine Antwort klingt aufrichtig.

»Nun, John«, sagte Pearson, »Sie werden feststellen, daß wir bestimmte Arbeitsmethoden haben. Sie mögen nicht immer dem entsprechen, was Sie gelernt haben, aber wir finden, daß sie sich für uns sehr gut eignen.«

»Ich verstehe, Doktor.«

Wirklich, mein Junge, dachte McNeil, verstehst du, was der alte Mann dir damit tatsächlich sagt? Daß er hier keine Veränderungen wünscht und kein Experimentieren mit Ideen, die du in der Schule vielleicht aufgegabelt hast? Daß hier in der Abteilung nichts Neues, aber auch nichts - so geringfügig es immer sei - ohne seine ausdrückliche Zustimmung eingeführt wird?

»Manche Leute werden behaupten, wir hier seien altmodisch«, fuhr Pearson fort. Er war auf seine Weise durchaus freundlich. »Aber wir glauben an erprobte und bewährte Methoden, wie Carl?«

Bannister gab schnell die gewünschte Zustimmung. »Das stimmt, Doktor.«

Pearson war jetzt mit der Lunge fertig und griff wieder in den Eimer - irgendwie war es, als zöge er ein Los bei einer Lotterie und faßte den Magen. Er grunzte und hielt dann einen geöffneten Teil McNeil hin. »Haben Sie das gesehen?«

Der Assistenzarzt nickte. »Ja, ich sah es. Wir haben es im Protokoll angeführt.«

»Gut, gut.« Pearson deutete auf die Notiztafel und diktierte: »Peptisches Ulcus unmittelbar unter dem pylorischen Ring am Zwölffingerdarm. «

Alexander hatte sich leicht vorgebeugt, um besser zu sehen. Pearson bemerkte seine Bewegung und schob ihm das Organ hin. »Interessieren Sie sich für Sektionen, John?«

Respektvoll antwortete Alexander: »Ich habe mich immer für Anatomie interessiert, Doktor.«

»Ebensosehr wie für die Laborarbeit, wie?«

McNeil spürte, daß Pearson angenehm berührt war. Pathologische Anatomie war die große Leidenschaft des alten Mannes.

»Ja, Sir.«

»Nun, dies sind die Organe einer fünfundfünfzigj ährigen Frau.« Pearson blätterte in der Krankengeschichte vor sich. Alexander zeigte gespannte Aufmerksamkeit. »Dieser Fall hatte eine interessante Vorgeschichte. Die Patientin war Witwe. Die unmittelbare Todesursache war ein Brustkrebs. Zwei Jahre vor ihrem Tod erkannten ihre Kinder, daß sie krank war, konnten sie aber nicht überreden, zum Arzt zu gehen. Anscheinend hatte sie ein Vorurteil gegen Ärzte.«

»Das soll es geben«, meinte Bannister. Er stieß ein gequetschtes, hohes Kichern aus, das verstummte, als er Pearsons Blick bemerkte.

»Sparen Sie sich Ihre albernen Bemerkungen, während ich John etwas erkläre. Ihnen könnte es auch nichts schaden.« Jeden außer Bannister hätte Pearsons Zurechtweisung vernichtet. Aber der erste Laborant grinste nur.

»Was geschah dann, Doktor?« fragte Alexander.

»Hier steht: >Tochter erklärt, daß die Angehörigen in den letzten zwei Jahren im Bereich der linken Brust ihrer Mutter Absonderungen bemerkten. Vierzehn Monate vor der Aufnahme ins Krankenhaus bemerkten sie Blutungen an der gleichen Stelle. Sonst schien sie bei guter Gesundheit.««

Pearson blätterte die Seite um. »Dem Anschein nach ging die Frau zu einem Heilkundigen.« Er knurrte grimmig. »Offenbar war ihr Glaube aber nicht fest genug, denn später brachten die Kinder sie hierher ins Krankenhaus.«

»Inzwischen war es vermutlich zu spät?«

Das ist nicht nur Höflichkeit, dachte McNeil. Dieser Alexander ist ernsthaft interessiert.

»Ja«, antwortete Pearson. »Aber wenn die Frau frühzeitig zu einem Arzt gegangen wäre, hätte eine radikale Mastectomie vorgenommen werden können - so bezeichnet man eine Entfernung der Brust.«

»Ja, Sir, ich weiß.«

»In diesem Falle könnte sie noch leben.« Pearson warf den Magen genau durch das Loch.

Eine Frage beschäftigte Alexander noch. »Sagten Sie nicht gerade, daß sie ein Magengeschwür hatte?«

Das war gut, dachte McNeil. Pearson reagierte anscheinend ebenso, denn er wandte sich Bannister zu. »Da haben Sie es, Carl. Hier ist ein Junge, der seine Ohren aufmacht. Wenn Sie sich nicht dranhalten, wird er Ihnen bald etwas beibringen.«

Bannister grinste, aber, wie McNeil schien, etwas mürrisch. Pearsons Worte konnten sich als peinlich wahr erweisen. »Nun, John« - Pearson zeigte sich ungewöhnlich gesprächig -, »mag sein, daß sie Beschwerden hatte. Vielleicht aber auch nicht.«

»Sie meinen, sie hatte es vielleicht nie bemerkt?«

McNeil hielt es für an der Zeit, selbst etwas zu sagen.

»Es ist überraschend«, erklärte er Alexander, »was Leuten alles fehlt, unabhängig von dem, woran sie sterben. Dinge, von denen sie nie etwas erfahren. Sie werden das hier häufig beobachten können.«

»Das stimmt.« Pearson nickte zustimmend. »Wissen Sie, John, das Bemerkenswerte an unserem Organismus ist nicht das, was ihn tötet, sondern das, was an ihm in Unordnung und krank sein kann, und womit wir trotzdem leben.« Er schwieg und wechselte dann unvermittelt das Thema. »Sind Sie verheiratet?«

»Ja, Sir.«

»Ist Ihre Frau hier bei Ihnen?«

»Noch nicht. Sie kommt nächste Woche. Ich hielt es für richtig, erst eine Wohnung für uns zu finden.«

McNeil erinnerte sich, daß Alexander einer der auswärtigen Bewerber um die Stellung am Three Counties Hospital gewesen war. Er glaubte sich zu erinnern, daß er aus Chikago kam.

Alexander zögerte, ehe er hinzufügte: »Ich hätte Sie gern etwas gefragt, Dr. Pearson.«

»Und zwar?« Der alte Mann fragte in zurückhaltendem Ton.

»Meine Frau erwartet ein Baby, Doktor. Und da wir in eine uns fremde Stadt kommen, kennen wir hier niemand.« Alexander machte eine Pause. »Uns bedeutet dieses Kind sehr viel. Wir haben unser erstes verloren, verstehen Sie. Einen Monat nach seiner Geburt.«

»Ich verstehe.« Pearson hatte seine Arbeit unterbrochen und musterte ihn aufmerksam.

»Ich wollte Sie fragen, Doktor, ob Sie uns einen Geburtshelfer empfehlen können, den meine Frau aufsuchen soll.«

»Das ist einfach.« Pearson klang erleichtert. Offensichtlich hatte er sich gefragt, was kommen würde. »Doktor Dornberger ist ein sehr guter Arzt. Er hält auch hier im Krankenhaus Sprechstunde ab. Soll ich ihn anrufen?«

»Wenn es Ihnen keine großen Umstände macht.«

Pearson winkte Bannister. »Stellen Sie fest, ob er da ist.«

Bannister nahm den Hörer von dem Telefon hinter ihnen ab und verlangte die Verbindung. Nach einer Pause sagte er: »Er ist da«, und reichte Pearson den Hörer.

Beide Hände in nassen Handschuhen winkte der alte Mann ärgerlich mit dem Kopf. »Halten Sie ihn mir doch.«

Bannister trat näher und drückte die Hörmuschel gegen Pearsons Ohr.

»Bist du da, Charlie?« dröhnte der Pathologe in das Telefon. »Ich habe eine Patientin für dich.«

In seinem Sprechzimmer, drei Stockwerke höher, lächelte Dr. Charles Dornberger und hielt das Telefon etwas von seinem Ohr ab. Er fragte: »Was kann ein Geburtshelfer schon für deine Patienten tun?« Gleichzeitig ging ihm durch den Kopf, daß ihm dieser Anruf gelegen kam. Seit der Zusammenkunft, die O'Donnell gestern einberufen hatte, dachte Charles Dornberger darüber nach, wie er Joe Pearson den Vorschlag am besten unterbreiten könne. Nun schien sich von selbst eine günstige Gelegenheit zu bieten.

Unten in der Pathologie manövrierte Pearson die Zigarre in einen Mundwinkel. Er unterhielt sich gern mit Dornberger.

»Es ist kein toter Patient, alter Esel, es ist ein lebendiger. Die Frau eines meiner Laboranten - Mrs. John Alexander. Sie sind noch fremd in Burlington und kennen hier niemand.«

Als Pearson den Namen nannte, öffnete Dornberger eine Schublade mit einer Kartei und zog eine Karte heraus.

»Einen Moment.« Er klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und schrieb in seiner feinen Schrift mit der Rechten, während er mit der Linken die Karte hielt: »Alexander, Mrs. John.« Es war typisch für Dornbergers methodische Organisation seiner Praxis, daß dies seine erste Handlung war. Nun sagte er: »Ich werde gern helfen, Joe. Willst du sie veranlassen, daß sie mich anruft, um einen Termin zu vereinbaren?«

»Sehr gut. Irgendwann nächste Woche. Vorher kommt Mrs. Alexander nicht hierher.« Er grinste Alexander an und fügte, immer noch fast schreiend, hinzu: »Und wenn sie Zwillinge wollen, Charlie, dann sorge gefälligst dafür, daß sie die kriegen.«

Pearson lauschte auf Dornbergers Antwort und kicherte. Dann kam ihm noch ein Gedanke. »Und, he, noch was! Keine deiner phantastischen Honorarforderungen. Ich will nicht, daß der Junge von mir Gehaltserhöhung verlangt, damit er deine Rechnung bezahlen kann.«

Dornberger lächelte. Er antwortete: »Keine Sorge.« Auf der Karte vermerkte er »Angestellter des Krankenhauses«. Das war für ihn ein Zeichen, diesem Patienten keine Rechnung zu schicken. In das Telefon sagte er: »Ich möchte dich noch wegen etwas anderem sprechen, Joe. Wann paßt es dir? Ich komme dann zu dir hinunter.«

»Heute geht es nicht mehr«, sagte Pearson. »Ich habe den ganzen Tag zu tun. Wie ist es morgen?«

Dornberger überprüfte seinen eigenen Terminkalender. »Morgen bin ich selbst den ganzen Tag besetzt. Sagen wir übermorgen. Wie ist es um zehn Uhr vormittags? Ich komme in dein Arbeitszimmer.«

»Läßt sich machen, falls du es mir nicht jetzt am Telefon sagen willst.« Pearsons Stimme klang neugierig.

»Nein, Joe«, antwortete Dornberger, »ich komme damit lieber zu dir.«

In der Pathologie antwortete Pearson: »Schön, Charlie, bis dahin denn.«

Ungeduldig winkte er den Hörer fort, und Bannister legte ihn auf die Gabel zurück.

Zu Alexander sagte Pearson: »Alles geregelt. Ihre Frau kommt hier in das Krankenhaus, wenn es soweit ist. Als Angestellter erhalten Sie eine Ermäßigung von zwanzig Prozent.«

Alexander strahlte. McNeil dachte, ja, nur zu, freu dich, mein Junge. Der alte Mann hat gerade seine glückliche Stunde. Aber laß dich nicht täuschen. Es kommen auch noch andere. An denen wirst du keinen Spaß haben.

»Nur einen Augenblick, bitte.« Dornberger lächelte der Lernschwester zu, die in sein Sprechzimmer gekommen war, während er mit Pearson sprach. Er deutete auf den Sessel neben seinem Schreibtisch.

»Danke, Doktor.« Vivian Loburton brachte ein Krankenblatt, um das Dornberger gebeten hatte. Im allgemeinen wurde den Ärzten dieser Dienst nicht erwiesen. Sie mußten selbst zu den Stationen kommen und die Krankengeschichten dort einsehen. Aber Dornberger war bei den Schwestern beliebt; sie erwiesen ihm immer kleine Gefälligkeiten. Und als er ein paar Minuten vorher angerufen hatte, schickte die Stationsschwester Vivian sofort zu ihm.

»Wenn es geht, tue ich immer gern nur eines zur gleichen Zeit.« Dornberger notierte jetzt mit einem Bleistift auf der Karte die wenigen Fakten, die Joe Pearson ihm mitgeteilt hatte. Später, wenn er von der Patientin mehr erfuhr, würde er diese Notizen ausradieren und die Karte mit Tinte ausfüllen. Immer noch schreibend fragte er das Mädchen: »Sie sind neu bei uns, wie?«

»Ziemlich neu, Doktor«, antwortete Vivian. »Ich bin seit vier Monaten in der Schwesternschule.«

Er bemerkte, daß sie eine sanfte, zwitschernde Stimme hatte. Hübsch war sie auch. Er fragte sich, ob schon einer der Praktikanten oder der Assistenzärzte mit ihr angebandelt habe. Oder sollten sich diese Dinge seit seinen eigenen Studienjahren geändert haben? Gelegentlich kam ihm der Verdacht, daß Praktikanten und Assistenten heutzutage zurückhaltender als früher waren. Bedauerlich. Falls es zutraf, ließen sie sich eine Menge entgehen. Laut sagte er: »Das war Dr. Pearson, unser Pathologe. Haben Sie ihn schon kennengelernt?«

»Ja«, sagte Vivian. »Mein Kurs wohnte einer Obduktion bei.«

»Oje, wie.« Er wollte sagen >gefiel<, aber änderte es in: »Wie fanden Sie es?«

Vivian überlegte. »Zunächst war es ein ziemlicher Schock, aber nachher machte es mir nicht so sehr viel aus.«

Er nickte verständnisvoll. Er war mit Schreiben fertig und steckte die Karte fort. Der heutige Tag war ruhiger als üblich gewesen. Er hatte es gern, wenn er eine Arbeit beenden konnte, ehe er sich der nächsten zuwandte. Er streckte die Hand nach der Krankengeschichte aus. »Danke«, und fügte hinzu: »Ich brauche die Papiere nur einen Augenblick, falls Sie warten wollen.«

»Gern, Doktor.« Vivian war es sehr willkommen, daß sie ein paar Minuten länger Ruhe von dem Betrieb auf der Station fand. Sie lehnte sich in dem Sessel zurück. Hier in diesem Zimmer mit der Klimaanlage war es kühl. Im Schwesternheim kannten sie diesen Luxus nicht.

Vivian beobachtete Dr. Dornberger, während er das Krankenblatt studierte. Er ist wahrscheinlich im gleichen Alter wie Dr. Pearson, dachte sie, aber er sieht doch ganz anders aus. Während der Pathologe ein rundes Gesicht mit einem kräftigen Kinn besaß, war Dr. Dornberger hager und eckig. Auch auf andere Weise stand seine Erscheinung mit der Mähne sorgfältig gekämmten und gescheitelten weißen Haares im Gegensatz zu Dr. Pearson. Sie bemerkte, daß seine Hände gepflegt, seine weiße Krankenhausjacke gut gebügelt und fleckenlos war.

Dornberger reichte ihr das Krankenblatt zurück. »Danke«, sagte er. »Es ist sehr freundlich, daß Sie es mir brachten.« Er hat ein gewisses Etwas, dachte Vivian. Sie hatte gehört, daß er bei seinen Patientinnen sehr beliebt sei. Das wunderte sie nicht.

»Ich nehme an, wir werden uns wieder einmal sehen.« Dornberger war aufgestanden und hatte ihr höflich die Tür geöffnet. »Viel Glück bei Ihrem Studium.«

Sie ging hinaus und hinterließ einen leichten Duft, wie Dornberger schien. Nicht zum erstenmal veranlaßte eine Begegnung mit einem jungen Mädchen ihn, über sich nachzudenken. Er kehrte zu seinem Drehstuhl zurück und ließ sich nachdenklich hineinsinken. Fast geistesabwesend zog er seine Pfeife heraus und begann sie zu stopfen.

Seit fast zweiunddreißig Jahren war er jetzt Arzt. In ein oder zwei Wochen würde er sein dreiunddreißigstes beginnen. Es waren ausgefüllte Jahre gewesen, und befriedigende. Finanziell kannte er keine Sorgen. Seine vier eigenen Kinder waren verheiratet, und er und seine Frau konnten bequem von den Einkünften aus seinen wohlüberlegten Anlagen leben. Aber konnte er sich schon zufriedengeben? Sich zur Ruhe setzen und verbauern? Da lag der Haken.

In all seinen Jahren als Arzt war es Charles Dornbergers Stolz gewesen, seine Kenntnisse auf dem neuesten Stand zu halten. Er hatte sich schon vor langer Zeit fest vorgenommen, sich von keinem jungen Neuling weder in der Technik noch im Wissen übertreffen zu lassen. Die Folge war, daß er eifrig gelesen hatte und es immer noch tat. Er war auf viele medizinische Zeitschriften abonniert, die er gründlich studierte und für die er selbst manchmal Beiträge schrieb. Er war ein regelmäßiger Teilnehmer an medizinischen Tagungen und verfolgte gewissenhaft die meisten Fachkongresse. Schon früh in seiner Laufbahn, lange ehe die gegenwärtigen Spezialgebiete in der Medizin voneinander abgegrenzt worden waren, sah er die Notwendigkeit der Spezialisierung voraus. Er hatte sich für Geburtshilfe und Gynäkologie entschieden, eine Wahl, die er nie bedauerte und von der er oft empfand, daß sie dazu beigetragen habe, ihn jung und seinen Verstand aufnahmefähig zu erhalten.

Aus diesem Grunde war Dornberger in der Mitte der dreißiger Jahre, als in Amerika die Spezialistenverbände gegründet wurden, bereits als Facharzt für sein Arbeitsgebiet anerkannt und wurde infolgedessen unter der sogenannten >Großvaterklausel< ohne Prüfung in den Fachverband aufgenommen. Darauf war er immer ehrlich stolz. Wenn es eine Wirkung auf ihn gehabt hatte, dann nur die, daß er sich noch gründlicher bemühte, mit den jüngsten Entwicklungen Schritt zu halten.

Und dennoch hatte er nie eine Abneigung gegen jüngere Männer empfunden. Wenn er der Ansicht war, sie seien gut und gewissenhaft, hatte er alles getan, um ihnen zu helfen und zu raten. Er bewunderte und respektierte ODonnell. Er hielt die Berufung des jungen Chefs der Chirurgie für eines der besten Dinge, die dem Three Counties Hospital je widerfahren waren. Mit den Veränderungen und Fortschritten, die O'Donnell in das Krankenhaus gebracht hatte, war auch seine eigene Arbeitsfreude gestiegen.

Er hatte viele Freunde gefunden, einige unter seinen unmittelbaren Kollegen, andere an den unwahrscheinlichsten Stellen. Joe Pearson konnte einer der Unwahrscheinlichen genannt werden. Beruflich gesehen, betrachteten die beiden Männer vieles von ganz verschiedenen Standpunkten. Dornberger wußte beispielsweise, daß Joe in der letzten Zeit nicht viel las. Er hatte den Verdacht, daß der alte Pathologe auf ein paar Wissensgebieten zurückgeblieben war, und in der Leitung seiner Abteilung stand manches problematisch, wie sich auf der gestrigen Besprechung gezeigt hatte. Und trotzdem, im Laufe der Jahre hatte sich zwischen den beiden Männern ein festes Band gebildet. Zu seiner Überraschung entdeckte er, daß er sich manchmal auf den Sitzungen des medizinischen Ausschusses auf Joe Pearsons Seite stellte und auch im privaten Gespräch den Pathologen gelegentlich verteidigte.

Dornbergers Bemerkungen auf der Sterblichkeitskonferenz vor zehn Tagen lagen auf dieser Linie. Er vermutete, daß andere die Verbindung zwischen ihm und Joe kannten. Was hatte Gill Bartlett gesagt? »Sie sind ja sein Freund. Und außerdem: die Geburtshelfer verfolgt er nicht mit seiner Blutrache.« Bis zu diesem Augenblick war ihm diese Bemerkung entfallen, aber jetzt erinnerte er sich an den erbitterten Ton und bedauerte ihn. Bartlett war ein guter Arzt, und Dornberger nahm sich vor, bei der nächsten Begegnung besonders herzlich zu ihm zu sein.

Aber vor ihm lag immer noch sein eigenes Problem. Sich zurückziehen oder nicht? Und falls er sich zurückzog, wann?

Erst kürzlich hatte er trotz der sorgfältigen Überwachung seines Gesundheitszustandes festgestellt, daß er leicht ermüdete. Und obwohl in seinem ganzen Leben Nachtbesuche eine Selbstverständlichkeit gewesen waren, schienen sie ihm seit kurzem schwerer zu fallen. Gestern hatte er beim Essen gehört, wie Kersh, der Dermatologe, zu einem neuen Praktikanten sagte: »Sie sollten sich auch auf die Haut spezialisieren, mein Sohn. Ich bin seit fünfzehn Jahren nachts nicht mehr aus dem Bett geholt worden.« Dornberger hatte mit den übrigen gelacht, aber insgeheim einen leichten Neid empfunden.

Von einem war er allerdings überzeugt: Er würde nicht weitermachen, sobald er feststellte, daß er nachließ. Im Augenblick war er so gut wie immer, das wußte er. Sein Kopf war klar, seine Hand sicher, die Augen scharf. Er beobachtete sich selbst immer sorgfältig, weil er wußte, daß er bei dem ersten Anzeichen eines Versagens nicht zögern würde; er würde seinen Schreibtisch ausräumen und gehen. Zu oft hatte er gesehen, wie andere versuchten, zu lange bei der Stange zu bleiben. Das würde er nie tun.

Aber im Augenblick? Nun, er würde alles drei Monate weiterlaufen lassen und dann wieder darüber nachdenken.

Inzwischen hatte er den Tabak fest in seine Pfeife gestopft und griff jetzt nach den Streichhölzern. Er war im Begriff, eines anzureißen, als das Telefon klingelte. Er legte Pfeife und Streichhölzer hin und antwortete: »Hier Dr. Dornberger.«

Es war eine seiner Patientinnen. Vor einer Stunde hatten die Wehen bei ihr eingesetzt. Jetzt war die Fruchtblase geplatzt, und sie hatte Wasser verloren. Sie war eine junge Frau Anfang Zwanzig und bekam ihr erstes Kind. Sie klang atemlos, als ob sie nervös sei und ihre Unruhe zu unterdrücken versuche. Wie schon so viele Male gab Dornberger seine Anweisungen mit ruhiger Stimme. »Ist Ihr Mann im Hause?«

»Ja, Doktor.«

»Dann packen Sie Ihre Sachen zusammen, und lassen Sie sich von ihm ins Krankenhaus bringen. Ich komme zu Ihnen, sobald Sie hier sind.«

»Ja, Doktor.«

»Sagen Sie Ihrem Mann, er soll vorsichtig fahren und vor jedem roten Licht halten. Wir haben noch viel Zeit. Sie werden es sehen.«

Selbst durch das Telefon konnte er spüren, daß es ihm gelungen war, sie zu beruhigen. Das gehörte zu den Dingen, die er oft tat, und er betrachtete es ebensosehr als einen Teil seiner Aufgabe, wie jede medizinische Maßnahme. Aber er spürte, wie sich seine Sinne unwillkürlich schärften. Jeder neue Fall übte diese Wirkung auf ihn aus. Logischerweise, dachte er, hätte ich dieses Gefühl schon lange verlieren müssen. Wenn man in der Medizin über lange Erfahrung verfugte, wurde von einem erwartet, daß man abgehärtet, mechanisch und unsentimental war. Das hatte auf ihn allerdings nie zugetroffen - vielleicht deshalb, weil er immer noch das tat, was er am meisten liebte.

Er griff nach der Pfeife, ließ sie dann liegen und nahm das Telefon ab. Er mußte seiner Station mitteilen, daß sich eine neue Patientin auf dem Weg ins Krankenhaus befand.

VIII

»Ich bin nicht einmal überzeugt, daß der Kampf gegen die Kinderlähmung gut oder notwendig ist.«

Der Sprecher war Eustace Swayne, der Gründer eines Warenhauskonzerns, steinreicher Philanthrop und Mitglied des Verwaltungsausschusses des Three Counties Hospitals. Der Ort war die düstere, eichengetäfelte Bibliothek in Swaynes altem, aber imposantem Haus, das für sich abgesondert in einem fünfzig Morgen großen Park am östlichen Stadtrand Burlingtons stand.

»Aber, aber! Das können Sie nicht ernst meinen«, entgegnete Orden Brown leichthin. Der Vorsitzende des Krankenhausausschusses lächelte den beiden Frauen in dem Raum zu; seiner eigenen Frau Amelia und Swaynes Tochter Denise Quantz.

Kent O'Donnell nahm einen kleinen Schluck von dem Kognak, den der lautlose Diener ihm gebracht hatte, und lehnte sich in dem tiefen Ledersessel zurück, in dem er Platz genommen hatte, als er nach dem Abendessen mit den anderen den Raum betrat. Ihm ging durch den Kopf, daß sie ein fast mittelalterliches Bild boten. Er sah sich in der gedämpft beleuchteten Bibliothek um, ließ seine Blicke über die Reihen ledergebundener Bücher schweifen, die sich bis unter die hohe, getäfelte Decke erstreckten, über die dunklen, schweren Eichenmöbel, über den großen, höhlenartigen Kamin, in dem Kloben für ein Feuer aufgeschichtet waren - sie brannten jetzt, an diesem warmen Juliabend, nicht, lagen aber bereit, jederzeit aufzuflammen, sobald ein Diener ein Streichholz daran hielt. O'Donnell gegenüber thronte Eustace Swayne wie ein König auf einem gradlehnigen, steifen, gepolsterten Lehnstuhl, während die anderen vier fast wie Höflinge einen Halbkreis vor dem alten Finanzhai bildeten.

»Das meine ich durchaus ernst.« Swayne stellte sein Kognakglas hin und beugte sich bei seinen nächsten Worten vor. »Ja, ich gebe zu, wenn man mir ein Kind mit geschienten Beinen zeigt, jammere ich wie alle anderen auch und greife nach meinem Scheckbuch. Aber ich spreche von dem großen Ganzen. Tatsache ist - und ich fordere jeden auf, mir zu widersprechen -, daß wir uns die größte Mühe geben, die menschliche Rasse zu verweichlichen.«

Das war ein bekanntes Argument. Höflich entgegnete O'Donnell: »Wollen Sie vorschlagen, daß wir die medizinische Forschung aufgeben, uns mit unseren gegenwärtigen medizinischen Kenntnissen und Techniken begnügen und nicht versuchen sollen, weitere Krankheiten zu besiegen?«

»Das könnte man gar nicht«, erwiderte Swayne. »Das können Sie so wenig, wie die Schweine von Gadara davon abzuhalten waren, sich von den Klippen zu stürzen.«

O'Donnell lachte. »Ich weiß nicht recht, ob mir dieses Bild gefällt. Aber wenn es so ist, wozu dann dagegen argumentieren?«

»Warum?« Swayne schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Weil man immer noch etwas beklagen kann, selbst wenn man es auch mit aller Gewalt nicht ändern kann.«

»Ich verstehe.« O'Donnell war sich nicht sicher, ob ihm diese Diskussion sehr zusagte und er sie weiterführen sollte. Außerdem mochte sie nicht dazu beitragen, sein oder Orden Browns Verhältnis zu Swayne zu verbessern, was doch der wirkliche Grund seines Hierseins war. Er sah die anderen im Zimmer an. Amelia Brown, die er bei seinen Besuchen im Hause des Vorsitzenden recht gut kennenge lernt hatte, begegnete seinem Blick und lächelte. Als eine Frau, die an dem Leben ihres Mannes regen Anteil nahm, war sie über die Krankenhauspolitik gut informiert.

Swaynes verheiratete Tochter, Denise Quantz, hatte sich vorgebeugt und hörte gespannt zu.

Bei dem Essen hatte O'Donnell sich verschiedentlich dabei ertappt, daß seine Blicke fast gegen seinen Willen auf Mrs. Quantz gerichtet waren. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sie die Tochter des schroffen, harten Mannes war, der am Kopfende des Tisches saß. Mit achtundsiebzig zeigte Eustace Swayne immer noch viel von der Zähigkeit, die er im Mahlstrom des Wettbewerbs zwischen den großen Einzelhandelsunternehmen erworben hatte. Manchmal nutzte er den Vorteil seines Alters aus, um seinen Gästen spitzige Bemerkungen hinzuwerfen, obwohl O'Donnell den Verdacht hegte, daß ihr Gastgeber in den meisten Fällen damit eine Diskussion herausfordern wollte. O'Donnell überraschte sich bei dem Gedanken, der alte Mann liebe immer noch den Kampf, selbst wenn er nur mit Worten geführt wird. Ebenso spürte er jetzt instinktiv, daß Swayne seine Ansichten über die Medizin bewußt überspitzt formulierte, wenn im Augenblick vielleicht auch nur, um hart und unabhängig zu erscheinen. Während ODonnell den alten Mann beobachtete, kam er auf die Vermutung, daß Gicht und Rheumatismus dabei eine Rolle spielen mochten.

Im Gegensatz zu ihrem Vater gab sich Denise Quantz sanft und freundlich. Sie hatte die Gabe, den Bemerkungen ihres Vaters die Schärfe zu nehmen, indem sie ein oder zwei Worte zu dem, was er sagte, hinzufügte. Sie ist zweifellos schön, dachte O'Donnell, sie hat die seltene reife Anmut, die Frauen um vierzig manchmal besitzen. Er erriet, daß sie bei Eustace Swayne zu Besuch war und recht häufig nach Burlington kam, wahrscheinlich um über ihren Vater zu wachen. Er wußte, daß Swaynes Frau vor vielen Jahren gestorben war. Aus der Unterhaltung wurde allerdings erkennbar, daß Denise Quantz meistens in New York lebte. Ein paarmal wurden Kinder erwähnt, aber mit keinem Wort ihr Mann. Er gewann den Eindruck, daß sie entweder von ihm getrennt lebte oder geschieden war. O'Donnell überraschte sich dabei, daß er Denise Quantz mit Lucy Grainger verglich. Zwischen diesen beiden Frauen liegt eine Welt, dachte er. Lucy Grainger, die in ihrem Beruf aufging, ihr medizinisches Fachgebiet beherrschte und sich im Krankenhaus sicher bewegte, die in der Lage war, ihm auf dem ihnen beiden vertrauten Gebiet gegenüberzutreten. Und dagegen Denise Quantz, eine Frau, die Zeit hatte und unabhängig war, die zweifellos in der Gesellschaft eine Rolle spielte und die dennoch - so empfand er ein Mensch war, der ein Heim mit Wärme und Heiterkeit erfüllen konnte. O'Donnell fragte sich, welche Art Frau für einen Mann besser sei: eine, die seiner Arbeit nahestand, oder eine andere unabhängige und gelöste, mit Interessen, die über seinen Alltag hinausgingen.

Seine Gedanken wurden von Denise unterbrochen. Zu ihm vorgebeugt sagte sie: »Sie werden es doch sicher nicht so schnell aufgeben, Dr. O'Donnell. Bitte lassen Sie das meinem Vater nicht durchgehen.«

Der alte Mann grollte: »Da gibt es nichts durchgehen zu lassen. Die Situation ist völlig klar. Jahrhundertelang hielt die Natur die Bevölkerung im Gleichgewicht. Wenn die Geburtsraten zu schnell anstiegen, sorgten Hungersnöte für den Ausgleich.«

Orden Brown warf ein: »Aber zum Teil wirkten dabei politische Gründe mit. Es war nicht immer nur die Natur.«

»Das will ich Ihnen in manchen Fällen zugestehen«, erwiderte Eustace Swayne mit einer lebhaften Handbewegung. »Aber die Ausmerzung der Schwachen hat nichts mit Politik zu tun.«

»Meinen Sie die Schwachen oder die Unglücklichen?« fragte O'Donnell. Schön, dachte er dabei, wenn Sie Gegenargumente hören wollen, sollen Sie sie haben.

»Ich meine, was ich sage - die Schwachen.« Die Stimme des alten Mannes hatte einen schärferen Ton, aber O'Donnell spürte, daß er an der Auseinandersetzung Vergnügen empfand. »Wenn die Pest oder eine Seuche auftrat, waren es die Schwachen, die zugrunde gingen, und die Starken überlebten. Andere Krankheiten bewirkten das gleiche. Es wurde eine Norm aufrechterhalten - die Norm der Natur. Und deshalb waren es die Starken, die stets überlebten. Sie waren es, die die nächste Generation zeugten.«

»Glauben Sie wirklich, Eustace, daß die Menschheit heute so degeneriert ist?« Amelia Brown stellte diese Frage, und O'Donnell sah, daß sie lächelte. Sie weiß, daß Swayne diesen Wortstreit genießt, dachte er.

»Wir nähern uns der Degeneration«, antwortete der alte Mann, »zumindest in der westlichen Welt. Wir erhalten die Krüppel, die Schwächlinge, die von Krankheit Geschlagenen. Wir bürden der Gesellschaft Lasten auf, nichtproduzierende Geschöpfe - die Unfähigen, die nicht in der Lage sind, zum Allgemeinwohl beizutragen. Sagen Sie mir doch, welchem Zweck ein Sanatorium oder ein Heim für unheilbare Kranke dient? Ich sage Ihnen, die Medizin erhält heute Menschen, die man sterben lassen sollte. Aber wir helfen ihnen statt dessen, weiterzuleben, lassen sie Nachkommen haben und sich vermehren und ihre Nutzlosigkeit an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben.«

O'Donnell hielt ihm vor: »Die Beziehungen zwischen Krankheit und Vererbung sind bei weitem noch nicht geklärt.«

»Stärke liegt sowohl im Verstand als auch im Körper«, erwiderte Eustace Swayne heftig. »Erben Kinder nicht die geistigen Merkmale ihrer Eltern - samt ihren Schwächen?«

»Nicht immer.« Jetzt wurde die Diskussion zwischen dem alten Mann und O' Donnell geführt. Die anderen lehnten sich zurück und hörten zu.

»Aber doch sehr häufig. Oder etwa nicht?«

O'Donnell lächelte. »Gewisse Anzeichen sprechen dafür, ja.«

Swayne schnaufte verächtlich. »Das ist einer der Gründe, weshalb wir so viele Irrenhäuser haben. Und Patienten darin. Und Leute, die zum Psychiater laufen.«

»Der Grund dafür kann auch darin liegen, daß wir uns der geistigen Gesundheit bewußter geworden sind.«

Swayne imitierte ihn: »Der Grund kann auch darin liegen, daß wir mehr Menschen in die Welt setzen, die schwach sind. Schwach! Schwach! Schwach!«

Der alte Mann hatte die letzten Worte fast geschrien. Jetzt überkam ihn ein Hustenanfall. Es ist wohl besser, wenn ich vorsichtig bin, dachte O'Donnell, wahrscheinlich hat er einen hohen Blutdruck.

Eustace Swayne starrte ihn an, als ob er die Worte laut ausgesprochen hätte. Der alte Mann nahm ein Schlückchen von seinem Kognak. Dann sagte er fast boshaft: »Schonen Sie mich nicht, mein junger ärztlicher Freund. Ich werde mit allen Ihren Argumenten fertig, und noch mehr.«

O'Donnell entschloß sich, die Diskussion weiterzuführen, aber gemäßigter. Ruhig und gelassen entgegnete er: »Ich glaube, daß Sie eines übersehen, Mr. Swayne. Sie sagen, daß Krankheit und Gebrechen ausgleichende Kräfte der Natur sind. Aber viele dieser Leiden sind nicht durch die natürliche Entwicklung, durch die Natur über uns gekommen. Sie sind Ergebnisse der Umgebung des Menschen, der Bedingungen, die er geschaffen hat: schlechte Gesundheitspflege, mangelnde Hygiene, Elendsviertel, verpestete Luft. Das alles sind keine natürlichen Erscheinungen. Es sind Schöpfungen des Menschen.«

»Sie sind ein Teil der Entwicklung, und die Entwicklung ist ein Teil der Natur. Alles zusammen schafft den Ausgleichsprozeß.«

Bewundernd dachte O'Donnell, man kann den alten Burschen nicht leicht erschüttern. Aber er erkannte den schwachen Punkt in dessen Beweisführung. Er antwortete: »Wenn Sie recht haben, dann ist die Medizin auch ein Teil des Ausgleichsprozesses.«

Swayne schnappte zurück: »Wie wollen Sie das begründen?«

»Weil die Medizin ein Teil der Entwicklung ist.« Trotz seiner guten Vorsätze spürte O'Donnell seinen Ton schärfer werden. »Weil jede Veränderung in der Umgebung, die der Mensch herbeiführte, neue Probleme schuf, denen die Medizin gegenübertreten und die sie zu lösen versuchen muß. Wir lösen sie niemals vollständig. Die Medizin hinkt immer etwas hinterher. Und wenn wir ein Problem gelöst haben, ist inzwischen ein neues aufgetaucht.«

»Aber das sind Probleme der Medizin, nicht der Natur.« Swaynes Augen hatten einen bösartigen Schimmer angenommen. »Wenn man die Natur sich selbst überließe, würde sie ihre Probleme lösen, ehe sie entstehen. Durch die natürliche Auswahl der Stärksten.«

»Sie irren sich, und ich will Ihnen sagen, warum.« O'Donnell kümmerte sich nicht mehr um die Wirkung seiner Worte. Er empfand, daß hier ein Punkt lag, den er aussprechen mußte, für sich selbst sosehr wie für die anderen. »Die Medizin kennt nur ein wirkliches Problem. Es war immer das gleiche und wird immer das gleiche bleiben. Es ist das Problem des Überlebens des einzelnen Individuums.« Er machte eine Pause. »Und Überleben ist das älteste Naturgesetz.«

»Bravo!« Impulsiv klatschte Amelia Brown die Hände zusammen. Aber O'Donnell war noch nicht ganz zu Ende.

»Deshalb bekämpfen wir die Kinderlähmung, Mr. Swayne, und deshalb bekämpften wir die schwarze Pest und die Pocken und den Typhus und die Syphilis. Und deshalb bekämpfen wir immer noch den Krebs und die Tuberkulose und alles andere. Das ist der Grund, weshalb wir die Heime haben, von denen Sie sprachen - die Sanatorien, die Pflegestätten für Unheilbare. Das ist der Grund, warum wir Menschenleben erhalten - alle Menschenleben, die wir erhalten können, die der Schwachen so gut wie die der Starken. Weil hinter all dem ein Nenner steht: Überleben! Das ist das Gesetz der Medizin, das einzige, das sie überhaupt haben kann.«

Einen Augenblick erwartete er, Swayne würde wie zuvor zurückschlagen. Aber der alte Mann verharrte schweigend. Dann sah er zu seiner Tochter hinüber. »Gieße Dr. O' Donnell noch etwas Kognak ein, Denise.«

O'Donnell hielt ihr sein Glas hin, als sie mit der Karaffe vor ihn trat. Ihr Kleid rauschte leise, und als sie sich zu ihm beugte, nahm er den schwachen, anregenden Duft ihres Parfüms wahr. Einen Augenblick empfand er den absurden, jugendlichen Impuls, seine Hand auszustrecken und über ihr weiches, dunkles Haar zu streichen. Er unterdrückte ihn, und sie ging zu ihrem Vater hinüber.

Während sie das Glas des alten Mannes füllte, sagte sie: »Wenn du wirklich der Ansicht bist, die du gerade ausgesprochen hast, Vater, was hast du dann im Krankenhausausschuß zu suchen?«

Eustace Swayne lachte verhalten. »Hauptsächlich bin ich noch darin, weil Orden und ein paar andere hoffen, daß ich mein Testament nicht mehr ändere.« Er sah zu Orden Brown hinüber. »Sie rechnen auf jeden Fall damit, daß sie nicht mehr lange zu warten brauchen.«

»Sie tun Ihren Freunden unrecht, Eustace«, sagte Brown. Sein Ton wies die richtige Mischung von Scherz und Ernst auf.

»Und Sie sind ein Schwindler.« Der alte Mann war wieder in guter Stimmung. Er fuhr fort: »Du hast mich etwas gefragt, Denise. Nun, ich will dir antworten. Ich bin im Krankenhausausschuß, weil ich ein praktischer Mann bin. Die Welt ist so wie sie ist, und ich kann sie nicht ändern, obwohl ich sehe, was falsch daran ist. Aber was jemand wie ich tun kann ist, als ausgleichende Kraft wirken. Oh, ich weiß genau, wofür manche mich halten: Für einen Obstruktionisten.«

Orden Brown hielt ihm schnell entgegen: »Hat das jemals einer gesagt?«

»Das brauchen Sie nicht.« Swayne warf dem Ausschußvorsitzenden einen halb amüsierten, halb boshaften Blick zu. »Aber bei jeder Tätigkeit ist irgendwo eine Bremse erforderlich. Das bin ich gewesen - eine Bremse, eine stabilisierende Kraft. Und wenn ich nicht mehr da bin, werden Sie und Ihre Freunde vielleicht merken, daß Sie eine neue brauchen.«

»Sie reden Unsinn, Eustace, und Sie sind gegenüber Ihren eigenen Motiven ungerecht.« Orden Brown hatte sich offensichtlich entschlossen, ebenso offen zu sprechen. Er fuhr fort: »Sie haben in Burlington ebensoviel Gutes getan wie jeder andere, den ich kenne.«

Der alte Mann schien in seinem Sessel zusammenzusinken. Er murmelte: »Wer von uns kennt seine eigenen Motive wirklich?« Dann blickte er auf. »Ich nehme an, daß Sie von mir einen großen Beitrag für den neuen Erweiterungsbau erwarten.«

Orden Brown antwortete verbindlich: »Offen gesagt, hoffen wir, daß Sie es für richtig halten werden, Ihren im allgemeinen großzügigen Beitrag zu spenden.«

Leise sagte Eustace Swayne unerwartet: »Vermutlich dürften Sie eine Viertelmillion Dollars für angemessen halten.«

O'Donnell hörte, wie Orden Brown rasch einatmete. Eine derartige Spende war sehr freigebig, viel höher, als sie selbst in ihren optimistischsten Stunden erwartet hatten.

Brown erwiderte: »Ich kann mich nicht verstellen, Eustace. Ehrlich gesagt, ich bin überwältigt.«

»Dazu besteht kein Grund.« Der alte Mann machte eine Pause und drehte sein Glas am Stiel zwischen den Fingern. »Ich habe mich allerdings noch nicht entschlossen; ich erwäge es noch. In ein bis zwei Wochen werde ich es Ihnen mitteilen.« Unvermittelt wandte er sich an O'Donnell: »Spielen Sie Schach?«

O'Donnell schüttelte den Kopf. »Seit dem College nicht mehr.«

»Dr. Pearson und ich spielen oft zusammen Schach.« Er sah O'Donnell gerade an. »Sie kennen Joe Pearson natürlich.«

»Ja, sehr gut.«

»Ich kenne Dr. Pearson seit vielen Jahren«, sagte Swayne. »Im Three Counties Hospital und außerhalb.« Die Worte wurden langsam und überlegt ausgesprochen. Trugen sie einen warnenden Unterton? Es war schwer zu erkennen.

Swayne fuhr fort: »Meiner Meinung nach ist Dr. Pearson einer der qualifiziertesten Ärzte des Krankenhauses. Ich hoffe, daß er noch viele Jahre lang die Leitung seiner Abteilung beibehält. Ich achte seine Fähigkeiten und sein Urteil im höchsten Grad.«

Nun, das ist es, dachte O'Donnell. Jetzt liegt es offen und in klaren Worten vor. Ein Ultimatum an den Vorsitzenden des Krankenhausausschusses und an den Präsidenten des medizinischen Ausschusses. Eustace Swaynes Worte waren gleichbedeutend mit: Wenn Ihr meine Viertelmillion Dollars wollt - Hände weg von Joe Pearson!

Später fuhren Orden Brown, Amelia und O'Donnell gemeinsam auf dem Vordersitz von Browns Lincoln Cabriolet durch die Stadt zurück. Zunächst schwiegen sie. Dann sagte Amelia: »Glaubst du es wirklich? Eine Viertelmillion?«

Ihr Mann antwortete: »Es ist ihm zuzutrauen, daß er sie gibt, wenn er die Laune danach hat.«

O'Donnell fragte: »Haben Sie ihn verstanden?«

»Ja.« Browns Antwort kam ruhig und ohne Beschönigung und ohne, daß er versuchte, weiter über das Thema zu reden. O'Donnell dachte, dafür danke ich Ihnen. Er wußte, daß er sich mit diesem Problem herumschlagen mußte, nicht der Vorsitzende.

Vor dem Eingang seines Appartement-Hotels setzten sie ihn ab. Als Amelia ihm gute Nacht sagte, fügte sie noch hinzu: »Oh, übrigens, Kent, Denise lebt von ihrem Mann getrennt, ist aber nicht geschieden. Ich glaube, da liegen irgendwelche Schwierigkeiten, obwohl wir nie darüber gesprochen haben. Sie hat zwei Kinder auf der Oberschule. Und sie ist neununddreißig Jahre alt.«

»Warum erzählst du ihm das alles?« fragte Orden Brown.

Amelia lächelte. »Weil er es wissen möchte.« Sie legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes. »Aus dir könnte man nie eine Frau machen, mein Lieber. Nicht mal durch eine Operation.«

Während O'Donnell dem Lincoln nachblickte, fragte er sich, wieso sie das wissen konnte. Vielleicht hatte sie gehört, wie er sich von Denise Quantz verabschiedete. Höflich hatte er gesagt, er hoffe, sie wiederzusehen, und sie hatte geantwortet: »Ich lebe mit meinen Kindern in New York. Warum besuchen Sie mich nicht, wenn Sie das nächste Mal dort sind?« Jetzt fragte sich O'Donnell, ob er nicht doch an dem Chirurgenkongreß in New York teilnehmen solle, obwohl er sich in der vergangenen Woche entschlossen hatte, nicht hinzufahren. Plötzlich wandten sich seine Gedanken Lucy Grainger zu, und völlig widersinnig hatte er einen Augenblick das Gefühl, ihr gegenüber treulos zu sein. Während er über den Bürgersteig zum Hauseingang ging, wurde er durch eine Stimme aus seinen Gedanken aufgeschreckt: »Guten Abend, Dr. O'Donnell.«

Er drehte sich um und erkannte einen der chirurgischen Assistenzärzte: Seddons. Er hatte ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen bei sich, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Wahrscheinlich eine der Lernschwestern, dachte O'Donnell. Sie schien in dem Alter zu sein. Er lächelte beiden zu und antwortete: »Guten Abend.« Dann öffnete er mit dem Schlüssel die Glastür und ging durch die Halle zum Fahrstuhl.

»Er sieht aus, als ob er Sorgen habe«, meinte Vivian.

Seddons antwortete unbekümmert: »Das bezweifle ich, mein kluges Kind. Wenn man es so weit gebracht hat wie er, hat man die meisten Sorgen hinter sich.«

Das Theater war zu Ende, und sie befanden sich auf dem Rückweg zum Three Counties Hospital. Es war eine hübsche Aufführung gewesen, ein freimütiges, ausgelassenes Musical, in dem sie viel gelacht und sich an den Händen gehalten hatten.

Ein paarmal hatte Mike seinen Arm über die Rücklehne von Vivians Platz gelegt, ihn leicht auf ihren Nacken gesenkt und mit den Fingerspitzen ihre Schulter berührt. Mit keiner Bewegung hatte sie erkennen lassen, daß es ihr unangenehm war.

Während des Abendessens vor dem Theater hatten sie über sich selbst gesprochen. Vivian fragte Mike über seine Absichten aus, sich auf die Chirurgie zu spezialisieren, und er fragte sie, weshalb sie Krankenschwester werden wolle. »Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann, Mike«, antwortete sie, »aber seit ich mich erinnern kann, interessiere ich mich für Krankenpflege, und ich will Schwester werden.« Sie erzählte ihm, daß ihre Eltern sich ihrer Absicht zunächst widersetzt, aber als sie dann erkannten, wie fest entschlossen sie war, nachgegeben hatten. »Ich glaube, der wirkliche Grund war, daß ich selbst etwas leisten wollte, und Krankenpflege zog mich am meisten an.«

»Und ist das noch so?« fragte Seddons.

»Aber ja«, antwortete sie. »Gewiß fragt man sich hin und wieder, manchmal, wenn man müde ist und wenn man das alles im Krankenhaus sieht und an zu Hause denkt, ob es sich wirklich lohnt, ob es nicht etwas Leichteres gibt. Doch das geht wohl jedem so. Trotzdem, meistens bin ich meiner Sache ganz sicher.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Ich bin eine sehr entschlossene Person und habe mich wirklich entschlossen, Krankenschwester zu werden.«

Ja, dachte er, du weißt, was du willst, das glaube ich auch. Während sie sich unterhielten und er Vivian verstohlen beobachtete, spürte er ihre innere Stärke, ihre Charakterfestigkeit unter der Oberfläche, die zunächst nur weibliche Sanftheit erkennen ließ. Wie schon vor ein oder zwei Tagen empfand Mike Seddons, daß sein Interesse für Vivian wuchs, aber wieder hielt er sich warnend vor: Keine Bindungen! Vergiß nicht: alles, was du fühlst, ist im Grunde biologisch bedingt.

Jetzt war es kurz vor Mitternacht, aber Vivian hatte sich verlängerten Ausgang geben lassen, und es bestand für sie kein Grund, sich zu beeilen. Manche der älteren Pflegerinnen, die ihre Ausbildung unter einem streng spartanischen Regiment erhalten hatten, waren der Meinung, den Lernschwestern würden heutzutage zu viele Freiheiten eingeräumt. Aber praktisch wurden sie selten mißbraucht.

Mike faßte sie am Arm. »Wollen wir durch den Park gehen?«

Vivian lachte. »Das ist ein alter Vorschlag, den ich schon oft gehört habe.« Sie widersetzte sich aber nicht, als er sie durch ein Tor in den Park führte. In der Dunkelheit erkannte sie Pappelreihen zu beiden Seiten und spürte weiches Gras unter ihren Füßen.

»Ich habe ein ganzes Repertoire alter Vorschläge. Sie sind meine Spezialität.« Er ergriff sie an der Hand. »Wollen Sie noch einen kennenlernen?«

»Welchen zum Beispiel?« Trotz ihrer Selbstsicherheit zitterte ihre Stimme leicht.

»Den zum Beispiel.« Mike blieb stehen, legte einen Arm um ihre Schultern und hob ihr Gesicht zu sich auf. Dann küßte er sie mitten auf die Lippen.

Vivian spürte, wie ihr Herz schneller schlug, aber nicht so stark, daß sie die Situation nicht noch klar beurteilen konnte. Sollte sie sofort die Grenze ziehen oder ihn gewähren lassen?

Sie war sich durchaus bewußt, daß es später nicht mehr so leicht sein mochte, wenn sie jetzt nichts unternahm.

Vivian wußte schon, daß sie Mike Seddons gern hatte und glaubte, daß sie ihn bald noch viel lieber haben würde. Er war körperlich anziehend, und sie waren beide jung. Sie spürte, wie ihre Sinne sich begehrlich regten. Sie küßten sich wieder, und sie erwiderte den Druck seiner Lippen. Die Spitze seiner Zunge schob sich leicht zwischen ihre Lippen. Sie begegnete ihr mit der eigenen, und die Berührung versetzte sie in Verzückung. Mike schloß seine Arme enger um sie, und durch ihr dünnes Sommerkleid spürte sie den festen Druck seiner Oberschenkel. Seine Hände strichen ihr über den Rücken. Die rechte glitt tiefer, streichelte sanft über ihren Rock, dann immer kräftiger, zog sie mit jedem Streicheln fester an sich. Sie wußte deutlich, wie durch ein zweites Ich, daß jetzt der Augenblick gekommen war, sich loszureißen, falls sie noch zurück wollte. Nur einen Augenblick noch, dachte sie, nur einen einzigen Augenblick länger.

Dann schien ihr plötzlich, als ob das ein Zwischenspiel sei, ein Sichloslösen von allem anderen um sie herum. Mit geschlossenen Augen kostete sie die Sekunden der Wärme und Weichheit aus. In den letzten Monaten waren sie so selten gewesen. Seit sie ins Three Counties Hospital gekommen war, hatte sie so häufig Selbstbeherrschung und Selbstzucht üben müssen, ihre Gefühle unterdrückt, ihre Tränen zurückgedrängt. Wenn man jung und unerfahren und ein bißchen verängstigt ist, fällt das manchmal schwer. So vieles war aufgetaucht - die Schocks bei der Begegnung mit Schmerz, Krankheit, Tod, die Obduktion -, und kein Sicherheitsventil hatte sich geöffnet, um den anwachsenden Druck abzulassen. Eine Krankenschwester, selbst eine Lernschwester, mußte viele Leiden ansehen und ständig bereit sein, zu helfen und Anteil zu nehmen. War es also unrecht, wenn sie nach diesem Augenblick der Zärtlichkeit für sich selbst griff? Einen Augenblick lang spürte sie, während Mike sie umfaßt hielt, den gleichen Trost und die gleiche Erleichterung wie damals, als sie sich vor vielen Jahren als kleines Mädchen in die Arme ihrer Mutter warf. Mike hatte seine Umarmung jetzt gelockert und hielt sie etwas von sich ab. »Du bist schön«, sagte er. Impulsiv vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Dann legte er seine Hand unter ihr Kinn, und ihre Lippen begegneten sich wieder. Sie fühlte, wie er seine Hand sinken ließ und außen über dem Kleid über ihre Brüste strich. Durch ihren ganzen Körper wallte der Wunsch zu lieben und geliebt zu werden, leidenschaftlich, ununterdrückbar.

Seine Hand tastete am Halsausschnitt ihres Kleides. Es ließ sich vorn öffnen; ein Haken und eine Öse hielt es oben zusammen. Er tastete danach. Sie wehrte ab, atemlos. »Nicht, Mike! Bitte! Nicht!« Sie konnte sich nicht einmal selbst überzeugen. Ihre Arme hielten ihn fest umschlungen. Er hatte das Kleid jetzt etwas geöffnet, und sie spürte, wie seine Hand sich vortastete, atmete dann unter der Berührung tief auf, als sie sich über ihre junge, weiche Haut legte. Ein Schauder der Ekstase durchlief sie. Jetzt wußte sie: es war zu spät, aufzuhören. Sie wünschte ihn, begehrte ihn verzweifelt. Die Lippen an seinem Ohr, murmelte sie: »Mike, o Mike.«

»Liebling, Liebling, Vivian.« Er war ebenso erregt wie sie. Sie erkannte es an seinem atemlosen Flüstern.

Einen Augenblick brach ihr gesunder Menschenverstand durch. »Mike, hier kommen Leute.«

»Gehen wir unter die Bäume.« Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

Sie erreichten eine kleine, von Bäumen und Büschen umsäumte Lichtung. Mike küßte sie wieder, und leidenschaftlich erwiderte sie seine Küsse.

Plötzlich spürte sie einen reißenden Schmerz. Er war zuerst so scharf, daß sie nicht sicher war, woher er kam. Dann spürte sie: er saß im linken Knie. Unwillkürlich schrie sie auf.

»Was ist, Vivian? Was hast du?« Sie konnte erkennen, daß er überrascht war und nicht wußte, was er von ihrem Aufschrei halten sollte. Wahrscheinlich hält er es für einen Trick, dachte sie. Mädchen tun so etwas, um sich aus dieser Situation herauszuwinden.

Die erste Schärfe des Schmerzes hatte etwas nachgelassen, aber in Wellen trat er wieder auf. Sie sagte: »Es tut mir leid, es ist mein Knie, Mike. Ist hier irgendwo eine Bank?« Sie zuckte wieder unter dem Schmerz zusammen.

»Vivian«, sagte er, »du brauchst mir nichts vorzumachen. Wenn du zurück ins Krankenhaus willst, dann sage es nur, ich bringe dich hin.«

»Bitte, glaube mir, Mike.« Sie ergriff seinen Arm. »Es ist mein Knie. Es tut schrecklich weh. Ich muß mich setzen.«

»Komm mit.« Sie erkannte, daß er noch skeptisch war, aber er führte sie unter den Bäumen zurück. In der Nähe stand eine Parkbank; darauf gingen sie zu.

Ab sie sich erholt hatte, sagte Vivian: »Es tut mir leid. Das tat ich nicht absichtlich.«

Zweifelnd fragte er: »Ganz bestimmt?«

Sie griff nach seiner Hand. »Mike - dort drüben - ich wollte es. Aber dann das.« Wieder kam der Schmerz.

Er antwortete: »Verzeihung, Vivian, ich glaubte.«

»Ich weiß, was du glaubst«, sagte sie. »Aber das war es nicht. Wirklich nicht.«

»Also gut, dann sage mir, wo du Schmerzen hast.« Jetzt war er Arzt. Die Küsse unter den Bäumen waren vergessen.

»Es ist mein Knie. Es kam ganz plötzlich. Ein furchtbarer Schmerz.«

»Laß mich sehen.« E" kauerte vor ihr nieder. »Welches ist es?«

Sie zog ihren Rock hoch und deutete auf das linke Knie. Er betastete es sorgfältig, der Griff seiner Hände war zart. Im Augenblick schob Mike Seddons den Gedanken beiseite, daß er dieses Mädchen noch vor kaum zwei Minuten im Arm gehalten und umworben hatte. Jetzt war er nüchtern; sachlich untersuchte er. Wie er es gelernt hatte, überlegte er methodisch die Möglichkeiten.

Er stellte fest, daß Vivians Nylonstrümpfe seinen Tastsinn beeinträchtigten.

»Ziehe deinen Strumpf hinunter, Vivian!« Sie tat es, und seine untersuchenden Finger betasteten wieder behutsam ihr Knie. Während sie ihn beobachtete, dachte sie: er ist gut, er wird ein guter Arzt. Menschen werden zu ihm kommen, damit er ihnen hilft, und er wird freundlich zu ihnen sein und alles für sie tun, was er kann. Sich selbst sagte sie: das ist lächerlich. Wir kennen uns kaum. Dann kehrte einen Augenblick der Schmerz zurück, und sie stöhnte.

Mike fragte: »Ist das schon einmal aufgetreten?« Einen Augenblick lang überkam sie die Lächerlichkeit der Situation, und sie kicherte.

»Was gibt es denn, Vivian?« Mike war überrascht.

»Ich mußte nur denken, vor ein oder zwei Minuten noch. Und jetzt benimmst du dich wie ein Arzt in seinem Sprechzimmer.«

»Hör zu, Kind.« Er war ernst. »Ist das schon einmal aufgetreten?«

Sie antwortete: »Ja, einmal. Es war aber nicht so schlimm wie jetzt.«

»Wie lange ist das her?«

Sie überlegte. »Etwa einen Monat.«

»Bist du damit bei einem Arzt gewesen?« Jetzt war sein Ton ganz sachlich.

»Nein. Hätte ich das tun sollen?«

Ohne sich festzulegen, antwortete er: »Vielleicht.« Dann fügte er hinzu: »Morgen wirst du es aber auf jeden Fall tun. Am besten gehst du zu Dr. Grainger.«

»Mike, fehlt mir etwas?« Jetzt ergriff sie plötzlich eine unbestimmte Unruhe.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte er aufmunternd. »Aber du hast da eine kleine Schwellung, die nicht da sein sollte. Doch darüber soll Lucy Grainger entscheiden. Ich werde morgen früh mit ihr sprechen. Nun müssen wir dich nach Hause schaffen.«

Die vorherige Stimmung war verflogen. Sie konnten sie nicht wiederfinden, jedenfalls nicht heute nacht, und beide wußten es.

Mike half ihr auf. Als er den Arm um sie legte, empfand er plötzlich den Wunsch, ihr zu helfen und sie zu beschützen. Er fragte: »Glaubst du, daß du gehen kannst?« Vivian antwortete: »Ja, der Schmerz ist jetzt verschwunden.«

»Wir gehen nur bis zum Tor«, sagte er. »Dort können wir ein Taxi bekommen.« Weil sie bedrückt war, fügte er dann fröhlich hinzu: »Mein Patient ist ein knauseriger Filz. Nicht einmal das Geld für ein Taxi hat er geschickt.«

IX

»Schildern Sie mir die Einzelheiten.«

Über ein binokulares Mikroskop gebeugt, grunzte Dr. Joseph Pearson die Worte Roger McNeil fast zu.

Der Assistenzarzt der Pathologie sah in seine Aufzeichnungen. »Der Patient war ein vierzigjähriger Mann, der mit Blinddarmentzündung bei uns aufgenommen wurde.« McNeil saß Pearson an dem Schreibtisch im Arbeitszimmer der Pathologen gegenüber.

Pearson zog den Objektträger mit dem Schnitt, den er untersucht hatte, aus dem Mikroskop und ersetzte ihn durch einen anderen. Er fragte: »Was hat die Untersuchung des Gewebes beim Kolloquium ergeben?«

McNeil, der das Kolloquium allein durchgeführt hatte, nachdem der entfernte Appendix aus dem Operationsraum heruntergekommen war, antwortete: »Im großen ganzen erschien es mir völlig normal.«

»Hm.« Pearson schob den Schnitt unter dem Mikroskop hin und her. »Einen Augenblick«, sagte er, »hier ist etwas.« Nach einer Pause zog er den zweiten Objektträger heraus und untersuchte einen dritten. »Ja, hier ist es deutlich, eine akute Appendizitis. Sie beginnt gerade hier in diesem Schnitt. Wer war der Chirurg?«

»Dr. Bartlett«, antwortete McNeil.

Pearson nickte. »Er hat die Entzündung richtig und frühzeitig erkannt. Sehen Sie es sich an.« Er räumte den Platz vor dem Mikroskop für McNeil.

Wie es das Lehrprogramm des Krankenhauses von ihm verlangte, arbeitete Pearson mit dem Assistenzarzt zusammen und bemühte sich gleichzeitig, mit den pathologischen Befunden für die Chirurgie auf dem laufenden zu bleiben. Trotz aller Anstrengungen war beiden allerdings bewußt, daß sie mit ihrer Arbeit weit im Rückstand lagen. Die Schnitte, die sie jetzt untersuchten, stammten von einem Patienten, der vor mehreren Wochen schon operiert worden war. Der Patient war inzwischen längst entlassen, und im vorliegenden Fall konnte der Befund lediglich die ursprüngliche Diagnose des Chirurgen bestätigen oder widerlegen. Hier hatte Gil Bartlett völlig recht gehabt, sich tatsächlich sogar Anerkennung verdient, da er die Erkrankung im Anfangsstadium erkannte, noch ehe der Patient viel zu leiden hatte.

»Also weiter.« Pearson setzte sich wieder vor das Mikroskop, und McNeil kehrte an die andere Seite des Schreibtisches zurück.

Der Assistent schob einen Behälter mit Objektträgern vor Pearson, und während der Pathologe ihn öffnete, nahm McNeil sich ein neues Blatt mit Notizen vor. Während sie arbeiteten, kam Bannister leise in das Zimmer. Nach einem flüchtigen Blick auf die beiden begann er, hinter ihnen in einem Aktenschrank Papiere abzulegen.

»Der Fall befindet sich noch in Behandlung«, erklärte McNeil. »Die Probe kam vor fünf Tagen zu uns herunter, und sie warten oben auf unseren Befund.«

»Es wäre besser, wenn Sie mir diese Fälle zuerst vorlegten« sagte Pearson mürrisch, »sonst blöken sie da oben wieder über uns.«

McNeil war im Begriff zu antworten, daß er vor mehreren Wochen schon vorgeschlagen habe, das Arbeitsverfahren in diesem Sinne zu ändern, Pearson aber darauf bestanden hatte, alle Proben in der Reihenfolge zu untersuchen, wie sie in der Pathologie eintrafen. Der Assistenzarzt unterdrückte diese Bemerkung jedoch. Was geht es mich an, dachte er. Er erklärte: »Eine fünfundsechzigjährige Frau. Die Probe stammt von einer Hautwucherung. Äußerlich erschien sie wie ein Leberfleck. Die Frage lautet: Ist es ein bösartiges Melanom?«

Pearson schob den ersten Schnitt unter das Mikroskop und bewegte ihn hin und her. Dann stellte er das Mikroskop auf die stärkste Vergrößerung um und drehte am Okular. »Könnte sein.« Er nahm den zweiten Schnitt, dann zwei weitere. Danach lehnte er sich nachdrücklich zurück. »Andererseits besteht die Möglichkeit eines Naevus coeruleus. Was halten Sie davon?«

McNeil setzte sich vor das Mikroskop. Die Wichtigkeit dieses Falles war ihm klar. Ein bösartiges Melanom ist eine heimtückische, gefährliche Hautgeschwulst. Ihre Zellen konnten sich schnell und mörderisch im Körper verbreiten. Wenn es aus der kleinen bereits entfernten Probe eindeutig erkannt wurde, bedeutete es eine sofortige schwere Operation für die Patientin. Ein Naevus coeruleus war dagegen ein völlig harmloses Muttermal. Es konnte für den Rest ihres Lebens unbeachtet am Körper der Frau bleiben, ohne ihr zu schaden.

Aus seinen Studien wußte McNeil, daß bösartige Melanome nicht häufig waren, er wußte aber auch, daß ein Muttermal der Gattung Naevus coeruleus äußerst selten auftrat. Mathematisch gesehen bestand die Wahrscheinlichkeit, daß die vorliegende Geschwulst bösartig war. Aber hier ging es nicht um Mathematik, hier ging es um Pathologie in ihrer reinsten Form.

Wie er es gelernt hatte, verglich McNeil im Geist die Merkmale der beiden Geschwulstarten. Sie waren in bedrückender Weise ähnlich. Beide bestanden zum Teil aus Narben, zum Teil aus Zellgewebe und enthielten sehr viel Pigment. Ferner zeigten beide eine sehr klare Zellstruktur. McNeil war auch gelehrt worden, ehrlich zu sein. Nachdem er die Schnitte genau geprüft hatte, sagte er zu Pearson: »Ich weiß es nicht.« Er fügte hinzu: »Wie ist es mit früheren Fällen? Können wir zum Vergleich welche heraussuchen? «

»Es würde Jahre dauern, bis wir sie finden. Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich den letzten Naevus coeruleus sah.« Pearson runzelte die Stirn. Seufzend sagte er: »Eines Tages müssen wir uns ein Krankheitsregister anlegen. Wenn wir dann auf zweifelhafte Fälle wie diesen stoßen, können wir die Vergleichsfälle heraussuchen.«

»Das sagen Sie schon seit fünf Jahren«, ließ sich Bannister trocken hinter ihnen vernehmen. Pearson fuhr herum: »Was machen Sie denn da?«

»Ich lege ab«, antwortete der erste Laborant kurz und bündig. »Eine Arbeit für Büropersonal - wenn wir ausreichend Arbeitskräfte hätten.«

Und wahrscheinlich würde sie dann besser verrichtet, dachte McNeil. Er wußte gut, daß die Abteilung zusätzliches Büropersonal brauchte und daß die verwendete Ablagemethode hoffnungslos veraltet war. Auch der Hinweis auf das Krankheitsregister hatte ihm wieder eine klaffende Lücke in ihrer Arbeitsorganisation vor Augen gehalten. Es gab heutzutage wenig gute Krankenhäuser, in deren pathologischer Abteilung dieses Register nicht geführt wurde. Manche nannten es Archiv für Gewebeschnitte, gleichgültig aber, wie es hieß, eine seiner Aufgaben war, bei der Lösung der Art Probleme zu helfen, wie jetzt eines vor ihnen lag.

Pearson studierte wieder die Schnitte. Wie viele Pathologen murmelte er vor sich hin, während er die vorliegenden Symptome registrierte und das Fehlen anderer vermerkte. McNeil hörte: ». ziemlich klein. keine Blutgerinnsel. kein abgestorbenes Gewebe. negativ, aber keine Anzeichen. Ja, ich bin sicher.« Pearson richtete sich auf, zog den letzten Objektträger aus dem Mikroskop, legte ihn in den Behälter zurück und schloß ihn. Er winkte dem Assistenzarzt zu schreiben und diktierte: »Diagnose: Naevus coeruleus.« Die Begnadigung für die Patientin - mit freundlichen Grüßen, die Pathologie.

Methodisch zählte Pearson die Gründe für seine Entscheidung noch einmal auf. Während er den Behälter mit den Schnitten vor den Assistenten schob, fügte er hinzu: »Am besten studieren Sie das noch einmal genau. Es ist ein Fall, den Sie nicht oft zu sehen bekommen.«

McNeil hatte keinen Zweifel, daß die Diagnose des alten Mannes zutreffend war. Das war eine Gelegenheit, bei der die Jahre der Erfahrung ihren Wert bewiesen, und er hatte gelernt, Pearsons Urteil auf dem Gebiet der pathologischen Anatomie zu respektieren. Aber wenn Sie nicht mehr hier sind, dachte er, während er den alten Mann ansah, dann wird hier ein Krankheitsregister benötigt und zwar dringend.

Sie untersuchten zwei weitere Fälle, beide ziemlich eindeutig, und dann schob Pearson den ersten Schnitt der nächsten Serie unter das Mikroskop. Er warf einen Blick durch das Okular, richtete sich auf und fuhr McNeil heftig an: »Holen Sie Bannister!«

»Ich bin noch hier«, erklärte Bannister gleichmütig.

Pearson fuhr herum. »Sehen Sie sich das an«, schnauzte er in seinem lautesten, herrischen Ton. »Wie oft muß ich erklären, wie ich die Schnitte gemacht haben will. Warum begreifen die Techniker in der Histologie das nicht? Sind sie taub oder einfach zu dumm?«

Der erste Laborant nahm den Schnitt und hielt ihn gegen das Licht. »Zu dick, was?«

»Natürlich ist der Schnitt zu dick.« Pearson griff nach einem weiteren Objektträger der gleichen Serie. »Sehen Sie sich das doch an. Wenn ich ein Stück Brot hätte, könnte ich das Fleisch abkratzen und es damit belegen.«

Bannister grinste. »Ich werde den Schneidapparat überprüfen. Wir haben schon lange Ärger damit.« Er deutete auf den Behälter mit den Schnitten. »Soll ich die da mitnehmen?«

»Nein. Ich muß mich eben damit begnügen.« Der alte Mann knurrte nur noch, seine Heftigkeit war verschwunden. »Aber Sie könnten die Arbeit in der Histologie besser überwachen.«

Bannister, jetzt auch gereizt, murmelte auf dem Wege zur Tür: »Vielleicht, wenn ich nicht so viel am Hals hätte.«

Pearson schrie hinter ihm her: »Schon gut, die Platte kenne ich schon.«

Als Bannister die Tür erreichte, ertönte ein leichtes Klopfen, und Charles Dornberger öffnete sie. Er fragte: »Darf ich hereinkommen, Joe?«

»Natürlich.« Pearson grinste. »Du kannst vielleicht sogar noch etwas lernen, Charlie.«

Der Geburtshelfer nickte McNeil freundlich zu und sagte dann beiläufig zu Pearson: »Wir hatten verabredet, daß ich heute morgen zu dir herunterkomme. Hattest du es vergessen?«

»Ja, hab' ich.« Pearson schob den Behälter mit den Objektträgern von sich. Er fragte den Assistenzarzt: »Wie viele Fälle liegen noch vor?«

McNeil zählte die noch nicht geprüften Behälter. »Acht.«

»Die machen wir später.«

Der Assistent schob seine Notizen über die abgeschlossenen Fälle zusammen.

Dornberger zog seine Pfeife und stopfte sie gelassen. Er sah sich in dem großen, kahlen Raum um und schauderte. »Bei euch ist es feucht, Joe. Jedesmal, wenn ich hier herunterkomme, habe ich Angst, mich zu erkälten«, sagte er.

Pearson ließ ein brummiges Lachen hören. Er antwortete: »Wir sprühen hier Grippeerreger aus. Jeden Morgen. Das hält uns Besucher vom Leib.« Er wartete, bis McNeil das Zimmer verlassen hatte, Dann fragte er: »Was gibt es denn?«

Dornberger vergeudete keine Zeit. Er sagte: »Ich bin eine Abordnung, Joe. Ich habe den Auftrag, taktvoll vorzugehen.« Er schob die Pfeife zwischen die Zähne und steckte seinen Tabaksbeutel in die Tasche.

Pearson blickte auf. »Was heißt das? Wieder mal Ärger?«

Ihre Blicke begegneten sich. Dornberger antwortete: »Das kommt darauf an.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Es sieht so aus, als ob du einen neuen Pathologen zur Unterstützung bekämst.«

Dornberger hatte einen Temperamentsausbruch erwartet, aber Pearson blieb merkwürdig ruhig. Nachdenklich fragte er: »Ob ich das will oder nicht, was?«

»Ja, Joe.« Dornbergers Ton ließ keinen Zweifel zu. Es hatte keinen Sinn, Umschweife zu machen. Er hatte seit der Besprechung vor einigen Tagen gründlich darüber nachgedacht.

»Vermutlich steckt O'Donnell dahinter.« Pearson sagte es mit einem verbitterten Unterton, aber immer noch ruhig. Wie immer zeigte er sich unberechenbar.

Dornberger antwortete: »Zum Teil, aber nicht ausschließlich.«

Wieder überraschend: »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« Es war die Frage eines Freundes an einen Freund.

Dornberger legte seine Pfeife unangezündet in einen Aschenbecher auf Pearsons Schreibtisch. Er dachte, ich bin froh, daß er es so aufnimmt. Es beweist, daß ich richtig handele. Ich kann ihm helfen, sich damit abzufinden, sich darauf einzustellen. Laut sagte er: »Ich glaube nicht, daß du eine Wahl hast, Joe. Du bist mit den pathologischen Befunden im Rückstand, oder nicht? Und mit ein paar anderen Dingen auch.«

Einen Augenblick fürchtete er, er sei zu weit gegangen. Das war ein gefährliches Gebiet. Er sah, wie Pearson sich aufrichtete, und wartete auf den Sturm, der ausbrechen mußte. Aber wieder geschah es nicht. Statt dessen sagte Pearson, zwar nachdrücklicher als zuvor, aber einsichtig: »Gewiß, ein paar Dinge müssen aufgeholt werden. Das gebe ich zu. Aber es liegt nichts vor, womit ich nicht allein fertig werden kann. Wenn ich nur die Zeit dazu fände.«

Er hat sich damit abgefunden, dachte Dornberger. Er wehrt sich zwar noch, aber er hat sich trotzdem damit abgefunden. Gleichmütig sagte er: »Nun, vielleicht findest du die Zeit - mit einem zweiten Pathologen.« Ebenso gleichmütig zog er aus der Brusttasche das Papier, das der Verwaltungsdirektor ihm gegeben hatte.

Pearson fragte: »Was ist das?«

»Nichts Endgültiges, Joe. Nur ein Name, den Harry Tomaselli erfahren hat. Anscheinend ein junger Mann, der vielleicht interessiert ist, hierherzukommen.«

Pearson nahm das einzelne Blatt. Er entgegnete unwirsch: »Offenbar haben sie keine Zeit verloren.«

Dornberger sagte leichthin: »Unser Verwaltungsdirektor ist ein aktiver Mann.«

Pearson überflog das Blatt. Laut las er: »Dr. David Coleman.« Darauf folgte eine Pause. Dann fügte der alte Mann bitter, niedergeschlagen und neidisch hinzu: »Einunddreißig Jahre alt.«

Es war zwanzig Minuten nach zwölf, und in der Kantine des Krankenhauses herrschte der lebhafteste Betrieb des Tages. Die meisten Ärzte, Schwestern und Krankenhausangestellten aßen um diese Zeit zu Mittag. An der Stelle, an der die Eintretenden sich ihr Tablett holten, ehe sie zur Ausgabe mit den Wärmtischen weitergingen, wo sie ihr Essen in Empfang nahmen, begann sich eine Schlange zu bilden.

Mrs. Straughan überwachte wie immer um diese Zeit den Betrieb und sorgte, daß von der Küche eine frische Schüssel gebracht wurde, sobald eine leer war, damit die Schlange sich schnell weiterbewegte. Heute standen Irish Stew, Hammelkoteletts und gekochter Heilbutt zur Auswahl. Die Küchenleiterin beobachtete, daß die Hammelkoteletts wenig begehrt waren. Sie beschloß, sie sofort selbst zu versuchen, um festzustellen, ob es dafür einen Grund gebe. Vielleicht war das Fleisch nicht so weich, wie es sein sollte. Dergleichen wurde den Späterkommenden in der Kantine von anderen, die bereits gegessen hatten, oft mitgeteilt. Mrs. Straughan bemerkte einen Teller auf einem Stoß, der einen Schmutzfleck aufwies. Sie trat schnell vor und nahm ihn fort. Tatsächlich, er trug noch Spuren der vorigen Mahlzeit. Wieder diese Geschirrspülmaschinen, dachte sie. Ihre Unzulänglichkeit verursachte ihr ständigen Ärger, und sie nahm sich vor, das Problem sehr bald wieder dem Verwaltungsdirektor vorzulegen.

Von den Tischen, die für den Ärztestab reserviert waren, erklang lautes Gelächter. Es kam von einer Gruppe, deren Mittelpunkt Dr. Ralph Bell, der Röntgenarzt, bildete.

Gill Bartlett, der mit seinem Tablett von dem Serviertisch kam, stellte es ab und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Herzlichen Glückwunsch, Dingdong«, sagte er. »Ich habe es gerade gehört.«

»Was gehört?« fragte Lewis Toynbee, der Internist, der gleichfalls mit einem Tablett hinter ihm herkam. Als Bell Bartlett dann strahlend eine Zigarre reichte, rief Toynbee aus: »Mein Gott, schon wieder!«

»Natürlich schon wieder. Warum nicht?« Der Röntgenarzt hielt auch ihm eine Zigarre hin. »Kommen Sie her, Lewis. Jetzt sind es genau acht Bells.«

»Acht? Seit wann denn?«

Bell antwortete gelassen: »Seit heute morgen. Noch ein Junge für die Baseballmannschaft.«

Bill Rufiis warf dazwischen: »Seien Sie nicht so kritisch, Lewis. Er tut doch, was er kann. Schließlich ist er erst seit acht Jahren verheiratet.« Lewis Toynbee streckte seine Hand aus. »Drücken Sie sie nicht zu fest, Dingdong. Ich fürchte, Ihre Fruchtbarkeit könnte sich dabei abnutzen.«

»Nur keinen Neid«, entgegnete Bell gutmütig. Er hatte das alles früher schon durchgemacht.

Lucy Grainger fragte: »Und wie geht es Ihrer Frau?«

»Danke, sehr gut«, antwortete Bell.

»Wie fühlt man sich eigentlich als Feind der Liebe?« fragte Harvey Chandler, der Chef der inneren Abteilung, von weiter unten am Tisch.

Bell antwortete: »Ich bin kein Feind der Liebe. Bei uns zu Haus wird jedes Jahr einmal verkehrt. Ich bin nur ein todsicherer Schütze.«

Lucy Grainger stimmte in das ausbrechende Gelächter ein. Dann sagte sie: »Ralph, ich schicke Ihnen heute nachmittag eine Patientin. Sie heißt Vivian Loburton und ist eine unserer Lernschwestern.«

Das Gelächter war verklungen. »Was soll ich denn an ihr röntgen?« fragte Bell.

»Ich möchte ein paar Aufnahmen von ihrem linken Knie«, antwortete Lucy. Dann fügte sie hinzu: »Sie hat dort irgendeine Geschwulst, die mir gar nicht gefällt.«

Charles Dornberger rief Kent O' Donnell von seinem Zimmer aus an, um ihm über den Verlauf seines Gesprächs mit Pearson zu berichten. Zum Schluß sagte er dem Chef der Chirurgie: »Ich habe Joe über den Mann informiert, mit dem schon korrespondiert wurde.«

»Wie hat er es aufgenommen?« fragte O'Donnell.

»Ich möchte nicht behaupten, daß er begeistert war, aber ich glaube, wenn Sie wollen, daß der Mann - wie war sein Name noch? Coleman? -, wenn Sie also wollen, daß er hierherkommt, um sich vorzustellen, wird Joe keine Schwierigkeiten machen. Ich würde aber empfehlen, Joe über alles zu informieren, was Sie von jetzt an unternehmen. «

»Darauf können Sie sich verlassen«, antwortete O'Donnell, und dann fügte er hinzu: »Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Mühe, Charlie.«

Anschließend führte Dornberger ein zweites Telefongespräch. Diesmal mit Mrs. John Alexander, die am Vormittag angerufen und ihre Telefonnummer hinterlassen hatte. Ehe er anrief, sah er in seiner Patientenkartei nach und erinnerte sich, daß sie die Frau eines Laboranten in der Pathologie war, die ihm Joe Pearson empfohlen hatte. Von Mrs. Alexander erfuhr er, daß sie gerade erst in Burlington angekommen war. Sie vereinbarten einen Termin in der kommenden Woche, an dem sie Dornberger in seiner Privatsprechstunde in der Stadt aufsuchen solle.

Etwa zur gleichen Zeit, als Mrs. Alexander mit Dornberger sprach, wurde ihr Mann zum erstenmal von Dr. Joseph Pearson abgekanzelt. Das geschah auf folgende Weise.

Nach Pearsons Ausbruch an diesem Morgen über die schlechten Schnitte kam Bannister in das serologische Labor zurück, wo Alexander arbeitete, und berichtete ihm den ganzen Vorfall. Bannister kochte inzwischen selbst vor Wut und ließ später einen Teil seines Ärgers an den beiden Laborantinnen und ihrem Helfer aus, die im angrenzenden histologischen Labor arbeiteten. Alexander hörte durch die Tür, die Bannister hinter sich offenstehen ließ, alles mit an.

Ihm war es allerdings klar, daß die Schuld an den schlechten Präparaten nicht ausschließlich die Laboranten in der Histologie traf. Trotz der kurzen Zeit, die er in dem Krankenhaus war, hatte er schon erkannt, wo das wirkliche Problem lag. Darum sagte er nachher zu Bannister: »Wissen Sie, Carl, ich glaube nicht, daß es allein ihre Schuld ist. Ich finde, sie haben zuviel zu tun.«

Mürrisch antwortete Bannister: »Wir haben alle zuviel zu tun.« Und mit plumpem Hohn fügte er noch hinzu: »Aber wenn Sie schon soviel davon verstehen, können Sie ja vielleicht zu Ihrer eigenen Arbeit den anderen noch einen Teil abnehmen.«

Alexander ließ sich dadurch nicht provozieren. »Das ist kaum möglich. Ich glaube aber, daß alles viel besser ginge, wenn sie einen automatischen Einbettungs- und Schneidapparat benutzten, statt alles auf die altmodische Weise mit der Hand zu machen.«

»Kümmern Sie sich darum nicht, mein Junge. Das geht Sie gar nichts an«, antwortete Bannister hochmütig und herablassend. »Und außerdem ist hier alles, was mit Geldausgaben verbunden ist, von vornherein gestorben.«

Alexander sagte nichts weiter, war aber entschlossen, bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, die Frage Pearson gegenüber anzuschneiden.

An diesem Nachmittag mußte er eine Reihe von Berichten Pearson zur Unterschrift in sein Büro bringen. Er traf den Pathologen an, wie er offensichtlich ungeduldig einen Stoß Post durchlas. Pearson blickte kurz zu Alexander auf, gab ihm dann einen Wink, die Papiere auf den Schreibtisch zu legen, und las weiter. Alexander zögerte und der alte Mann bellte ihn an: »Sonst noch was? Was gibt's denn?«

»Dr. Pearson, darf ich mir einen Vorschlag erlauben?«

»Muß das gerade jetzt sein?«

Ein Erfahrener hätte erkannt, daß sein Ton bedeutete: Laß mich in Ruhe. Alexander antwortete aber: »Ja, Sir.«

Seufzend sagte Pearson: »Also, was wollen Sie?«

Etwas nervös begann Alexander: »Es ist wegen der pathologischen Befunde, Doktor.« Als er pathologischen Befunde< sagte, legte Pearson seinen Brief hin und sah ihn scharf an. Alexander fuhr fort: »Ich frage mich, ob Sie schon einmal daran gedacht haben, einen automatischen Einbettungsund Schneidapparat anzuschaffen.«

»Was verstehen Sie vom Gewebepräparieren?« Pearsons Stimme hatte einen drohenden Klang. »Überhaupt, ich denke, Sie sind der serologischen Abteilung zugeteilt worden, oder nicht?«

»Ich habe auf der Laborantenschule auch einen vollen Kurs in Histologie absolviert, Doktor«, erinnerte Alexander. Darauf folgte eine Pause. Als Pearson nicht antwortete, fuhr Alexander fort: »Ich habe mit einem automatischen Apparat gearbeitet, und das ist eine gute Maschine, Sir. Wir würden bei der Anfertigung der Schnitte mindestens einen Tag einsparen. Statt das Gewebe mit der Hand in all den verschiedenen Lösungen vorzubereiten, schaltet man über Nacht den Apparat ein und hat am Morgen..«

Pearson unterbrach ihn scharf: »Ich weiß, wie sie arbeitet. Ich habe sie gesehen.« Alexander sagte: »Ich verstehe, Sir. Dann glauben Sie nicht.«

»Ich sagte, ich habe diese sogenannten automatischen Apparate gesehen und sie haben mich nicht beeindruckt.« Pearsons Ton war hart und ungnädig. »Die Schnitte haben nicht die gleiche Qualität, wie wenn sie mit der Hand angefertigt werden. Außerdem sind diese Maschinen teuer. Sehen Sie das hier?« Er wischte durch einen Stoß ausgefüllter Formulare in einem Korb auf seinem Schreibtisch.

»Ja, Sir.«

»Das sind Einkaufsanforderungen für Dinge, die ich in der Abteilung brauche. Und jedesmal, wenn ich sie weiterreiche, habe ich einen Kampf mit dem Verwaltungsdirektor. Er behauptet, wir geben zuviel Geld aus.«

Alexander hatte seinen ersten Fehler begangen, als er seinen Vorschlag zu einem Zeitpunkt vorbrachte, an dem Pearson ihn nicht hören wollte. Nun beging er seinen zweiten Fehler. Er mißverstand Pearsons Antwort als Aufforderung, das Gespräch fortzusetzen.

Er sagte besänftigend: »Aber wenn es doch einen ganzen Tag einsparen würde, vielleicht sogar zwei.« Sein Ton wurde eindringlicher. »Dr. Pearson, ich habe Schnitte gesehen, die mit dem Apparat angefertigt wurden, und die waren wirklich gut. Vielleicht wurde die Anlage, die Sie sahen, nicht richtig bedient.«

Jetzt erhob sich der alte Mann von seinem Stuhl. Worin Alexanders Provokation auch bestehen mochte, er hatte die Grenze zwischen Arzt und Laborant überschritten. Den Kopf vorgebeugt, schrie Pearson: »Nun reicht es mir. Ich habe gesagt, daß ich an diesem automatischen Apparat nicht interessiert bin und nicht beabsichtige, darüber zu diskutieren.« Er kam um seinen Schreibtisch, bis er unmittelbar vor Alexander stand, sein Gesicht dicht vor dem des jungen Mannes. »Und ich will Sie an noch etwas erinnern. Ich bin hier der Pathologe, und ich leite diese Abteilung. Ich habe nichts gegen Vorschläge, solange sie vernünftig sind. Aber halten Sie sich in Ihren Grenzen, verstanden?«

»Ja, Sir.« Gedemütigt und beschämt, aber ohne im geringsten zu verstehen, ging Alexander an seine Arbeit im Labor zurück.

Mike Seddons war den ganzen Tag in Gedanken versunken gewesen. Ein paarmal mußte er sich zusammenreißen und sich bewußt zwingen, seine Gedanken auf die Arbeit zu richten, die er gerade vor sich hatte. Einmal, während einer Obduktion, mußte McNeil ihn warnen. »Sie haben Ihre Hand gerade unter dem Stück, das Sie schneiden. Wir legen Wert darauf, daß die Leute, die bei uns arbeiten, ihre Finger alle wieder gesund mitnehmen.«

Seddons änderte schnell seinen Griff. Es wäre nicht das erstemal, daß ein unerfahrener Assistent sich mit einem der rasiermesserscharfen Instrumente in der Pathologie einen Finger samt dem Handschuh abhackte.

Dennoch schweifte seine Aufmerksamkeit immer wieder ab und wandte sich der ständig auftauchenden Frage zu: Was versetzte ihn an Vivian so in Unruhe? Sie war anziehend und begehrenswert, und er war darauf versessen, so bald wie möglich mit ihr ins Bett zu gehen - darüber machte sich Mike Seddons keine Illusionen. Auch sie schien dazu bereit, wenn man annahm, daß der Schmerz in ihrem Knie am Abend vorher echt gewesen war. Und das glaubte er jetzt. Er hoffte, daß sie noch das gleiche wie gestern empfand, obwohl es dafür natürlich keine Garantie gab. Manche Mädchen waren so wankelmütig. An einem Tag waren sie für die exotischsten Intimitäten zu haben, und beim nächstenmal wiesen sie sogar die geringfügigste Annäherung zurück und taten so, als ob die frühere Begegnung nie stattgefunden habe.

Aber bei ihm und Vivian war mehr als lediglich Sex im Spiel. Mike Seddons begann sich zu wundern. Ganz gewiß hatte keine der früheren Episoden - und deren hatte es einige gegeben - ihn so gründlich zum Nachdenken veranlaßt, wie es jetzt der Fall war. Ein neuer Gedanke ging ihm durch den Kopf: Vielleicht wurde ihm alles andere klarer, wenn seine sexuellen Wünsche befriedigt waren. Er entschloß sich, Vivian um eine weitere Verabredung zu bitten, und der heutige Abend war, vorausgesetzt, daß sie Zeit hatte dazu, so geeignet wie jede andere Stunde.

Vivian fand Mike Seddons Brief, nachdem sie ihre letzte Unterrichtsstunde des Tages hinter sich hatte und in die Schwesternunterkunft zurückkam. Er war persönlich abgeliefert worden und wartete im Postregal unter dem Buchstaben L auf sie. Er bat sie, ihn an diesem Abend um neun Uhr fünfundvierzig im vierten Stock des Krankenhauses vor der Kinderabteilung zu treffen. Zunächst hatte sie nicht die Absicht, hinzugehen, weil sie keinen offiziellen Grund hatte, sich um diese Zeit im Krankenhaus aufzuhalten, und in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn sie einer der Schulschwestern in die Hände lief. Aber dann stellte sie fest, daß sie doch gern gehen wollte, und um neun Uhr vierzig lief sie über den hölzernen Fußweg, der vom Schwesternheim zum Hauptgebäude des Krankenhauses führte.

Mike wartete auf sie. Er schlenderte dem Anschein nach in Gedanken versunken durch den Gang. Sobald er sie aber sah, winkte er sie zu einer Tür, und sie gingen hindurch. Hinter der Tür lag eine Treppe, die nach oben und nach unten führte. Zu dieser Nachtstunde war sie still und verlassen, und sie würden beizeiten gewarnt werden, falls jemand kam. Mike führte sie an der Hand die halbe Treppe bis zum nächsten Absatz hinunter. Dann drehte er sich um, und es erschien ihr das Natürlichste in der Welt, daß sie sich in seine Arme legte.

Während sie sich küßten, spürte sie, wie Mike sie fester umschlang, und plötzlich überfiel sie der Zauber des gestrigen Abends wieder. In diesem Augenblick wußte sie, warum sie so sehr gewünscht hatte, hierherzukommen. Dieser Mann mit dem ungebärdigen roten Haar war ihr plötzlich unentbehrlich geworden. Sie wünschte ihn in jeder Weise, wünschte bei ihm zu sein, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu lieben. Es war ein elektrisierendes, erregendes Gefühl, das sie früher nicht gekannt hatte. Er küßte jetzt ihre Wangen, ihre Augen, ihre Ohren. Das Gesicht in ihrem Haar, flüsterte er: »Vivian, Liebling, ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich konnte nichts anderes tun.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie an. »Weißt du, was du tust?« Sie schüttelte den Kopf. »Du unterminierst mich.« Sie legte wieder ihre Arme um ihn. »Oh, Mike, Liebling.«

Es war heiß in dem Treppenhaus. Vivian spürte die Wärme seines Körpers trotz ihrer eigenen Glut. Nun tasteten seine Hände suchend. Mit zitternder Stimme flüsterte sie: »Mike, können wir nicht woanders hingehen?«

Sie spürte, wie seine Hände innehielten, und mußte darüber lächeln. Er sagte: »Ich wohne zusammen mit Frank Worth in einem Zimmer. Aber heute abend ist er fort und kommt erst spät zurück. Willst du es riskieren und mit dorthinkommen?« Sie zögerte. »Was passiert, wenn wir erwischt werden?«

»Wir werden beide aus dem Krankenhaus hinausgeworfen.« Er küßte sie wieder. »Im Augenblick ist mir das egal.« Er ergriff ihre Hand. »Komm mit.«

Sie gingen eine Etage tiefer und durch einen Gang. Sie begegneten einem anderen Assistenzarzt, der zwar grinste, als er die beiden sah, aber nichts sagte. Dann über eine weitere Treppe in einen weiteren Gang. Dieses Mal trat kurz vor ihnen eine weiße Gestalt aus einer Tür. Vivians Herz setzte aus, als sie die Oberschwester erkannte. Aber die Oberschwester drehte sich nicht um und verschwand hinter einer anderen Tür, ehe sie an ihr vorbeikamen. Dann gelangten sie in einen engeren, stilleren Korridor mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten. Unter manchen Türen schimmerte Licht hindurch, und hinter einer konnten sie Musik hören. Vivian erkannte Chopins e-moll-Konzert. Das Burlingtoner Symphonieorchester hatte es vor ein oder zwei Monaten gespielt.

»Hier herein.« Mike hatte eine Tür geöffnet, und sie traten schnell ein. Es war dunkel, aber sie konnte die Umrisse von Feldbetten und einem Sessel erkennen. Hinter sich hörte sie das Schloß zuschnappen, als Mike den Schlüssel umdrehte.

Gierig, fordernd griffen sie nacheinander. Seine Finger waren an den Knöpfen ihrer Schwesternuniform. Als sie zögerten, half sie ihm. Nun stand sie im Unterrock da. Einen Augenblick hielt er sie fest umfaßt. Gemeinsam genossen sie die Qual des Hinauszögerns. Dann bewegten sich seine Hände, hoben ihr sanft, zärtlich und mit köstlicher Verheißung das Unterkleid über den Kopf. Während sie zu dem Bett trat, streifte sie ihre Schuhe ab. Hinter ihr war eine schnelle Bewegung, und dann war er bei ihr, halfen seine Hände ihr wieder. »Vivian, Liebling. Vivian.«

Sie hörte ihn kaum. »Warte nicht, Mike, bitte warte nicht länger.« Sie spürte seinen Körper, der sich wild, verlangend gegen sie preßte. Sie erwiderte ungezügelt, kämpfte leidenschaftlich, um ihn fester, näher, tiefer an sich zu bringen.

Dann gab es plötzlich nichts mehr in der Welt, nichts, als einen Gipfel stürmischer Ekstase, rasend, sengend, schneidend, der näher, näher, näher kam.

Als sie nachher still nebeneinanderlagen, konnte Vivian die Musik wieder hören, die schwach über den Gang klang. Es war wieder Chopin, diesmal die Etüde in E-dur. Es erschien ihr seltsam, daß sie sich in diesem Augenblick bemühte, eine Komposition wiederzuerkennen, aber die fließende, packende Melodie, die sie gedämpft im Dunkeln hörte, entsprach ihrer Stimmung in diesem Augenblick der Erfüllung.

Mike beugte sich über sie und küßte sie sanft. »Vivian, Liebling, ich will dich heiraten.«

Leise fragte sie zurück: »Bist du ganz sicher, Mike?«

Seine Worte kamen so unvermittelt, daß es ihn selbst überraschte. Mike folgte einem Impuls, aber in seinem Innersten erkannte er plötzlich, daß es die Wahrheit war. Seine Absicht, Verpflichtungen auszuweichen, schien unsinnig und schal. Dies war eine Bindung, die er wollte und die alle anderen ausschloß. Jetzt wurde ihm bewußt, was ihn den ganzen Tag über und früher schon beunruhigt hatte. Von diesem Augenblick an beunruhigte es ihn nicht mehr. Typisch für ihn antwortete er auf Vivians Frage scherzend: »Sicher bin ich sicher. Du etwa nicht?«

Während sie die Arme um ihn legte, murmelte Vivian: »Ich bin mir noch nie so sicher gewesen.«

»He!« Mike machte sich los, stützte sich auf einen Ellenbogen, und sah sie an. »Über allem anderen habe ich eines vergessen. Was ist mit deinem Knie?«

Vivian lächelte übermütig. »Heute abend hat es uns nicht gestört oder doch?«

Nachdem er sie wieder geküßt hatte, bat er: »Erzähle mir, was Lucy Grainger gesagt hat.«

»Sie hat nichts gesagt, sondern das Knie heute nachmittag durch Dr. Bell röntgen lassen, und will mich in ein paar Tagen zu sich rufen.«

»Ich bin erst wieder ruhig, wenn das geklärt ist«, sagte Mike.

Vivian antwortete: »Sei nicht albern, Liebling. Wie kann so eine kleine Beule etwas Ernsthaftes sein?«

X

Boston, Mass. den 7. August Mr. H.N. Tomaselli, Verwaltungsdirektor Three Counties Hospital, Burlington, Pa. Sehr geehrter Mr. Tomaselli, seit meinem Besuch in Burlington vor einer Woche habe ich über die Stellung in der Pathologie am Three Counties Hospital gründlich nachgedacht.

Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, daß ich entschlossen bin, die Stellung unter den besprochenen Bedingungen anzunehmen, vorausgesetzt natürlich, daß Sie Ihre Ansicht inzwischen nicht geändert haben.

Sie sagten, daß Sie großen Wert darauflegten, daß, wer die Stellung auch übernehme, so bald wie möglich mit der Arbeit beginnen solle. Da mich hier nichts weiter festhält, kann ich nach Regelung einiger Kleinigkeiten am 15. August in Burlington antreten, das heißt also, in genau einer Woche. Ich nehme an, daß Sie damit einverstanden sind.

Dr. O'Donnell erwähnte mir gegenüber Junggesellenapartments, die bald fertiggestellt sein und in der Nähe des Krankenhauses liegen sollen. Ich wüßte gern, ob Ihnen darüber Näheres bekannt ist und würde es, falls ja, gern erfahren. Inzwischen sind Sie vielleicht so gütig, mir in einem Hotel für den 14. ein Zimmer reservieren zu lassen.

Hinsichtlich meiner Arbeit an dem Krankenhaus besteht ein Punkt, der meiner Ansicht nach nicht völlig geklärt wurde. Ich weise hier in der Hoffnung darauf hin, daß Sie vielleicht in der Lage sind, mit Dr. Pearson noch vor meiner Ankunft darüber zu sprechen.

Ich bin der Ansicht, daß es sowohl für das Krankenhaus als auch für mich selbst vorteilhaft ist, wenn ich einen klar festgelegten Verantwortungsbereich übernehme, in dem ich im Rahmen angemessener Grenzen sowohl hinsichtlich der täglich anfallenden Arbeit als auch bei der Durchführung von Umstellungen in der Organisation und der Technik, die selbstverständlich von Zeit zu Zeit immer notwendig sind, freie Hand habe.

Meine eigenen Wünsche in dieser Hinsicht sind, innerhalb der pathologischen Abteilung die unmittelbare Verantwortung für die Serologie, die Himatologie und Biochemie zu übernehmen, wenn ich auch selbstverständlich Dr. Pearson seinen Wünschen entsprechend in der pathologischen Anatomie und auf anderen Gebieten jederzeit zur Verfügung stehen würde. Diesen Punkt schneide ich, wie gesagt, in der Hoffnung an, daß Sie und Dr. Pearson vor dem 15. August darüber entscheiden können. Seien Sie bitte versichert, daß ich jederzeit bemüht sein werde, in vollem Umfang mit Dr. Pearson zusammenzuarbeiten und dem Three Counties Hospital nach besten Kräften zu dienen.

Ihr sehr ergebener Dr. David Coleman.

Coleman las den sauber getippten Brief noch einmal durch, schob ihn in einen Umschlag und klebte ihn zu. Dann setzte er sich an seine Reisemaschine und tippte einen gleichartigen, wenn auch etwas kürzeren Brief an Dr. Pearson.

David Coleman verließ das möblierte Apartment, das er mit kurzfristigem Mietvertrag für die wenigen Monate, die er in Boston war, gemietet hatte, und brachte beide Briefe zum Briefkasten. Er dachte darüber nach, was er geschrieben hatte. Er war sich immer noch nicht sicher, warum er dem Three Counties Hospital gegenüber den sieben anderen Stellungen, die ihm in den letzten Wochen angeboten worden waren, den Vorzug gegeben hatte. Gewiß wurde sie nicht am besten bezahlt; vom finanziellen Standpunkt aus gesehen, stand sie auf der unteren Hälfte der Liste. Three Counties Hospital war auch kein namhaftes Krankenhaus. Zwei andere medizinische Institute, die ihm ebenfalls ein Angebot gemacht hatten, besaßen internationalen Ruf. Dagegen war das Three Counties Hospital über seine unmittelbare Umgebung hinaus kaum bekannt.

Warum also? War es, weil er fürchtete, in einem größeren Institut unterzugehen, dort nicht zur Geltung zu kommen? Kaum, denn seine bisherige Laufbahn zeigte schon, daß er sich in dieser Art Umgebung durchzusetzen wußte. War es, weil er das Gefühl hatte, daß er an einem kleineren Krankenhaus größere Freiheit zu Forschungsarbeiten besitzen würde? Er hoffte zuversichtlich, Gelegenheit zur Forschung zu finden, aber wenn das sein dringlichster Wunsch gewesen wäre, hätte er ein Forschungsinstitut wählen können - seine Liste hatte eines enthalten - und alles andere lassen. War es der Reiz der Aufgabe, die ihn zu seiner Wahl veranlaßte? Vielleicht. In der pathologischen Abteilung des Three Counties Hospitals war zweifellos vieles unzulänglich. Das hatte er in den zwei kurzen Tagen erkannt, die er in der vorigen Woche dort zugebracht hatte, als er der telefonischen Einladung des Verwaltungsdirektors zu einem Besuch des Krankenhauses folgte, um sich dort umzusehen. Und die Zusammenarbeit mit Dr. Pearson würde nicht leicht werden. Er hatte die Ablehnung des alten Mannes gespürt, als er ihn kennenlernte, und der Verwaltungsdirektor hatte auf Colemans Fragen zugegeben, daß Pearson in dem Ruf stand, es sei schwierig, mit ihm auszukommen.

War es also die Herausforderung der Aufgabe? War das wirklich der Grund, weshalb er sich für das Three Counties Hospital entschied? Wie? Oder lag der eigentliche Grund woanders? Stand noch etwas ganz anderes dahinter? War es Selbstkasteiung? War es immer noch das alte Gespenst, das ihn schon so lange verfolgte?

David Coleman hatte schon lange den Verdacht, sein Hochmut sei sein stärkster Charakterzug. Und darin sah er den Fehler, den er am meisten fürchtete und haßte. Seiner eigenen Ansicht nach war er nie in der Lage gewesen, seinen Hochmut zu besiegen. Er unterdrückte ihn, lehnte ihn ab, aber immer wieder brach er durch - dem Anschein nach stark und unzerstörbar.

Zum größten Teil beruhte sein Hochmut auf dem Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit. In Gesellschaft fühlte er sich häufig über die anderen geistig weit erhaben, im allgemeinen, weil er es tatsächlich war. Und intellektuell hatte ihm alles, was er bisher in seinem Leben getan hatte, bewiesen, daß er recht hatte.

Solange sich David Coleman erinnern konnte, war es ihm leicht gefallen, Wissen zu erwerben. Lernen war so einfach wie atmen gewesen. Auf der Volksschule, der Oberschule, dem College, der medizinischen Fakultät hatte er die anderen weit überragt und die höchsten Auszeichnungen fast als Selbstverständlichkeit hingenommen. Sein Verstand war gleichzeitig aufnahmefähig, analytisch und begreifend. Und hochmütig.

In jungen Jahren auf der Oberschule war ihm sein Hochmut zum erstenmal bewußt geworden. Wie jeder, der von Natur aus brillant begabt ist, betrachteten seine Mitschüler ihn zunächst mit Argwohn. Als er dann nicht versuchte, das Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit zu verbergen, verwandelte sich der Argwohn in Abneigung und schließlich in Haß.

Das hatte er damals gespürt, sich aber nicht bewußt darum gekümmert, bis der Schulleiter, der selbst ein brillanter Geist und verständiger Mann war, ihn eines Tages zur Seite nahm. Noch heute erinnerte sich David Coleman genau daran, was er ihm gesagt hatte.

»Ich glaube, du bist erwachsen genug, um mich zu verstehen. Darum spreche ich es offen aus. Du hast in diesen vier Mauern außer mir nicht einen einzigen Freund.«

Zunächst hatte er das nicht geglaubt. Dann aber, vor allem weil er im höchsten Grade ehrlich war, hatte er sich selbst zugegeben, daß es stimmte.

Weiter hatte der Schulleiter gesagt: »Du hast einen brillanten Kopf. Das weißt du, und es gibt auch keinen Grund, weshalb du es nicht wissen solltest. In der Zukunft kannst du alles werden, was du willst. Du besitzt einen bemerkenswert überlegenen Verstand, Coleman, nach meinen Erfahrungen möchte ich sagen, einen einzigartigen. Doch ich warne dich: wenn du mit anderen Menschen zusammen leben willst, mußt du dich manchmal weniger überlegen zeigen, als du bist.«

Es war gewagt, das einem jungen, beeinflußbaren Menschen zu sagen. Aber der Lehrer hatte seinen Schüler nicht unterschätzt. Coleman ging mit dem Rat fort, verdaute ihn, analysierte ihn und endete damit, daß er sich selbst verachtete.

Von da an arbeitete er noch angestrengter als bisher - um sich nach einem überlegten Programm, das an Selbstkasteiung grenzte, zu rehabilitieren. Er fing mit dem Sport an. Solange David Coleman zurückdenken konnte, hatte er eine Abneigung gegen Sport jeder Art empfunden. Bisher hatte er sich auf der Schule nie am Sport beteiligt und neigte dazu, Leute, die zu Sportveranstaltungen gingen und sich dort hinreißen ließen, begeistert zu jubeln, für ziemlich stumpfsinnige Figuren zu halten. Von da an beteiligte er sich aber selbst aktiv - Rugby im Winter, Baseball im Sommer. Trotz seiner ursprünglichen Einstellung wurde er ein Könner. Auf dem College fand er sich in den ersten Mannschaften wieder. Und wenn er nicht selbst mitspielte, nahm er auf der Oberschule und auf dem College an jedem Spiel als Zuschauer teil und jubelte so laut wie die anderen. Allerdings war er nie fähig, sein Gefühl der Gleichgültigkeit beim Spiel ganz zu überwinden, wenn er es auch sorgfältig für sich behielt. Und er jubelte nie ohne das innere Unbehagen, daß er sich kindisch aufführe. Aus diesem Grund glaubte er auch, daß er seinen Hochmut zwar gelegentlich, aber nie völlig überwunden habe.

Seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen nahmen weitgehend die gleiche Entwicklung. Früher hatte er sich bei einer Begegnung mit jemand, den er geistig für minderwertig hielt, nie bemüht, seine Langeweile oder seine Interessenlosigkeit zu verbergen. Aber jetzt gab er sich in Befolgung seines Planes die größte Mühe, solchen Leuten gegenüber herzlich zu sein. Die Folge war, daß er sich auf dem College den Ruf eines wohlwollenden Weisen erwarb. Bei seinen Mitschülern, die beim Studium auf Schwierigkeiten stießen, wurde es zu einer ständigen Redensart: »Fragen wir doch David Coleman. Er kann uns bestimmt helfen.« Und das tat er immer. Bei jedem normal denkenden Menschen wären durch diesen Prozeß seine Empfindungen gegenüber seinen Mitmenschen freundlicher geworden. Zeit und Erfahrung hätten ihm Mitgefühl mit jenen gelehrt, die weniger begabt waren als er selbst. Coleman war sich dessen aber nicht sicher. Innerlich entdeckte er, daß er für geistige Unzulänglichkeit immer noch die alte Verachtung empfand. Er verbarg sie, bekämpfte sie durch eiserne Disziplin und gutes Theaterspielen, schien sie aber nie ganz zu verlieren.

Er hatte sich der Medizin zugewandt. Einerseits, weil sein inzwischen gestorbener Vater Landarzt gewesen war, und andererseits, weil er schon immer Arzt werden wollte. Als er aber vor der Wahl eines Spezialgebietes stand, hatte er sich für die Pathologie entschlossen, weil sie allgemein als das wenigst glanzvolle Spezialgebiet galt. Dieser Schritt war ein Teil seines eigenen überlegten Programms, seinen immer neu auftauchenden Hochmut zu schlagen.

Eine Zeitlang glaubte er, das sei ihm gelungen. Die Pathologie ist zeitweise ein einsames Gebiet, denn sie liegt fern von der Erregung und den Einflüssen, die der unmittelbare Kontakt mit dem Patienten mit sich bringt. Später aber, als sein Interesse und sein Wissen wuchsen, entdeckte er, daß die alte Verachtung für jene, die weniger als er von den verborgenen Geheimnissen wußten, die man mit einem guten Mikroskop aufdecken konnte, wieder auftauchte. Nicht im gleichen Maß allerdings, weil er in der Medizin unvermeidlicherweise Köpfen begegnete, die seinem ebenbürtig waren. Und noch später fand er, daß er sich gelockerter geben, auf einen Teil der eisernen Selbstdisziplin verzichten konnte, die er sich selbst auferlegt hatte. Er traf nach wie vor Menschen, die er für dumm hielt - selbst in der Medizin fand er sie. Aber er zeigte es nie und beobachtete gelegentlich sogar, daß der Umgang mit diesen Leuten ihn weniger störte. Mit dieser Entspannung begann er sich selbst zu fragen, ob er seinen alten Feind am Ende nicht doch überwunden habe.

Dennoch blieb er weiter vorsichtig. Ein Programm überlegter Selbstberichtigung, das fünfzehn Jahre befolgt worden war, konnte man nicht so leicht von heute auf morgen aufgeben. Und manchmal fand er es schwierig, zu unterscheiden, ob seine Motive auf seiner freien Entscheidung beruhten oder auf der Gewohnheit, in Sack und Asche zu gehen, die er so lange und so geduldig befolgt hatte. Daher die Fragen an sich selbst, weshalb er sich für das Three Counties Hospital entschlossen hatte. Hatte er sich dafür entschieden, weil er das wirklich wollte: ein mittelgroßes, zweitklassiges Krankenhaus ohne Ruf und Ansehen? Oder war es das alte, unbewußte Gefühl, daß sein Hochmut dort am meisten leiden müsse? Als er die beiden Briefe in den Kasten warf, wußte er, daß diese Fragen nur von der Zeit beantwortet werden konnten.

Auf der siebten Etage des Burlington Medical Arts Building zog sich Elizabeth Alexander in dem Untersuchungsraum, der an Dr. Dornbergers Sprechzimmer grenzte, wieder an. Während der letzten halben Stunde hatte Charles Dornberger sie in seiner üblichen Weise gründlich untersucht und war jetzt an seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Durch die halb offenstehende Tür hörte sie ihn sagen: »Kommen Sie herüber und setzen Sie sich, wenn Sie fertig sind, Mrs. Alexander.« Sie streifte ihren Unterrock über den Kopf und antwortete fröhlich: »Ich bin gleich soweit, Doktor.«

Dornberger lächelte. Er hatte Patientinnen gern, die sich über ihre Schwangerschaft offensichtlich freuten, und das traf für Elizabeth Alexander zu. Sie wird eine gute, vernünftige Mutter sein, dachte er. Sie war eine anziehende, junge Frau, nicht hübsch im üblichen Sinn, aber mit einem lebhaften Temperament, das diesen Mangel mehr als wettmachte. Er blickte in die Notizen, die er sich früher gemacht hatte. Sie war dreiundzwanzig. Als er noch jünger war, sorgte er aus Vorsicht immer dafür, daß eine Schwester anwesend war, wenn er Patientinnen untersuchte. Er hatte von Ärzten gehört, die das versäumt hatten und gegen die später von hysterischen Patientinnen häßliche Anschuldigungen vorgebracht worden waren. Heutzutage tat er das allerdings selten. Das zum mindesten war einer der Vorteile des Altseins.

Er rief ihr zu: »Nun, ich bin der Meinung, daß Sie ein gesundes, normales Kind bekommen werden. Es scheinen keinerlei Komplikationen vorzuliegen.«

»Das hat Dr. Crossan auch gesagt.« Sie schloß den Gürtel ihres grünbedruckten Sommerkleides, trat durch die Tür aus dem angrenzenden Zimmer und setzte sich in den Sessel neben dem Schreibtisch.

Dornberger prüfte wieder seine Notizen. »Das war Ihr Arzt in Chikago, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hatten Sie ihn bei Ihrem ersten Kind?«

»Ja.« Elizabeth öffnete ihre Handtasche und nahm einen Zettel heraus. »Ich habe hier seine Adresse.«

»Danke. Ich werde ihm wegen seiner Befunde und Behandlung schreiben.« Dornberger klammerte den Zettel an seine Notizen. Nüchtern fragte er: »Woran starb Ihr erstes Kind, Mrs. Alexander?«

»An einer Bronchitis, als sie einen Monat alt war«, antwortete Elizabeth in normalem Ton. Vor einem Jahr wäre ihr die Antwort noch schwergefallen, und sie hätte mit den Tränen kämpfen müssen. Jetzt, da sie wieder ein Kind erwartete, erschien ihr der Verlust leichter zu ertragen. Aber dieses Mal würde ihr Kind leben, dazu war sie fest entschlossen.

Dr. Dornberger fragte: »War die Geburt normal?«

»Ja«, antwortete sie.

Er blickte in seine Notizen. Um von der Trauer abzulenken, die seine Fragen geweckt haben mochten, fuhr er freundlich fort: »Sie sind gerade erst nach Burlington gekommen, wenn ich richtig informiert bin?«

»Ja«, antwortete sie fröhlich und fügte hinzu: »Mein Mann arbeitet im Three Counties Hospital.«

»Ich weiß es. Dr. Pearson hat es mir gesagt.« Während er schrieb, fragte er: »Wie gefällt es ihm denn bei uns?«

Elizabeth überlegte. »John hat noch nicht viel darüber gesagt, aber ich glaube, es gefällt ihm gut. Seine Arbeit interessiert ihn sehr.«

Dornberger löschte das, was er geschrieben hatte, ab. »Das erleichtert es immer, besonders in der Pathologie.« Er blickte auf und lächelte. »Wir anderen hängen sehr von der Arbeit in den Labors ab.«

Es entstand eine kurze Pause, in der der Arzt eine Schublade seines Schreibtisches öffnete und einen Formularblock herauszog.

Dann sagte er: »Da wir gerade von den Labors reden, wir müssen Sie zu einer Blutuntersuchung schicken.«

Während er das Formular ausfüllte, antwortete Elizabeth: »Ich wollte Ihnen noch sagen, daß ich Rh-negativ bin, mein Mann aber Rh-positiv ist, Doktor.«

Er lachte. »Daran kann man erkennen, daß Ihr Mann medizinischer Laborant ist. Wir werden Ihr Blut sehr gründlich untersuchen.« Er riß das Formular ab und reichte es ihr. »Damit können Sie jederzeit in die Abteilung für ambulante Patienten ins Krankenhaus gehen.«

»Danke, Doktor.« Sie faltete das Formular zusammen und schob es in ihre Handtasche.

Ehe Dornberger das Gespräch beendete, zögerte er. Wie den meisten Ärzten war ihm bewußt, daß Patienten sich häufig unvollständige oder falsche Vorstellungen von medizinischen Problemen machen. Bei seinen eigenen Patienten bemühte er sich in diesen Fällen im allgemeinen sehr darum, sie aufzuklären, selbst wenn es ihm Zeit kostete. Mrs. Alexander hatte ihr erstes Kind verloren. Deshalb war ihre zweite Schwangerschaft für sie doppelt wichtig. Es war Dornbergers Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sie sich nicht ängstigte.

Sie hatte den Rh-Faktor genannt, und offensichtlich machte sie sich Gedanken darüber. Er bezweifelte, daß sie wirklich verstand, was es damit auf sich hatte. Er entschloß sich, sich die Zeit zu nehmen, sie zu beruhigen.

»Mrs. Alexander«, begann er, »ich möchte Ihnen ganz eindeutig klarlegen, daß es sich auf Ihr Kind nicht notwendigerweise nachteilig auswirken muß, daß Sie und Ihr Mann Blutgruppen mit verschiedenem Rh-Faktor haben. Verstehen Sie mich?«

»Ich glaube ja, Doktor.« Er erkannte, daß er recht hatte. Ihre Stimme ließ eine Spur Zweifel erkennen.

Geduldig fragte er: »Wissen Sie genau, was mit den Ausdrücken Rh-positiv und Rh-negativ bezeichnet wird?«

Sie zögerte. »Nun, eigentlich nicht, jedenfalls nicht ganz genau.«

Das hatte er erwartet. Er überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich will es Ihnen so einfach erklären, wie ich kann.

Wir alle besitzen in unserem Blut bestimmte Faktoren, und von dem Ausdruck >Faktor< kann man sagen, er sei eine andere Bezeichnung für >Bestandteil<.«

Elizabeth nickte. »Ich verstehe.« Sie konzentrierte sich, richtete ihre Gedanken auf das, was Dr. Dornberger erklärte. Einen Augenblick empfand sie fast eine leise Sehnsucht nach ihrer Schulzeit. In der Schule war sie immer stolz darauf gewesen, daß sie fähig war, Dinge, die erklärt wurden, zu verstehen, daß sie ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem richten, Fakten schnell aufnehmen konnte, indem sie alles andere aus ihren Gedanken ausschloß. Dank dieser Fähigkeit war sie eine gute Schülerin gewesen. Jetzt war sie gespannt, ob sie sich diese Gabe erhalten hatte.

Dornberger fuhr fort: »Verschiedene Menschen haben verschiedene Blutfaktoren. Nach dem letzten Stand sind der Medizin neunundvierzig derartiger Faktoren bekannt. Die meisten Menschen - Sie und ich zum Beispiel - besitzen zwischen fünfzehn und zwanzig dieser Faktoren in ihrem Blut.«

In Elizabeths Kopf schaltete es. Erste Frage. »Wodurch wird verursacht, daß Menschen mit verschiedenen Faktoren geboren werden?«

»Größtenteils durch Vererbung, aber das ist hier nicht wichtig. Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, daß manche Faktoren sich miteinander vertragen, andere aber nicht.«

»Sie wollen sagen.«

»Ich will sagen: Wenn die verschiedenen Blutfaktoren sich miteinander vermischen, können manche ohne weiteres nebeneinander bestehen, aber andere bekämpfen sich und vertragen sich nicht miteinander. Darum werden vor Transfusionen immer erst sorgfältig die Blutgruppen bestimmt. Wir müssen uns davon überzeugen, daß der Patient Blut der richtigen Blutgruppe empfängt.«

Elizabeth runzelte nachdenklich die Stirn und fragte: »Und es sind die Faktoren, die sich bekämpfen - die unverträglichen -, die gefährlich sein können? Ich meine, wenn man Kinder bekommt.« Wieder folgte sie der Formel aus ihrer Schulzeit: Kläre jeden Punkt eindeutig, ehe du zum nächsten übergehst.

Dornberger antwortete: »Gelegentlich gibt es das, aber in den meisten Fällen nicht. Wir wollen einmal Ihren Fall nehmen. Sie sagen, daß Ihr Mann Rh-positiv ist.«

»Ja, das ist er.«

»Nun, das bedeutet, daß sein Blut einen Faktor enthält, der >Groß De genannt wird. Und da Sie Rh-negativ sind, besitzt Ihr Blut kein >Groß De.«

Elizabeth nickte langsam. Ihr Verstand registrierte: Rh-negativ kein >Groß De. Sie benutzte einen alten Lerntrick und bildete schnell einen Merkvers: Rh-negativ man zählt wo der Faktor >Groß De fehlt.

Sie bemerkte, daß Dornberger sie beobachtete. »Sie können das so interessant darstellen«, sagte sie. »Noch nie hat mir jemand es so erklärt.«

»Sehr schön. Jetzt wollen wir über Ihr Baby sprechen.« Er deutete auf die Wölbung unter ihrem Kleid. »Wir wissen nicht, ob das Kleine dort Rh-negatives oder Rh-positives Blut hat. Mit anderen Worten, wir wissen nicht, ob sein Blut >Groß D< besitzt.«

Einen Augenblick lang vergaß Elizabeth ihre spielerische n Gedanken. Mit einem Anflug Angst fragte sie: »Was geschieht, wenn er es hat? Bedeutet das, daß sein Blut meines bekämpft?«

Ruhig antwortete Dornberger: »Diese Möglichkeit besteht immer.« Mit einem beruhigenden Lächeln fügte er hinzu: »Nun passen Sie aber genau auf.«

Sie nickte. Ihre Aufmerksamkeit war wieder voll geweckt. Für einen kurzen Augenblick hatte sie ihre Gedanken abschweifen lassen.

Nachdrücklich sagte er: »Das Blut eines Kindes ist von dem der Mutter völlig getrennt. Nichtsdestoweniger gelangen während der Schwangerschaft häufig kleine Mengen vom Blut des Kindes in den Blutkreislauf der Mutter. Verstehen Sie das?«

Elizabeth nickte. »Ja.«

»Also gut. Wenn die Mutter Rh-negativ und das Kind Rh-positiv ist, kann das manchmal bedeuten, daß unser alter Bekannter >Groß D< in den Blutkreislauf der Mutter gelangt. Und dort ist er unerwünscht. Verstehen Sie?«

Wieder nickte Elizabeth. »Ja.«

Langsam fuhr er fort: »Wenn das geschieht, bildet das Blut der Mutter im allgemeinen etwas, was wir Antikörper nennen, und diese Antikörper bekämpfen >Groß D< und vernichten es schließlich.«

Elizabeth war verwirrt. »Wo liegt dann die Gefahr?«

»Für die Mutter besteht nie eine Gefahr. Das Problem, wenn es auftritt, beginnt dann, wenn die Antikörper - die Stoffe, die die Mutter gebildet hat, um >Groß D< zu bekämpfen - auf dem Weg über die Plazenta in den Blutkreislauf des Kindes gelangen. Verstehen Sie? Wenn auch kein regulärer Blutaustausch zwischen der Mutter und dem Kind besteht, können die Antikörper doch häufig hinübergelangen, und tun es auch.«

»Ich verstehe«, antwortete Elizabeth langsam. »Und das bedeutet, daß die Antikörper in dem Blut des Kindes wirken und es zerstören.« Sie hatte es jetzt ganz klar begriffen.

Dornberger sah sie anerkennend an. Eine gescheite, junge Frau, dachte er. Sie hat nichts übersehen. Laut sagte er: »Die Antikörper können das Blut des Babys zerstören, oder einen Teil davon, wenn wir es zulassen. Das ist eine Erscheinung, die wir Erythroblastose foetalis nennen.«

»Aber wie verhindert man sie?«

»Wir können nicht verhindern, daß sie eintritt, aber wir können sie bekämpfen. Als erstes werden wir durch Blutuntersuchungen gewarnt, sobald Antikörper im Blut der Mutter auftauchen. Diese Untersuchung wird mit Ihrem Blut durchgeführt. Jetzt, und später im Verlaufe Ihrer Schwangerschaft wieder.«

»Worin besteht diese Untersuchung?« fragte Elizabeth. »Sie sind ja unersättlich wißbegierig.« Der alte Arzt lächelte. »Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie der Test im Labor vorgenommen wird. Darüber weiß Ihr Mann bestimmt mehr als ich. «

»Aber was geschieht außerdem, für das Kind, meine ich?« Geduldig erklärte er: »Das wichtigste ist, dem Kind unmittelbar nach der Geburt eine Austauschtransfusion mit der richtigen Art Blut zu geben. Sie ist im allgemeinen erfolgreich.« Bewußt vermied er, auf die große Gefahr hinzuweisen, daß ein Kind mit Erythroblastose tot geboren werden kann, oder daß der Arzt häufig die Geburt mehrere Wochen zu früh einleiten muß, um dem Kind eine bessere Chance zu überleben zu bieten. In jedem Fall war er der Ansicht, daß seine Erklärungen genügten. Er entschloß sich, zusammenzufassen:

»Ich habe Ihnen das alles auseinandergesetzt, Mrs. Alexander, weil ich glaube, daß Sie über den Rh-Faktor beunruhigt waren. Aber auch, weil Sie eine kluge Frau sind und ich immer der Ansicht war, daß es für jeden besser ist, wenn er die ganze Wahrheit kennt als nur einen kleinen Teil.«

Sie lächelte darüber. Sie war geneigt, sich wirklich für intelligent zu halten. Schließlich hatte sie sich gerade bewiesen, daß sie immer noch ihre alte Fähigkeit aus der Schule besaß, zu verstehen und zu lernen. Dann sagte sie sich: Sei nicht eingebildet. Außerdem erwartest du ein Kind und stehst nicht vor einer Abschlußprüfung.

Dr. Dornberger sprach weiter: »Aber ich will Ihnen die wichtigen Punkte vor Augen halten.« Er war jetzt ernst, hatte sich zu ihr gebeugt. »Punkt eins: Sie werden vielleicht nie ein Rh-positives Kind bekommen, weder jetzt noch später. In diesem Falle werden überhaupt keine Schwierigkeiten auftauchen. Punkt zwei: selbst wenn Ihr Kind zufällig Rh-positiv ist, wird Ihr Blut vielleicht keine Antikörper bilden. Punkt drei: selbst im Fall, daß Ihr Kind eine Erythroblastose bekommen sollte, sind die Aussichten zur Behandlung und auf eine Heilung günstig.« Er sah sie fest an. »Nun, und wie fühlen Sie sich jetzt?«

Elizabeth lächelte strahlend. Sie fühlte, daß sie wie ein erwachsener Mensch behandelt wurde, und das tat ihr wohl. »Dr. Dornberger«, antwortete sie, »ich finde Sie einfach großartig.«

Belustigt griff Dornberger nach seiner Pfeife und begann sie zu stopfen. »Ja«, meinte er, »manchmal finde ich das beinahe auch.«

»Joe, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

Lucy Grainger befand sich auf dem Weg zur Pathologie, als Pearsons untersetzte Gestalt vor ihr im Gang des Erdgeschosses auftauchte. Als sie ihn anrief, blieb er stehen.

»Haben Sie etwas Besonderes, Lucy?« Es war sein üblicher rauher, grollender Ton, aber sie war froh, daß sie keine Unfreundlichkeit heraushörte. Sie hoffte, gegenüber seiner schlechten Laune wie immer immun zu sein.

»Ja, Joe. Ich möchte Sie bitten, sich eine meiner Patientinnen einmal anzusehen.«

Er war damit beschäftigt, eine seiner unvermeidlichen Zigarren anzuzünden. Als sie brannte, musterte er die Glut an ihrer Spitze. »Was liegt denn vor?«

»Es handelt sich um eine unserer Lernschwestern, ein Mädchen namens Vivian Loburton. Sie ist neunzehn. Kennen Sie sie?«

Pearson schüttelte den Kopf. Lucy fuhr fort: »Der Fall beunruhigt mich etwas. Ich vermute einen Knochentumor und habe für übermorgen eine Probeexcision angesetzt. Die Gewebeprobe kommt natürlich zu Ihnen hinunter, aber ich dachte, Sie würden sich das Mädchen vielleicht vorher auch einmal ansehen.«

»Gewiß. Wo ist sie?«

»Ich habe sie zur Beobachtung aufgenommen«, antwortete Lucy. »Sie liegt auf dem zweiten Stock. Wollen Sie es jetzt gleich tun?«

Pearson nickte. »Warum nicht?« Zusammen gingen sie in die Haupthalle zu dem Personenaufzug.

Lucys Bitte an Pearson war nicht ungewöhnlich. In Fällen dieser Art, bei denen die Möglichkeit der Bösartigkeit bestand, war es der Pathologe, der das letzte Urteil über den Zustand des Patienten abgab. Bei der Diagnose jeder Art von Tumor wirkten viele sich manchmal widersprechende Faktoren mit, die der Pathologe gegeneinander abwägen mußte. Aber die Entscheidung über einen Knochentumor war noch schwieriger als in anderen Fällen, und Lucy wußte das. Folglich war es für den Pathologen ein Vorteil, an einem derartigen Fall von Anfang an mitzuarbeiten. Auf diese Weise kannte er den Patienten, konnte die Symptome überprüfen und die Ansicht des Röntgenarztes einholen. Das alles trug zu seinem eigenen Wissen bei und half ihm bei der Diagnose.

Als sie in den Aufzug traten, blieb Pearson stehen und stöhnte. Er legte eine Hand auf den Rücken.

Lucy drückte auf den Knopf zum zweiten Stock. Während die Türen zuglitten, fragte sie: »Haben Sie Rückenschmerzen?«

»Manchmal.« Mühsam richtete Pearson sich auf. »Wahrscheinlich von dem zu langen Über-dem-Mikroskop-Hocken.«

Sie musterte ihn besorgt. »Warum kommen Sie nicht zu mir in die Sprechstunde, damit ich es mir ansehe?«

Er puffte an seiner Zigarre und grinste dann. »Das will ich Ihnen gern sagen, Lucy. Ich kann mir Ihre Honorare nicht leisten.«

Die Türen öffneten sich, und sie traten auf den zweiten Stock hinaus. Als sie durch den Gang gingen, widersprach sie: »Sie behandele ich doch ohne Honorar. Ich halte sowieso nichts davon, Kollegen Rechnungen zu schicken.«

Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Sie sind also nicht so wie die Psychiater?«

»Nein, wirklich nicht.« Sie lachte. »Die schicken einem sogar eine Rechnung, wenn man mit Ihnen die Sprechstundenräume teilt, wie ich gehört habe.«

»Das stimmt.« Lucy hatte Pearson selten so ausgeglichen und gelassen gesehen. »Sie behaupten, das gehöre zu ihrer Behandlung.«

»Hier ist es.« Sie öffnete eine Tür, und Pearson trat zuerst ein. Sie folgte ihm und schloß die Tür hinter sich.

Es war ein kleines Krankenzimmer, in dem nur zwei Patienten lagen. Lucy grüßte eine Frau in dem Bett neben der Tür, trat dann zu dem zweiten Bett, in dem Vivian lag und von der Zeitschrift aufblickte, in der sie gelesen hatte.

»Vivian, dies ist Dr. Pearson.«

»Hallo, Vivian«, sagte Pearson abwesend, während er das Krankenblatt nahm, das Lucy ihm reichte.

Höflich antwortete Vivian: »Guten Tag, Doktor.«

Für Vivian war es immer noch rätselhaft, weshalb sie überhaupt hier lag. Sie hatte wieder Schmerzen in ihrem Knie gehabt, das stimmte, aber es schien ihr nicht wichtig genug, um deshalb im Bett zu liegen. Allerdings hatte sie auch nicht viel dagegen einzuwenden. In gewisser Weise war ihr die Unterbrechung in dem Schwesternkursus willkommen, und es war eine angenehme Abwechslung, lesen und sich ausruhen zu können. Mike hatte auch gerade angerufen. Er schien besorgt, nachdem er gehört hatte, was geschehen war, und hatte versprochen, später, sobald er könne, zu ihr zu kommen.

Lucy zog den Vorhang zwischen den beiden Betten vor, und jetzt sagte Pearson. »Zeigen Sie mir bitte Ihre beiden Knie.«

Vivian schlug die Bettdecke zurück und zog den Saum ihres Nachthemdes hoch. Pearson legte das Krankenblatt hin und beugte sich zur Untersuchung vor.

Lucy beobachtete, wie die kurzen, plumpen Finger des Pathologen vorsichtig ihre Beine betasteten.

Sie dachte: Für jemand, der zu anderen Leuten so grob sein kann, ist er überraschend zart. Einmal stöhnte sie unter dem Druck seiner Finger auf. Pearson blickte auf. »Hier tut es Ihnen weh, wie?« Vivian nickte.

»In Dr. Graingers Aufzeichnungen steht, daß Sie sich vor etwa fünf Monaten das Knie angeschlagen haben?« fragte er.

»Ja, Doktor.« Vivian gab sich große Mühe, die Tatsachen wahrheitsgemäß zu berichten. »Zunächst konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Erst als ich genau nachdachte. Ich stieß damit gegen den Boden eines Schwimmbeckens. Vielleicht bin ich zu tief getaucht.«

Pearson fragte: »Hat das damals sehr weh getan?«

»Ja, aber die Schmerzen vergingen bald, und später dachte ich nicht mehr daran. Es fiel mir jetzt erst wieder ein.«

»Gut, Vivian.« Er winkte Lucy, die die Bettdecke wieder heraufzog.

Er fragte Lucy: »Haben Sie die Röntgenaufnahmen?«

»Hier sind sie.« Sie reichte ihm einen großen, braunen Umschlag. »Es sind zwei Serien. Die erste Serie zeigt gar nichts.

Dann machten wir weichere Aufnahmen, um die Muskeln erkennen zu können, und diese Aufnahmen zeigen eine Veränderung am Knochen.«

Vivian hörte dem Gespräch interessiert zu. Sie fühlte sich plötzlich wichtig, weil sie in seinem Mittelpunkt stand.

Pearson und Lucy waren zum Fenster getreten, und der Pathologe hielt die Röntgenaufnahmen gegen das Licht. Als er den zweiten Satz studierte, deutete Lucy: »Dort. Sehen Sie?« Gemeinsam betrachteten sie den Film.

»Ah ja.« Pearson grunzte und reichte ihr die Filme zurück. Seine Einstellung gegenüber Röntgenaufnahmen wurde immer durch die Vorbehalte eines Spezialisten bestimmt, der sich auf das unbekannte Gebiet eines anderen vorwagt. Er sagte: »Schatten aus dem Land der Schatten. Was meint die Röntgenabteilung dazu?«

»Ralph Bell bestätigt die Veränderung«, antwortete Lucy. »Aber er kann nicht genug sehen, um eine Diagnose zu stellen. Er ist auch der Ansicht, daß ich eine Probeexcision vornehmen soll.«

Pearson drehte sich wieder der Patientin zu: »Wissen Sie, was eine Probeexcision ist, Vivian?«

»Ich habe eine ungefähre Vorstellung« - das Mädchen zögerte -, »aber ganz genau weiß ich es nicht.«

»Das haben Sie in Ihrem Schwesternkursus wohl noch nicht durchgenommen, wie?«

Sie schüttelte den Kopf.

Pearson erklärte: »Nun, Dr. Grainger beabsichtigt, ein kleines Stück Knochengewebe unter Ihrem Knie herauszunehmen, gerade dort, wo etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Das kommt dann zu mir herunter, und ich werde es untersuchen.«

Vivian fragte: »Und können Sie daraus sehen, was damit ist?«

»Meistens kann ich das.« Er wollte gehen, zögerte dann. »Treiben Sie viel Sport?«

»O ja, Doktor. Tennis, Schwimmen, Skilaufen.« Sie fügte hinzu: »Ich reite auch sehr gern. In Oregon bin ich sehr viel geritten.«

»So, in Oregon«, antwortete er nachdenklich, und dann, während er sich abwendete: »Nun gut, Vivian, das ist im Augenblick alles.«

Lucy lächelte. »Ich komme später wieder.« Sie nahm das Krankenblatt und die Röntgenfilme und folgte Pearson hinaus.

Als sich die Tür schloß, empfand Vivian zum erstenmal einen ahnungsvollen, furchtsamen Schauer.

Als sie ein Stück den Gang hinuntergegangen waren, fragte Lucy: »Was meinen Sie dazu, Joe?«

»Es kann ein Knochentumor sein.« Pearson sagte es langsam, nachdenklich.

»Bösartig?«

»Das ist möglich.«

Sie kamen zu den Fahrstühlen und blieben stehen. Lucy sagte: »Wenn er bösartig ist, muß ich das Bein amputieren.«

Pearson nickte kngsam. Er sah plötzlich sehr alt aus. »Ja«, antwortete er, »daran dachte ich auch gerade.«

XI

Die Viscount legte sich weich gegen den Wind und begann, an Höhe zu verlieren. Fahrgestell und Landeklappen waren ausgefahren, und sie flog genau Landebahn Nr. 1 des Flughafens Burlington an. Während Dr. Kent O'Donnell das näher kommende Flugzeug von dem Terrassencafe aus beobachtete, überlegte er flüchtig, daß Luftfahrt und Medizin vieles gemeinsam hätten. Beide fußten auf den Erkenntnissen der Wissenschaften, beide veränderten das Leben in der Welt und beseitigten überkommene Vorstellungen. Beide bewegten sich unbekannten Horizonten und einer nur dunkel erahnten Zukunft entgegen. Es gab noch eine Parallele. Der Luftfahrt fiel es heute schwer, mit ihrer eigenen Entwicklung Schritt zu halten. Ein Flugzeugkonstrukteur, den er kannte, hatte ihm kürzlich gesagt: »Wenn ein Flugzeug für den Einsatz fertig ist, ist es auch schon überholt.«

In der Medizin, dachte O'Donnell, während er seine Augen vor der strahlenden Nachmittagssonne beschattete, war es weitgehend das gleiche. Krankenhäuser, Kliniken und die Ärzte selbst waren nie in der Lage, ihr Wissen auf dem jüngsten Stand zu erhalten. Ungeachtet, wie sehr sie sich darum bemühten, immer waren ihnen die Forschung, die Entwicklung, die neuesten Techniken voraus, manchmal um Jahre. Heute konnte ein Mensch sterben, obwohl das rettende Medikament bereits erfunden war und in begrenztem Umfang vielleicht schon angewendet wurde. Aber es brauchte Zeit, bis die neuen Entwicklungen bekannt wurden und Anerkennung fanden. Das galt auch für die Chirurgie. Ein Chirurg oder eine Gruppe von Chirurgen entwickelte vielleicht eine neue lebensrettende Technik, aber ehe sie allgemein angewendet werden konnte, mußten sie ihr Können weitergeben und andere die neuen Methoden beherrschen. Manchmal war das ein langwieriger Prozeß. Die Herzchirurgie beispielsweise war jetzt ziemlich weit verbreitet und für die meisten erreichbar, die ihrer dringend bedurften. Aber lange Zeit war nur eine Handvoll Chirurgen qualifiziert oder willens, sich daran zu wagen.

Außerdem erhob sich bei jeder Neuerung die Frage, ob sie gut, ob sie eine kluge Entwicklung war. Nicht jede Veränderung bedeutete Fortschritt. Oft war die Medizin falschen Spuren gefolgt, Theorien, die den Tatsachen widersprachen, und begeisterten und besessenen Einzelgängern, die manches wagten, was erst halb geklärt war, und andere durch ihr Beispiel verleiteten. Manchmal war es schwer, den mittleren Kurs zwischen Aufgeschlossenheit und vernünftiger Vorsicht einzuhalten. Im Three Counties Hospital mit seinen Vertretern der unerschütterlich konservativen und der fortschrittlichen Richtung - in beiden Lagern gab es gute Leute stand ein Mann wie O'Donnell ständig vor dem Problem, in jedem Augenblick genau zu wissen, wo und bei wem er seine Verbündeten suchen mußte.

Sein Gedankengang wurde durch die heranrollende Viscount abgebrochen, deren dröhnende Motoren die Stimmen um ihn herum übertönten. O'Donnell wartete, bis die Propeller standen und die Passagiere auszusteigen begannen. Als er Dr. Coleman unter ihnen erkannte, ging er die Treppe hinunter, um den neuen stellvertretenden Direktor der pathologischen Abteilung des Krankenhauses in der Halle zu empfangen.

David Coleman war überrascht, als er den Chef der Chirurgie, der sich groß und sonnengebräunt aus der Menschenmenge heraushob, mit ausgestreckter Hand auf sich warten sah. O'Donnell sagte: »Ich freue mich, Sie zu sehen, Dr. Coleman. Joe Pearson hatte keine Zeit, wir waren aber der Ansicht, daß jemand Sie hier abholen und willkommen heißen sollte.« Was O'Donnell nicht hinzufügte, war, daß Joe Pearson sich rundheraus geweigert hatte, und da Harry Tomaselli nicht in der Stadt war, hatte sich O'Donnell die Zeit genommen und war selbst hinausgefahren.

Während sie durch die dichte Menschenmenge in der heißen Halle gingen, beobachtete O'Donnell, wie Coleman sich umsah. Er gewann den Eindruck, daß der junge Pathologe sich schnell ein Urteil über seine Umgebung verschaffen wollte. Vielleicht war das seine Gewohnheit. Falls ja, war es eine gute. Zweifellos schnitt David Coleman bei dieser Prüfung günstig ab. Obwohl er einen dreistündigen Flug hinter sich hatte, war sein Gabardineanzug nicht zerdrückt. Sein gut geschnittenes Haar war sorgfältig gescheitelt und gebürstet, und er war sauber rasiert. Er trug keinen Hut, was ihn jünger als seine einunddreißig Jahre erscheinen ließ. Er war schlanker als O'Donnell, seine Züge waren klar geschnitten und gut geformt. Er hatte ein längliches Gesicht mit einem scharfen Kinn. Die Aktentasche unter seinem Arm gab ihm einen Akzent verläßlicher Nüchternheit. Das Bild eines jungen Wissenschaftlers, dachte O'Donnell. Er führte Coleman zur Gepäckausgabe. Dort wurde ein Rollkarren mit Koffern entladen, und sie schlossen sich der Gruppe Reisender, die mit Coleman eingetroffen waren, an.

O'Donnell sagte: »Das ist das beim Fliegen, was ich verabscheue.«

Coleman nickte und lächelte schwach. Es wirkte fast, als wolle er sagen: Wir sollten unsere Fähigkeiten nicht auf hohle Konversation vergeuden, meinen Sie nicht?

Das ist ein kühler Zeitgenosse, dachte O'Donnell. Wie bei seiner ersten Begegnung fielen ihm die stahlgrauen Augen auf, und er fragte sich, was man brauche, um hinter sie zu dringen. Coleman blieb jetzt unberührt in der Menge stehen und sah sich um. Fast wie auf Befehl trat ein Gepäckträger, ohne die anderen Reisenden zu beachten, auf ihn zu.

Zehn Minuten später, als O'Donnell seinen Buick durch den dichten Verkehr um den Flughafen steuerte und zur Stadt fuhr, sagte er: »Wir haben Sie im Roosevelt Hotel einquartiert. Es ist so komfortabel und ruhig, wie man nur wünschen kann. Ich glaube, unser Verwaltungsdirektor hat Ihnen wegen des Apartments geschrieben.«

»Ja, das tat er«, antwortete Coleman. »Ich würde das gern so schnell wie möglich in Ordnung bringen.«

»Sie werden keine Schwierigkeiten haben«, entgegnete O'Donnell und fügte hinzu: »Es steht Ihnen frei, sich ein oder zwei Tage Zeit zu nehmen, um eine geeignete Unterkunft zu suchen, ehe Sie Ihren Dienst im Krankenhaus übernehmen.«

»Danke, das ist wohl nicht nötig. Ich beabsichtige, morgen früh anzutreten.«

Coleman war höflich, aber entschieden. O'Donnell dachte: Das ist ein Mann, der sich genau überlegt, was er will, und es dann klar ausspricht. Er macht auch den Eindruck, als ob er sich nicht leicht etwas ausreden ließe. O'Donnell überraschte sich bei der Überlegung, wie Joe Pearson und David Coleman miteinander auskommen würden. Zunächst einmal sah es so aus, als würden sie aneinandergeraten. Aber das konnte man nie wissen. In Krankenhäusern wurden manchmal die unwahrscheinlichsten Freundschaften fürs Leben geschlossen.

Während sich David Coleman auf der Fahrt durch die Außenbezirke der Stadt nach allen Seiten umsah, empfand er fast so etwas wie Aufregung über das, was vor ihm lag. Das war ungewöhnlich, weil er meistens alles, was kam, mit sachlicher Nüchternheit hinnahm. Aber schließlich ging es um seine erste Stellung im Ärztestab eines Krankenhauses. Er sagte sich: Über eine ganz allgemein menschliche Regung braucht man sich nicht zu schämen, mein Freund. Dann lächelte er innerlich über diese stumme Selbstkritik. Alte Gewohnheiten im Denken sind schwer abzulegen, dachte er.

Er fragte sich, was der neben ihm sitzende O'Donnell wohl für ein Mann war. Über den Chef der Chirurgie am Three Counties Hospital hatte er nur Gutes gehört. Wie kommt es, wunderte er sich, daß ein Mann mit O'Donnells Ausbildung und Qualifikation sich eine Stadt wie Burlington aussucht? Besaß auch er hintergründige Motive? Oder folgte er anderen Überlegungen? Vielleicht gefiel es ihm hier einfach? Es mußte auch Menschen geben, vermutete Coleman, deren Wünsche gradlinig und unkompliziert waren.

O'Donnell bog aus, um einen Lastzug zu überholen. Dann sagte er: »Ich würde Ihnen gern einiges sagen, wenn ich darf.«

Coleman antwortete höflich: »Aber bitte, gern.«

»Wir haben in den letzten Jahren im Three Counties Hospital eine Reihe von Veränderungen vorgenommen.« O'Donnell sprach langsam, überlegte seine Worte. »Harry Tomaselli sagte mir, daß Sie schon einiges darüber gehört haben. Auch über unsere Pläne.«

Coleman lächelte. »Ja, das stimmt.«

O'Donnell drückte auf seine Hupe, und ein Wagen vor ihnen wich zur Seite. Er sagte: »Die Tatsache, daß Sie zu uns kommen, ist für uns ein wichtiger Schritt, und ich kann mir vorstellen, daß sich daraus Änderungen ergeben mögen, die Sie selbst wünschen werden, wenn Sie sich bei uns eingelebt haben.«

Coleman dachte an die pathologische Abteilung des Krankenhauses, wie er sie während seines kurzen Besuches gesehen hatte. »Ja«, antwortete er, »davon bin ich überzeugt.«

O'Donnell schwieg. Dann fuhr er noch behutsamer fort: »Wenn es irgend möglich war, versuchten wir, Veränderungen friedlich herbeizuführen. Manchmal war das nicht möglich. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die bereit sind, nur um des Friedens willen ein Prinzip zu opfern.« Er sah Coleman von der Seite an. »Ich möchte, daß Sie in diesem Punkt klarsehen.«

Coleman nickte, antwortete aber nicht.

O'Donnell fuhr fort: »Trotzdem würde ich Ihnen empfehlen, behutsam vorzugehen, - soweit wie es möglich ist.« Er lächelte. »Tun Sie alles, was Sie können, durch Überredung, und sparen Sie das schwere Geschütz für Dinge auf, die wirklich wichtig sind.«

Unverbindlich antwortete Coleman: »Ich verstehe.« Er war sich nicht sicher, was O'Donnells Worte bedeuteten. Er mußte ihn erst besser kennen, um das entscheiden zu können. Aber war sein Eindruck von O'Donnell falsch gewesen? War der Chef der Chirurgie am Ende doch ein Leisetreter? Wurde ihm hier und jetzt bei seiner Ankunft schon gesagt, den Kahn nicht zum Schaukeln zu bringen? Wenn das der Fall war, so würden sie bald merken, daß sie an den Falschen geraten waren. David Coleman nahm sich vor, keinen langfristigen Mietvertrag für das Apartment, das er in Burlington etwa fand, abzuschließen.

O'Donnell fragte sich jetzt, ob es klug gewesen war, das auszusprechen. Sie hatten das Glück gehabt, diesen Coleman zu bekommen, und er wünschte nicht, ihm von Anfang an Zügel anzulegen. Aber die ganze Zeit hatte das Problem Joe Pearson und Pearsons bekannter Einfluß auf Eustace Swayne O'Donnells Gedanken beschäftigt. Soweit er konnte, wollte O'Donnell Orden Brown gegenüber loyal bleiben. Bisher hatte der Ausschußvorsitzende vieles getan, um den Chef der Chirurgie zu unterstützen. O'Donnell wußte, daß Brown Swaynes Viertelmillion Dollars haben wollte, und natürlich brauchte das Krankenhaus sie dringend. Und wenn das bedeutete, Joe Pearson etwas nachzugeben, war O'Donnell dazu bereit -innerhalb vernünftiger Grenzen.

Aber wo hörte die Krankenhauspolitik auf, und wo begann O'Donnells Verantwortung als Arzt? Das war die Frage, die ihm keine Ruhe ließ. Vielleicht mußte er eines Tages entscheiden, wo die Grenzlinie lag. Spielte er selbst jetzt in der Politik mit? O'Donnell vermutete es. Aus welchem anderen Grund hätte er sich sonst gerade in dieser Weise Dr. Coleman gegenüber geäußert? Macht korrumpiert, dachte er, dem kann man nicht entgehen, gleichgültig, wer man ist. Er überlegte, ob er über dieses Thema noch weiter mit Coleman sprechen und den jüngeren Mann vielleicht in sein Vertrauen ziehen solle. Dann entschied er sich dagegen. Coleman war schließlich ein Neuling, und O'Donnell war sich klar bewußt, daß er noch nicht hinter diese kühlen, grauen Augen gedrungen war.

Sie erreichten jetzt das Stadtzentrum. Die Straßen Burlingtons waren heiß und staubig, die Bürgersteige flimmerten, und die schwarz geteerte Straßendecke war von der Hitze aufgeweicht. Er lenkte den Buick in den Vorhof des Roosevelt Hotels. Ein Hausdiener öffnete die Wagentür und begann, Colemans Koffer hinten herauszuheben.

O'Donnell fragte: »Soll ich mit Ihnen hineinkommen, um mich zu vergewissern, daß alles in Ordnung ist?«

Coleman, der schon ausgestiegen war, antwortete: »Das ist wirklich nicht nötig.« Wieder eine ruhige, aber unmißverständliche Feststellung.

O'Donnell beugte sich über den Sitz. »Nun gut. Wir erwarten Sie also morgen. Viel Glück.«

»Danke.«

Der Hoteldiener warf die Tür zu, und O'Donnell lenkte seinen Wagen in den Stadtverkehr zurück. Er blickte auf seine Uhr. Es war zwei. Er entschied sich, zuerst in seine Privatsprechstunde und später in das Krankenhaus zu fahren.

Elizabeth Alexander saß auf der lederbespannten Bank vor dem Labor für ambulante Patienten des Three Counties Hospitals. Sie fragte sich, warum die Wände des Ganges wohl in zwei verschiedenen Brauntönen gestrichen worden waren, statt in helleren und freundlicheren Farben. Er lag ohnehin in dem düsteren Teil des Krankenhauses. Ein wenig Gelb oder auch ein helles Grün hätte diesen Gang viel freundlicher gemacht.

Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte Elizabeth helle Farben geliebt. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen die ersten Vorhänge für ihr eigenes Zimmer zu Hause genäht hatte. Sie waren aus lichtblauem Chintz mit einem Muster aus eingewebten Sternen und Monden gewesen. Heute war sie der Meinung, daß sie die Vorhänge recht schlecht genäht hatte, aber damals fand sie sie großartig. Um sie aufzuhängen, ging sie damals in den Laden ihres Vaters hinunter und hatte ihre Freude daran, die Dinge zusammenzusuchen, die sie dazu brauchte. Eine Vorhangstange in der richtigen Länge, Ringe und Beschläge, Schrauben und einen Schraubenzieher. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater zwischen den anderen Metallwaren nach dem suchte, was sie wünschte. Im Laden war alles in hohen Stapeln unordentlich übereinandergeschichtet, so daß er meistens lange nach allem suchen mußte, was seine Kunden verlangten.

Das war vor langem in New Richmond in Indiana gewesen, zwei Jahre, ehe ihr Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Oder waren es drei? Es fiel einem schwer, sich genau zu erinnern; die Zeit verging so schnell. Sie wußte noch, daß es sechs Monate vor dem Tod ihres Vaters gewesen war, als sie John zum erstenmal traf. In gewisser Weise hatte auch das mit Farben zu tun. Er war in den Ferien von der Oberschule und kam in das Geschäft, um rote Farbe zu kaufen. Damals half Elizabeth schon im Laden mit, und sie hatte ihm Rot ausgeredet und statt dessen Grün verkauft.

Oder war es umgekehrt gewesen? Auch das war jetzt schon verschwommen. Sie wußte jedoch, daß sie sich beim ersten Anblick in John verliebte. Vielleicht wollte sie ihn nur länger im Geschäft festhalten, als sie ihm vorschlug, eine andere Farbe zu nehmen. In der Erinnerung schien es ihr, daß es seitdem niemals einen Zweifel gegeben hatte, welche Gefühle sie füreinander hegten. Ihre Jugendliebe überdauerte auch Johns Aufstieg von der Oberschule zum College, und sechs Jahre nach ihrer ersten Begegnung heirateten sie. Seltsamerweise drängte sie niemand, damit zu warten, obwohl keiner von ihnen Geld hatte und John mit einem Stipendium das College besuchte. Alle, die sie kannten, schienen ihre Heirat als natürlich und selbstverständlich anzusehen.

Manchen Leuten wäre ihr erstes gemeinsames Jahr vielleicht schwierig erschienen. Für John und Elizabeth war es eine strahlende, glückliche Zeit. Im Jahre vorher hatte Elizabeth eine Abendschule besucht, und in Indianapolis, wo John auf dem College studierte, arbeitete sie als Stenotypistin und verdiente den Lebensunterhalt für sie beide.

In diesem Jahr diskutierten sie ernsthaft über Johns Zukunft; ob er sein Ziel höherstecken und versuchen solle, Medizin zu studieren, oder sich mit der kürzeren Ausbildung als medizinischer Laborant begnügen. Elizabeth gab dem Medizinstudium den Vorzug, obwohl es bedeutete, daß es noch einige Jahre dauern würde, bis John zu verdienen anfing. Aber sie war bereit gewesen, weiterzuarbeiten. John war sich dagegen nicht so sicher. Schon immer hatte er sich gewünscht, Arzt zu werden, und vom College konnte er gute Zeugnisse vorlegen, aber er wartete ungeduldig darauf, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Als Elizabeth dann feststellte, daß sie in anderen Umständen war, war für John die Frage entschieden. Gegen den Protest seiner Frau meldete er sich bei einer medizinischtechnischen Fachschule an, und sie zogen nach Chikago.

Dort bekamen sie ihr Baby und nannten es Pamela. Vier Wochen später starb das Kind an einer Bronchitis, und eine Zeitlang schien Elizabeth die Welt über ihr zusammengestürzt zu sein. Trotz ihrer Festigkeit und ihrer Vernunft brach sie zusammen und nahm an nichts mehr Anteil. John tat alles, was er konnte. Nie war er freundlicher oder rücksichtsvoller gewesen, aber es half nichts. Sie spürte, daß sie fortgehen mußte, und kehrte zu ihrer Mutter nach New Richmond zurück. Aber nach einer Woche empfand sie Sehnsucht nach John und ging wieder zu ihm nach Chikago. Von diesem Tag an gewann sie langsam, aber sicher ihr normales Selbst wieder. Sechs Wochen vor Johns Abschlußexamen wußte sie, daß sie wieder ein Kind erwartete. Das war das Erlebnis, das über ihre endgültige Erholung entschied. Jetzt fühlte sie sich gesund, hatte ihre alte Fröhlichkeit wiedergewonnen, und bei dem Gedanken an das ungeborene Kind in ihr stieg ihre freudige Erwartung. In Burlington hatten sie eine kleine, aber freundliche Wohnung gefunden. Die Miete war billig, aus ihren vorsorglichen Ersparnissen hatten sie die Möbel anbezahlt und konnten die monatlichen Raten aus Johns Gehalt am Krankenhaus decken. Im Augenblick ist alles sehr schön und gut, dachte Elizabeth, außer diesem abscheulichen Braun an den Korridorwänden.

Die Tür des Labors wurde geöffnet, und die Frau, die vor Elizabeth gewartet hatte, kam heraus. Eine medizinische Assistentin im weißen Kittel stand hinter ihr. Die Assistentin sah auf ihre Notiztafel. »Mrs. Alexander?«

»Das bin ich.« Elizabeth stand auf.

»Wollen Sie bitte hereinkommen?«

Sie folgte dem Mädchen durch die Tür.

»Setzen Sie sich bitte, Mrs. Alexander. Es dauert nicht lange.«

An ihrem Schreibtisch studierte die Assistentin das Formular, das Dr. Dornberger ausgefüllt hatte. »Rh-Faktor feststellen und Sensibilitätstest. Gut. Legen Sie bitte Ihren Arm hierher, und ballen Sie die Faust.« Sie ergriff Elizabeths Handgelenk, wischte mit einem antiseptischen Mittel über ihren Arm und schlang dann geschickt einen Gummischlauch um den Oberarm. Von einem Tablett nahm sie eine Spritze, öffnete ein Päckchen mit einer sterilisierten Nadel, die sie auf die Spritze steckte. Schnell wählte sie eine Vene an Elizabeths Arm, führte mit einem kurzen, scharfen Stich die Nadel ein und zog den Kolben der Spritze zurück. Sie zapfte so viel Blut, bis die Skala auf der Spritze sieben Kubikzentimeter anzeigte, zog rasch die Nadel aus der Vene und drückte einen Baumwolltupfer auf den Einstich. Das Ganze hatte weniger als fünfzehn Sekunden gedauert.

»Mir scheint, das haben Sie schon öfter getan«, sagte Elizabeth. Das Mädchen lächelte. »Sicher schon ein paar hundert Male.« Elizabeth sah zu, während die Assistentin ein Reagenzglas beschriftete und die Blutprobe hineinfüllte. Als sie damit fertig war, stellte sie das Reagenzglas auf ein Gestell. Sie verkündete: »Das ist alles, Mrs. Alexander.«

Elizabeth deutete auf das Glas. »Was geschieht jetzt damit?«

»Es kommt in das serologische Labor. Einer der Techniker dort wird die Untersuchung durchführen.« Elizabeth fragte sich, ob das wohl John sein würde.

Mike Seddons, der allein im Aufenthaltsraum der Assistenzärzte saß, war zutiefst beunruhigt. Wenn jemand ihm vor einem Monat gesagt hätte, daß er sich um ein Mädchen, das er bei allem kaum kannte, so sorgen würde, hätte er den anderen für verrückt gehalten. Doch seit achtundvierzig Stunden, seit er das Krankenblatt im Schwesternzimmer auf Vivians Station eingesehen hatte, waren seine Sorgen und seine Qual ständig gewachsen. In der vergangenen Nacht hatte er kaum geschlafen. Stundenlang hatte er wachgelegen, immer wieder die volle Bedeutung der Worte überdacht, die in Dr. Lucy Graingers Handschrift auf dem Krankenblatt standen. »Vivian Loburton, Verdacht auf Osteosarkom, Vorbereitung für Probeexcision.«

Als er Vivian zum erstenmal gesehen hatte - bei der Obduktion -, war sie für ihn nicht mehr als irgendeine hübsche Lernschwester gewesen. Selbst bei ihrer zweiten Begegnung -vor dem Vorfall im Park - hatte er vorwiegend als ein interessantes, aufregendes Zwischenspiel an sie gedacht. Mike Seddons machte sich nie selbst etwas vor, weder über Worte noch über seine Absichten.

Auch jetzt tat er es nicht.

Zum erstenmal in seinem Leben liebte er tief und aufrichtig, und er war von einer quälenden, furchtbaren Angst ergriffen.

In der Nacht, als er Vivian sagte, daß er sie heiraten wolle, hatte er keine Zeit gehabt, die sich daraus ergebenden Folgen zu überdenken. Bis zu diesem Punkt hatte Mike Seddons sich immer selbst gesagt, daß eine Heirat für ihn nicht in Frage kam, ehe er seine Praxis eingerichtet, sich die Hörner abgestoßen und seine Zukunft finanziell gesichert hatte. Aber als er seine Worte an Vivian ausgesprochen hatte, wußte er, daß er sie aufrichtig meinte. Hundertmal hatte er sie seitdem im stillen wiederholt, ohne daß ihm einmal der Gedanke kam, sie zu bedauern.

Und nun das!

Im Gegensatz zu Vivian, die ihr Leiden immer noch für eine kleine Beule unter dem Knie hielt - etwas Lästiges, aber nichts, das nicht durch eine Behandlung auf die eine oder andere Weise behoben werden konnte -, kannte Mike Seddons die Bedeutung der Worte >Verdacht auf Osteosarkome. Er wußte, wenn diese Diagnose bestätigt wurde, bedeutete es, daß Vivian an einem virulenten, bösartigen Knochenkrebs litt, der sich durch ihren ganzen Körper auszubreiten drohte und es vielleicht schon getan hatte. In diesem Fall waren ihre Aussichten, ohne eine schnelle Operation länger als rund ein Jahr zu überleben, gleich Null. Und Operation bedeutete Amputation des Beines - so schnell wie möglich, nachdem die Diagnose bestätigt war, in der Hoffnung, das Umsichgreifen der tödlichen Krebszellen zu verhindern, ehe sie sich weit über den ursprünglichen Herd hinaus verbreitet hatten. Und selbst dann. Nach der Statistik wurden nur zwanzig Prozent der an Knochenkrebs erkrankten Patienten durch eine Amputation von ihrem Leiden geheilt. Mit den übrigen ging es ständig abwärts, manche lebten nur noch ein paar Monate.

Aber es mußte kein Osteosarkom sein. Es konnte ein harmloser Knochentumor sein. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig - die gleichen Aussichten wie beim Werfen einer Münze.

Mike Seddons fühlte, wie ihm der Schweiß bei dem Gedanken ausbrach, wieviel für sie beide, für ihn selbst und für Vivian, von dem Ergebnis der Probeexcision abhing. Er hatte überlegt, ob er zu Lucy Grainger gehen und ihr alles offenbaren solle, sich dann aber dagegen entschieden. Wahrscheinlich konnte er mehr erfahren, wenn er sich im Hintergrund hielt. Wenn er sein persönliches Interesse bekanntwerden ließ, konnte es sein, daß sich ihm einige Informationsquellen verschlossen. Um seine Gefühle zu schonen, konnten die anderen in ihren Äußerungen ihm gegenüber vorsichtig und zurückhaltend sein.

Das wollte er nicht. So oder so, er mußte die Wahrheit wissen.

Es war ihm nicht leichtgefallen, mit Vivian zu sprechen und gleichzeitig zu versuchen, seine Befürchtungen geheimzuhalten. Gestern abend, als er allein bei ihr in ihrem Krankenzimmer saß - die andere Patientin war entlassen worden, und das zweite Bett stand leer -, hatte sie über seine offensichtlich düstere Stimmung gescherzt.

Vergnügt hatte sie die Trauben gegessen, die er ihr früher gebracht hatte, und gesagt: »Ich weiß, was dir fehlt. Du grämst dich, daß du jetzt an mich gebunden bist und nicht mehr aus einem Bett in das nächste hüpfen kannst.«

»Ich bin nie aus einem Bett in das nächste gehüpft«, antwortete er und versuchte, ebenso gutgelaunt zu erscheinen wie sie. »So leicht ist das gar nicht. Man hat schon seine Mühe damit.«

»Mit mir hattest du nicht sehr viel Mühe.«

»Mit dir war es etwas anderes. Da passierte es einfach.«

Dabei wurde sie nachdenklich. »Ja, ich weiß.« Und wieder fröhlich fuhr sie fort: »Nun, auf jeden Fall hat es keinen Zweck, wenn du glaubst, hier herauszukommen, Dr. Michael Seddons.

Ich habe nicht die Absicht, dich wieder loszulassen - niemals!«

Darauf küßte er sie, hielt sie fest umschlungen. Sie hob das Gesicht und flüsterte in sein Ohr. Ihr Haar lag weich gegen seine Wange und duftete. Leise sagte sie: »Noch etwas, Doktor. Seien Sie vorsichtig mit diesen Lernschwestern. Sie haben keine Moral.«

»Wirklich?« Er hielt sie von sich ab. »Und warum hat mir das niemand vorher gesagt?«

Sie trug ein dünnes, blaues Jäckchen, das vorn offen stand, darunter ein Nylonnachthemd von dem gleichen durchsichtigen Blau. Plötzlich überfiel es ihn atemberaubend, wie jung und schön sie war.

Vivian sah zur Tür. Sie war geschlossen. Sie sagte: »Sie haben heute hier auf der Station sehr viel zu tun. Ich weiß es, weil Sie es mir sagten. Wahrscheinlich kommt erst in einer Stunde wieder jemand ins Zimmer.«

Einen Augenblick war er schockiert. Dann lachte er und verliebte sich wieder Hals über Kopf in ihre ehrliche und einfache Offenheit. Er sagte: »Meinst du hier? Jetzt?«

»Warum nicht?«

»Wenn jemand kommt, werde ich aus dem Hospital hinausgeworfen.«

Leise sagte sie: »Davor hast du neulich abend nicht so viel Angst gehabt.« Ihre Fingerspitzen glitten leicht über sein Gesicht. Impulsiv beugte er sich vor und küßte sie auf den Hals. Als seine Lippen weiter herunterglitten, hörte er, wie sich ihr Atem beschleunigte, und spürte, wie ihre Finger sich in seine Schulter krallten.

Einen Augenblick war er versucht, dann siegte seine Vernunft. Er legte seine Arme um sie. Zärtlich murmelte er: »Wenn das alles vorüber ist, Vivian, Liebling, können wir wirklich allein sein. Und noch wichtiger, wir haben dann so viel Zeit, wie wir uns wünschen.«

Das war gestern gewesen. Heute nachmittag würde Lucy in einem Operationsraum die Probeexcision vornehmen. Mike Seddons sah auf seine Uhr. Es war zwei Uhr dreißig. Dem Operationsplan zufolge mußten sie jetzt beginnen. Wenn die Pathologie schnell arbeitete, konnte morgen das Ergebnis vorliegen. Mit einer leidenschaftlichen Inbrunst, die ebenso widerspruchsvoll wie auffällig war, betete er zu seiner eigenen Überraschung: O Gott, bitte, Gott, laß ihn gutartig sein.

Der Narkosearzt nickte. »Von uns aus ist es soweit, Lucy.«

Dr. Lucy Grainger kam um das Kopfende des Operationstisches herum. Sie hatte schon die Handschuhe und den Operationskittel an. Zu Vivian herunterlächelnd sagte sie aufmunternd: »Es dauert nicht lange, und Sie werden nicht das geringste spüren.«

Vivian versuchte, zuversichtlich zurückzulächeln. Sie wußte allerdings, daß es ihr nicht ganz gelang. Vielleicht, weil sie schon ein bißchen benommen war. Sie erinnerte sich, daß man ihr eine Beruhigungsspritze außer der Rückenmarksnarkose gegeben hatte, die der unteren Hälfte ihres Körpers jedes Gefühl nahm.

Lucy nickte dem ihr assistierenden Praktikanten zu. Er hob Vivians linkes Bein, und Lucy begann, die Tücher zu entfernen, die darum gewunden waren. Früher am Vormittag, ehe Vivian in den Operationsraum gebracht wurde, war ihr Bein rasiert, gründlich gebadet und mit Merthiolate bestrichen worden. Jetzt trug Lucy noch einmal das Desinfektionsmittel auf und bedeckte das Bein oberhalb und unterhalb des Knies mit frischen, sterilen Tüchern.

Auf der anderen Seite des Operationstisches hielt die Operationsschwester ein zusammengefaltetes grünes Laken bereit. Lucy faßte es an einer Seite, und sie breiteten es so über den Tisch, daß die Öffnung in dem Tuch unmittelbar über Vivians nacktem Knie lag. Der Narkosearzt griff danach und befestigte den oberen Saum des Tuches an einer Metallstange über Vivians Kopf, so daß sie von dem übrigen Operationsraum nichts mehr sehen konnte. Während er zu ihr hinuntersah, sagte er: »Bleiben Sie ganz ruhig, Miss Loburton. Es ist nicht viel anders, als ob man einen Zahn gezogen bekommt - nur sehr viel angenehmer.«

»Skalpell bitte.« Lucy streckte die Hand aus, und die Operationsschwester reichte ihr das Messer. Mit der Mitte der Klinge vollzog sie einen kurzen, kräftigen Schnitt, unmittelbar unter dem Knie, etwa vier Zentimeter lang. Sofort begann das Blut zu fließen.

»Arterienklemmen.« Die Operationsschwester hielt sie ihr schon hin, und Lucy klemmte zwei kleine Gefäße ab. »Wollen Sie bitte abbinden.« Sie trat zurück, damit der Praktikant hinter den beiden Klammern Schlingen um die Blutgefäße legen konnte.

»Jetzt schneiden wir durch das Periost.« Der Praktikant nickte, Lucy setzte das Skalpell, das sie schon vorher verwendet hatte, auf das dicke, faserige Gewebe der Knochenhaut und durchschnitt sie glatt.

»Fertig zum Sägen.« Die Operationsschwester reichte Lucy eine mechanische Stryker-Säge. Hinter ihr hielt eine zweite Schwester das elektrische Kabel von dem Operationstisch ab.

Wieder erklärte Lucy dem Praktikanten: »Wir werden eine keilförmige Probe des Knochens herausnehmen. Etwa einen halben bis dreiviertel Zoll lang. Das sollte genügen.«

Sie sah zu den Röntgenfilmen hinüber, die vor einem Leuchtschirm an der Wand hingen. »Wir müssen uns natürlich vergewissern, daß wir auch in den Tumor hineinkommen und nicht ein gesundes Knochenstück nehmen, das vorgedrückt wurde.«

Lucy schaltete die Säge ein und setzte sie zweimal an. Jedesmal, wenn die Zähne in den Knochen eindrangen, war ein gedämpftes, knirschendes Geräusch hörbar. Dann schaltete sie die Säge ab und reichte sie zurück. »So, ich denke, das genügt. Pinzette, bitte.«

Behutsam löste sie die Knochenprobe heraus und legte sie in ein kleines Gefäß mit Zenkerscher Lösung, die ihr die zweite Schwester hinhielt. Anschließend würde die Probe - bezeichnet und von einer Untersuchungsanforderung begleitet - in die Pathologie geschickt werden.

Der Narkosearzt fragte Vivian: »Nun, ist alles in Ordnung?«

Sie nickte.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte er. »Die Probe ist herausgenommen. Es muß nur noch der Schnitt zugenäht werden.« Lucy nähte bereits das Periost mit einer laufenden Naht. Wenn das alles wäre, wie einfach wäre es dann, dachte sie dabei. Aber der Eingriff war lediglich ein Probeexcision zur Untersuchung. Ihre nächste Maßnahme hing von Joe Pearsons Urteil über die Knochenprobe ab, die sie ihm hinunterschickte.

Der Gedanke an Joe Pearson erinnerte Lucy an etwas, das sie gerade von Kent O'Donnell erfahren hatte: Heute war der Tag, an dem der neue zweite Pathologe des Krankenhauses in Burlington ankommen sollte. Sie hoffte, daß mit dem neuen Mann alles glatt gehen würde. In O'Donnells Interesse ebensosehr wie aus vielen anderen Gründen.

Lucy respektierte die Bemühungen des Chefs der Chirurgie, Korrekturen im Krankenhaus ohne großes Aufsehen durchzusetzen, obwohl sie aus eigener Beobachtung wußte, daß O'Donnell einer Auseinandersetzung niemals auswich, wenn es wirklich not wendig war, frontal vorzugehen. Jetzt bin ich wieder dabei, dachte sie. Ich denke an Kent O'Donnell. Es war seltsam, wie sich gerade in letzter Zeit ihre Gedanken ständig ihm zuwandten. Vielleicht geschah es infolge ihrer Nähe bei der Arbeit. Die Tage waren selten, an denen die beiden sich nicht irgendwann während der Zeit, in der operiert wurde, begegneten. Jetzt fand Lucy, daß sie sich fragte, wie bald er sie wieder zum Abendessen einladen würde. Vielleicht konnte sie selbst in ihrem eigenen Appartement eine kleine Gesellschaft veranstalten. Es gab ein paar Leute, die sie schon seit einiger Zeit einladen wollte, und sie konnte Kent O'Donnell dazu bitten.

Lucy ließ den Praktikanten vor, um das subkutane Gewebe zu nähen. »Verwenden Sie Einzelnähte«, sagte sie zu ihm. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er arbeitete langsam, aber sorgfältig. Sie wußte, daß mancher der Chirurgen am Three Counties Hospital die Praktikanten sehr wenig tun ließ, wenn sie assistierten. Aber Lucy hatte nicht vergessen, wie oft sie an einem Operationstisch danebengestanden und gehofft hatte, wenigstens ein paar Knoten üben zu können.

Das war in Montreal gewesen, vor ganzen dreizehn Jahren, als sie ihre Assistentenzeit im Montreal General Hospital antrat und dann dort blieb, um sich auf orthopädische Chirurgie zu spezialisieren. Sie hatte oft darüber nachgedacht, welche Aussichten für einen Arzt bestanden, der sich für ein Spezialgebiet entschloß. Oft wurde dieser Entschluß von der Art der Fälle stark beeinflußt, die man in seiner Praktikantenzeit kennenlernte. Ihre eigenen Interessen, zuerst auf der medizinischen Fakultät bei der McGill University und später auf der medizinischen Fakultät der Toronto University waren häufig von einem Gebiet zu dem anderen gesprungen. Selbst bei ihrer Rückkehr nach Montreal war sie noch unentschlossen gewesen, ob sie sich überhaupt spezialisieren oder ob sie sich als praktische Ärztin niederlassen solle. Aber dann hatte der Zufall gewollt, daß sie eine Zeitlang unter der Aufsicht und Anleitung eines Chirurgen arbeitete, der wegen seiner Leidenschaft für die Orthopädie in dem Krankenhaus allgemein Old Bones genannt wurde.

Als Lucy ihn kennenlernte, war Old Bones Mitte Sechzig.

Seinem Auftreten und seiner Erscheinung nach war er einer der unangenehmsten Menschen, die sie kennengelernt hatte. Die meisten Lehrstätten haben ihre Primadonnen. In Old Bones schienen sich die schlimmsten Gepflogenheiten aller vereinigt zu haben. Regelmäßig beschimpfte er jeden in dem Krankenhaus - Praktikanten, Assistenten, seine eigenen Kollegen, Patienten - mit gleicher Unparteilichkeit. Im Operationsraum fluchte er, wenn er im geringsten gereizt wurde, auf Schwestern und Assistenten in Ausdrücken, die aus Kneipen und dem Hafenviertel stammten. Wenn ihm ein falsches Instrument gereicht wurde, schmiß er es an normalen Tagen nach dem Schuldigen, wenn er in nachsichtigerer Stimmung war, nur gegen die Wand.

Doch ungeachtet all dieser Auftritte war Old Bones ein Meister der Chirurgie. Der größte Teil seiner Arbeit galt der Beseitigung von Knochendeformationen bei verkrüppelten Kindern. Seine hervorragenden Erfolge hatten ihm Weltruf eingebracht. Aber er änderte niemals sein Verhalten und behandelte selbst Kinder, die seine Patienten waren, in der gleichen rauhen Art wie Erwachsene. Aber irgendwie schienen Kinder selten vor ihm Angst zu haben. Lucy hatte sich oft gefragt, ob der kindliche Instinkt nicht ein besserer Maßstab sei als die Vernunft der Erwachsenen.

Es war aber der Einfluß von Old Bones, der tatsächlich über Lucys Zukunft entschied. Als sie aus erster Hand gesehen hatte, was die orthopädische Chirurgie vollbringen konnte, wollte sie ihr Teil zu diesen Leistungen beitragen. Drei Jahre Assistentenzeit verbrachte sie im Montreal General Hospital und assistierte Old Bones, sooft sie dazu die Möglichkeit hatte. Sie eiferte ihm in allem nach, außer in seinen Manieren. Die änderte er nicht einmal Lucy gegenüber, obwohl sie gegen Ende ihres letzten Assistentenjahres stolz darauf war, daß sie erheblich seltener von ihm angeschrien wurde als andere.

Inzwischen hatte Lucy in ihrer ärztlichen Praxis eigene Erfolge aufzuweisen, und in Burlington war sie infolge der vielen Patienten, die von anderen Ärzten an sie überwiesen wurden, eines der beschäftigsten Mitglieder im Ärztestab des Three Counties Hospitals. Nur einmal war sie nach Montreal zurückgekehrt - der Anlaß lag jetzt zwei Jahre zurück -, um am Begräbnis von Old Bones teilzunehmen. Es wurde behauptet, es sei eine der größten Trauerfeiern für einen Arzt gewesen, die die Stadt je gesehen hatte. Praktisch jeder, den der alte Mann je in seinem Leben beschimpft hatte, war in die Kirche gekommen.

Ihre Gedanken kehrten zur Gegenwart zurück. Die Biopsie war fast abgeschlossen. Auf einen Wink von Lucy hin war der Praktikant dazu übergegangen, die Haut zu vernähen, wobei er wieder Einzelnähte setzte. Er legte gerade die letzte an. Lucy blickte zur Uhr über ihr an der Wand. Der ganze Eingriff hatte eine halbe Stunde gedauert. Es war drei Uhr.

Um sieben Minuten vor fünf stürmte ein sechzehnjähriger Krankenhaushelfer pfeifend und mit schwingenden Hüften in das serologische Labor. Das war die übliche Form, in der er dort erschien, weil er wußte, daß es Bannister, mit dem er auf ständigem Kriegsfuß stand, ärgerte. Wie immer sah der erste Laborant von seiner Arbeit auf und fauchte ihn ungehalten an: »Ich sage dir jetzt zum letztenmal, daß du dieses unerträgliche Benehmen unterlassen sollst, wenn du hier hereinkommst.«

»Da bin ich aber froh, daß es das letzte Mal ist.« Der Junge war nicht im geringsten beeindruckt. »Offen gesagt, geht mir Ihre ständige Nörgelei schon auf die Nerven.« Pfeifend trat er näher und balancierte ein Tablett mit Blutproben, die er in dem Labor für ambulante Patienten abgeholt hatte. »Wo soll ich das Blut hinstellen, Mr. Vampir?«

John Alexander feixte. Bannister dagegen fand es nicht komisch. »Du weißt, wo es hingehört, Dummkopf.« Er deutete auf eine Stelle auf einem der Labortische. »Stell es da hin.«

»Zu Befehl, Sir, Captain, Sir.« Umständlich stellte der Junge das Tablett ab und salutierte grollend. Mit einer Hüftschwenkung vollführte er eine Kehrtwendung und sang, während er zur Tür ging:

»Laß mich dorthin, wo die Virusse hausen, wo die Bakterien durch die Gegend sausen, wo der Vampir sein ganzes Leben verbringt und es aus allen Reagenzgläsern stinkt.«

Die Tür fiel zu, und seine Stimme verklang auf dem Gang.

Alexander lachte. »Lachen Sie nicht darüber«, sagte Bannister. »Er wird dann nur noch unverschämter.« Er trat zu dem Tisch und nahm die Blutproben auf. Dabei blätterte er gleichgültig die Anforderungen durch, die dabeilagen. Als er halb durch das Labor gegangen war, blieb er stehen.

»He! Da ist eine Blutprobe von einer Mrs. Alexander dabei. Ist das Ihre Frau?«

Alexander legte die Pipette hin, mit der er gerade arbeitete, und trat zu ihm. »Wahrscheinlich ja. Dr. Dornberger hat sie zu einem Sensibilitätstest hergeschickt.« Er nahm die Anweisung und las sie durch. »Ja, das ist Elizabeth.«

»Da steht sowohl Blutgruppenbestimmung als auch Sensibilitätstest«, sagte Bannister.

»Ich nehme an, Dr. Dornberger wollte sichergehen. Tatsächlich ist Elizabeth Rh-negativ.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Ich bin Rh-positiv.«

Großspurig und mit der Miene väterlicher Weisheit antwortete Bannister: »Nun, ja. Das führt in den seltensten Fällen zu Komplikationen.«

»Ja, ich weiß. Trotzdem möchte man sicher sein.«

»Nun, hier ist die Probe.« Bannister nahm das mit einem Schild »Alexander, Mrs. E.« versehene Reagenzglas und hielt es hoch. »Wollen Sie den Test selbst ausführen?«

»Ja gern, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Bannister hatte nie etwas dagegen, wenn ein anderer eine Arbeit übernahm, die ihm vielleicht selbst zugefallen wäre. Er antwortete: »Mir soll es recht sein.« Nach einem Blick auf die Uhr fügte er dann hinzu: »Aber heute geht es nicht mehr. Es ist Zeit, Feierabend zu machen.« Er setzte das Glas mit der Probe auf das Tablett zurück und reichte es Alexander. »Stellen Sie das alles bis morgen fort.«

Alexander nahm die Blutproben und stellte sie in den Kühlschrank des Labors. Als er den Kühlschrank geschlossen hatte, hielt er nachdenklich inne.

»Carl, ich wollte Sie etwas fragen.«

Bannister war schon mit Aufräumen beschäftigt. Er verließ das Labor gern um Punkt fünf. Ohne den Kopf zu wenden, fragte er: »Ja, was ist denn?«

»Die Blutsensibilitätstests, die wir hier vornehmen - ich habe mich darüber gewundert.«

»Worüber haben Sie sich gewundert?«

Alexander wählte seine Worte sorgfältig. Von Anfang an war er auf die Möglichkeit gefaßt gewesen, daß er seiner eigenen Collegeausbildung wegen bei Leuten von der Art Bannisters auf Ablehnung stoßen könne. Wie bisher, wollte er auch jetzt vermeiden, ihn zu reizen. »Wir führen hier nur zwei Sensibilitätstests durch - den einen in Salzlösung und den anderen in konzentriertem Protein.«

»Na und?«

»Nun«, sagte Alexander behutsam, »sind diese beiden Tests allein nicht etwas, überholt?«

Bannister war mit Aufräumen fertig. Er kam zu dem Mitteltisch herüber und wischte sich die Hände an einem Papierhandtuch ab. Scharf fragte er: »Wie kommen Sie darauf?«

Alexander überging den scharfen Ton. Die Sache war zu wichtig. Er erklärte: »In den meisten Labors wird heute ein dritter Test ausgeführt - ein indirekter Coombs - anschließend an den Test in der Salzlösung.«

»Ein was für ein Test?«

»Ein indirekter Coombs.«

»Was ist denn das?«

»Soll das ein Witz sein?« Im gleichen Augenblick, als Alexander die Worte aussprach, erkannte er, daß er einen taktischen Fehler begangen hatte. Aber er hatte impulsiv geantwortet, weil er der Meinung war, daß kein serologischer Laborant den indirekten Coombs nicht kennen könne.

Der erste Laborant fuhr auf. »Werden Sie nicht frech.«

Schnell versuchte Alexander den Schaden wiedergutzumachen und entgegnete: »Es tut mir leid. So hatte ich es nicht gemeint.«

Bannister ballte das Papierhandtuch zusammen und warf es in einen Abfalleimer. »So klang es aber.« Aggressiv beugte er sich vor. Auf seinem kahlen Kopf reflektierte das Licht der Glühlampe über ihm. »Hören Sie genau zu, mein Junge. In Ihrem eigenen Interesse will ich Ihnen etwas sagen. Sie kommen frisch von der Fachschule, und zu den Dingen, hinter die Sie noch nicht gekommen sind, gehört, daß manches, was Sie da gelernt haben, sich in der Praxis einfach nicht bewährt.«

»Es geht nicht nur um eine Theorie, Carl.« Alexander antwortete jetzt sehr nachdrücklich. Sein Fehler von vorhin schien ihm unwichtig. »Es ist nachgewiesen, daß manche Antikörper im Blut einer schwangeren Frau in der Salzlösung oder in konzentriertem Protein einfach nicht nachgewiesen werden können.«

»Und wie oft kommt das vor?« Bannisters Ton war anmaßend, als ob er die Antwort im voraus wisse. »Sehr selten.«

»Da haben wir es ja.«

»Aber oft genug, um den dritten Test wichtig zu machen.« John Alexander blieb hartnäckig. Er versuchte, Bannisters Ablehnung, etwas Neues zu lernen, zu überwinden. »Tatsächlich ist der Test ganz einfach. Nach dem Test in der Salzlösung nimmt man das gleiche Reagenzglas.«

Bannister unterbrach ihn. »Sparen Sie sich die Belehrung für ein andermal.« Er zog seinen Laborkittel aus und griff nach seiner Jacke hinter die Tür.

Obwohl Alexander wußte, daß es aussichtslos war, fuhr er fort: »Es ist nicht viel mehr Arbeit. Ich mache ihn gern selbst. Man benötigt nur Coombs-Serum dazu. Es ist richtig, daß die Tests dadurch etwas kostspieliger werden.«

Das war für Bannister vertrautes Gelände. Jetzt verstand er besser, worüber sie sprachen. »O ja«, sagte er sarkastisch, »das würde Pearson sehr gefallen. Für alles, was mehr kostet, ist er bestimmt sofort zu haben.«

»Aber verstehen Sie denn nicht? Ohne diesen Test gibt es keine unbedingte Gewißheit.« Alexander sprach nachdrücklich, ohne sich bewußt zu werden, daß er seine Stimme erhoben hatte. »Die beiden Tests, die hier ausgeführt werden, können zu einem negativen Ergebnis führen, obwohl das Blut der Mutter doch sensibilisiert und für das Kind gefährlich ist. Ohne ihn kann man ein Neugeborenes töten.«

»Nun, es ist nicht unsere Aufgabe, uns darüber den Kopf zu zerbrechen.« Bannister antwortete in seinem gröbsten Ton. Er schrie die Worte beinahe.

»Aber.«

»Da gibt es kein Aber. Pearson legt keinen Wert auf neue Methoden - besonders nicht, wenn sie mehr Geld kosten.« Bannister zögerte, und seine Aggressivität milderte sich etwas. Es war ihm bewußt, daß es eine Minute vor fünf war, und ihm lag daran, das Gespräch zu beenden und fortzugehen. »Passen Sie auf, mein Junge. Ich will Ihnen einen Rat geben. Wir sind keine Ärzte, und es wäre klug von Ihnen, wenn Sie aufhörten, sich als Arzt aufzuspielen. Wir sind Laboranten, und wir arbeiten hier so, wie es uns befohlen wird.«

»Soll das etwa heißen, daß ich nicht denken darf?« Nun wurde Alexander erregt. »Ich weiß nur, daß ich Wert darauf lege, daß der Test mit dem Blut meiner Frau in Salzlösung und in Protein und in Coombs-Serum durchgeführt wird. Sie interessiert das vielleicht nicht, aber für uns ist dieses Kind zufällig wichtig.«

Von der Tür sah der ältere Mann Alexander prüfend an. Er konnte jetzt klar erkennen, was er bisher nicht bemerkt hatte -der Junge da war ein Stänkerer. Und was mehr war, Stänkerer hatten die Gewohnheit, andere in Ungelegenheiten zu bringen. Vielleicht sollte man diesen eingebildeten Collegeschüler sich den Hals brechen lassen. Bannister sagte: »Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann gehen Sie selbst zu Pearson. Sagen Sie ihm ruhig, daß Sie mit der Art und Weise, in der hier gearbeitet wird, nicht zufrieden sind.«

Alexander sah den ersten Laboranten fest an. Dann antwortete er ruhig: »Vielleicht tue ich das auch.«

Bannister verzog den Mund. »Ganz wie Sie wollen. Aber vergessen Sie nicht: ich habe Sie gewarnt.«

Nach einem letzten Blick auf die Uhr ging er hinaus und ließ John Alexander allein im Labor zurück.

XII

Vor dem Haupteingang zum Three Counties Hospital blieb Dr. David Coleman stehen, um sich umzusehen. Es war ein paar Minuten nach acht an einem warmen Morgen Mitte August, und jetzt schon stand ein drückend heißer Tag zu erwarten. In diesem Augenblick herrschte vor dem Krankenhaus wenig Leben. Außer ihm waren die einzigen Menschen in Sicht ein Hauswart, der mit einem Schlauch einen Teil des Staubes vom gestrigen Tage von dem Vorplatz schwemmte, und eine Schwester mittleren Alters, die auf der anderen Straßenseite gerade aus einem Bus gestiegen war. Er nahm an, daß der Betrieb des Krankenhauses etwa erst in einer Stunde voll einsetzen würde.

David Coleman ließ seinen Blick über den Gebäudekomplex wandern, der das Three Counties Hospital bildete. Zweifellos konnte man den Erbauern des Krankenhauses nicht vorwerfen, daß sie für ästhetisches Beiwerk Geld vergeudet hätten. Die Architektur war nüchtern, zweckbestimmt, die kahle Ziegelfront wurde durch kein anderes Mauerwerk belebt. Sie bestand aus einer Aneinanderreihung konventioneller Rechtecke: Mauern mit Türen und Fenstern. Nur neben dem Haupteingang fand sich eine Unterbrechung. Dort gab eine einzige behauene Natursteinplatte bekannt: »Der Grundstein wurde von dem ehrenwerten Bürgermeister Hugo Stouting im April 1918 gelegt.« Während David Coleman die Stufen zum Eingang hinaufstieg, fragte er sich, was für eine Art Mensch dieser langvergessene Würdenträger gewesen sein mochte.

Carl Bannister ordnete Papiere auf Dr. Pearsons Schreibtisch, als Coleman an dem Arbeitszimmer des Pathologen anklopfte und eintrat.

»Guten Morgen.«

Überrascht blickte der erste Laborant auf. Es war ungewöhnlich, daß so früh am Morgen Besucher kamen. Die meisten im Krankenhaus wußten, daß Joe Pearson selten vor zehn Uhr im Krankenhaus erschien, manchmal wurde es noch später.

»Guten Morgen.« Er erwiderte den Gruß nicht allzu freundlich. Am frühen Morgen war Bannister nie in der besten Laune. Er fragte: »Suchen Sie Dr. Pearson?«

»In gewisser Weise, ja. Ich beginne heute hier zu arbeiten.« Als er Bannisters Überraschung bemerkte, fügte er hinzu: »Ich bin Dr. Coleman.«

So ähnlich muß eine Henne reagieren, wenn man ihr Knallfrösche unterschiebt, dachte Coleman. Bannister ließ die Papiere schnell fallen und kam fast im Laufschritt um den Schreibtisch herum. Sein kahler Schädel glänzte. »Oh, verzeihen Sie, Doktor. Das wußte ich nicht. Ich habe zwar gehört, daß Sie kommen, hatte aber keine Ahnung, daß es so bald sein würde.«

Ruhig antwortete Coleman: »Dr. Pearson erwartet mich. Ist er übrigens schon im Haus?«

Bannister schien schockiert. »Dazu ist es noch zu früh. Er wird kaum vor zwei Stunden kommen.« Sein Gesicht verzog sich zu einem vertraulichen Von-Mann-zu-Mann-Lächeln. Er schien zu sagen: Ich erwarte, daß Sie die gleichen Arbeitsstunden einhalten, sobald Sie hier nicht mehr neu sind.

»Ah so.«

Während Coleman sich umsah, fiel Bannister ein, daß er etwas versäumt hatte. Er sagte: »Übrigens, Doktor, ich bin Carl Bannister, der erste Laborant.« Mit wohlüberlegter Liebenswürdigkeit fügte er hinzu: »Ich nehme an, wir werden viel miteinander zu tun haben.« Aus Prinzip riskierte Bannister gegenüber jedem, der ihm vorgesetzt war, nichts.

»Ja, das nehme ich auch an.« Coleman war sich nicht sicher, ob ihm die Aussicht besonders zusagte. Aber er drückte Bannister die Hand und sah sich dann nach einem Platz um, wo er den leichten Regenmantel aufhängen konnte, den er mitgebracht haue. Der Wetterbericht hatte am frühen Morgen Gewitter im Verlauf des Tages vorausgesagt. Wieder bemühte Bannister sich eifrig, gefällig zu sein und einen guten Eindruck zu machen.

»Geben Sie mir Ihren Mantel.« Er fand einen Kleiderbügel und hängte den Mantel auf dem Bügel sorgfaltig an einen Haken neben der Tür.

»Danke«, sagte Coleman.

»Nichts zu danken, Doktor. Soll ich Sie jetzt durch die Labors führen?«

Coleman zögerte. Vielleicht war es richtiger, auf Dr. Pearson zu warten. Andererseits waren zwei Stunden eine lange Zeit, um nur herumzusitzen, und er konnte in der Zwischenzeit ebensogut etwas tun. Die Labors würden ohnehin sein Arbeitsbereich sein. Was machte es also aus? Er antwortete: »Einen Teil der Labors hat mir Dr. Pearson bereits gezeigt, als ich vor ein paar Wochen hier war. Aber ich werde sie mir noch einmal ansehen, falls Sie nicht zuviel zu tun haben.«

»Nun, wir haben natürlich immer viel zu tun, Doktor, aber ich nehme mir gern die Zeit für Sie. Es ist mir sogar ein Vergnügen.« Bannisters Gedanken waren unglaublich leicht zu durchschauen.

»Hier, bitte.« Bannister hatte die Tür zum serologischen Labor geöffnet und trat beiseite, um Coleman vorzulassen. John Alexander, der Bannister seit der Auseinandersetzung am Abend vorher noch nicht gesehen hatte, blickte von der Zentrifuge auf, in die er gerade eine Blutprobe einsetzte.

»Das ist John Alexander, Doktor. Er ist kürzlich bei uns eingetreten.« Carl Bannister erwärmte sich an der Rolle des Fremdenführers. Er fügte scherzend hinzu: »Noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Kommt unmittelbar von der Fachschule, nicht wahr, John?«

»Wie Sie meinen«, antwortete Alexander unverbindlich. Die Herablassung ärgerte ihn, aber er wollte nicht grob werden.

Coleman trat vor und streckte seine Hand aus. »Ich bin Dr. Coleman.«

Während sie sich die Hände schüttelten, fragte Alexander interessiert: »Dann sind Sie der neue Pathologe, Doktor?«

»Ja, das bin ich.« Coleman sah sich um. Wie bei seinem vorhergehenden Besuch konnte er sehen, daß hier sehr vieles anders wer den mußte.

Bannister sägte großspurig: »Sehen Sie sich nur um, Doktor. Betrachten Sie sich alles, was Sie wollen.«

»Danke.« Coleman wandte sich wieder Alexander zu und fragte: »Woran arbeiten Sie gerade?«

»An einem Blutsensibilitätstest.« Er deutete auf die Zentrifuge. »Diese Probe stammt übrigens von meiner Frau.«

Coleman stellte fest, daß dieser junge Laborant ihm erheblich besser gefiel als Bannister, jedenfalls in der äußeren Erscheinung. »Wann erwartet Ihre Frau das Kind?« fragte er.

»In etwas über zwei Monaten.« Alexander balancierte die Zentrifuge aus, schaltete sie ein und griff dann nach der Zeiteinstellung. Coleman bemerkte, daß seine Bewegungen knapp und flink waren. In der Art, wie der junge Mann mit seinen Händen arbeitete, lag etwas Müheloses, Fließendes. Höflich fragte Alexander: »Sind Sie verheiratet, Doktor?«

»Nein.« Coleman schüttelte den Kopf.

Alexander schien im Begriff, eine weitere Frage zu stellen, unterdrückte sie dann aber.

»Wollten Sie noch etwas fragen?«

Für einen Augenblick entstand eine Pause. Dann entschloß sich Alexander. »Ja, Doktor. Das würde ich gern«, antwortete er.

Ob es nun Ärger gibt oder nicht, dachte Alexander, zumindest konnte er seine Zweifel offen aussprechen. Gestern abend nach der Auseinandersetzung mit Bannister, war er versucht gewesen, die ganze Frage des dritten Sensibilitätstests mit den Blutproben, die ins Labor kamen, fallenzulassen. Er entsann sich nur zu gut der Abfuhr, die er von Dr. Pearson bei seinem letzten Vorschlag erhalten hatte. Mit diesem neuen Arzt schien sich allerdings besser reden zu lassen. Und selbst wenn er der Ansicht war, daß Alexander sich irrte, schien es nicht wahrscheinlich, daß er daraus eine große Szene machen würde. Alexander wagte es also. »Es geht um die Bluttests, die wir hier zur Sensibilitätsbestimmung durchführen.«

Als er sprach, wurde ihm bewußt, daß Bannister im Hintergrund stand. Der erste Laborant bewegte seinen Kopf in gespannter Aufmerksamkeit hin und her, damit ihm nichts entging, was gesagt wurde. Jetzt trat er verärgert und aggressiv vor, um Alexander zur Ordnung zu rufen. »Hören Sie mal. Wenn Sie mit der gleichen Geschichte wie gestern abend anfangen wollen, behalten Sie das besser für sich.«

Coleman fragte interessiert: »Über was sprachen Sie gestern abend?«

Bannister ignorierte die Frage und fuhr in zurechtweisendem Ton zu Alexander fort: »Ich will nicht, daß Dr. Coleman mit diesen Geschichten, schon fünf Minuten, nachdem er hier ankommt, belästigt wird. Haben Sie verstanden?« Er wandte sich Coleman zu und setzte sein automatisches Lächeln auf. »Das ist nur eine verrückte Idee von ihm, Doktor. Wenn Sie jetzt mit mir weiterkommen wollen, zeige ich Ihnen das histologische Labor.« Er legte eine Hand auf Colemans Arm, um ihn fortzuführen.

Ein paar Sekunden bewegte Coleman sich nicht. Dann griff er nach unten und schob die Hand nachdrücklich von seinem Arm fort. »Einen Augenblick noch«, sagte er ruhig. Dann zu Alexander: »Handelt es sich um eine medizinische Frage? Hat es mit der Laborarbeit zu tun?«

Alexander vermied geflissentlich, in Bannisters finsteres Gesicht zu sehen und antwortete: »Ja, Doktor.«

»Also gut. Lassen Sie hören.«

»Die Frage wurde durch den Test für meine Frau aufgeworfen«, antwortete Alexander. »Sie ist Rh-negativ, und ich bin Rh-positiv.«

Coleman lächelte. »Das ist bei vielen Eheleuten der Fall. Daraus ergibt sich noch kein Problem, solange der Sensibilitätstest negativ ausfällt.«

»Das ist ja gerade der Punkt, Doktor, der Test.«

»Wieso?« Coleman war verwundert. Ihm war durchaus nicht klar, worauf der junge Laborant hinauswollte.

Alexander erklärte: »Ich bin der Ansicht, wir sollten bei Sensibilitätstests mit allen Blutproben einen indirekten Coombs-Test ausführen, nach den Tests in Salzlösung und konzentriertem Protein.«

»Selbstverständlich. «

Darauf folgte Schweigen. Alexander brach es schließlich. »Würden Sie das bitte noch einmal sagen, Doktor?«

»Ich habe gesagt: selbstverständlich. Natürlich muß ein indirekter Coombs durchgeführt werden.« Coleman verstand immer noch nicht, worauf diese Diskussion abzielte. Für ein serologisches Labor war das eine elementare, grundlegende Selbstverständlichkeit.

»Aber hier wird kein indirekter Coombs durchgeführt, Doktor.« Alexander warf Bannister einen triumphierenden Blick zu. »Die Rh-Sensibilitätstests werden hier nur mit Salzlösung und mit konzentriertem Protein vorgenommen. Coombs-Serum wird hier überhaupt nicht verwendet.«

Zunächst war Coleman überzeugt, daß Alexander sich irren müsse. Anscheinend arbeitete der junge Laborant erst seit kurzer Zeit hier, und zweifellos verwechselte er etwas. Aber dann ließ der überzeugte Ton, mit dem Alexander gesprochen hatte, Coleman stutzig werden. »Stimmt das?« fragte er Bannister.

»Wir führen alle unsere Tests entsprechend den Anweisungen von Dr. Pearson durch.« Der alte Laborant gab klar zu erkennen, daß diese ganze Diskussion seiner Meinung nach Zeitverschwendung war.

»Vielleicht weiß Dr. Pearson nicht, daß Sie Tests auf den Rh-Faktor in dieser Weise vornehmen.«

»Das weiß er genau.« Dieses Mal ließ Bannister seinen Verdruß erkennen. Mit neuen Leuten war es immer das gleiche. Sie waren noch keine fünf Minuten an einem neuen Platz, und schon fingen sie an, Schwierigkeiten zu machen. Er hatte versucht, zu dem neuen Arzt freundlich zu sein, und das hatte er nun davon. Nun, eines war gewiß, Joe Pearson würde den Mann bald in seine Schranken verweisen. Bannister hoffte nur, daß er dabei sein würde.

Coleman entschloß sich, den Ton des ersten Laboranten zu überhören. Ob er wollte oder nicht, er mußte mit diesem Mann einige Zeit arbeiten. Trotzdem, die Frage mußte jetzt sofort geklärt werden. Er sagte: »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz richtig. Sie wissen doch sicher, daß manche Antikörper im Blut einer schwangeren Frau durch die Tests in Salzlösung und konzentriertem Protein nicht entdeckt werden, wohl aber bei einem weiteren Test mit Coombs-Serum.«

Alexander warf dazwischen: »Das habe ich ja auch gesagt.«

Bannister gab keine Antwort. Coleman fuhr fort: »Jedenfalls werde ich es bei Gelegenheit Dr. Pearson unterbreiten. Ich bin überzeugt, daß es ihm nicht bekannt war.«

»Und was sollen wir mit diesem Test und den weiteren von jetzt an tun?« fragte Alexander.

»Sie führen sie selbstverständlich mit allen drei Medien durch Salzlösung, konzentriertes Protein und Coombs-Serum.«

»Wir haben kein Coombs-Serum im Labor, Doktor.« Alexander war jetzt sehr froh, daß er die Sache vorgebracht hatte. Dieser neue Pathologe gefiel ihm. Vielleicht würde er auch noch einiges andere hier ändern. Der Himmel weiß, dachte er, es gibt eine Menge, das es vertragen kann.

»Dann wird welches beschafft.« Coleman war vorsätzlich knapp. »Es ist schließlich keine Mangelware.«

»Wir können nicht einfach losgehen und Material für das Labor holen«, sagte Bannister. »Dazu muß eine Einkaufsanforderung vorliegen.« Er zeigte ein überlegenes Lächeln. Schließlich gab es doch noch ein paar Dinge, die diese naseweisen Neulinge nicht wußten.

Coleman beherrschte seine Gefühle sorgfältig. Sehr bald konnte es notwendig werden, daß er diesem Bannister seine Stellung eindeutig klarmachen mußte. Auf keinen Fall hatte er die Absicht, sich dieses Betragen ständig bieten zu lassen. Aber der erste Tag in seiner neuen Stellung war offensichtlich nicht der geeignete Zeitpunkt. Immer noch freundlich, aber nachdrücklich sagte er: »Dann geben Sie mir ein Formular. Ich werde es wohl unterschreiben können. Das ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. «

Der alte Laborant zögerte kurz, öffnete dann eine Schublade und nahm einen Formularblock heraus, den er Coleman reichte. »Einen Bleistift, bitte.«

Mit dem gleichen Widerwillen zog Bannister einen aus der Tasche. Während er ihn Coleman reichte, sagte er mürrisch: »Dr. Pearson wünscht alle Bestellungen für Labormaterial selbst zu unterschreiben.«

Coleman kritzelte die Bestellung und unterschrieb sie. Mit einem knappen, kühlen Lächeln antwortete er: »Ich nehme an, daß meine Verantwortung hier etwas weiter reicht als für eine Bestellung von Kaninchenserum im Wert von fünfzehn Dollars. Hier.« Während er Block und Bleistift zurückreichte, klingelte das Telefon auf der anderen Seite des Labors.

Das war für Bannister ein Vorwand, sich umzudrehen. Mit vor Ärger über seine Niederlage gerötetem Gesicht ging er an den Wandapparat und meldete sich. Nachdem er kurz zugehört hatte, gab er eine knappe Antwort und hängte den Hörer zurück. »Muß zur ambulanten Abteilung.« Die fast gemurmelten Worte waren an Coleman gerichtet.

Er antwortete eisig: »Gehen Sie nur.«

Nachdem der Zwischenfall vorüber war, erkannte Coleman, daß er wütender geworden war, als er bemerkt hatte. Was war das für eine Disziplin, die Laboranten Unverschämtheiten dieser Art erlaubte? Das unzulängliche Testverfahren war ernsthaft genug. Aber sich erst mit den Einwendungen eines Mannes wie dieses Bannister auseinandersetzen zu müssen, um etwas zu verbessern, war unerträglich. Wenn das ein Beispiel für die allgemein herrschende Ordnung war, dann war die gesamte pathologische Abteilung noch viel verlotterter, als er zunächst angenommen hatte.

Als Bannister fort war, begann er, das gesamte Labor sehr gründlich zu inspizieren. Die abgenutzten Geräte und Instrumente, manche unzulänglich, waren ihm bereits aufgefallen. Jetzt sah er, wie erschreckend schlampig und unorganisiert der ganze Betrieb war. Auf Tischen und Bänken standen und lagen die verschiedensten Apparate und Materialien unordentlich herum. Er bemerkte eine Ansammlung schmutziger Glasgeräte, einen Stapel vergilbter Papiere. Während er durch das Labor ging, fiel ihm auf, daß sich an einer Stelle auf einem Arbeitstisch Schwamm gebildet hatte. Von der anderen Seite des Raumes beobachtete Alexander unbehaglich seinen Rundgang.

»Sieht es in dem Labor immer so aus?« fragte Coleman.

»Es ist nicht gerade sehr ordentlich.« Alexander schämte sich, daß jemand den Raum in diesem Zustand sah. Was er nicht sagen konnte, war, daß er sich schon angeboten hatte, das Labor neu zu ordnen, daß Bannister ihm aber nachdrücklich befohlen hatte, alles so zu lassen, wie es war.

»Ich wüßte einen treffenderen Ausdruck dafür.« Coleman strich mit einem Finger über ein Regal. Er war mit Schmutz bedeckt, als er ihn betrachtete. Angewidert dachte er: Das muß alles anders werden. Dann sagte er sich allerdings, daß er wahrscheinlich noch eine Weile warten müsse. Ihm war klar, daß er diesen Leuten gegenüber behutsam vorgehen mußte, und aus eigener Erfahrung hatte er gelernt, daß es für alles, was man schnell erreichen konnte, eine Grenze gab. Dennoch wußte er, daß es ihm schwerfallen würde, seine angeborene Ungeduld zu zügeln, insbesondere in Anbetracht der schmutzigen Unordnung, die er hier vor sich hatte.

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