Eine sanfte, warme Brise umstrich sie, und er spürte Denises Nähe. Leise sagte sie: »Das ist doch schön, nicht war? Selbst wenn man weiß, daß unter diesen Lichtern schlechte und abscheuliche Dinge geschehen. Es ist trotzdem schön. Ich liebe das alles, besonders um diese Tageszeit.«

»Hast du je daran gedacht, zurückzugehen - nach Burlington, meine ich?« fragte er.

»Um dort zu leben?«

»Ja.«

»Man kann nie zurück«, antwortete Denise ruhig. »Das ist eines der wenigen Dinge, die ich gelernt habe. Oh, ich meine damit nicht nur Burlington, sondern alles andere auch - die Zeit, Menschen, Orte. Man kann sie wieder besuchen oder Bekanntschaften erneuern, aber es ist niemals wirklich das gleiche. Man hat sich gelöst, ist darüber hinausgewachsen. Man gehört nicht mehr dazu, weil man weitergegangen ist.« Sie schwieg. »Ich gehöre jetzt hierher. Ich glaube nicht, daß ich New York je verlassen könnte. Klingt das furchtbar unrealistisch?«

»Nein«, antwortete er, »es klingt schrecklich weise.«

Er spürte ihre Hand auf seinem Arm. »Laß uns noch einen Cocktail trinken«, sagte sie, »dann kannst du mich zum Essen mitnehmen.«

Anschließend waren sie in den Maisonette gegangen, einen gediegenen Nachtklub in der Fifth Avenue mit angenehmem Publikum. Dort aßen sie und tanzten später. Als sie wieder einmal an ihren Tisch zurückkamen, fragte Denise: »Wie lange bleibst du in New York?«

»In drei Tagen fliege ich zurück«, antwortete er.

Sie senkte den Kopf. »Warum so bald?«

»Ich habe meine Arbeit.« Er lächelte. »Meine Patienten erwarten, daß ich bei ihnen bin, und auch im Krankenhaus ist viel zu tun.«

Denise sagte: »Ich glaube, ich werde dich vermissen.«

Er überlegte einen Augenblick. Dann wandte er sich zu ihr. Ohne Vorbereitung sagte er: »Du weißt, daß ich nie verheiratet war.«

»Ja.« Sie nickte ernst.

»Ich bin zweiundvierzig«, sagte er. »Wenn man allein lebt, entwickelt man in dieser Zeit Gewohnheiten und eine Lebensweise, die schwer zu ändern und für einen anderen schwer zu akzeptieren sind.« Er schwieg. »Was ich damit sagen will, ist, glaube ich, ein Versuch, darauf hinzuweisen, daß das Leben mit mir schwierig sein kann.«

Denise streckte ihre Hand aus und legte sie auf seine. »Kent, Lieber, darf ich in einem Punkt klar sehen?« Sie zeigte den schwächsten Anflug eines Lächelns. »Soll das etwa ein Heiratsantrag sein?«

O'Donnell lächelte sie voll an. Er fühlte sich gelöst, übermütig, jungenhaft. »Da du danach fragst«, antwortete er, »es scheint mir beinahe so.«

Nach einem Augenblick des Schweigens antwortete Denise erst. Und als sie sprach, spürte er, daß sie Zeit gewinnen wollte. »Ich bin sehr geschmeichelt. Aber bist du nicht etwas - voreilig? Schließlich kennen wir uns kaum.«

»Ich liebe dich, Denise«, sagte er einfach. Er spürte, daß sie ihn forschend ansah.

»Ich könnte dich auch lieben«, antwortete sie, fügte dann, ihre Worte sorgsam wählend, hinzu: »In diesem Augenblick drängt alles in mir, ja zu sagen und mit zwei gierigen Händen nach dir zu greifen, Liebster, aber da ist auch eine heimliche Warnung. Wenn man einmal einen Fehler begangen hat, spürt man die Notwendigkeit, vorsichtig zu sein, ehe man sich wieder bindet.«

»Ja, das kann ich verstehen«, antwortete er.

»Ich habe nie etwas für die weitverbreitete Vorstellung übriggehabt, daß man einen Partner schnell fallenlassen und dann alles von sich wegschieben kann, etwa wie das sprichwörtliche Hemd. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich mich nicht scheiden ließ.«

»Wäre die Scheidung schwierig?«

»Eigentlich nicht. Ich glaube, ich könnte dazu nach Nevada gehen oder in eine ähnliche Gegend. Aber es gibt noch mehr. Du lebst in Burlington - ich lebe in New York.«

Behutsam fragte er: »Ist das wirklich wahr, Denise, daß du nicht in Burlington leben kannst?«

Sie dachte nach, ehe sie antwortete: »Ja, ich fürchte, es ist so. Ich kann dort nicht leben. Nie! Es hat keinen Sinn, daß ich mir etwas vormache, Kent, ich kenne mich selbst nur zu gut.«

Ein Kellner kam mit Kaffee und füllte ihre Tassen. O'Donnell sagte: »Wäre es für uns nicht besser, wenn wir zwei jetzt allein wären?«

Leise antwortete Denise: »Warum gehen wir dann nicht?«

Er verlangte die Rechnung, bezahlte und half Denise in ihren Umhang. Draußen winkte der Portier ein Taxi herbei, und O'Donnell gab die Adresse ihrer Wohnung an der Fifth Avenue an. Als sie sich in die Polster zurücklehnten, sagte Denise: »Jetzt kommt eine selbstsüchtige Frage, aber hast du je erwogen, deine Praxis nach New York zu verlegen?«

»Doch«, antwortete er, »ich denke jetzt gerade daran.«

Darüber dachte er noch nach, als sie das Apartmenthaus betraten und im Fahrstuhl nach oben fuhren. Seit Denise ihre Frage gestellt hatte, fragte er sich selbst: Warum sollte ich nicht nach New York gehen? Es gibt hier gute Krankenhäuser; New York ist ein medizinisches Zentrum, es kann mir nicht schwerfallen, irgendwo Anschluß zu finden. Die Einrichtung der Praxis wäre verhältnismäßig einfach. Seine bisherige Laufbahn sowie die Freunde, die er in New York besaß, würden ihn empfehlen. Er überlegte: Was fesselt mich wirklich an Burlington? Liegt dort mein Leben? Jetzt und für immer? Ist es vielleicht nicht Zeit für einen Ortswechsel, eine neue Umgebung? Ich bin weder mit dem Three Counties Hospital verheiratet, noch bin ich dort unentbehrlich. Gewiß, es gibt dort Dinge, die ich vermissen würde. Das ist richtig. Das Gefühl des Aufbauens, des Schaffens, und die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe. Aber ich habe eine Menge erreicht. Das kann niemand bestreiten. Und New York bedeutet Denise. Wäre es das nicht wert - alles zusammen?

Im zwanzigsten Stock öffnete Denise mit ihrem Schlüssel die Tür. Von dem Diener, den O'Donnell am frühen Abend gesehen hatte, war nichts zu bemerken.

Wie auf Verabredung traten sie auf die Terrasse. Denise fragte: »Möchtest du etwas trinken, Kent?«

»Vielleicht später«, antwortete er und streckte seine Arme nach ihr aus. Ohne Scheu trat sie auf ihn zu, und ihre Lippen begegneten sich. Es war ein langer Kuß. Seine Arme schlossen sich fester um sie, und er spürte, wie sie sich an ihn drängte. Dann löste sie sich behutsam von ihm.

Halb abgewendet sagte sie: »Es gibt so vieles, woran man denken muß.« Ihre Stimme klang beunruhigt.

»Wirklich?« Sein Ton war ungläubig.

»Du weißt nicht sehr viel über mich«, antwortete Denise. »Zunächst, ich bin schrecklich besitzgierig. Wußtest du das?«

Er antwortete: »Das klingt nicht besonders schrecklich.«

»Wenn wir verheiratet wären«, sagte sie, »würde ich dich ganz für mich haben wollen, nicht nur einen Teil. Ich könnte es nicht ändern. Und ich könnte dich nicht teilen - nicht einmal mit einem Krankenhaus.«

Er lachte. »Ich kann mir vorstellen, daß wir einen Kompromiß finden würden. Andere Leute tun es auch.«

Sie wandte ihm den Rücken zu. »Wie du das so sagst, könnte ich dir fast glauben.« Denise schwieg. »Wirst du nach New York zurückkommen - bald?«

»Ja.«

»Wie bald?«

Er antwortete: »Sobald du mich rufst.«

Als ob sie ihrem Instinkt folge, trat sie zu ihm, und sie küßten sich wieder, dieses Mal mit wachsender Leidenschaft. Dann hörten sie hinter sich ein Geräusch, und ein Lichtstrahl fiel durch die sich öffnende Tür des Wohnraums. Denise schob ihn sanft von sich ab, und einen Augenblick später trat eine schmale Gestalt im Pyjama auf die Terrasse. Eine Stimme sagte: »Mir kam es so vor, als hätte ich hier jemand sprechen hören.«

»Ich denke, du schläfst«, antwortete Denise. »Das ist Dr. O'Donnell.« Und zu O'Donnell gewandt: »Dies ist meine Tochter Philippa.« Zärtlich fügte sie hinzu: »Die eine Hälfte meiner unmöglichen Zwillinge.«

Das Mädchen sah O'Donnell mit unverhohlener Neugierde an. »Hallo«, sagte sie, »ich habe von Ihnen schon gehört.«

O'Donnell erinnerte sich, daß Denise ihm gesagt hatte, ihre beiden Kinder seien siebzehn. Das Mädchen erschien klein für ihr Alter, ihr Körper begann gerade erst weibliche Formen anzunehmen. Aber sie bewegte sich mit einer Anmut und Sicherheit, die unverkennbar von ihrer Mutter stammte.

»Hallo, Philippa«, sagte er, »es tut mir leid, daß wir Sie gestört haben.«

»Ich konnte nicht schlafen und habe noch gelesen.« Das Mädchen sah auf ein Buch in ihrer Hand. »Herrick. Haben Sie ihn je gelesen?«

»Ich glaube nicht«, antwortete O'Donnell. »Ich muß gestehen, daß mir das Studium nicht viel Zeit für Gedichte gelassen hat, und später bin ich auch nie mehr dazu gekommen.«

Philippa hob das Buch und öffnete es. »Hier ist etwas für dich, Mutter.« Mit sicherem Gefühl für Vers und Betonung und einer sympathischen Unbefangenheit las sie vor:

»Das sind des Lebens reichste Jahre, wenn jung und heiß die Pulse schlagen.

Einmal erschöpft von schlimmen und von schlimmsten Tagen bleibt nur vergangene Jugend zu bedauern.

Sei drum nicht scheu, verfolg das Wunderbare, solang' es dir gegeben, finde Liebe, denn sind verloren erst die frischen Triebe, kannst um Versäumtes du nur trauern.«

»Ich verstehe, was du damit sagen willst«, sagte Denise. Sie wandte sich zu O'Donnell. »Ich kann dir versichern, Kent, daß meine Kinder mich ständig bedrängen, wieder zu heiraten.«

»Ja, es ist einfach das beste für dich«, warf Philippe dazwischen. Sie legte das Buch hin.

»Sie tun es unter dem Vorwand, es sei das praktischste«, fuhr Denise fort. »Tatsächlich sind sie beide schrecklich sentimental.« Sie wandte sich zu Philippa. »Was würdest du sagen, wenn ich Dr. O'Donnell heirate?«

»Hat er dich darum gebeten?« Philippas Interesse war sofort wach. Ohne auf eine Antwort zu warten, rief sie aus: »Du tust es doch natürlich?«

»Das hängt von vielem ab, mein Kind«, antwortete Denise. »Selbstverständlich müssen erst ein paar Kleinigkeiten, wie meine Scheidung, geordnet werden.«

»Ach das. Es ist sehr unvernünftig von Daddy, daß er es von dir verlangt. Aber abgesehen davon, worauf braucht ihr zu warten?«

Sie sah O'Donnell offen an. »Warum lebt ihr nicht einfach zusammen. Dann liegt der Scheidungsgrund schon vor, und Mutter braucht nicht nach einem dieser scheußlichen Orte wie Reno zu fahren.«

»Es gibt Augenblicke«, sagte Denise, »an denen mir ernste Zweifel am Wert der fortschrittlichen Erziehung kommen. Nun ist es aber genug.« Sie trat auf Philippa zu. »Gute Nacht, mein Kind.«

»Oh, Mutter«, antwortete das Mädchen, »manchmal benimmst du dich geradezu vorsintflutlich.«

»Gute Nacht, mein Kind«, wiederholte Denise nachdrücklich.

Philippa wandte sich an O'Donnell. »Dann muß ich wohl gehen.«

Er antwortete: »Ich habe mich sehr gefreut, Sie zu sehen, Philippa.«

Das Mädchen kam zu ihm. Ungekünstelt sagte sie: »Wenn Sie doch mein Stiefvater werden, kann ich Sie ja ruhig küssen.«

Er beugte sich zu ihr, und sie küßte ihn auf die Lippen, trat dann zurück. Sie lächelte leicht. Dann sagte sie: »Sie gefallen mir.« Und warnend zu Denise: »Mutter, was du auch tust, laß dir den nicht entgehen.«

»Philippa!« Diesmal war der tadelnde Ton unverkennbar.

Philippa lachte und küßte ihre Mutter. Mit einem übermütigen Winken nahm sie ihren Gedichtband und ging.

O'Donnell lehnte sich an die Wand auf der Terrasse und lachte. In diesem Augenblick erschien ihm sein Junggesellendasein in Burlington unglaubwürdig leer und langweilig.

XVIII

Die Amputation von Vivians linkem Bein begann Punkt halb neun. Pünktlichkeit in den Operationsräumen gehörte zu den Dingen, auf denen Dr. O'Donnell bestanden hatte, als er Chef der Chirurgie im Three Counties Hospital wurde, und die meisten der Chirurgen fügten sich seiner Forderung.

Die Operation war nicht schwierig, und Lucy Grainger rechnete mit keinen besonderen Komplikationen. Sie plante, das Bein ziemlich weit über dem Knie im Oberteil des Oberschenkelknochens zu amputieren. Sie hatte auch erwogen, das Bein im Hüftgelenk abzunehmen, in der Meinung, daß damit bessere Aussichten bestanden, den sich vom Knie ausbreitenden bösartigen Zellen zuvorzukommen. Aber das hatte den Nachteil, daß es später außerordentlich schwierig war, an einem ungenügenden Stumpf eine Prothese anzubringen. Darum hatte sie sich entschlossen, einen Teil des Oberschenkels zu erhalten.

Sie hatte auch schon geplant, wie sie die Muskellappen schneiden wollte, die später den Stumpf ausreichend bedecken konnten. Tatsächlich hatte sie schon am Abend vorher in Gedanken die erforderlichen Schnitte vollzogen, wobei sie Vivian in dem Glauben ließ, daß sie nur eine weitere Routineuntersuchung vornähme. Das war, nachdem sie Vivian die Nachricht überbracht hatte. Natürlich war es ein ergreifendes und bedrückendes Gespräch gewesen. Zuerst hatte das Mädchen sich gefaßt gezeigt, aber war dann zusammengebrochen. Sie klammerte sich an Lucy, und ihr verzweifeltes Schluchzen verriet, daß sie die letzte, ungewisse Hoffnung verloren hatte. Obwohl Lucy durch ihre Ausbildung und ihre Tätigkeit darin geschult war, sich in solchen Augenblicken klinisch und unsentimental zu geben, fand sie sich selbst ungewöhnlich bewegt.

Die anschließende Unterhaltung mit den Eltern und mit dem jungen Dr. Seddons, der später zu ihr kam, war weniger persönlich, aber immer noch bedrückend gewesen. Lucy glaubte, es würde ihr nie gelingen, ihre Gefühle für ihre Patienten völlig zu beherrschen, wie manche andere das konnten, und mitunter mußte sie sich selbst zugeben, daß ihre äußerliche Kühle nur eine Pose, wenn auch eine notwendige, war. Allerdings war ihre Sachlichkeit hier im Operationsraum keine Pose. An diesem Ort war Sachlichkeit eine Notwendigkeit, und sie fand sich jetzt kühl und ohne persönliche Empfindungen dabei, die unmittelbaren Aufgaben der Operation zu überdenken.

Der Narkosearzt am Kopf des Operationstisches hatte schon sein Zeichen gegeben, daß sie beginnen könne. Bereits seit einigen Minuten hielt Lucys Assistent - heute einer der Praktikanten des Krankenhauses - das Bein, das amputiert werden mußte, hoch, damit das Blut soweit wie möglich in den Körper zurückfloß. Jetzt begann Lucy weit oben am Oberschenkel eine pneumatische Aderpresse anzulegen, ließ sie aber im Augenblick noch locker.

Ohne aufgefordert zu werden, reichte ihr die Operationsschwester eine Schere über den Tisch, und Lucy begann den Verband aufzuschneiden, der das Bein umhüllte, seit es am Abend vorher rasiert und anschließend zur Desinfektion mit Hexachlorophen bestrichen worden war. Der Verband fiel zu Boden, und die zweite Operationsschwester hob ihn auf.

Lucy sah auf die Uhr. Das Bein war jetzt fünf Minuten lang fast senkrecht hochgehalten worden, das Fleisch erschien bleich. Der Praktikant wechselte den Griff, und sie fragte ihn: »Strengt es die Arme an?«

Er lächelte hinter seiner Gesichtsmaske. »Ich möchte es nicht eine Stunde lang so halten.«

Der Narkosearzt war zu der Aderpresse getreten und sah Lucy an. Sie nickte und sagte: »Ja, bitte.« Der Narkosearzt begann Luft in den Gummischlauch zu pumpen und unterband damit die Blutzufuhr in das Bein. Als er fertig war, ließ der Praktikant das Bein sinken, bis es ausgestreckt auf dem Operationstisch lag. Die Operationsschwester und der Praktikant bedeckten die Patientin mit einem sterilen, grünen Laken, so daß nur das linke Bein frei blieb.

Dann begann Lucy mit den letzten Vorbereitungen und bestrich das Operationsfeld am Oberschenkel mit einer alkoholischen Lösung von Zephiran.

In dem Operationsraum waren heute Gäste anwesend - zwei Medizinstudenten von der Universität -, und Lucy winkte sie näher heran. Die Operationsschwester reichte ihr ein Messer, und Lucy ritzte mit der Spitze der Klinge in die Haut des freiliegenden Oberschenkels und erklärte dabei:

»Beachten Sie, daß ich die Umrisse der Muskellappen zunächst durch Kratzer markiere. Das gibt uns Anhaltspunkte.«

Jetzt begann sie tiefer zu schneiden, legte sofort die Muskelfascien unter der Haut und ihrer Fettgewebeschicht frei. »Es ist immer wichtig, den vorderen Lappen länger als den hinteren zu machen, damit die Nahtlinie später etwas nach rückwärts liegt. Auf diese Weise hat der Patient keine Narbe unmittelbar am Ende des Stumpfes. Eine Narbe an dieser Stelle kann sich später als außerordentlich schmerzhaft und empfindlich erweisen, wenn sie durch Gewicht belastet wird.«

Nun schnitt sie tief in das Fleisch. Die Umrisse beider Lappen wurden durch das Blut erkennbar, das hervorzusickern begann. Das Ergebnis war vorn und hinten, ähnlich zwei Hemdschößen, ein langer und ein kurzer Lappen, die zum Schluß zusammengezogen und an den Rändern sauber vernäht wurden.

Mit kurzen, scharfen Bewegungen begann Lucy mit dem Skalpell die Muskel zurück und nach oben zu schieben und legte die blutigrote Masse des darunterliegenden Gewebes bloß.

»Klemme, bitte.« Die Operationsschwester reichte ihr das Instrument. Lucy brachte es an, so daß es die gelösten Muskeln von der nächsten darunterliegenden Schicht zurückhielt. Sie winkte ihrem Assistenten, die Klemme zu halten, und schnitt tiefer durch die oberste Schicht des vierköpfigen Oberschenkelmuskel».

»Gleich werden wir die Hauptarterien freilegen. Ja. Hier haben wir das erste femorale Gefäß.« Während Lucy darauf deutete, beugten sich die beiden Medizinstudenten interessiert vor. Ruhig fuhr sie fort, das, was sie tat, zu erklären: »Wir wollen die Gefäße so hoch wie möglich freilegen, sie dann herunterziehen und abbinden, so daß sie sich möglichst weit von dem Stumpf zurückziehen.« Die Nadel, die die Operationsschwester gereicht hatte, fuhr herein und heraus. Lucy band die großen Gefäße zweimal ab, um sicherzugehen, daß sie gut abgedichtet waren und blieben. Jede spätere Blutung in diesem Gebiet konnte für den Patienten eine Katastrophe bedeuten. Dann streckte sie ihre Hand nach der Schere aus, nahm sie und durchtrennte die Hauptschlagader, die zum Unterteil des Gliedes führte. Der erste unwiderrufliche Schnitt der Amputation war damit geschehen.

Schnell wiederholte sie das gleiche an anderen Arterien und den Venen. Dann durchtrennte Lucy weitere Muskeln, griff herunter und legte den Nerv frei, der parallel nach unten verlief. Während ihre behandschuhten Hände prüfend darüber tasteten, regte sich Vivian plötzlich, und aller Augen richteten sich schnell auf den Narkosearzt am Kopfende des Tisches. Er nickte beruhigend. »Der Patientin geht es gut, keine Komplikationen.« Eine seiner Hände lag auf Vivians Wange. Sie war bleich, aber ihr Atem ging tief und regelmäßig. Ihre Augen standen offen, ohne etwas zu sehen. Ihr Kopf lag gerade weit zurück, nicht zur Seite geneigt, die Augenwinkel waren mit Wasser gefüllt, Tränen, die sie in der Bewußtlosigkeit geweint hatte.

»Mit dem Nerv verfahren wir in gleicherweise wie mit den Arterien und den Venen, ziehen ihn also soweit wie möglich am Oberschenkel herunter, durchtrennen ihn und lassen ihn sich zurückziehen.«

Lucy sprach fast automatisch, ihre Handbewegungen begleiteten ihre Worte und verrieten ihre Gewohnheit, zu unterrichten. Ruhig fuhr sie fort: »Zwischen Chirurgen wird immer viel über die beste Methode diskutiert, Nervenenden bei einer Amputation zu behandeln. Die Absicht ist selbstverständlich, später im Stumpf Schmerzen zu vermeiden.« Gewandt knüpfte sie einen Knoten und nickte dem Assistenten zu, der das überstehende Ende des Fadens abschnitt. »Eine ganze Reihe von Methoden sind erprobt worden - Injektion von Alkohol, Abbrennen des Nervenendes mit elektrischem Strom. Aber die Methode, die wir heute anwenden, ist immer noch die einfachste und die am häufigsten befolgte.«

Lucy sah auf die Uhr an der Wand des Operationsraumes. Sie wies auf neun Uhr fünfzehn. Fünfundvierzig Minuten waren verstrichen, seit sie angefangen hatte. Sie sah zu dem Narkosearzt.

»Noch alles in Ordnung?«

Der Narkosearzt nickte. »Könnte nicht besser sein, Lucy. Sie ist ein wirklich gesundes Mädchen.« Boshaft fragte er: »Sind Sie sicher, daß Sie der richtigen Patientin das Bein abnehmen?«

»Keine Sorge.« Lucy hatte nie etwas dafür übrig, wenn im Operationsraum über die Patienten auf dem Tisch Scherze gemacht wurden, obwohl sie manche Chirurgen kannte, die die ganze Zeit, vom ersten Einschnitt bis zur letzten Naht, witzelten. Es war alles eine Frage des Standpunktes, nahm sie an. Leichtfertigkeit war für manche vielleicht ein Mittel, tiefere Empfindungen zu verbergen. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls zog sie es vor, das Thema zu wechseln. Während sie begann, die hinteren Muskeln des Beines zu durchschneiden, fragte sie den Narkosearzt: »Wie geht es Ihrer Familie?« Lucy unterbrach sich, um eine zweite Klemme anzusetzen, die das Gewebe von dem neuen Einschnitt zurückzog.

»Ausgezeichnet. Wir ziehen nächste Woche in ein neues Haus.«

»Wirklich? In welcher Gegend?« Zu dem Assistenten sagte sie: »Etwas höher, bitte. Versuchen Sie, es mir aus dem Weg zu halten.«

»Somersets Heights. Es ist die neue Siedlung im Norden.«

Die hinteren Beinmuskeln waren fast durchtrennt. »Ich glaube, ich habe davon gehört. Ihrer Frau wird es sicher sehr gefallen«, antwortete sie.

Jetzt war der Knochen sichtbar. Der ganze große Schnitt klaffte rot. Der Narkosearzt antwortete: »Sie ist im siebten Himmel. Kauft Teppiche, sucht Vorhänge aus und all das andere. Es gibt nur ein Problem.«

Lucys Finger griffen um den Beinknochen herum, arbeiteten nach oben, lösten die umgebenden Muskeln. Den Studenten erklärte sie: »Sie werden bemerken, daß ich die Muskeln soweit wie möglich zurückschiebe. Dann können wir den Knochen recht hoch durchtrennen, und er ist nachher vollständig von Muskeln umgeben«

Der Assistent hatte Schwierigkeiten, die Muskellappen mit den beiden Klemmen zurückzuhalten. Sie half ihm, die Stellung zu verbessern, und er murmelte: »Das nächste Mal bringe ich mir eine dritte Hand mit.«

»Säge, bitte.« Die Operationsschwester war schon bereit, legte den Griff der Knochensäge in Lucys ausgestreckte Hand. Zu dem Narkosearzt sagte Lucy: »Was ist das für ein Problem?«

Lucy setzte die Säge so hoch an, wie sie konnte, und begann mit kurzen, gleichmäßigen Strichen zu sägen. Ein dumpfes, durchdringendes, knirschendes Geräusch wurde hörbar, als die Sägezähne sich in den Knochen hineinfraßen. Der Narkosearzt antwortete: »Ich muß das alles bezahlen.«

Lucy lachte. »Wir werden Sie öfter beschäftigen müssen, mehr Operationen ansetzen.« Sie hatte den Knochen halb durchgesägt, er erwies sich zäher als andere, aber selbstverständlich waren junge Knochen von Natur aus härter. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie tragisch dieser Augenblick war und sie sich trotzdem ungeniert unterhielten und sogar über alltägliche Dinge scherzten. In ein oder zwei Sekunden, länger dauerte es nicht mehr, war dieses Bein abgetrennt, und ein junges Mädchen - kaum mehr als ein Kind hatte für immer einen Teil seines Lebens verloren. Nie mehr könnte sie frei laufen, unbehindert wie andere, oder tanzen oder schwimmen oder reiten oder unbefangen lieben. Schließlich würde sie wohl das eine oder andere wieder tun, vieles aber nur mühsam und mit mechanischen Hilfen. Aber nichts konnte je wieder ganz das gleiche wie früher sein. Niemals würde sie wieder so fröhlich, unbeschwert und sorglos sein wie vorher, als ihr Körper noch ganz gewesen war. Hier lag der Kern der Tragödie: sie trat zu früh ein.

Lucy hielt inne. Ihre sensiblen Fingerspitzen verrieten ihr, daß die Säge den Knochen fast durchgeschnitten hatte. Dann erfolgte unvermittelt ein knirschendes Geräusch, auf den ein scharfes Knacken folgte. Im letzten Augenblick war der letzte Teil des Knochens unter dem Gewicht des fast abgetrennten Gliedes gebrochen. Das Bein war lose und fiel auf den Tisch. Zum erstenmal hob Lucy ihre Stimme und rief: »Halten Sie es! Schnell!«

Aber die Warnung kam zu spät. Als der Assistent zugriff, entglitt das Bein seinen Händen und fiel von dem Operationstisch auf den Boden.

»Lassen Sie es liegen!« Lucys Ton war scharf, als der Assistent vergaß, daß er dadurch unsteril werden würde, und sich niederbeugte, um das Bein aufzuheben.

Die zweite Schwester trat hinzu, nahm das amputierte Glied auf und hüllte es in Gaze und Papier ein. Später würde es mit anderen Paketen, die chirurgische Proben enthielten, von einem Boten abgeholt und in die Pathologie gebracht werden.

»Halten Sie den Stumpf von dem Tisch fort, bitte.« Lucy winkte dem Assistenten, und er trat näher, um ihre Anweisung zu befolgen. Die Operationsschwester hielt eine Raspel bereit, und Lucy nahm sie, tastete nach den scharfen Spitzen am Knochen, die durch den Bruch entstanden waren, und beseitigte sie mit der Raspel. Wieder erklärte sie den Studenten: »Vergessen Sie nicht, das Knochenende zu glätten. Überzeugen Sie sich, daß keine kleinen Spitzen herausstehen, denn wenn das der Fall ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sie wachsen und für den Patienten äußerst schmerzhaft werden.« Ohne aufzublicken fragte sie: »Wie lange dauert es schon?«

Der Narkosearzt antwortete: »Es sind jetzt siebzig Minuten.«

Lucy reichte die Raspel zurück. »Gut«, sagte sie, »jetzt können wir anfangen zu nähen.« Das Ende der Operation vor Augen, dachte sie dankbar an den Kaffee, der im Chirurgenzimmer unten am Gang auf sie wartete.

Mike Seddons hatte die Zeit über, in der Vivian operiert wurde, im wahrsten Sinne des Wortes geschwitzt. Mit den Loburtons - Vivians Eltern hielten sich noch in Burlington auf und beabsichtigten, vorläufig zu bleiben - wartete er in einem der kleinen Wartezimmer, die den Angehörigen von Patienten, die operiert wurden, vorbehalten waren. Am frühen Morgen, als das Leben im Hospital: gerade erst zu erwachen begann, hatte er sie im Hauptgang getroffen und in Vivians Krankenzimmer hinaufgebracht, um Vivian zu besuchen. Es war aber nicht mehr viel zu sagen gewesen, und Vivian, von einem Betäubungsmittel bereits benommen, schien sie kaum wahrzunehmen. Schon nach ein paar Minuten war sie ab geholt und in die Operationsabteilung gebracht worden.

Jetzt hatten sie in der unbehaglichen Hinterhofstimmung des spärlich möblierten Raumes mit seinen unbequemen Kunstlederstühlen und den lackierten Tischen ihre alltäglichen Unterhaltungsthemen erschöpft. Henry Loburton, groß und kräftig, mit dünn gewordenem, eisgrauem Haar, das Gesicht von den Jahren, die er im Freien verbracht hatte, gerunzelt und gegerbt, stand am Fenster und sah auf die Straße hinunter. Mike Seddons konnte voraussagen, daß er sich in ein oder zwei Minuten vom Fenster abwenden und zu seinem Kunstlederstuhl zurückkehren würde. Nach einer Weile würde er dann wieder aufstehen, um an das Fenster zu treten. Es war ein monotones Hin und Her, das der alte Mann schon seit über einer Stunde befolgte, in einer langsamen, auf die Nerven gehenden Monotonie, von der Seddons verzweifelt wünschte, daß er endlich eine Abwechslung hineinbringen würde - entweder seine Schritte beschleunigen oder den Abstand zwischen jedem Platzwechsel variieren.

Im Gegensatz dazu verhielt sich Vivians Mutter still. Fast schien es, als ob sie sich nicht bewegt habe, seit sie hierhergekommen waren. Sie hatte einen geradlehnigen Stuhl einer der anderen, scheinbar bequemeren Sitzgelegenheiten, vorgezogen und hielt sich in einer Weise aufrecht, die auf eine altgewohnte bewußte Selbstbeherrschung hinwies. Schon seit einiger Zeit sah Angela Loburton gerade vor sich hin, ihr Blick, wie es schien, in die Unendlichkeit gerichtet, die Hände auf dem Schoß leicht gekreuzt. Sie war heute noch blasser als sonst, aber die hohen Backenknochen, die ihre natürliche Würde und Haltung betonten, traten wie immer hervor. Diese Frau erschien gleichzeitig zerbrechlich und unzerstörbar.

Seit ihrer ersten Begegnung vor ein paar Tagen hatte Mike Seddons viel über Mrs. Loburton nachgedacht. Ihre Gefühle für Vivian und die Sorge um ihre Tochter traten bei ihr viel weniger offensichtlich zutage als bei ihrem Mann, und doch spürte Seddons im Verlauf dieser Tage, daß sie ebenso tief, vielleicht noch tiefer waren. Er vermutete auch, daß trotz der unverkennbaren Männlichkeit, die Vivians Vater zeigte, ihre Mutter bei weitem den stärkeren Charakter besaß, daß sie das solide Fundament dieser Ehe bildete, von dem ihr Mann im Lauf der Jahre abhängig geworden war.

Seddons überraschte sich bei dem Gedanken, wie es zwischen ihm und Vivian in der vor ihnen liegenden Zeit sein würde. Wer von ihnen würde sich am Ende als entschlossener und ausdauernder erweisen? Er wußte, daß es keine zwei Menschen gab, die sich ganz gleich waren, weder in der Charakterstärke noch in der Gabe zu führen, nicht einmal in der Fähigkeit zu lieben. Er wußte auch, daß das mit dem Geschlecht wenig zu tun hatte, daß bei Frauen Verstand und Herz oft stärker waren als bei Männern und daß nach außen gezeigte Männlichkeit manchmal nur eine hohle Pose war, um innere Schwäche zu verbergen.

War Vivian stärker als er selbst? War ihr Charakter besser, ihr Mut größer? Diese Frage hatte er sich am Abend vorher gestellt, und seither hatte sie ihn nicht losgelassen. Als er erfuhr, daß die Entscheidung für die Amputation gefallen war, und er wußte, daß Vivian unterrichtet war, war er zu ihr gegangen. Er hatte sie nicht in Tränen aufgelöst, sondern lächelnd angetroffen. »Komm herein, Mike, Liebling«, hatte sie gesagt, »und mache bitte kein so düsteres Gesicht. Dr. Grainger hat mir alles gesagt, und ich habe mich ausgeweint. Jetzt ist es vorüber, oder wird es morgen wenigstens sein.«

Bei diesen Worten fühlte er, wie seine Liebe für sie sich vertiefte. Er preßte sie an sich und küßte sie leidenschaftlich. Sie wühlte zärtlich in seinem Haar, bog seinen Kopf zurück und sah ihm gerade in die Augen.

»Für den Rest meines Lebens werde ich nur ein Bein haben, Mike«, sagte sie. »Ich werde nicht mehr das Mädchen sein, das du kennengelernt hast. Nicht mehr so, wie du mich zum erstenmal gesehen hast, und nicht mehr so, wie du mich jetzt kennst. Wenn du zurück willst - ich kann es verstehen.«

Voller Nachdruck erwiderte er: »Du sollst so etwas nicht sagen.«

»Warum?« fragte sie. »Fürchtest du dich, darüber zu sprechen?«

»Nein!« Es war ein lauter, harter Protest, aber im gleichen Augenblick, als er ihn aussprach, wußte er, daß er log. Er fürchtete sich. Ebenso, wie er spürte, daß Vivian sich nicht fürchtete - jetzt nicht, jetzt nicht mehr.

Es war das Abbild Vivians, erkannte er, das er jetzt in ihrer Mutter sehen konnte, oder richtiger umgekehrt. Die Kraft, die sie beide besaßen, war unverkennbar. War seine Kraft ebenso groß? Zum erstenmal beschlichen ihn unbehagliche Zweifel.

Mr. Loburton hatte sein monotones Hin und Her unterbrochen. Mitten zwischen dem Fenster und dem Stuhl war er stehengeblieben. »Michael«, sagte er, »es sind jetzt anderthalb Stunden. Kann es noch viel länger dauern?«

Seddons bemerkte, daß auch Vivians Mutter ihn ansah. Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Dr. Grainger sagte, sie wolle sofort herkommen, wenn, unmittelbar danach.« Er schwieg, fügte dann hinzu: »Wir werden es bald wissen - sehr bald.«

XIX

Dr. Dornberger griff durch die beiden runden Öffnungen an den Seiten des Brutkastens und untersuchte das Kind der Alexanders gründlich. Dreieinhalb Tage waren seit der Geburt vergangen, eine Tatsache, die normalerweise als ein hoffnungsvolles Zeichen gewertet werden konnte. Aber es zeigten sich Symptome, die ständig deutlicher wurden, von denen Dornberger wußte, daß sie bedenklich waren.

Er ließ sich Zeit bei seiner Untersuchung, trat dann nachdenklich zurück, erwog in Gedanken die vorliegenden Anzeichen, filterte sie durch seine in langen Jahren und bei den zahllosen von ihm behandelten Fällen gesammelten Erfahrungen. Am Ende bestätigten seine Überlegungen, was ihm sein Instinkt bereits sagte. Die Prognose war außerordentlich ungünstig. »Wissen Sie«, sagte er, »eine Zeitlang habe ich geglaubt, er würde es schaffen.«

Die junge Schwester, die das Säuglingszimmer mit den Frühgeburten unter sich hatte - die gleiche, mit der John Alexander vor ein paar Tagen gesprochen hatte -, sah Dornberger erwartungsvoll an. Sie sagte: »Sein Atem war bis vor einer Stunde noch ganz regelmäßig. Dann wurde er schwächer. Deshalb rief ich Sie an.«

Eine Lernschwester auf der anderen Seite des Brutkastens folgte aufmerksam der Unterhaltung. Ihre Augen über der Gazemaske wanderten zwischen Dornberger und der Stationsschwester hin und her.

»Nein, die Atmung ist nicht gut«, bestätigte Dornberger langsam. Er dachte laut weiter, versuchte sich zu vergewissern, daß er nichts übersah. »Die gelbe Verfärbung ist stärker geworden, als sie sein dürfte, und die Füßchen scheinen geschwollen zu sein. Geben Sie mir noch einmal das Ergebnis der Blutzählung.«

Die Stationsschwester blickte auf ihre Notiztafel: »4,9 Millionen rote Blutkörperchen, sieben rote Blutkörperchen mit Kernen auf je hundert weiße Blutkörperchen.«

Wieder entstand eine Pause, während die beiden Schwestern Dr. Dornberger beobachteten, der über den Befund nachdachte. Er überlegte: Im ganzen ist die Anämie zu groß, obwohl sie natürlich eine überstarke Reaktion normaler Art sein kann. Laut sagte er: »Wissen Sie, wenn der Sensibilitätsbefund nicht vorläge, würde ich vermuten, daß das Kind Erythroblastose hat.«

Die Stationsschwester sah ihn überrascht an. »Aber zweifellos, Doktor,«, dann brach sie ab.

»Ich weiß, das kann nicht passieren.« Er deutete auf die Notiztafel. »Trotzdem. Zeigen Sie mir den Laborbefund. Das Original über das Blut der Mutter.«

Die Stationsschwester schlug ein paar Blätter um, fand das Formular und zog es heraus. Es war der Bericht, den Dr. Pearson nach seinem Zusammenstoß mit David Goleman unterschrieben hatte. Dornberger studierte ihn sorgfältig, reichte ihn zurück. »Nun, das ist eindeutig genug - Sensibilität negativ.«

Natürlich sollte das eindeutig sein, aber er konnte einen nagenden Zweifel nicht unterdrücken. War der Befund etwa doch falsch? Unmöglich! sagte er sich, die pathologische Abteilung kann niemals einen so groben Fehler begehen. Trotzdem entschloß er sich, nach seiner Visite Joe Pearson aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.

Zu der Stationsschwester sagte Dornberger: »Im Augenblick können wir nichts weiter tun. Benachrichtigen Sie mich bitte sofort, wenn eine Veränderung eintritt.«

»Ja, Doktor.«

Ab Dornberger fort war, fragte die Lernschwester: »Was hat der Doktor gesagt? Erythro.?« Sie stolperte über das Wort.

»Erythroblastose. Das ist eine Blutkrankheit bei Säuglingen. Sie tritt manchmal auf, wenn das Blut der Mutter Rh-negativ und das des Vaters Rh-positiv ist.« Die junge Stationsschwester mit dem roten Haar beantwortete die Frage genau und sachlich wie immer. Die Lernschwestern ließen sich bei der Verteilung der Arbeit gern ihr zuweisen, da sie nicht nur im Ruf stand, eine der besten Schwestern des Krankenhauses zu sein, sondern weil es auch nur wenig über zwölf Monate her war, daß sie ihre eigene Lehrzeit als Beste ihres Kursus abgeschlossen hatte. Das wußten die Lernschwestern und zögerten deshalb nicht, sie auszufragen.

»Ich dachte, in diesen Fällen würde das Blut des Kindes gleich nach der Geburt ausgetauscht.«

»Sie meinen durch eine Austauschtransfusion?«

»Ja.«

»Nur in manchen Fällen«, erklärte die Stationsschwester bereitwillig. »Es hängt von dem Sensibilitätsbefund über das Blut der Mutter ab. Wenn der Befund positiv ist, bedeutet es im allgemeinen, daß das Kind mit Erythroblastose geboren wird und daß unmittelbar nach der Geburt eine Austauschtransfusion vorgenommen werden muß. In dem vorliegenden Fall war der Laboratoriumsbefund aber negativ, so daß die Austauschtransfusion nicht notwendig war.« Die Stationsschwester schwieg. Dann fügte sie nachdenklich, halb zu sich selbst, hinzu: »Die Symptome sind allerdings auffällig.«

Seit der Auseinandersetzung über die Frage der Laborüberprüfungen vor einigen Tagen war der alte Pathologe mit keinem Wort auf David Colemans Arbeit im serologischen Labor zurückgekommen. Coleman hatte keine Ahnung, was das Schweigen bedeutete ob er seinen Standpunkt durchgesetzt hatte und ihm die Serologie nun unmittelbar unterstand oder ob Pearson beabsichtigte, die Frage später wieder aufzugreifen. Inzwischen hatte der junge Pathologe allerdings die Gewohnheit angenommen, regelmäßig im Labor zu erscheinen und die in Arbeit befindlichen Untersuchungen zu überprüfen. Das Ergebnis war, daß er schon verschiedene klare Vorstellungen davon besaß, wo und wie die Verfahren geändert werden mußten, und einige der geringfügigeren Änderungen in den letzten beiden Tagen bereits angeordnet hatte.

Zwischen ihm und Carl Bannister, dem alten Laboranten, herrschte etwas, das man fast ab einen latenten Waffenstillstand bezeichnen konnte. John Alexander hatte andererseits klar zu er kennen gegeben, daß er Colemans Aufmerksamkeit gegenüber dem Labor begrüßte, und hatte in den beiden letzten Tagen ein paar Anregungen vorgebracht, die von Coleman gebilligt worden waren.

Alexander hatte am Tag, nachdem seine Frau in das Krankenhaus gebracht worden war, trotz einer geknurrten, aber freundlichen Bemerkung Pearsons, er könne Urlaub nehmen, wenn er wolle, seine Arbeit wiederaufgenommen. Coleman hatte gehört, wie Alexander dem alten Pathologen sagte: »Trotzdem vielen Dank, Doktor, aber wenn ich nicht arbeite, denke ich zuviel nach, und das macht es nicht besser.« Pearson hatte genickt und geantwortet, Alexander könne tun, was ihm behage, und wenn er wolle, aus dem Labor nach oben gehen, um seine Frau und das Kind zu besuchen.

Jetzt öffnete David Coleman die Tür zum serologischen Labor und trat ein. Er fand John Alexander an dem mittleren Arbeitstisch vor einem Mikroskop, und ihm gegenüber stand eine Frau mit außergewöhnlich großen Brüsten in einem weißen Mantel, die er, wie Coleman sich undeutlich erinnerte, schon ein paarmal nach seiner Ankunft im Krankenhaus gesehen hatte.

Als er eintrat, sagte Alexander: »Sie sollten Dr. Pearson oder Dr. Coleman fragen. Ich leite den Befund an sie weiter.«

»Um was handelt es sich?« Als Coleman gleichmütig fragte, wendeten ihm beide die Köpfe zu.

Die Frau sprach zuerst: »Oh, Doktor.« Sie sah ihn forschend an. »Sind Sie Dr. Coleman?«

»Ja.«

»Ich bin Hilda Straughan.« Sie reichte ihm die Hand und fügte hinzu: »Die Küchenleiterin.«

»Freut mich sehr.« Während sie ihm die Hand schüttelte, bemerkte er fasziniert, daß ihre prachtvollen Brüste die Bewegung ihrer Arme mitmachten - ein wallendes, wogendes, rollendes Auf und Ab. Er riß sich von diesem Anblick los und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Er wußte aus eigener Erfahrung, daß die Pathologie mit der Küchenleitung im allgemeinen in Fragen der Ernährungshygiene eng zusammenarbeitete.

»In den letzten Wochen hatten wir einige Fälle von Darmgrippe«, erklärte die Küchenleiterin. Sie fügte hinzu: »Hauptsächlich unter den Angestellten des Krankenhauses.«

Coleman lachte. »Nennen Sie mir ein Krankenhaus, in dem das nicht hin und wieder auftritt.«

»Oh, ich weiß.« Nur ganz schwach gab Mrs. Straughan ihre Mißbilligung über diese Leichtfertigkeit zu verstehen. »Aber falls Lebensmittel die Ursache sind - und im allgemeinen sind sie es -, lege ich Wert darauf, daß es festgestellt wird, wenn es möglich ist. Man kann dann versuchen zu verhindern, daß es wieder passiert.«

Diese Frau sprach mit einem Ernst, der David Coleman Respekt abnötigte. Höflich fragte er: »Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«

»Es sind ganz eindeutig meine Geschirrspülmaschinen, Dr. C.«

Einen Augenblick lang war Coleman über diese Anrede verblüfft. Als er sich gefaßt hatte, fragte er: »Und warum?« Aus dem Augenwinkel sah er Bannister eintreten. Jetzt hörten beide Laboranten der Unterhaltung zu.

Die Küchenleiterin erklärte: »Meine Heißwasseranlage ist völlig unzureichend.«

Diese Formulierung führte ihn in Versuchung zu lächeln, aber er unterdrückte es und fragte statt dessen: »Haben Sie darauf schon hingewiesen?«

»Davon können Sie überzeugt sein, Dr. C.« Offensichtlich handelte es sich um eine Frage, die Mrs. Straughan auf der Seele brannte. Sie fuhr fort: »Ich habe mehrmals mit dem Verwaltungsdirektor, Mr. Tomaselli, darüber gesprochen. Tatsächlich hat meine letzte Unterredung mit Mr. T. ihn veranlaßt, Dr. Pearson um eine neue Untersuchung der Geschirrspüler zu bitten.«

»Ich verstehe.« Coleman wandte sich an John Alexander. »Haben Sie die Untersuchung vorgenommen?«

»Ja, Doktor.«

»Was haben Sie festgestellt?«

»Die Wassertemperatur ist nicht hoch genug.« Alexander sah auf eine Notiztafel, auf der mehrere Blätter mit Notizen festgeklammert waren. »Ich führte an jeder Maschine zu verschiedenen Tageszeiten drei Messungen durch, die Temperatur lag zwischen dreiundvierzig und vierundfünfzig Grad.«

»Sehen Sie!« Die Küchenleiterin hob nachdrücklich ihre Hände.

»Ja, ja.« Coleman nickte. »Das ist viel zu niedrig.«

»Das ist noch nicht alles, Doktor.« John Alexander hatte die Notiztafel hingelegt und einen Objektträger von dem Labortisch genommen. »Ich fürchte, ich habe auf den Tellern, nachdem sie durch die Maschine gelaufen sind, verschiedene gasbildende Bakterien der fäkalen Gruppe gefunden.«

»Lassen Sie mich sehen.« Coleman nahm den Objektträger und trat vor das Mikroskop. Als er das Okular eingestellt hatte, wurden sofort die charakteristischen, wurmartigen Bakterien sichtbar. Er richtete sich auf.

Mrs. Straughan fragte: »Was ist das? Was bedeutet es?«

Coleman sagte nachdenklich: »Die Kultur zeigt gasbildende Bakterien. Heißes Wasser vernichtet sie normalerweise, &er wie es scheint, kommen sie durch die Maschine und bleiben auf Ihren sauberen Tellern.«

»Ist das bedenklich?«

Er überlegte sorgfältig, ehe er antwortete: »Ja und nein. Wahrscheinlich ist ein Teil der Darmgrippe, von der Sie sprachen, darauf zurückzuführen. Aber das ist an sich nichts Ernstes. Ernst werden könnte es, wenn wir zufällig im Krankenhaus einen Infektionsträger haben.«

»Einen Infektionsträger?«

Coleman erklärte: »Das ist jemand, der Krankheitserreger in seinem Körper trägt, ohne selbst im klinischen Sinn erkrankt zu sein. Es kann ein anscheinend völlig normaler und gesunder Mensch sein. Das kommt häufiger vor, als Sie glauben.«

»Aha, ich verstehe«, antwortete Mrs. Straughan nachdenklich.

Coleman wandte sich zu den beiden Laboranten. Er fragte: »Ich nehme an, daß wir regelmäßig Laboruntersuchungen von allen Personen im Krankenhaus durchführen, die mit Nahrungsmitteln zu tun haben?«

Gewichtig antwortete Bannister: »Aber ja. Dr. Pearson ist darin sehr genau.«

»Sind wir damit auf dem laufenden?«

»Aber ja.« Der erste Laborant dachte nach und meinte dann: »Ich glaube, eine ganze Zeit lang haben wir keine mehr gemacht.«

»Wann war die letzte?« Dr. Coleman fragte beiläufig, als habe es keine besondere Bedeutung.

»Einen Augenblick. Das muß ich im Buch nachsehen.« Bannister ging auf die andere Seite des Labors.

In Gedanken erwog David Coleman, was auf dem Spiel stand. Wenn die Geschirrspüler unzulänglich arbeiteten - und das schien so zu sein -, mußte sofort etwas geschehen. Darüber bestand keine Frage. Andererseits, solange alle Personen, die mit Lebensmitteln zu tun hatten, sorgfältig überprüft wurden -und das behauptete Bannister -, bestand kein wirklicher Anlaß zur Beunruhigung. Anders lagen die Dinge aber, wenn hier etwas versäumt worden war. Er sagte zu John Alexander: »Legen Sie Dr. Pearson den Befund so schnell wie möglich vor.«

»Ja, Doktor.« Alexander wandte sich wieder der Tafel mit seinen Notizen zu.

Auf der anderen Seite des Raumes sah Bannister von einem Buch auf, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Aktenschrank lag. »Am 24. Februar«, rief er herüber.

Überrascht fragte Coleman zurück: »Sagten Sie Februar?«

»Ja, Februar ist richtig.«

»Das ist fast sechs Monate her.« Zu der Küchenleiterin gewandt: »Sie haben wohl keinen starken Wechsel in Ihrem Küchenpersonal?«

»Aber ja. Bedauerlicherweise doch.« Mrs. Straughan schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Wir haben seit Februar eine ganze Menge neue Leute eingestellt, Dr. C.«

Immer noch verständnislos fragte Coleman Bannister: »Ist das Datum auch richtig?«

»Das war das letztemal.« Bannister war seiner Sache ganz sicher. Er fand es angenehm, einmal in der Lage zu sein, diesem allwissenden jungen Arzt Bescheid zu sagen. Er fügte hinzu:

»Sie können ja selbst nachsehen, wenn Sie wollen.«

Coleman ignorierte die Bemerkung und fragte: »Was ist aber mit den neuen Leuten, die inzwischen eingestellt wurden?«

»Hier steht weiter nichts.« Bannister zuckte mit den Schultern. »Wenn das Gesundheitsbüro uns keine Proben zur Untersuchung schickt, erfahren wir nichts von neuen Leuten in der Küche.« Seine Haltung verriet völlige Gleichgültigkeit, fast Verachtung.

Langsam stieg die Wut in Coleman auf. Er beherrschte sich und sagte gelassen zu der Küchenleiterin: »Ich glaube, das ist eine Sache, um die Sie sich kümmern müssen.« Zum erstenmal begann ihm bewußt zu werden, daß hier irgend etwas irgendwo ernsthaft nicht stimmte.

Mrs. Straughan schien den gleichen Gedanken zu haben. Sie sagte: »Das werde ich sofort tun. Vielen Dank, Dr. C.« Bei jedem Schritt wogten ihre Brüste auf und ab, als sie das Labor verließ.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Zum erstenmal nahm Coleman wahr, daß Bannister sich unbehaglich zu fühlen schien. Als sich ihre Blicke begegneten, fragte er den Laboranten eisig: »Ist Ihnen denn überhaupt nicht aufgefallen, daß keine Untersuchungen des Küchenpersonals durchgeführt wurden?«

»Nun.« Bannister zögerte. Sein früheres Selbstvertrauen war verflogen. »Früher oder später vermutlich schon.«

Coleman musterte den Mann verächtlich. Sarkastisch antwortete er: »Sagen wir lieber später, meinen Sie nicht auch? Besonders da es von Ihnen Nachdenken verlangt hätte.« An der Tür drehte er sich um. »Ich bin bei Dr. Pearson.«

Aus dem Gesicht des alten Laboranten war alle Farbe verschwunden. Er stand da und starrte auf die Tür, durch die Coleman hinausgegangen war. »Der da weiß auch alles. Alles, was es gibt. Jeden Dreck«, stieß er erbittert, aber geschlagen hervor.

In diesem Augenblick umgab Bannister eine Aura des Untergangs. Die ihm vertraute Welt - eine Welt, die er für unverletzbar gehalten und für die er deshalb nichts getan hatte, um sie zu verteidigen - zerbrach. Eine neue Ordnung entstand, und in dieser neuen Ordnung war durch sein eigenes Versagen kein Platz mehr für ihn. Vernichtet, überlebt, erschien er nur eine schwache, bedauernswerte Gestalt, die die Zeit auf der Strecke gelassen hatte.

Joe Pearson sah von seinem Schreibtisch auf, als Coleman eintrat.

Ohne Umschweife verkündete der junge Pathologe: »John Alexander hat gasbildende Bakterien gefunden - auf sauberen Tellern, die durch die Geschirrspüler gelaufen sind.«

Pearson schien nicht überrascht. Er sagte ernst: »Das liegt an der Heißwasseranlage. «

»Das weiß ich.« David Coleman versuchte, den sarkastischen Ton in seiner Stimme zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. »Hat jemals jemand versucht, etwas dagegen zu unternehmen?«

Der alte Mann warf ihm einen spöttischen Blick zu. Überraschend ruhig antwortete er: »Vermutlich denken Sie, daß hier alles sehr unfähig geleitet wird.«

»Da Sie mich danach fragen, ja!« Coleman preßte die Lippen zusammen. Er fragte sich, wie lange sie beide in dieser Art Atmosphäre zusammenarbeiten könnten.

Pearson hatte eine der unteren Schubladen seines Schreibtisches aufgezogen und wühlte zwischen Akten und Papieren. Während er suchte, sagte er in einem Ton, in dem sich Zorn und Depression in seltsamer Weise zu mischen schienen: »Sie sind so jung und grün und voller großer Rosinen. Sie kommen her, und zufällig zu einer Zeit, in der wir hier eine neue Verwaltung bekommen haben, in der mehr Geld als seit Jahren zur Verfügung steht. Folglich glauben Sie, hier sei alles nur deshalb falsch, weil nie jemand daran dachte, etwas zu verbessern, es nie jemand versucht hätte.« Er hatte gefunden, was er suchte, und warf ein umfangreiches Aktenstück auf den Schreibtisch.

»Das habe ich nicht gesagt.« Colemans Antwort kam scharf.

Pearson schob ihm das Aktenstück hin. »Hier haben Sie die Korrespondenz wegen der Heißwasseranlage in der Küche. Wenn Sie sich die Mühe machen und sie lesen, können Sie feststellen, daß ich schon seit Jahren für eine neue Heißwasseranlage kämpfe.« Pearson hob seine Stimme. Herausfordernd fügte er hinzu: »Nur zu. Sehen Sie sich das ruhig an.«

Coleman schlug den Aktendeckel auf und las das oberste Schreiben. Er blätterte um, dann weiter, überflog die folgenden Seiten. Sofort erkannte er, wie gründlich er sich geirrt hatte. Die Briefe erhielten verdammende Urteile Pearsons über die hygienischen Verhältnisse in der Krankenhausküche, waren in noch schärferen Ausdrücken gehalten, als er selbst verwendet hätte. Die Korrespondenz reichte mehrere Jahre zurück.

»Nun?« Pearson hatte ihn beobachtet, während er las.

Ohne zu zögern erklärte Coleman: »Es tut mir leid. Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Jedenfalls in diesem Punkt.«

»Lassen Sie nur.« Pearson winkte gereizt ab. Dann, als er den Sinn der Worte verstanden hatte: »Wollen Sie sagen, es gäbe noch mehr?«

Zurückhaltend antwortete Coleman: »Als ich die Mängel der Geschirrspülmaschine feststellte, entdeckte ich auch, daß seit nahezu sechs Monaten keine Laboruntersuchungen des Küchenpersonals mehr vorgenommen wurden.«

»Warum?« Die Frage kam scharf wie eine Explosion.

»Anscheinend wurden von dem Gesundheitsbüro keine Proben heruntergeschickt. Die Küchenleiterin geht dem jetzt nach.«

»Und wollen Sie behaupten, daß wir nicht zurückgefragt haben, daß niemand in der Pathologie sich darum kümmerte, wo sie blieben?«

»Offensichtlich nicht.«

»Dieser Idiot Bannister. Das ist ernst.« Pearson war ehrlich erschrocken, seine Feindschaft gegen Coleman schien vergessen.

Coleman sagte ruhig: »Ich dachte es würde Sie interessieren.«

Pearson hatte das Telefon aufgenommen. Nach einer Pause sagte er: »Geben Sie mir den Verwaltungsdirektor.«

Das Gespräch, das folgte, war knapp und sachlich. Pearson legte den Hörer zurück und stand auf. Er sagte zu Coleman: »Tomaselli kommt herunter. Wir wollen ihn im Labor treffen.«

Es dauerte nur wenige Minuten, um im Labor noch zu bestätigen, was Coleman bereits festgestellt hatte. John Alexander trug Tomaselli und Pearson aus seinen Aufzeichnungen nochmals seine Untersuchungsergebnisse vor, und Pearson betrachtete die Präparate durch das Mikroskop. Als er sich aufrichtete, kam gerade die Küchenleiterin ins Labor. Der Verwaltungsdirektor wendete sich zu ihr. »Was haben Sie festgestellt?«

»Es ist unglaublich, aber wahr.« Mrs. Straughan schüttelte verständnislos den Kopf. Sie wandte sich an Pearson. »Anfang des Jahres wurde im Gesundheitsbüro eine neue Arbeitskraft eingestellt, Dr. P. Niemand hat ihr etwas von den Laboruntersuchungen für das Küchenpersonal gesagt. Aus diesem Grunde wurden keine Proben mehr heruntergeschickt.«

Tomaselli sagte: »Es sind also seit einiger Zeit keine Untersuchungen mehr durchgeführt worden. Wie lange nicht?«

»Annähernd sechs Monate.«

Coleman bemerkte Carl Bannister, der mit ernstem Gesicht abseits der Gruppe stand. Scheinbar war er beschäftigt, aber Coleman beobachtete, daß der erste Laborant sich nichts entgehen ließ.

Der Verwaltungsdirektor fragte Pearson: »Was schlagen Sie vor? «

»Als erstes sollten alle, die seither eingestellt wurden, so schnell wie möglich untersucht werden«, antwortete der alte Pathologe nachdrücklich und knapp. »Danach müssen alle anderen nachuntersucht werden. Das bedeutet: Stuhlkulturen, Röntgenaufnahmen der Brust und eine allgemeine Untersuchung. Und das gesamte Küchenpersonal und jeder, der irgendwie mit Lebensmitteln zu tun hat, muß erfaßt werden.«

»Wollen Sie das organisieren, Mrs. Straughan?« fragte Tomaselli. »Arbeiten Sie mit dem Gesundheitsbüro zusammen, es kann den größten Teil der Einzelheiten übernehmen.«

»Ja, Mr. T, ich gehe sofort daran.« Sie wogte aus dem Labor.

»Sonst noch etwas?« Tomaselli hatte sich wieder Pearson zugewandt.

»Wir brauchen einen neuen Dampferhitzer für die Geschirrspülmaschinen. Entweder das, oder sie müssen ganz herausgerissen und durch neue ersetzt werden.« Pearson erhob erregt seine Stimme. »Das erkläre ich nun jedem seit Jahren.«

»Ich weiß.« Tomaselli nickte. »Ich habe die Akte geerbt, und es steht obenan auf unserer Liste. Die Schwierigkeit ist, daß wir so viele hohe Ausgaben für Anschaffungen hatten.« Er überlegte. »Ich wüßte gern, wie groß der Unterschied in den Kosten ist.«

Ungerechtfertigt gereizt antwortete Pearson: »Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Installateur.«

»Etwas verstehe ich davon. Vielleicht kann ich helfen.« Auf die milde gesprochenen Worte hin, drehten die anderen sich um. Es war Dr. Dornberger, der mit seinen Händen an seiner unvermeidlichen Pfeife fingerte. Er war still und unbemerkt in das Labor gekommen. Als er Harry Tomaselli sah, fragte er: »Ich störe doch nicht?«

Pearson antwortete knurrend: »Nein, durchaus nicht.«

Dornberger bemerkte, daß John Alexander ihn ansah. Er sagte: »Ich war gerade bei Ihrem Kind, mein Junge. Ich fürchte, es geht ihm nicht sehr gut.«

»Besteht denn Hoffnung, Doktor?« Alexanders Stimme klang ruhig. Die anderen sahen zu ihm hin. Ihr Ausdruck war etwas besänftigt. Bannister legte seine Pipette hin und trat näher.

»Ich fürchte, nicht sehr viel«, antwortete Dornberger langsam. Es entstand ein Schweigen. Dann wendete sich Dornberger, als ob ihm wieder etwas eingefallen sei, an Pearson: »Ich nehme an, Joe, daß an dem Blutsensibilitätstest für Mrs. Alexander kein Zweifel besteht?«

»Zweifel?«

»Ich meine, daß das Ergebnis richtig ist?«

Pearson schüttelte den Kopf. »Es ist völlig in Ordnung, Charlie. Ich habe ihn selbst durchgeführt - sehr sorgfältig sogar.« Verwundert fügte er hinzu: »Warum fragst du?«

»Nur um mich zu vergewissern.« Dornberger paffte an seiner Pfeife. »Heute morgen hatte ich eine Zeitlang den Verdacht, das Kind habe Erythroblastose. Es scheint aber eine weit hergeholte Vermutung zu sein.«

»Das ist völlig unwahrscheinlich«, erklärte Pearson nachdrücklich.

Dornberger antwortete: »Ja, ich glaube es auch.«

Wieder herrschte Schweigen. Sie blickten auf Alexander. David Coleman wollte etwas sagen - irgend etwas, um die Aufmerksamkeit von John abzulenken, um es dem jungen Laboranten zu erleichtern. Fast ohne zu überlegen erklärte er Dornberger. »Es bestanden einmal gewisse Zweifel an den Sensibilitätstests, als in den Labors nur Salzlösung und konzentriertes Protein verwendet wurde. Damals wurden positive Fälle gelegentlich als negativ bezeichnet. Heute allerdings sind die Ergebnisse mit einem indirekten Coombs-Test absolut sicher.« Als er zu Ende gesprochen hatte, wurde ihm bewußt, daß dieser Test in dem Labor hier erst nach seiner Ankunft eingeführt worden war. Er hatte nicht die Absicht gehabt, Pearson eins auszuwischen. Im Augenblick hoffte er, der alte Mann würde es nicht bemerken. Es hatte schon genug Streit zwischen ihnen gegeben, und die Lage brauchte nicht unnötig verschärft zu werden.

»Aber, Dr. Coleman.« Alexander stand mit offenem Mund und entsetzten Augen da.

»Ja, was ist denn?« Coleman verstand nicht. Keines seiner Worte konnte diese Reaktion erklären.

»Wir haben keinen indirekten Coombs-Test durchgeführt.«

Trotz seiner Sympathie für Alexander ärgerte sich Coleman. Pearsons wegen wünschte er, jetzt nicht weiter über das Thema zu sprechen. Nun blieb ihm keine andere Wahl. »Aber ja. Sie taten es doch selbst«, sagte er von oben herab. »Ich erinnere mich, daß ich die Anforderung für Coombs-Serum unterschrieben habe.«

Alexander sah ihn verzweifelt mit flehenden Augen an. Er antwortete: »Aber Dr. Pearson sagte, es sei nicht notwendig. Der Test wurde nur in Salzlösung und konzentriertem Protein vorgenommen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Coleman aufnahm, was Alexander gesagt hatte. Er bemerkte, daß Harry Tomaselli, der nicht verstand, um was es ging, die Szene neugierig beobachtete. Dornberger hatte aufhorchend den Kopf gehoben.

Pearson schien das Ganze nicht zu behagen. Mit einem Anflug von Verlegenheit sagte er zu Coleman: »Ich wollte es Ihnen die ganze Zeit sagen. Es ist mir nur entfallen.«

David Colemans Verstand war jetzt eisklar. Aber ehe er weiterging, wollte er eine Tatsache eindeutig geklärt haben. »Habe ich richtig verstanden«, fragte er Alexander, »daß überhaupt kein indirekter Coombs-Test durchgeführt wurde?«

Als Alexander nickte, warf Dornberger scharf dazwischen: »Einen Augenblick. Das will ich genau wissen. Meinen Sie, daß die Mutter - Mrs. Alexander - doch sensibilisiertes Blut haben kann?«

»Selbstverständlich kann sie das.« Rücksichtslos schlug Coleman mit scharf erhobener Stimme zu. »Die Tests in Salzlösung und konzentriertem Protein sind in vielen Fällen ausreichend, aber nicht in allen. Jeder, der in der Hämatologie auf dem laufenden ist, weiß das.« Er warf einen Seitenblick auf Pearson, der sich nicht gerührt zu haben schien. Zu Dornberger gewandt fuhr er fort: »Deshalb habe ich einen indirekten Coombs-Test angeordnet.«

Der Verwaltungsdirektor versuchte immer noch, die medizinische Bedeutung zu verstehen. »Wenn Sie diesen Test angeordnet haben, warum wurde er dann nicht ausgeführt?«

Coleman fuhr auf Bannister los. Mit erbarmungslosen Augen fragte er: »Was ist mit der Einkaufsanforderung geschehen, die ich unterschrieben habe - die Anforderung für Coombs-Serum?« Als der Laborant zögerte: »Nun?«

Bannister zitterte. Kaum hörbar murmelte er: »Ich habe sie zerrissen.«

Ungläubig rief Dornberger aus: »Was? Sie haben die Anforderung eines Arztes zerrissen? Und ohne es ihm zu sagen?«

Rücksichtslos fuhr Coleman fort: »Auf wessen Anweisung hin haben Sie das getan?«

Bannister sah zu Boden. Widerwillig antwortete er: »Dr. Pearson hat es befohlen.«

Dornberger überlegte schnell. Zu Coleman sagte er: »Das bedeutet, daß das Kind Erythroblastose haben kann. Alles deutet auch daraufhin.«

»Werden Sie eine Austauschtransfusion vornehmen?«

Bitter erwiderte Dornberger: »Wenn es überhaupt nötig war, hätte es gleich nach der Geburt geschehen müssen. Aber vielleicht besteht noch eine Chance, so spät es schon ist.« Er sah den jungen Pathologen an, als wolle er ausdrücken, daß nur auf Colemans Urteil vertraut werden könne. »Aber ich will sicher sein. Das Kind hat nicht mehr sehr viel Kraft einzusetzen.«

»Wir brauchen einen direkten Coombs-Test mit dem Blut des Kindes.« Coleman reagierte schnell und sachlich. Jetzt spielte die Szene zwischen Dornberger und ihm. Pearson stand immer noch da, als ob er von der Schnelligkeit, in der sich alles abspielte, betäubt sei. Coleman fuhr Bannister an: »Gibt es Coombs-Serum hier im Krankenhaus?«

Der Laborant schluckte. »Nein.«

Hier ging es um eine Frage, die in den Bereich des Verwaltungsdirektors gehörte. Er fragte knapp: »Wo kann man es bekommen?«

»Dazu fehlt uns die Zeit.« Coleman schüttelte den Kopf. »Wir müssen den Test woanders durchführen lassen, bei jemand, der die Möglichkeit dazu hat.«

»Die Universität wird es tun. Ihr Labor ist sowieso größer als unseres.« Harry Tomaselli ging zum Telefon. Er sagte zu der Zentrale: »Geben Sie mir das Universitätskrankenhaus, bitte.« Zu den anderen gewandt: »Wer leitet dort die pathologische Abteilung?«

Dornberger sagte: »Dr. Franz.«

»Dr. Franz, bitte. «Tomaselli fragte: »Wer will mit ihm sprechen?«

»Ich.« Coleman nahm den Hörer. Die anderen hörten ihm zu: »Dr. Franz? Hier spricht Dr. Coleman, stellvertretender Pathologe am Three Counties Hospital. Können Sie für uns dringend einen Coombs-Test durchführen?« Es folgte eine Pause, in der Coleman zuhörte. Dann sagte er: »Ja, wir schicken die Probe sofort hinüber. Danke, Doktor. Guten Tag.« Er drehte sich wieder um. »Wir brauchen sofort eine Blutprobe.«

»Ich werde Ihnen helfen, Doktor.« Das war Bannister, der schon ein Tablett mit den erforderlichen Geräten in den Händen hielt.

Coleman war im Begriff abzulehnen, als er das stumme Flehen im Blick des alten Laboranten erkannte. Er zögerte noch, ehe er zustimmte: »Also gut, kommen Sie mit.« Als sie hinausgingen, rief der Verwaltungsdirektor ihnen nach: »Ich organisiere einen Streifenwagen der Polizei. Dann kriegen Sie die Probe schneller hin.«

»Bitte, ich möchte sie hinbringen - mit dem Polizeiwagen fahren.« Das war John Alexander.

»Gut.« Der Verwaltungsdirektor hatte den Hörer am Ohr. Kurz sagte er in den Apparat: »Geben Sie mir die städtische Polizei« Zu Alexander gewandt: »Gehen Sie mit den anderen und bringen Sie die Blutprobe in die Notaufnahme hinunter. Ich werde den Streifenwagen dort warten lassen.«

»Ja, Sir.« Alexander ging schnell hinaus.

»Hier ist der Verwaltungsdirektor des Three Counties Hospitals.« Tomaselli sprach wieder in das Telefon. »Ich bitte Sie um einen Polizeiwagen, um eine dringende Blutprobe zu befördern.« Er hörte kurz zu. »Ja, unsere Leute werden an dem Eingang der Notaufnahme warten.« Als er den Hörer einhängte, sagte er: »Ich überzeuge mich am besten selbst davon, daß alles klappt.« Er ging hinaus und ließ Pearson und Dornberger allein.

In den letzten Sekunden hatten sich im Kopf des alten Geburtshelfers die Gedanken gehetzt. Es war unvermeidlich gewesen, daß Charles Dornberger während der vielen Jahre, in denen er Medizin praktiziert hatte, Patienten nicht am Leben erhalten konnte. Manchmal schien ihr Tod fast vorausbestimmt zu sein. Aber immer hatte er um ihr Leben gekämpft, zeitweise wild und verbissen, und nie vor dem endgültigen Ende aufgegeben. Und in allen Fällen - ob er Erfolg gehabt hatte oder nicht - konnte er von sich selbst aufrichtig sagen, daß er in Ehren bestanden, daß er hohe Anforderungen an sich gestellt, daß er nichts dem Zufall überlassen, daß er sich immer mit seinen ganzen Kräften eingesetzt hatte. Es gab Ärzte, die es manchmal weniger genau nahmen, das wußte er. Aber nach seinem besten Wissen und Gewissen hatte er niemals einen Patienten durch Versäumnisse oder Nachlässigkeit verloren.

Bis zu diesem Augenblick.

Jetzt schien ihm, daß er vor dem Ende seiner eigenen Laufbahn stand, daß er die traurige und bittere Ernte der Unfähigkeit eines anderen teilen mußte. Und das schlimmste war - eines Mannes, der sein Freund war.

»Joe«, begann er, »ich muß dir etwas sagen.«

Pearson hatte sich auf einen Laborhocker sinken lassen. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren, sein Blick ging ins Leere. Nun sah er langsam auf.

»Dieses Kind war eine Frühgeburt, Joe, aber es war normal, und wir hätten sofort nach der Geburt eine Austauschtransfusion vornehmen können.« Dornberger schwieg. Und als er fortfuhr, lag der ganze Aufruhr seiner Gefühle in seiner Stimme: »Joe, wir sind sehr lange Freunde gewesen. Und manches Mal bin ich für dich aufgestanden und habe dir geholfen, deine Kämpfe auszufechten. Aber dieses Mal, wenn dieses Kind stirbt, so wahr mir Gott helfe, werde ich dich schonungslos vor den medizinischen Ausschuß bringen.«

XX

»Du lieber Himmel, was machen die da drüben nur. Warum haben wir noch nichts gehört?« Dr. Joseph Pearsons Finger trommelten einen kurzen Wirbel auf seiner Schreibtischplatte. Es war eineinviertel Stunden her, seit dem Kind der Alexanders die Blutprobe abgenommen und sofort ins Universitätskrankenhaus gebracht worden war. Nun warteten der alte Pathologe und David Coleman in Pearsons Arbeitszimmer.

Coleman sagte ruhig: »Ich habe Dr. Franz noch einmal angerufen. Er versprach, uns das Ergebnis sofort telefonisch durchzugeben.«

Pearson nickte dumpf. »Wo ist der Junge - Alexander?« fragte er.

»Die Polizei hat ihn wieder zurückgebracht. Er ist bei seiner Frau.« Coleman zögerte. »Meinen Sie nicht, daß wir uns mit dem Gesundheitsbüro über die Situation in der Küche auseinandersetzen sollten, solange wir doch warten müssen? Und uns vergewissern, ob die Untersuchung des Küchenpersonals begonnen hat?«

Pearson schüttelte den Kopf. »Später. Erst wenn das vorüber ist.« Er sagte heftig: »Ich kann an nichts anderes denken, solange der Fall nicht geklärt ist.«

Zum erstenmal, seit an diesem Vormittag in dem Labor die Ereignisse so unvermittelt ihren Anfang genommen hatten, dachte David Coleman über Pearson und das, was der alte Mann empfinden mochte, nach. Colemans Erklärung über den Sensibilitätstest war mit keinem Wort angezweifelt worden, und durch sein Schweigen schien Pearson stillschweigend zuzugeben, daß sein jüngerer Kollege besser informiert war als er selbst, zumindest auf diesem Gebiet. Coleman dachte: es muß bitter für ihn sein, das einzugestehen, und zum erstenmal empfand er für den alten Mann eine Regung der Sympathie.

Pearson hörte auf zu trommeln und schlug mit der flachen Hand hart auf den Tisch. »Warum rufen sie denn nicht an, verdammt noch mal?« rief er ungeduldig aus.

»Etwas Neues von der Pathologie?«

Dr. Charles Dornberger wartete, gewaschen und im Operationsanzug, für den Eingriff bereit in dem kleinen Operationsraum neben der Entbindungsstation. Die Frage war an die Stationsschwester gerichtet, die gerade hereingekommen war.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor.«

»Wie weit sind wir mit den Vorbereitungen?«

Die Schwester füllte zwei Gummiwärmflaschen und legte sie unter die Decke auf dem kleinen Operationstisch, der für Säuglinge benutzt wurde. Sie antwortete: »In ein paar Minuten ist alles fertig.«

Ein Praktikant trat ein und fragte Dr. Dornberger: »Beabsichtigen Sie, mit der Austauschtransfusion zu beginnen, auch wenn das Ergebnis des Coombs-Tests noch nicht vorliegt?«

»Ja«, antwortete er. »Wir haben schon zuviel Zeit verloren, und ich will nicht noch länger warten.« Er überlegte, dann fuhr er fort: »Jedenfalls ist die Anämie an dem Kind jetzt so deutlich erkennbar, daß die Austauschtransfusion auch ohne den Test gerechtfertigt ist.«

Die Schwester sagte: »Übrigens, Doktor, die Nabelschnur des Kindes ist sehr kurz abgeschnitten worden. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist.«

»Doch. Ich weiß es. Danke.« Dem Praktikanten erklärte Dornberger: »Wenn wir vorher wissen, daß eine Austauschtransfusion notwendig ist, lassen wir die Nabelschnur bei der Geburt lang, um einen leicht zugänglichen Verbindungspunkt zu haben. Bedauerlicherweise wußten wir in diesem Fall nicht rechtzeitig Bescheid, und darum wurde sie kurz abgeschnitten.

»Wie werden Sie vorgehen?« fragte der Praktikant.

»Ich werde unter örtlicher Betäubung einen Schnitt unmittelbar über der Nabelvene machen.« Zu der Schwester gewandt fragte Dornberger: »Ist das Blut vorgewärmt?«

Sie nickte. »Ja, Doktor.«

Dornberger erklärte dem Praktikanten: »Es ist wichtig, daß das neue Blut Körpertemperatur hat, sonst ist die Gefahr eines Schocks größer.«

Dornberger war sich bewußt, daß er mit seinen Worten sich selbst ebenso vergewissern wie den Praktikanten belehren wollte. Das Sprechen hielt ihn mindestens davon ab, zu gründlich nachzudenken, und gründlich nachdenken war etwas, das Dornberger im Augenblick vermeiden wollte. Seit er Pearson nach der Auseinandersetzung im Labor verlassen hatte, folterte ihn ein Sturm von Befürchtungen und Selbstvorwürfen. Die Tatsache, daß technisch gesehen ihn selbst kein Vorwurf für das Geschehene traf, erschien ihm nebensächlich. Es ging um seinen Patienten, der sich in Gefahr befand, es war sein Patient, der wegen einer ärztlichen Nachlässigkeit schlimmster Art sterben konnte, und die letzte Verantwortung lag allein bei ihm.

Im Begriff weiterzusprechen, hielt er plötzlich inne. Etwas stimmte nicht. Ihm schwindelte. Sein Kopf schmerzte, der Raum schwankte um ihn. Er schloß einen Augenblick die Augen, öffnete sie wieder. Alles in Ordnung. Seine Umgebung war wieder klar, das Schwindelgefühl fast verschwunden. Aber als er auf seine Hände sah, stellte er fest, daß sie zitterten. Er versuchte es zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht.

Der Brutkasten mit dem Säugling wurde hereingerollt. Er hörte den Praktikanten fragen: »Dr. Dornberger, fehlt Ihnen etwas?«

Es lag ihm auf der Zunge, nein zu sagen. Er wußte, wenn er es tat, konnte er es durchstehen, verbergen, was in ihm vorging, ohne daß jemand anders als er selbst etwas bemerkte. Und vielleicht konnte er selbst noch zu dieser späten Stunde dank seines Könnens und Wissens dieses Kind retten, im letzten Augenblick wenigstens im gewissen Maß sein Gewissen entlasten und seine Integrität bewahren.

Aber dann fiel ihm ein, was er selbst in all den Jahren immer wieder gesagt und woran er geglaubt hatte: von den alten Männern, die sich zu lange an ihre Macht klammern, seine Behauptung, er würde wissen, wann es für ihn an der Zeit sei, zurückzutreten, seine Überzeugung, daß er nie einen Patienten behandeln würde, wenn er nicht mehr seine vollen Fähigkeiten besaß. Daran dachte er. Dann sah er wieder auf seine zitternden Hände hinunter.

»Nein«, sagte er, »ich glaube, ich bin nicht in Ordnung.« Er schwieg. Und zum erstenmal ergriff ihn ein überwältigendes Gefühl, das es ihm schwermachte, seine Stimme zu beherrschen. Er bat: »Bitte, rufen Sie Dr. O'Donnell an. Sagen Sie ihm, ich sei nicht in der Lage, die Transfusion durchzuführen, und bäte ihn, sie für mich zu übernehmen.«

In diesem Augenblick hatte Dr. Charles Dornberger es aufgegeben, Arzt zu sein, und das wußte er.

Als das Telefon klingelte, riß Pearson den Hörer von der Gabel.

»Ja?« Eine Pause. »Hier spricht Dr. Pearson. « Er hörte zu. »Gut, danke.«

Ohne den Hörer zurückzulegen, drückte er auf die Gabel, und als die Zentrale antwortete, sagte er: »Geben Sie mir Dr. Dornberger. Hier Dr. Pearson.«

Eine Stimme meldete sich kurz, dann sagte Pearson: »Also gut, dann teilen Sie ihm mit, ich hätte gerade die Nachricht von der Universitätsklinik erhalten. Der Bluttest für den Säugling Alexander ist positiv. Das Kind hat Erythroblastose.«

Pearson legte den Hörer zurück. Dann sah er auf und bemerkte, daß David Colemans Blick auf ihm ruhte.

Dr. Kent O'Donnell ging durch den Hauptgang des Krankenhauses zur Neurologie. Er hatte dort eine Konsultation verabredet, um sich über eine partielle Lähmung bei einem seiner Patienten beraten zu lassen.

Es war der erste Tag, an dem O'Donnell nach seiner Rückkehr von New York am Abend vorher wieder im Three Counties Hospital war. Er empfand noch den Auftrieb und die Anregung, die ihm diese Reise gegeben hatten. Er sagte sich, daß jeder Arzt hin und wieder eine Luftveränderung brauche. Mitunter wirkte der tägliche Umgang mit der Medizin und mit Krankheiten deprimierend, erschöpfte nach einiger Zeit die Kräfte, ohne daß man selbst es bemerkte. Und im weitesten Sinn erwies sich die Abwechslung als belebend und stärkend für seinen Verstand. In diesem Zusammenhang drängte sich ihm immer wieder unausweichlich die Frage auf, ob er seine Tätigkeit im Three Counties Hospital aufgeben und Burlington endgültig verlassen solle, und jedesmal erschienen ihm die Argumente zugunsten des Entschlusses überzeugender.

Natürlich wußte er, daß er durch seine Gefühle für Denise stark beeinflußt wurde und daß vor der letzten Begegnung mit ihr der Gedanke, Burlington zu verlassen, nie in ihm aufgetaucht war. Aber, fragte er sich, was sprach dagegen, daß ein Mann eine berufliche Entscheidung traf, die seinem persönlichen Glück entgegenkam? Sie bedeutete nicht, daß er die Medizin aufgab. Er würde lediglich den Ort seiner Arbeit wechseln und einfach an einer anderen Stelle sein Bestes geben. Schließlich bestand das Leben eines Menschen aus der Summe aller seiner Teile. Ohne Liebe, wenn er sie einmal gefunden hatte, konnte der Rest verdorren und wertlos werden. Mit Liebe konnte er ein besserer Mensch sein - fleißig und hingebungsvoll -, weil sein Leben ein geschlossenes Ganzes war. Wieder dachte er an Denise, und seine Erregung und Erwartung stiegen.

»Dr. O'Donnell, Dr. O'Donnell!« Der Klang seines Namens aus dem Lautsprecher des Krankenhauses riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Er blieb stehen, sah sich nach einem Telefon um, um sich zu melden. Er entdeckte eins in einem durch Glaswände abgetrennten Büro, ein paar Schritte entfernt. Er meldete sich und nahm Dr. Dornbergers Mitteilung entgegen. Er folgte ihr sofort, änderte seine Richtung und ging zu den Fahrstühlen, um sich in die vierte Etage zur Entbindungsstation bringen zu lassen.

Während Kent O'Donnell sich für die Operation die Hände wusch, stand Dornberger neben ihm, schilderte ihm den Fall und erklärte ihm seine Gründe, weshalb er nach dem Chef der Chirurgie hatte rufen lassen. Dornberger dramatisierte nichts, noch hielt er irgend etwas zurück. Er beschrieb die Szene im Labor der Pathologie und die Ereignisse, die dazu geführt hatten, genau und sachlich. Nur an zwei Punkten unterbrach O'Donnell ihn, um scharfe Zwischenfragen zu stellen. Im übrigen hörte er aufmerksam zu, und sein Gesichtsausdruck wurde immer grimmiger, während Dornberger berichtete.

O'Donnells gehobene Stimmung war verflogen, plötzlich und unerwartet durch das, was er erfuhr, zerschlagen, durch die Erkenntnis, daß in seinem Krankenhaus ein Patient durch Nachlässigkeit und Unfähigkeit - für die er in einer sehr realen Weise selbst verantwortlich war - das Leben verlieren konnte. Erbittert dachte er: Ich hätte Joe Pearson entlassen können. Dafür lagen ausreichend Gründe vor. Aber nein, ich spielte und zauderte, betrieb Hauspolitik, redete mir ein, das sei vernünftig, während ich die ganze Zeit meine ärztliche Aufgabe vernachlässigte. Er nahm ein steriles Handtuch und trocknete seine Hände, schob sie dann in Handschuhe, die eine Schwester bereithielt. »Also gut«, sagte er zu Dornberger, »gehen wir hinein.«

Nachdem sie den kleinen Operationsraum betreten hatten, warf O' Donnell einen prüfenden Blick über die bereitstehenden Instrumente und Vorrichtungen. Die Technik der Austauschtransfusion war ihm vertraut. Das wußte Dornberger, und das war der Grund, daß er den Chef der Chirurgie rufen ließ, denn O'Donnell hatte gemeinsam mit den Leitern der Kinderklinik und der Entbindungsstation die Richtlinien für Austauschtransfusionen im Three Counties Hospital ausgearbeitet, wobei sie sich auf die Erfahrungen in anderen Krankenhäusern gestützt hatten.

Das winzige, gebrechliche Baby wurde aus seinem Brutkasten genommen und auf den vorgewärmten Operationstisch gelegt. Dann sicherte die assistierende Schwester mit Hilfe des Praktikanten das Kind mit Windeln, die zu schmalen langen Streifen gefaltet um die Arme und Beine des Säuglings geschlungen und mit Sicherheitsnadeln an der Auflage des Tisches festgesteckt wurden. O'Donnell fiel auf, daß das Kind sehr ruhig lag, nur ganz schwach auf das, was mit ihm geschah, reagierte. Das war bei seinem Zustand und seiner Winzigkeit kein ermutigendes Zeichen.

Die Schwester entfaltete ein steriles Tuch und legte es über den Säugling. Nur Kopf und Nabel, an dem die Stelle, wo bei der Geburt die Nabelschnur durchtrennt worden war, noch heilte, ließ sie unbedeckt. Die örtliche Betäubung war bereits erfolgt. Nun reichte das Mädchen O'Donnell eine Pinzette. Er nahm sie, hob damit den Gazetupfer ab und begann, die Operationsstelle vorzubereiten. Der Praktikant hatte eine Notiztafel und einen Bleistift aufgenommen. O'Donnell fragte ihn: »Schreiben Sie mit?«

»Ja, Sir.«

O'Donnell bemerkte den respektvollen Ton, und unter anderen Umständen hätte er innerlich darüber gelächelt. Praktikanten und Assistenten, die zum festen Stab des Krankenhauses gehörten, waren eine notorisch respektlose Bande. Sie fanden Schwächen bei den älteren Ärzten des Krankenhauses schnell heraus, und von einem von ihnen mit »Sir« angeredet zu werden, kam fast einem Ritterschlag gleich.

Ein paar Minuten vorher waren zwei Lernschwestern in das Zimmer geglitten, und O'Donnell, der es gewöhnt war zu unterrichten, erklärte ihnen seine Handlungen.

»Eine Austauschtransfusion ist, wie Sie wahrscheinlich wissen« - O'Donnell sah die beiden Lernschwestern an -, »tatsächlich eine Durchspülung. Wir entnehmen zunächst dem Kind eine kleine Menge Blut und ersetzen es sofort durch die gleiche Menge Spenderblut. Dann wiederholen wir das gleiche und fahren so lange damit fort, bis der größte Teil des ursprünglichen kranken Blutes entfernt und ersetzt ist.«

Die assistierende Schwester befestigte ene Halbliterflasche mit Blut an einem Ständer über dem Tisch. O'Donnell erklärte: »Die Blutbank hat bereits das Blut des Patienten mit dem des Spenders verglichen, um sicherzugehen, daß beide die gleiche Blutgruppe haben. Ferner müssen wir auch sicher sein, daß wir genau die gleiche Blutmenge ersetzen, die wir entfernen. Aus diesem Grunde schreiben wir mit.« Er deutete auf die Notiztafel des Praktikanten.

»Temperatur 35,5«, verkündete die assistierende Schwester.

O'Donnell sagte: »Skalpell, bitte«, und streckte die Hand aus.

Behutsam entfernte er mit dem Messer den getrockneten Teil der Nabelvene und legte das frische Gewebe bloß. Er reichte das Messer zurück und sagte leise: »Haemostat.«

Der Praktikant reckte beobachtend den Kopf vor. O' Donnell erklärte: »Wir haben die Nabelvene freigelegt. Ich werde sie jetzt öffnen und das Blutgerinnsel entfernen.« Er streckte die Hand aus, und die Schwester reichte ihm eine Pinzette. Das Blutgerinnsel war winzig, kaum sichtbar, und er zog es behutsam und vorsichtig heraus. Ein so kleines Kind zu behandeln war, als ob man an einer Puppe arbeitete. Wie groß sind die Chancen für einen Erfolg? fragte sich O'Donnell. Welche Aussichten bestanden für das Überleben des Kindes? Ursprünglich mochten sie durchschnittlich, vielleicht sogar gut gewesen sein, aber jetzt, nach tagelanger Verzögerung, waren die Hoffnungen auf Erfolg erheblich geringer. Er blickte auf das Gesicht des Kindes. Seltsamerweise war es kein häßliches Gesicht, wie die Gesichter von Frühgeburten es oft sind. Es war sogar fast hübsch. Eine kräftige Kieferlinie deutete auf eine ihm innewohnende Stärke hin. Einen Augenblick ließ er, ganz gegen seine Natur, seine Gedanken abschweifen. Wie schändlich war das doch, geboren zu werden und einer so feindseligen Umgebung gegenüberzustehen.

Die assistierende Schwester hielt ein Kunststoffkatheter, an das eine Nadel befestigt war, bereit. Dadurch wurde das Blut entnommen und wieder ersetzt. O'Donnell nahm das Katheter und führte die Nadel mit äußerster Behutsamkeit in die Nabelvene ein. Er sagte: »Prüfen Sie den venösen Druck, bitte.«

Während er das Katheter senkrecht hielt, maß die Schwester mit einem Zentimetermaß die Höhe der Blutsäule. Sie verkündete: »Sechzig Millimeter.« Der Praktikant notierte es.

Ein zweiter Kunststoffschlauch führte zu der Flasche mit Blut über ihnen, ein dritter zu einem der zwei Metallbecken am Fußende des Operationstisches. O'Donnell schloß die drei Schläuche an einen Dreiwegehahn an, der an einer Zwanzig-Kubikzentimeter-Spritze angebracht war. Er drehte den Hahn um neunzig Grad. »Jetzt fangen wir an, das Blut abzunehmen«, erklärte er. Behutsam begann er, den Kolben der Spritze herauszuziehen. Dies war der kritische Augenblick bei einer Austauschtransfusion. Wenn das Blut nicht glatt floß, mußte das Katheter zurückgezogen und von neuem in die Vene eingeführt werden. O'Donnell bemerkte, daß Dornberger sich hinter ihm vorbeugte. Dann begann glatt und gleichmäßig das Blut zu fließen, füllte den Hohlraum des Katheters und trat in die Spritze ein.

O'Donnell erklärte: »Sie werden bemerken, daß ich das Blut sehr langsam und vorsichtig entnehme. In diesem Falle werden wir auch immer nur eine sehr kleine Menge entnehmen, weil es ein besonders kleiner Säugling ist. Normalerweise kann man einem voll ausgetragenen Kind zwanzig Kubikzentimeter auf einmal abnehmen, aber in diesem Fall beschränke ich mich auf zehn, um zu große Schwankungen des venösen Drucks zu vermeiden.«

Der Praktikant notierte auf seinem Blatt >10 ccm aus<.

O'Donnell stellte den Hahn an der Spritze um und drückte dann den Kolben hinein, wodurch das dem Kind entzogene Blut in eines der Metallbecken abfloß.

Wieder stellte er den Hahn um, zog Spenderblut in die Spritze ein und injizierte es dann langsam und vorsichtig in das Kind.

Auf seinem Blatt notierte der Praktikant: >10 ccm ein.<

Mit peinlicher Sorgfalt fuhr O'Donnell fort. Jede Entnahme und Zufuhr wurde langsam und sorgfältig vollzogen, nahm ganze fünf Minuten in Anspruch. Er war versucht, sich zu beeilen, besonders in einem kritischen Fall wie dem vorliegenden. Aber O'Donnell wußte genau, daß er sich vor Eile hüten mußte. Der kleine Körper auf dem Tisch besaß nur noch geringe Widerstandskraft. Der geringste Schock mußte sofort tödlich wirken.

Dann, fünfundzwanzig Minuten, nachdem sie begonnen hatten, rührte sich das Baby und schrie. Es war ein dünner, unendlich schwacher Schrei, ein ohnmächtiger, kraftloser Protest, der schon im gleichen Moment endete, als er begann. Aber es war ein Lebenszeichen, und über den Masken stand in den Augen der im Raum Anwesenden ein Lächeln. Irgendwie schien die Hoffnung um eine Spur gewachsen.

O'Donnell wußte zu gut Bescheid, um voreilige Schlüsse zu ziehen. Trotzdem sagte er über die Schulter zu Dornberger: »Klingt, als ob er sich über uns ärgert. Das kann ein gutes Zeichen sein.«

Auch Dornberger hatte reagiert. Er beugte sich vor, um auf das Notizblatt des Praktikanten zu sehen, und regte dann vorsichtig an, bewußt, daß er selbst nicht die Leitung in Händen hatte: »Ein bißchen Kalziumgluconat, was meinen Sie?«

»Ja.« O'Donnell löste die Spritze von dem Hahn und brachte eine Zehn-Kubikzentimeter-Spritze an, die die Schwester ihm gereicht hatte. Er injizierte einen Kubikzentimeter, reichte die Spritze wieder zurück. Die Schwester tauschte sie gegen die ursprüngliche Spritze aus, die sie inzwischen in dem zweiten Metallbecken gespült hatte.

O'Donnell war sich bewußt, daß die Spannung in dem Raum nachließ. Er begann sich zu fragen, ob das Kind es nach allem doch überstehen würde. Er hatte Merkwürdiges erlebt, schon vor langem erfahren, daß nichts unmöglich war, daß man in der Medizin das Unfaßliche ebenso oft auf seiner Seite wie gegen sich hatte.

»Gut, machen wir weiter.«

Er entnahm zehn Kubikzentimeter, ersetzte sie, entnahm weitere zehn und ersetzte sie. Wieder zehn heraus und hinein, und wieder.

Dann fünfzig Minuten, nachdem sie begonnen hatten, verkündete die Schwester ruhig: »Die Temperatur sinkt, Doktor, sie ist 34.5.«

Er sagte schnell: »Prüfen Sie den venösen Druck.«

Er stand auf 35 - viel zu niedrig.

»Die Atmung ist schlecht«, sagte der Praktikant, »seine Farbe ist auch nicht gut.«

O'Donnell befahl: »Prüfen Sie den Puls.« Zu der Schwester sagte er: »Sauerstoff.«

Sie griff nach einer Gummimaske und hielt sie über das Gesicht des Säuglings. Einen Augenblick später erklang das Zischen des ausströmenden Sauerstoffs.

»Der Puls ist sehr schwach«, sagte der Praktikant.

Die Schwester: »Die Temperatur ist auf 33,9 gefallen.«

Der Praktikant horchte den Säugling mit dem Stethoskop ab. Er sah auf: »Die Atmung wird schwächer.« Dann einen Augenblick später: »Sie hat ausgesetzt.«

O'Donnell nahm das Stethoskop, hörte selbst. Er konnte einen Herzschlag vernehmen, aber er war sehr schwach. Scharf befahl er: »Coramin, ein Kubikzentimeter.«

Während der Praktikant sich von dem Tisch abwandte, zog O'Donnell das bedeckende Laken zurück und begann mit künstlicher Atmung. Einen Augenblick später war der Praktikant zurück. Er hatte keine Zeit verloren. In seiner Hand hielt er eine Spritze bereit.

»Direkt ins Herz«, befahl O'Donnell, »das ist die einzige Chance.«

In der Pathologie begann Dr. David Coleman, ruhelos zu werden. Er war dort geblieben, hatte seit dem Anruf, der das Ergebnis des Bluttests mitteilte, mit Pearson gewartet. Gemeinsam hatten sie einige pathologische Befunde aufgearbeitet, die sich angesammelt hatten, aber die Arbeit war nur langsam vorwärtsgegangen. Beide Männer wußten, daß ihre Gedanken woanders waren. Nun war fast eine Stunde vergangen, und sie hatten noch nichts gehört.

Vor fünfzehn Minuten war Coleman aufgestanden und hatte überlegend gesagt: »Vielleicht sollte ich nachsehen, ob im Labor etwas vorliegt.«

Der alte Mann hatte mit Hundeaugen zu ihm aufgesehen und fast flehend gebeten: »Wollen Sie nicht lieber bleiben?«

Überrascht hatte Coleman geantwortet: »Gewiß, wenn Sie wünschen?« Und dann hatten sie sich wieder an die Aufgabe gemacht, die Zeit auszufüllen.

Auch David Coleman fiel das Warten schwer. Ihm war bewußt, daß seine Nerven fast so angespannt wie die Pearsons waren, wenn der alte Mann in diesem Augenblick seine Ängstlichkeit auch deutlicher zeigte. Jetzt erst erkannte Coleman, in welchem Maß er selbst an diesem Fall inneren Anteil nahm. Die Tatsache, daß er in der Frage des Bluttests recht behalten und Pearson sich geirrt hatte, gab ihm keine Befriedigung. Alles, was er jetzt um Alexander und seiner Frau willen inbrünstig wünschte, war, daß ihr Kind am Leben blieb. Die Kraft seiner eigenen Gefühle überraschte ihn. Es war ungewöhnlich, daß ihn irgend etwas so tief ergriff. Allerdings hatte er John Alexander von Anfang an gut leiden können, und als er später seine Frau kennenlernte und erfuhr, daß sie alle drei aus der gleichen kleinen Stadt stammten, schien eine Art von Zugehörigkeit entstanden zu sein, die unausgesprochen blieb, aber echt war.

Die Zeit verstrich langsam. Jede Minute des Wartens schien länger zu dauern als die vorherige. Er versuchte, an ein Problem zu denken, um seine Gedanken abzulenken. Das half immer, wenn er Zeit totschlagen mußte. Er entschloß sich, sich auf einige der Aspekte des Falles Alexander zu konzentrieren. Die Tatsache, daß das Ergebnis des Coombs-Tests mit dem Blut des Säuglings positiv ausfiel, bedeutet: auch die Mutter hat Rh-sensibilisiertes Blut. Er überlegte, wie das eingetreten sein konnte.

Die Mutter, Elizabeth Alexander, konnte natürlich während ihrer ersten Schwangerschaft sensibilisiert worden sein. David Coleman überlegte. Das brauchte das erste Kind nicht beeinflußt zu haben. Das war das Kind, das an - was hatte sie doch noch gesagt? ah ja, Bronchitis gestorben war. Es kam viel häufiger vor, daß sich die Rh-Sensibilisierung erst während einer zweiten Schwangerschaft auswirkte.

Eine andere Möglichkeit war natürlich, daß Elizabeth einmal bei einer Gelegenheit eine Transfusion mit Rh-positivem Blut empfangen hatte. Er hielt inne. In seinem Kopf regte sich nagend, aber noch unklar, ein Gedanke, das unbehagliche Gefühl, daß er dicht vor etwas stand, was er noch nicht ganz erkannt hatte. Er runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Dann wurde das Bild plötzlich klar. Das, wonach er getastet hatte, lag vor ihm, deutlich und scharf erkennbar. Sein Verstand registrierte: Transfusion. Der Unfall in New Richmond, die Eisenbahnkreuzung, an der Elizabeths Vater getötet, sie selbst schwer verletzt worden, aber am Leben geblieben war.

Wieder konzentrierte Coleman sich. Er versuchte sich zu erinnern, was John Alexander an jenem Tag über Elizabeth gesagt hatte. Er hörte die Worte wieder: »Elizabeth starb beinahe. Aber sie gaben ihr Bluttransfusionen, und sie kam durch. Ich glaube, das war das erstemal, daß ich je in einem Krankenhaus war. Ich habe dort fast eine Woche gelebt.«

Er würde es natürlich nie beweisen können, nicht nach all den Jahren, aber er war bereit, alles, was er besaß, darauf zu setzen, daß folgendes geschehen war: Das Vorhandensein des Rh-Faktors wurde der Medizin erst in den vierziger Jahren bekannt. Danach dauerte es weitere zehn Jahre, bis Rh-Tests von allen Krankenhäusern und Ärzten allgemein übernommen wurden. In der Zwischenzeit wurden an vielen Orten Bluttransfusionen durchgeführt, ohne daß der Rh-Faktor überprüft wurde. In New Richmond wahrscheinlich auch. Der Zeitpunkt stimmte. Elizabeths Unfall mußte 1949 gewesen sein. Er erinnerte sich, daß sein Vater ihm später davon erzählt hatte.

Sein Vater! Ein neuer Gedanke überkam ihm: Es war sein eigener Vater - Dr. Byron Goleman -, der die Alexanders behandelt und der die Transfusionen angeordnet haben mußte, die Elizabeth Alexander erhalten hatte. Wenn sie mehrere Transfusionen erhalten hatte, stammte das Blut von mehr als einem Spender. Die Möglichkeit, daß wenigstens ein Teil des Blutes Rh-positiv war, konnte fast nicht ausgeschlossen werden. Das war also die Gelegenheit gewesen, bei der Elizabeths Blut sensibilisiert worden war. Dessen war er jetzt sicher. Damals konnte natürlich keine sichtbare Wirkung aufgetreten sein. Das heißt keine andere, außer, daß ihr eigenes Blut Antikörper entwickelte - Antikörper, die verborgen und unvermutet gelauert hatten, bis sie sich neun Jahre später gereizt, virulent und stark entwickelten, um ihr Kind zu vernichten.

Natürlich traf damit Colemans Vater kein Vorwurf, selbst wenn seine Hypothese richtig war. Er hatte ihre Behandlung im guten Glauben nach den letzten Kenntnissen der Medizin angeordnet. Richtig war, daß zu dieser Zeit der Rh-Faktor schon bekannt war und an manchen Orten der Rh-Faktor bereits ermittelt und berücksichtigt wurde. Aber von einem vielbeschäftigten Landarzt konnte kaum erwartet werden, sich über alles Neue sofort auf dem laufenden zu halten. Oder etwa doch? Manchen Ärzten dieser Zeit - darunter auch praktischen Ärzten - war der neue Horizont bekannt, den die moderne Einteilung der Blutgruppen geöffnet hatte. Sie handelten sofort, berücksichtigten die letzten Erkenntnisse. Aber möglicherweise, überlegte Coleman, waren das jüngere Männer. Sein Vater war zu dieser Zeit schon alt. Er arbeitete zu angestrengt, um genügend Zeit zum Lesen zu finden. Aber war das eine ausreichende Entschuldigung? War es eine Entschuldigung, die er selbst - David Goleman - bei einem anderen gelten lassen würde? Oder gab es vielleicht zwei verschiedene Normen -galten nachsichtigere, weniger strenge Gesetze, wenn es darum ging, über einen Verwandten und gar den eigenen verstorbenen Vater zu urteilen? Der Gedanke beunruhigte ihn. Mit Unbehagen empfand er, daß durch seine persönliche Zuneigung einige seiner Ansichten beeinträchtigt wurden, die er am höchsten hielt. David Coleman wünschte sich, daß er nicht darüber nachgedacht hätte. Es löste nagenden Zweifel aus, daß er sich doch nicht absolut sicher war. über gar nichts mehr sicher war.

Pearson sah ihn an. Er fragte: »Wie lange dauert es schon?« Coleman blickte auf die Uhr, ehe er antwortete: »Etwas über eine Stunde.«

»Dann werde ich anrufen.« Ungeduldig griff er nach dem Telefon. Dann zögerte er und zog seine Hand wieder zurück. »Nein«, sagte er, »es ist wohl besser, ich lasse es.«

Auch John Alexander im serologischen Labor konnte die Uhr nicht aus den Augen lassen. Vor einer Stunde war er von einem Besuch bei Elizabeth zurückgekommen und hatte seither mehrere halbherzige Versuche unternommen, zu arbeiten. Aber er hatte selbst bemerkt, daß seine Gedanken immer wieder weit von seiner Arbeit abirrten, und hatte es lieber aufgegeben als zu riskieren, einen Fehler zu begehen. Jetzt griff er wieder nach einem Reagenzglas, um es noch einmal zu versuchen, aber Bannister trat zu ihm und nahm es ihm aus der Hand.

Der alte Laborant las die Anforderung und sagte freundlich: »Lassen Sie mich das nur machen, John.«

Alexander protestierte, aber Bannister bestand darauf. »Überlassen Sie es ruhig mir. Warum gehen Sie nicht zu Ihrer Frau?«

»Danke, aber ich bleibe lieber hier. Dr. Coleman sagte, sobald er etwas erfahre, wolle er herkommen und mich benachrichtigen.« Alexanders Blick wanderte wieder zur Uhr an der Wand. Mit gepreßter Stimme fügte er hinzu: »Es kann doch nicht mehr lange dauern?«

Bannister wandte sich ab. »Nein«, erwiderte er langsam, »ich glaube nicht.«

Elizabeth Alexander war allein in ihrem Krankenzimmer. Regungslos, den Kopf tief in den Kissen, die Augen geöffnet, lag sie da, als Schwester Wilding hereinkam. Elizabeth fragte: »Weiß man schon etwas?«

Die ältliche, grauhaarige Schwester schüttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich etwas erfahre.« Sie stellte das Glas Orangensaft, das sie hereingebracht hatte, neben Elizabeth und fügte hinzu: »Ich kann ein paar Minuten bei Ihnen bleiben, wenn Sie mögen.«

»Ja, bitte.« Elizabeth lächelte schwach, und die Schwester zog sich einen Stuhl an das Bett und setzte sich. Schwester Wilding war froh, daß sie eine Weile ihre Füße ausruhen konnte. Gerade in letzter Zeit schmerzten sie ihr häufig, und sie vermutete, daß ihre Füße sie wahrscheinlich zwingen würden, die Krankenpflege aufzugeben, ob sie wollte oder nicht. Nun, sie hatte das Gefühl, daß sie dazu ohnehin bald bereit war.

Schwester Wilding wünschte, daß sie etwas für die beiden jungen Leute tun könne. Sie hatte sie von Anfang an ins Herz geschlossen. Ihr kamen die beiden Alexanders fast noch wie Kinder vor. In gewisser Weise hatte sie bei der Pflege dieser jungen Frau, die jetzt allem Anschein nach ihr Baby verlor, fast das Gefühl, als pflege sie die Tochter, die sie sich vor vielen Jahren gewünscht, aber nie bekommen hatte. War das nicht geradezu albern? Nach all den Jahren als Krankenpflegerin wurde sie auf ihre alten Tage noch sentimental. Sie fragte Elizabeth: »Woran dachten Sie gerade, als ich zu Ihnen hereinkam?«

»Ich dachte an Kinder, an dicke, gesunde Kinder, die auf einem grünen Rasen in der Nachmittagssonne herumtollen.« Elizabeths Stimme klang träumerisch. »So war es in Indiana im Sommer, als ich noch Kind war. Schon damals dachte ich oft daran, daß ich eines Tages selbst Kinder haben würde und daß ich bei ihnen säße, wenn sie, genau wie ich damals, in der Sonne auf dem Gras herumtollen.«

»Es ist merkwürdig mit Kindern«, antwortete Schwester Wilding. »Manchmal kommt es so ganz anders, als man es sich denkt. Ich habe einen Sohn, wissen Sie. Er ist jetzt schon erwachsen.«

»Nein«, sagte Elizabeth, »das wußte ich nicht.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte die Schwester. »Er ist ein guter Junge, Offizier bei der Marine. Vor ein oder zwei Monaten hat er geheiratet. Er schrieb es mir in einem Brief.«

Elizabeth fragte sich verwundert, wie es wohl sein mochte, wenn man einen Sohn zur Welt brachte und dann später einen Brief von ihm bekam, in dem er schrieb, daß er geheiratet habe.

»Ich hatte nie das Gefühl, daß wir uns sehr gut kannten«, sagte Schwester Wilding. »Ich fürchte, in gewisser Weise war es mein Fehler - ich ließ mich scheiden und bot ihm nie ein wirkliches Heim.«

»Aber manchmal können Sie doch zu ihm fahren und ihn besuchen«, antwortete Elizabeth. »Und wahrscheinlich werden doch Enkel kommen.«

»Daran habe ich oft gedacht«, sagte Schwester Wilding. »Ich glaubte immer, es müßte eine große Freude für mich sein. Ich meine, Enkel zu haben, verstehen Sie. Irgendwo in der Nähe zu wohnen und abends hinüberzugehen und auf die Kinder aufzupassen und all das.«

»Aber können Sie das denn nicht?«

Schwester Wilding schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, wenn ich dort hinkomme, wird es wie ein Besuch bei Fremden sein, und oft kann es auch nicht sein. Mein Sohn ist nämlich nach Hawaii versetzt worden. In der vergangenen Woche sind sie dorthin abgereist.« Mit einem Anflug trotziger Rechtfertigung fügte sie hinzu: »Er wollte mich vorher noch mit seiner Frau besuchen, aber im letzten Augenblick kam dann etwas dazwischen, und sie schafften es nicht mehr.«

Darauf herrschte Schweigen, bis Schwester Wilding sagte: »Nun, ich muß wieder an meine Arbeit.« Sie erhob sich und sagte an der Tür noch: »Trinken Sie Ihren Saft, Mrs. Alexander. Ich komme wieder und gebe Ihnen Bescheid, sobald wir etwas erfahren.«

Kent O'Donnell lief der Schweiß über das Gesicht, und die assistierende Schwester beugte sich vor, um ihm die Stirn abzuwischen. Fünf Minuten waren vergangen, seit er mit der künstlichen Atmung angefangen hatte, und der winzige Körper unter seinen Händen zeigte noch keine Reaktion. Seine Daumen lagen auf der kleinen Brust, die anderen Finger griffen zum Rücken herum. Das Kind war so klein, daß sich O'Donnells Hände überdeckten. Er mußte sehr behutsam sein, weil ein bißchen zuviel Druck die gebrechlichen Knochen wie dünne Zweige zerdrücken würde. Sanft drückte er noch einmal zu, ließ wieder locker. Der Sauerstoff zischte, versuchte den Atem zu wecken, die schwachen, winzigen Lungen ins Leben zurückzurufen und zu eigener Tätigkeit anzuspornen.

O'Donnell wünschte brennend, daß dieses Kind lebte. Ihm stand vor Augen, wenn es starb, bedeutete das, daß das Three Counties Hospital, sein Krankenhaus, in seiner wichtigsten Aufgabe versagt hatte: Selbstlos für die Kranken und die Schwachen zu sorgen. Für dieses Kind war nicht selbstlos gesorgt worden. Es hatte das Schlechteste bekommen, als es das Beste brauchte, und Pflichtvergessenheit hatte über Können gesiegt. Er entdeckte, daß er versuchte, seinen eigenen, brennenden Willen durch seine Fingerspitzen auf das kleine versagende Herz unter seinen Händen zu übertragen, sich ihm verständlich zu machen. »Du brauchtest uns, und wir haben versagt. Du erprobtest unsere Stärke, und du fandest uns schwach. Aber bitte, laß es uns noch einmal versuchen, gemeinsam. Manchmal machen wir es besser als jetzt. Verurteile uns nicht für immer, nur weil wir einmal versagten. Unwissenheit und Torheit herrschen in der Welt, und Vorurteil und Blindheit. Das haben wir dir schon gezeigt. Aber es gibt auch andere Dinge, gute, warme Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Darum atme! Es ist so einfach und so wichtig!«

O'Donnells Hände bewegten sich, vor und zurück. drückten zusammen. lockerten sich. drückten zusammen. lockerten sich. drückten zusammen.

Weitere fünf Minuten waren vergangen, und der Praktikant setzte wieder das Stethoskop an, lauschte angestrengt. Jetzt richtete er sich auf. Sein Blick begegnete dem O'Donnells. Er schüttelte den Kopf. O'Donnell hielt inne. Er wußte, jede weitere Mühe war vergeblich.

Er wandte sich zu Dornberger und sagte gefaßt: »Ich fürchte, es ist vorbei.«

Die beiden sahen sich an, und beide wußten, daß sie das gleiche empfanden.

O'Donnell spürte, wie weißglühender Zorn in ihm aufstieg. Wütend riß er Maske und Kappe ab. Er zerrte an den Gummihandschuhen und warf sie wild zu Boden.

Er bemerkte, daß die anderen ihn aufmerksam beobachteten. Seine Lippen bildeten eine schmale, grimmige Linie. Er sagte zu Dornberger: »Also gut, gehen wir.« Dann fügte er schroff zu dem Praktikanten gewendet hinzu: »Wenn jemand nach mir fragt, ich bin bei Dr. Pearson.«

XXI

In der Pathologie schrillte das Telefon auf, und Pearson griff nach dem Hörer. Dann hielt er inne. Sein blasses Gesicht verriet seine Nervosität. Er sagte zu Coleman: »Nehmen Sie es an.«

Während David Coleman an den Apparat ging, klingelte das Telefon ungeduldig zum zweitenmal. Gleich darauf sagte er: »Hier Dr. Coleman.« Er lauschte ausdruckslos, sagte dann »Danke« und hängte ein. Sein Blick begegnete dem Pearsons. Still sagte er: »Das Kind ist gerade gestorben.«

Pearson antwortete nicht. Er schlug den Blick nieder. In seinem Bürosessel regungslos in sich zusammengesunken, das zerfurchte, schroffe Gesicht halb im Schatten, sah er alt und geschlagen aus.

Coleman sagte halblaut: »Ich glaube, ich gehe ins Labor hinüber. Einer muß mit John sprechen.«

Er erhielt keine Antwort. Als er den Raum verließ, saß Pearson immer noch schweigend und regungslos, mit Augen, die nichts sahen, und Gedanken, die nur er selbst kannte.

Carl Bannister hatte das Labor verlassen, als David Coleman hereinkam. John Alexander war allein, saß auf einem Hocker vor einem Arbeitstisch an der Wand, die Uhr unmittelbar über seinem Kopf. Er drehte sich nicht um, als Coleman sich mit zögernden Schritten näherte, wobei das Leder seiner Sohlen knirschte.

Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich fragte Alexander, ohne sich umzudrehen, leise: »Ist es.vorüber?«

Wortlos streckte Coleman seine Hand aus und legte sie auf Alexanders Schulter.

Mit verhaltener Stimme fragte Alexander noch einmal: »Er ist tot, nicht wahr?«

»Ja, John«, antwortete Coleman sanft. »Er ist tot. Es tut mir leid.«

Er zog seine Hand zurück, ab Alexander sich langsam umwandte. Das Gesicht des jungen Mannes verriet seinen Schmerz. Tränen liefen ihm aus den Augen. Leise, aber eindringlich fragte er: »Warum, Dr. Coleman, warum?«

David Coleman suchte nach Worten, versuchte, es zu erklären. »Ihr Baby wurde zu früh geboren, John. Seine Chancen waren nicht günstig, selbst wenn. das andere. nicht geschehen wäre.«

Alexander sah ihm gerade in die Augen und sagte: »Aber er hätte leben können.«

Dies war der Augenblick, in dem er der Wahrheit nicht ausweichen konnte. »Ja«, gab Coleman zu, »er hätte leben können.«

John Alexander war aufgestanden. Sein Gesicht war dicht vor Colemans, sein Blick flehte. »Wie konnte es nur geschehen.? In einem Krankenhaus .? Mit Ärzten.?«

»John«, entgegnete Coleman, »das kann ich Ihnen in diesem Augenblick nicht beantworten.« Leiser fügte er hinzu: »Ich kann es mir jetzt selbst nicht beantworten.«

Alexander nickte stumm. Er zog sein Taschentuch und wischte sich über die Augen. Dann sagte er still: »Danke, daß Sie zu mir gekommen sind, um es mir zu sagen. Ich werde jetzt zu Elizabeth gehen.«

Kent O'Donnell hatte auf dem Weg durch das Krankenhaus mit Dr. Dornberger nicht gesprochen. Der wilde Zorn und die Enttäuschung, die wie eine Woge über ihm zusammengeschlagen waren, als er das tote Kind sah, machten ihn verschlossen und schweigsam. Während sie durch die Gänge und über die Treppen hinuntereilten, weil sie nicht die Ruhe besaßen, auf den langsamen Fahrstuhl zu warten, warf sich O'Donnell wieder erbittert seine Passivität gegenüber Joe Pearson und der pathologischen Abteilung des Three Counties Hospitals vor. Gott weiß, dachte er, ich bin oft genug auf die drohende Gefahr hingewiesen worden. Rufus und Reubens hatten ihn gewarnt, und er hatte es mit seinen eigenen Augen gesehen, daß Pearson immer mehr nachließ, je älter er wurde, daß die Verantwortung für die Pathologie in dem vielbeschäftigten, wachsenden Krankenhaus über seine Kräfte ging. Aber nein! Er, Dr. med. Kent O'Donnell, Mitglied der Königlichbritischen Chirurgischen Gesellschaft, Mitglied der Amerikanischen Chirurgischen Gesellschaft, Chef der Chirurgie und Präsident des medizinischen Ausschusses des Three Counties Hospitals - Hut ab vor einem feinen, großartigen Mann! - »Lasse ihn siegreich sein, glücklich und ruhmbedeckt, lang herrsche er, Gott schütze O'Donnell!« -, er war zu beschäftigt gewesen, um sich um seine eigentliche Aufgabe zu kümmern, um die Härte einzusetzen, die seine Stellung verlangte, um es mit den Ungelegenheiten aufzunehmen, die auf Taten folgen mußten. Darum hatte er sich lieber abgewendet, sich eingeredet, es sei alles in Ordnung, als ihm Erfahrung und Instinkt in seinem Innersten sagen mußten, daß er das nur hoffte. Und wo war er die ganze Zeit gewesen - er, der große Mann der Medizin? Er hatte Krankenhauspolitik getrieben, hatte Eustace Swayne umschmeichelt, in der Hoffnung, wenn er nur leisetrete, wenn er den Status quo dulde, wenn er Swaynes Freund Joe Pearson völlig unbehelligt ließe, daß dann der alte Finanzhai dankbar sein Geld für den prächtigen Neubau des Krankenhauses spenden würde - für O'Donnells Traum von einem Reich, in dem er selbst König wäre. Nun, es mochte sein, daß das Krankenhaus das Geld trotzdem bekam, vielleicht aber auch nicht. Doch ob ja oder nein, ein Preis zum mindesten war dafür schon bezahlt. Die Quittung kannst du oben finden: eine kleine Leiche in einem Operationsraum in der vierten Etage. Als sie dann vor Joe Pearsons Tür ankamen, fühlte er, daß sein Zorn verraucht und Trauer an seine Stelle getreten war. Er klopfte und Dornberger folgte ihm hinein.

Joe Pearson saß immer noch an seinem Platz, gerade wie Coleman ihn verlassen hatte. Er sah auf, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben.

Dornberger sprach als erster. Er sprach ruhig, ohne Feindschaft, so, als wolle er den Ton für die Unterhaltung bestimmen, als einen Dienst für einen alten Freund. Er sagte: »Das Kind ist tot, Joe. Ich nehme an, du hast es schon erfahren.«

Pearson antwortete langsam: »Ja, ich habe es gehört.«

»Ich habe Dr. O'Donnell alles berichtet, was geschehen ist.« Dornbergers Stimme schwankte. »Es tut mir leid, Joe. Es blieb mir nichts anderes übrig.«

Pearson machte eine kleine, hilflose Bewegung mit seinen Händen. Von seiner alten Aggressivität war keine Spur übriggeblieben. Ausdruckslos antwortete er: »Es ist gut.«

O'Donnell paßte seinen Ton dem Dornberges an. Er fragte: »Haben Sie irgend etwas zu sagen, Joe?«

Zweimal schüttelte Pearson langsam den Kopf.

»Joe, wenn es nur dieser Fall wäre.« O'Donnell suchte nach den richtigen Worten, von denen er wußte, daß es sie nicht gab. »Wir begehen alle Fehler. Vielleicht würde ich.« Das hatte er gar nicht sagen wollen. Er festigte seine Stimme und fuhr strenger fort: »Aber es ist eine lange Liste, Joe. Wenn ich das vor den medizinischen Ausschuß bringen muß . Ich glaube, Sie wissen genau, was die Kollegen sagen werden. Sie würden es sich und uns allen erleichtern, wenn morgen vormittag um zehn Uhr Ihre Rücktrittserklärung bei der Verwaltung vorläge.«

Pearson sah O'Donnell an. »Zehn Uhr«, bestätigte er. »Sie sollen sie haben.«

Es entstand eine Pause. O'Donnell wandte sich ab, drehte sich wieder um. »Joe«, sagte er, »es tut mir leid. Aber Sie wissen ja selbst, daß ich keine Wahl habe.«

»Ja.« Die Antwort kam flüsternd, während Pearson dumpf nickte.

»Natürlich steht Ihnen Ihre Pension zu. Das ist nach zweiunddreißig Jahren nur recht und billig.« O'Donnell hörte deutlich, wie hohl seine Worte klangen.

Zum erstenmal, seit sie hereingekommen waren, veränderte sich Pearsons Ausdruck. Mit dem Anflug eines gequälten Lächelns sah er O'Donnell an. »Danke.«

Zweiunddreißig Jahre! O'Donnell dachte: Mein Gott, das ist der größte Teil der Lebensarbeit eines Mannes. Und so muß es enden. Er hätte gern mehr gesagt, versucht, es für alle leichter zu machen, Worte zu finden, um das Gute anzuerkennen, das Joe Pearson geleistet hatte - er mußte viel Gutes in seinem Leben geleistet haben. Während er noch nach Worten suchte, kam Harry Tomaselli herein.

Der Verwaltungsdirektor war in Eile. Er hatte sich nicht damit aufgehalten, erst anzuklopfen. Er sah zuerst Pearson an. Dann fiel sein Blick auf Dornberger und O'Donnell. »Kent«, sagte er gehetzt, »ich bin froh, daß Sie hier sind.«

Ehe O'Donnell antworten konnte, wandte Tomaselli sich wieder Pearson zu. »Joe«, begann er, »können Sie sofort mit in mein Büro kommen? In einer Stunde habe ich eine dringende Sitzung des Stabes einberufen. Ich wollte nur vorher noch mit Ihnen sprechen.«

Scharf fragte O'Donnell: »Eine Sondersitzung? Weshalb?«

Tomaselli drehte sich um. Sein Gesicht war ernst, seine Augen besorgt. »Im Krankenhaus wurde Typhus entdeckt«, verkündete er. »Dr. Chandler hat zwei Fälle gemeldet, und vier weitere sind typhusverdächtig. Es liegt eine Epidemie vor, und wir müssen den Ursprung finden.«

Elizabeth sah auf, als sich die Tür öffnete und John eintrat. Er schloß die Tür hinter sich, lehnte sich einen Augenblick mit dem Rücken dagegen. Es wurde kein Wort gesagt, nur ihre Augen sprachen - Trauer, flehende Bitten und eine überwältigende Liebe.

Sie streckte die Arme aus, und er eilte zu ihr.

»Johnny, Johnny, Liebling.« Das war alles, was sie murmeln konnte, ehe sie leise zu weinen begann.

Nach einer Weile, während der er sie fest umfangen hielt, löste er sich von ihr und trocknete ihre Tränen mit demselben Taschentuch, das er selbst schon dazu benutzt hatte.

Später sagte er: »Elizabeth, Liebste, wenn du es immer noch willst. Jetzt würde ich es gern versuchen.«

»Was es auch ist«, antwortete sie, »selbstverständlich: ja.«

»Ich glaube, du hast es immer gewünscht«, sagte er, »jetzt will ich es auch. Ich schreibe morgen um die Papiere. Ich will versuchen, doch noch Medizin zu studieren.«

Mike Seddons stand von seinem Stuhl auf und ging in dem kleinen Krankenzimmer auf und ab. »Aber das ist lächerlich«, sagte er hitzig. »Es ist absurd, es ist sinnlos, und ich werde es nicht tun.«

»Um meinetwillen, Liebling.«

Vivian drehte sich im Bett, so daß ihr Gesicht ihm zugewendet war.

»Aber es nützt dir nicht im geringsten, Vivian. Das ist nur eine alberne, dumme Idee, die du irgendwo in einem viertklassigen, sentimentalen Roman aufgelesen hast.«

»Mike, Liebling, ich liebe dich so sehr, wenn du wütend bist. Es paßt so gut zu deinem schönen, roten Haar.« Sie lächelte ihm zärtlich zu, als ihre Gedanken sich zum erstenmal von der unmittelbaren Gegenwart abwandten. »Versprich mir etwas!«

»Was?« Er war immer noch ärgerlich, seine Antwort kurz.

»Versprich mir, daß du manchmal wütend bist, wenn wir verheiratet sind - wirklich wütend -, damit wir uns streiten können und nachher die Freude haben, uns wieder zu versöhnen.«

Unwillig antwortete er: »Das ist ein genauso alberner Einfall wie der andere. Und überhaupt, was hat es für einen Sinn, von Heiraten zu reden, wenn du willst, daß ich mich von dir fernhalte?«

»Nur für eine Woche, Mike, Liebling. Gerade eine Woche, das ist alles.«

»Nein.«

»Hör mich an, Liebling.« Sie drängte. »Bitte, komm her und setz dich und hör mich an. Bitte.«

Er zögerte, kam dann widerwillig zu dem Stuhl neben dem Bett zurück. Vivian ließ ihren Kopf in die Kissen zurücksinken, das Gesicht ihm zugewandt. Sie lächelte und streckte ihre Hand aus. Er nahm sie zärtlich, sein Ärger verflog. Nur ein unbestimmter, beunruhigender Zweifel blieb.

Es war der vierte Tag, nachdem Vivian nach der Operation in ihr Zimmer zurückgebracht worden war. Der Stumpf an ihrem Oberschenkel verheilte gut. Sie hatte immer noch lokale Schmerzen und die unvermeidliche Druckempfindlichkeit. Aber das große, überwältigende Leiden der ersten zwei Tage der Genesung hatte aufgehört, und gestern hatte Dr. Grainger mit Vivians Wissen und Zustimmung die zuerst verordneten Injektionen abgesetzt, durch die die Schmerzen während der schlimmsten, jetzt überwundenen Zeit gemildert worden waren. Nur eines fand Vivian entsetzlich - etwas Überraschendes, womit sie nicht gerechnet hatte. Der Fuß an ihrem amputierten Bein - ein Fuß, den sie nicht mehr besaß juckte häufig mit bösartiger, immer wieder auftretender Heftigkeit. Es war eine Qual, ihn nicht kratzen zu können. Als das Jucken zum erstenmal auftrat, hatte sie mit ihrem rechten Fuß nach der Sohle des anderen getastet. Dann hatte sie eine Zeitlang erleichtert geglaubt, die Amputation sei doch nicht vorgenommen worden. Erst als Dr. Grainger ihr versicherte, daß die Erscheinung völlig normal sei und bei den meisten Patienten auftrete, die ein Glied verloren hatten, wurde ihr klar, daß ihre Hoffnung eine Illusion gewesen war. Dessenungeachtet war es ein unerfreuliches Gefühl, und Vivian hoffte, daß es bald verschwinden würde.

Auch psychologisch schien ihre Genesung gute Fortschritte zu machen. Von dem Augenblick an, als Vivian am Tag vor der Operation mit der schlichten Tapferkeit, die Mike Seddons so tief beeindruckte, sich mit dem Unausweichlichen abfand, hatte ihre Gemütsverfassung sich nicht verändert und sie aufrecht gehalten. Noch gab es Augenblicke der Finsternis und Verzweiflung. Sie kamen über sie, wenn sie allein war, und zweimal, als sie in der Nacht erwachte, das Krankenhaus um sie herum still und unheimlich, hatte sie still um das geweint, was sie verloren hatte. Aber meistens verbannte sie deprimierte Stimmungen, und die ihr innewohnende Kraft half ihr, sie zu überwinden.

Lucy Grainger hatte das beobachtet und war dankbar dafür. Es erleichterte ihr die Aufgabe, den Heilungsprozeß zu überwachen. Nichtsdestoweniger wußte Lucy, daß Vivian die wirkliche Probe für ihre Gefühle und ihre Haltung erst noch bestehen mußte. Sie würde kommen, wenn der erste Schock überwunden war, wenn sie Zeit gehabt hatte, die wirkliche Bedeutung des Eingriffs nach und nach zu erfassen, und wenn seine Auswirkungen auf ihre Zukunft näher und deutlicher vor ihr standen. Vielleicht kam dieser Augenblick erst in sechs Monaten oder sogar erst in einem Jahr. Aber früher oder später mußte er kommen, und Lucy wußte, daß Vivian dann eine tiefe, finstere Verzweiflung durchstehen mußte, um für später eine feste Haltung zu gewinnen, welcher Art sie auch sein würde.

Aber das lag in der Zukunft. Im Augenblick erschien ihr die Prognose für die nächste Zeit recht günstig.

Lucy wußte natürlich - und sie war sich bewußt, daß es auch Vivian bekannt war -, bei einem Osteosarkom, das Dr. Pearson diagnostiziert hatte, bestand die Möglichkeit, daß sich schon vor der Amputation Metastasen gebildet und mit heimtückischer Bösartigkeit in Vivians Körper verbreitet hatten. In diesem Fall konnte das Three Counties Hospital und die Medizin überhaupt für Vivian kaum mehr tun, als vorübergehend ihre Leiden zu lindern. Aber ob das zutraf oder nicht, mußte sich später herausstellen. Für den Patienten schien es im Augenblick das beste und klügste, anzunehmen, daß Vivian als gesund entlassen werden konnte, und ihr zu helfen, sich aktiv auf ihr zukünftiges Leben einzustellen.

Auch heute war die fortschreitende Genesung an Vivians äußerer Erscheinung sofort zu erkennen. Zum erstenmal nach der Operation hatte sie Makeup aufgelegt und damit Farbe in ihr Gesicht gebracht. Am Morgen war ihre Mutter bei ihr gewesen und hatte ihr beim Frisieren geholfen. Sie trug jetzt das gleiche Nachthemd, das Mike bei einem früheren Besuch in Versuchung geführt hatte, und ein großer Teil ihrer jugendlichen Lieblichkeit war zurückgekehrt.

Als Mike jetzt ihre Hand nahm, sagte sie: »Verstehst du denn nicht, Liebling? Ich will sicher sein. Um meiner selbst willen ebensosehr wie um deinetwillen.«

»Wessen willst du sicher sein?« Auf Mikes Gesicht standen zwei hochrote Flecken.

Leise und fest antwortete sie: »Ich will sicher sein, daß du mich wirklich liebst.«

»Natürlich liebe ich dich.« Heftig fuhr er fort: »Erkläre ich dir das nicht seit einer halben Stunde? Habe ich dir nicht gesagt, ich will, daß wir heiraten? Wie wir es beschlossen haben« - er zögerte -, »ehe das geschah? Selbst deine Mutter und dein Vater sind dafür. Sie haben mich akzeptiert. Warum kannst du es nicht?«

»Aber Mike, ich akzeptiere dich doch. Dankbar und froh. Aber was auch zwischen uns geschieht, ich glaube nicht, daß jemals etwas zwischen uns wieder ganz so sein kann, wie es war. Wenigstens« - einen Augenblick schwankte ihre Stimme -»nicht für mich.«

»Warum denn. «

Sie bat: »Bitte, Mike, höre mich zu Ende an. Du hast es versprochen.«

Ungeduldig antwortete er: »Also weiter.«

»Du kannst sagen, was du willst, Mike, ich bin nicht die gleiche, die du kennengelernt hast, als wir uns das erstemal sahen. Ich kann es nie wieder sein.« Leise und eindringlich fuhr sie fort: »Deswegen muß ich sicher sein. Sicher, daß du mich liebst, so, wie ich bin, nicht so, wie ich war. Verstehst du denn nicht, Liebling? Wenn wir den Rest unseres Lebens gemeinsam verbringen wollen, könnte ich den Gedanken nicht ertragen -auch später nicht, niemals -, daß du mich aus. Mitleid geheiratet hast. Unterbrich mich nicht, hör mir nur zu. Ich weiß, daß du das nicht für wahr hältst, und vielleicht ist es das auch nicht. Ich hoffe es jedenfalls von ganzem Herzen. Aber, Mike, du bist freundlich und gut und großmütig, und du könntest es tun, gerade aus diesem Grunde, ohne es dir selbst zuzugeben.«

Er entgegnete ärgerlich: »Willst du damit sagen, daß ich meine Gefühle nicht kenne?«

Vivian antwortete leise: »Wer von uns kennt sie wirklich?«

»Ich kenne meine.« Er nahm zärtlich ihre Hand, sein Gesicht war dicht vor dem ihren. »Ich weiß, daß ich dich liebe. Ganz oder geteilt, gestern, heute oder morgen. Und ich weiß, daß ich dich heiraten will, ganz bestimmt nicht aus Mitleid, ohne einen Tag länger warten zu wollen, als wir müssen.«

»Dann tue mir diesen einen Gefallen, weil du mich liebst. Verlasse mich jetzt, obwohl du hier im Krankenhaus bist, komme eine Woche lang nicht wieder - ganze sieben Tage.« Vivian sah ihn fest an. Ruhig fuhr sie fort: »In dieser Zeit überlege dir alles. Denke an mich und daran, wie unser Zusammenleben sein würde, wie es für dich sein würde, mit einem Krüppel zusammenzuleben. An die Dinge, die wir nicht gemeinsam haben können, und an die, die wir gemeinsam tragen müssen. An unsere Kinder, wie sie es beeinflussen wird, und damit auch dich. Denke an alles, Mike, an alles, was es gibt. Wenn du das getan hast, dann komme wieder und sage mir, zu welchem Ergebnis du gekommen bist. Und wenn du dann deiner immer noch sicher bist, verspreche ich dir, daß ich dich nie mehr fragen werde. Es sind nur sieben Tage, Liebling. Sieben Tage aus unserem Leben. Das ist nicht sehr viel.«

»Du bist verdammt bockbeinig«, antwortete er.

»Ich weiß.« Sie lächelte. »Du bist also einverstanden?«

»Mit vier Tagen. Keinen mehr.«

Vivian schüttelte den Kopf »Sechs. Keinen weniger.«

»Sagen wir fünf«, sagte er, »und wir sind einig.«

Sie zögerte, und Mike erklärte: »Das ist mein letztes Angebot.«

Vivian lachte. Es war das erstemal. »Also gut, fünf Tage von jetzt an.«

»Keineswegs von jetzt an«, antwortete Mike. »In zehn Minuten vielleicht. Erst brauche ich noch eine Rücklage. Für einen jungen Burschen mit meinem heißen Blut sind fünf Tage eine lange Zeit.«

Er zog den Stuhl näher an das Bett und streckte die Arme nach ihr aus. Es war ein langer Kuß, in dem sich Leidenschaft und Zärtlichkeit abwechselten.

Als er ein Ende gefunden hatte, zog Vivian eine Grimasse und schob ihn zurück. Sie seufzte und schob sich in eine andere Lage.

Mike fragte besorgt: »Fehlt dir etwas?«

Vivian schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nichts.« Dann fragte sie: »Mike, wo haben sie mein Bein? Das verlorene, meine ich.«

Er war überrascht. Dann sagte er: »In der Pathologie. In einem Kühlschrank vermutlich.«

Vivian holte tief Atem, ließ die Luft dann langsam wieder aus.

»Mike, Liebling«, bat sie, »gehe bitte hinunter und kratze den Fuß.«

Das Sitzungszimmer des Krankenhauses war überfüllt. Die Nachricht von der dringenden Sondersitzung hatte sich schnell in dem Krankenhaus verbreitet, und die Ärzte, die an diesem Tage im Three Counties Hospital nicht anwesend waren, hatte man in ihren Sprechstunden in der Stadt oder zu Hause benachrichtigt. Gerüchte über Joe Pearsons Versagen und sein bevorstehendes Ausscheiden hatten sich ebenso schnell herumgesprochen und waren das Thema einer aufgeregten Diskussion, die abbrach, als Pearson mit dem Verwaltungsdirektor und David Coleman eintrat.

Kent O'Donnell hatte schon den Platz am Kopf des langen Nußbaumtisches eingenommen. Gil Bartletts Bart wippte lebhaft auf und ab, während er sich mit Roger Hilton, dem jungen Chirurgen, der vor einigen Wochen in das Three Counties Hospital eingetreten war, unterhielt. John McEwan, der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist, war in eine erhitzte Debatte mit Dingdong Bell und dem dicken Lewis Toynbee, dem Internisten, verbissen. Bill Rufus, den seine grelle gelb und grüne Krawatte aus der Menge heraushob, setzte sich gerade in der zweiten Reihe auf einen Stuhl. Unmittelbar vor ihm stand noch Dr. Harvey Chandler, der Leiter der inneren Abteilung, und studierte ein Blatt mit Notizen. Es waren auch verschiedene Assistenzärzte anwesend. Unter ihnen bemerkte O'Donnell McNeil von der Pathologie. Neben dem Verwaltungsdirektor saß Mrs. Straughan, die Küchenleiterin, die an der Sitzung auf ausdrückliche Aufforderung teilnahm. In ihrer Nähe saß Ernie Reubens, der anscheinend belustigt den wabbelnden, umfangreichen Busen der Küchenleiterin beobachtete. Nicht anwesend war die vertraute Erscheinung Charlie Dornbergers, der seine Absicht, sofort in den Ruhestand zu treten, bereits bekanntgegeben hatte.

Als O'Donnell zur Tür blickte, sah er Lucy Grainger, die gerade hereinkam. Sie begegnete seinem Blick und lächelte leicht. Lucys Anblick erinnerte ihn an die Entscheidung über seine persönliche Zukunft, die ihm noch bevorstand, wenn das, was jetzt vorlag, geklärt und geregelt war. Dann fiel ihm plötzlich auf, daß er seit heute vormittag nicht einmal an Denise gedacht hatte. Die Arbeit im Krankenhaus hatte keinen Gedanken an sie aufkommen lassen, und er wußte, daß es ihm jedenfalls in den nächsten beiden Tagen ebenso gehen würde. O'Donnell fragte sich, wie Denise sich verhalten würde, wenn sie den zweiten Platz hinter der Medizin einnehmen müsse. Würde sie Verständnis zeigen? So verständig sein wie Lucy etwa? So flüchtig der Gedanke auch war, es wurde ihm dabei unbehaglich, als ob er durch diesen Vergleich einen Verrat begehe. Im Augenblick zog er es vor, an die unmittelbar vorliegenden Dinge zu denken. Es war Zeit, die Sitzung zu eröffnen.

O'Donnell klopfte, um Ruhe zu gebieten, wartete geduldig, bis alle Gespräche verstummt und diejenigen, die noch standen, ihre Sitze eingenommen hatten. Mit ruhiger Stimme begann er: »Meine Damen und Herren! Ich glaube, allen von uns ist bekannt, daß Epidemien in Krankenhäusern nichts Seltenes sind und tatsächlich weit häufiger auftreten, als der größte Teil der Öffentlichkeit vermutet. In gewisser Weise kann man wohl sagen, daß Epidemien zu den ständigen Gefährdungen unseres Daseins gehören. Wenn man berücksichtigt, wie viele Krankheiten wir in diesen Mauern behandeln, ist es eigentlich überraschend, daß sie nicht häufiger auftreten.« Alle Augen im Raum waren auf ihn gerichtet. Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich habe nicht die Absicht, das, was geschehen ist, zu bagatellisieren, aber ich möchte, daß wir uns den Sinn für Proportionen erhalten. Dr. Chandler, vielleicht sind Sie so freundlich, uns über die Lage zu informieren.«

Während O'Donnell sich setzte, erhob sich der Leiter der inneren Abteilung von seinem Platz.

»Lassen Sie mich mit einer Zusammenfassung beginnen.« Harvey Chandler hielt sein Notizblatt in der Hand, und sein Blick schweifte theatralisch durch den Raum. Das macht Harvey Spaß, dachte O'Donnell, aber er sieht sich ja immer gern im Mittelpunkt. Der Häuptling der inneren Medizin fuhr fort: »Das Bild zeigt bisher zwei eindeutige Typhusfälle und vier Fälle mit Typhusverdacht. Alle Erkrankten sind Angestellte des Krankenhauses, und wir können uns glücklich schätzen, daß keine Patienten davon betroffen sind - jedenfalls noch nicht. Auf Grund der Zahl der Fälle ist Ihnen zweifellos so offensichtlich wie mir, daß wir irgendwo in dem Krankenhaus einen Typhusträger haben müssen. Nun darf ich sagen, daß ich ebenso schockiert bin, wie es jeder sein muß, als ich erfuhr, daß Untersuchungen des Küchenpersonals nicht mehr durchgeführt wurden, seit.«

Bei der Erwähnung des Küchenpersonals war O'Donnell aufgefahren. Jetzt unterbrach er so ruhig und höflich wie er konnte: »Entschuldigen Sie, Doktor.«

»Ja?« Chandlers Ton machte deutlich, daß er über die Unterbrechung ungehalten war.

Freundlich sagte O'Donnell: »Wir werden auf diesen Punkt gleich zu sprechen kommen, Harvey. Für den Augenblick möchte ich Sie bitten, nur die klinischen Aspekte darzulegen.«

Er konnte den Ärger des anderen spüren. Harvey Chandler, der praktisch in der Krankenhaushierarchie den gleichen Status wie O'Donnell einnahm, gefiel das ganz und gar nicht. Außerdem liebte Dr. Chandler es, lange Reden zu halten. Er stand in dem Ruf, sich niemals mit einem Wort zu begnügen, wenn man zwei oder drei verwenden konnte. Jetzt murmelte er: »Also gut, wenn Sie das so wünschen, aber.«

Liebenswürdig, aber fest warf O'Donnell dazwischen: »Ich danke Ihnen.«

Chandler warf ihm einen Blick zu, der besagte: darüber werden wir uns später noch privat unterhalten. Dann fuhr er nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern fort: »Zur Informierung jener, die mit Typhus nicht vertraut sind - und ich weiß wohl, daß es bei einigen der Fall sein wird, weil man Typhus heutzutage nicht mehr oft antrifft -, will ich die wichtigsten Symptome des Anfangsstadiums darlegen. Allgemein gesprochen, es tritt steigendes Fieber auf, mit Schüttelfrost und langsamem Puls. Die Blutzählungen sind niedrig, und natürlich treten die charakteristischen rötlichen Flecke auf. Außerdem wird der Patient neben all dem wahrscheinlich über dumpfe Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und allgemeines Unbehagen klagen. Manche Patienten werden sagen, daß sie tagsüber benommen und während der Nacht ruhelos sind. Ein weiterer Punkt besteht darin, auf Bronchitis zu achten, die recht häufig mit Typhus zusammen auftritt, und man kann auch Nasenbluten finden. Und selbstverständlich eine druckempfindliche geschwollene Milz.«

Damit setzte sich der Chef der inneren Abteilung. O' Donnell fragte: »Irgendwelche Fragen?«

Lucy Grainger sagte: »Ich nehme an, daß Typhusimpfungen angesetzt sind?«

»Ja, für alle Angestellten und Mitglieder des Ärztestabes und auch für die Patienten, deren Gesundheitszustand es zuläßt.«

»Welche Maßnahmen sind in der Küche vorgesehen?« Die Frage kam von Bill Rufus.

O'Donnell antwortete: »Wenn Sie erlauben, kommen wir noch darauf zu sprechen. Ist im Augenblick noch zum Medizinischen eine Frage?«Er sah sich um, überall Kopfschütteln. »Also gut. Hören wir jetzt die Pathologie.« Er verkündete ruhig: »Dr. Pearson.«

Bis zu diesem Augenblick waren im Hintergrund Geräusche zu hören gewesen. Unruhe, Rücken von Stühlen, gemurmelte Unterhaltung neben den Ausführungen der Sprecher. Aber jetzt herrschte völlige Stille, während sich die Blicke aller neugierig dem Platz in der Mitte des langen Tisches zuwandten, wo Joe Pearson saß. Seit er eingetreten war, hatte er kein Wort gesprochen, sondern schweigend vor sich hingestarrt. Zum erstenmal hatte er sich keine Zigarre angezündet, und das wirkte wie das Fehlen eines vertrauten Wahrzeichens. Selbst jetzt, als sein Name aufgerufen wurde, bewegte er sich nicht.

O'Donnell war schon im Begriff, den Pathologen noch einmal aufzurufen, als Pearson sich rührte. Der alte Mann schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

Langsam wanderten seine Augen durch den Sitzungssaal, den ganzen Tisch entlang und wieder zu seinem Kopfende zurück. Während er O'Donnell gerade ansah, sagte Pearson: »Diese Epidemie hätte nicht auftreten dürfen. Es wäre auch nicht geschehen, wenn die Pathologie auf Versäumnisse bei den hygienischen Vorsichtsmaßregeln geachtet hätte. Für diese Nachlässigkeit ist meine Abteilung verantwortlich - und damit ich selbst.«

Wieder Schweigen. Es war wie ein historischer Augenblick. Viele Male hatte Joe Pearson in diesem Raum andere beschuldigt, Fehler begangen und Fehlurteile gefällt zu haben. Jetzt stand er vor ihnen und war Ankläger und Angeklagter zugleich.

O'Donnell fragte sich, ob er ihn unterbrechen solle. Er entschied sich dagegen. Wieder sah sich Pearson um. Dann sagte er langsam: »Nachdem festgestellt ist, wo ein Teil der Schuld liegt, müssen wir jetzt verhindern, daß sich die Epidemie weiter ausbreitet.« Er sah über den Tisch zu Harry Tomaselli hinüber. »Der Verwaltungsdirektor, die Abteilungsleiter und ich haben bestimmte Maßnahmen festgelegt, die sofort ergriffen werden müssen. Ich will sie Ihnen erläutern.«

Pearson schwieg. Als er weitersprach, klang seine Stimme fester. Es ist fast, dachte O'Donnell, als ob der alte Mann in diesem Augenblick einen Teil seiner Jahre abwerfe, als ob er ein Bild von dem bieten wolle, was er vor langer Zeit als junger Arzt einmal gewesen war: eindringlich, ernst, fähig. Der alte sarkastische Witz, seine Verachtung für die Hoheitsgebiete anderer, die sie alle in diesem Raum so gut kennengelernt hatten, waren verschwunden. An ihrer Stelle standen Autorität und Wissen und die gerade Offenheit eines Mannes, der ohne zu fragen voraussetzt, daß er mit seinesgleichen spricht.

»Das unmittelbare Problem«, sagte Pearson, »besteht darin, die Infektionsquelle festzustellen. Auf Grund des Versäumnisses, das Küchenpersonal in den vergangenen sechs Monaten regelmäßig und vorschriftsmäßig zu überwachen, liegt es nahe, den Krankheitsträger im Bereich der Küche zu vermuten und dort mit der Suche zu beginnen. Aus diesem Grunde muß das gesamte Küchenpersonal untersucht werden, noch ehe die nächste Mahlzeit im Krankenhaus ausgegeben wird.« Aus seiner abgetragenen Wollweste zog er seine Uhr und legte sie vor sich auf den Tisch. »Es ist jetzt vierzehn Uhr fünfzehn. Das gibt uns zweidreiviertel Stunden. In dieser Zeit muß jeder Angestellte, der in irgendeiner Form mit der Vorbereitung und der Ausgabe der Mahlzeiten im Krankenhaus zu tun hat, gründlich untersucht werden. Dazu sind die Kliniken für ambulante Patienten vorgesehen. Meines Wissens wurden alle Internisten und angestellten Ärzte des Krankenhauses schon vor der Sitzung darüber unterrichtet.«

Es sah sich wieder nach allen Seiten um und bemerkte, daß die Betroffenen zustimmend nickten. »Also gut. Sobald wir hier fertig sind, wird Dr. Coleman« - Pearson sah zu Coleman -»Ihnen einen Raum zuteilen.«

Pearson deutete auf die Küchenleiterin und sagte: »Mrs. Straughan sorgt dafür, daß das betroffene Personal sich versammelt, und es wird sich in Gruppen von je zwölf in den Kliniken melden. Unsere Aufgabe ist, in der zur Verfügung stehenden Zeit fünfundneunzig Personen zu untersuchen.

Bei diesen Untersuchungen wollen Sie übrigens daran denken, daß der Typhusträger - und wir vermuten, daß es einen Träger gibt - wahrscheinlich keines der von Dr. Chandler beschriebenen Symptome aufweist. Worauf Sie insbesondere achten müssen, ist mangelhafte persönliche Sauberkeit. Und jeder, bei dem Sie Zweifel haben, muß vorläufig von der Arbeit suspendiert werden.«

Pearson hielt inne, als ob er nachdenke. Bisher hatte er noch nicht seine Notizen zu Rate gezogen. Nun sprach er weiter: »Natürlich ist uns allen bekannt, daß diese Untersuchung uns nicht die Lösung bringen wird. Vielleicht haben wir Glück und finden auf diese Weise die Person, nach der wir suchen. Aber das ist höchst unwahrscheinlich. Vermutlich wird der Hauptteil der Arbeit in den Labors vorgenommen werden, sobald Ihre Untersuchungen abgeschlossen sind. Allen Personen, die Sie untersuchen, muß gesagt werden, daß Stuhlkulturen erforderlich sind, und alle Stuhlproben müssen morgen früh im Labor des Krankenhauses sein.« Er zeigte den Anflug eines Lächelns. »Verstopfung wird als Entschuldigung nicht anerkannt, und falls heute schon jemand eine Probe liefert, werden wir sie natürlich dankbar annehmen.

Die Labors richten sich jetzt schon darauf ein, alle erforderlichen Kulturen anzusetzen. Natürlich werden wir ein paar Tage brauchen - mindestens zwei oder drei -, um alle diese Proben zu untersuchen.«

Eine Stimme - O'Donnell hielt sie für die Gil Bartletts - sagte ruhig: »Fünfundneunzig Mann! Das gibt aber einen Haufen Scheiße.« Ein Gelächter lief um den Tisch.

Pearson drehte sich um. »Ja«, sagte er, »das gibt einen Haufen, aber wir werden unser Bestes tun.«

Damit setzte er sich.

Lucy hob die Hand, und O'Donnell nickte ihr zu. Sie fragte: »Wenn die Quelle der Infektion nicht sofort gefunden wird, bleibt die Krankenhausküche dann weiter in Betrieb, um die Patienten zu verpflegen?«

»Im Augenblick ja«, antwortete O'Donnell.

Der Verwaltungsdirektor fügte hinzu: »Mein Büro überprüft gerade die Möglichkeit, ob ein anderes Küchenunternehmen die Verpflegung übernehmen kann, falls es für notwendig erachtet werden sollte. Ich bezweifle allerdings, daß dazu hier in der Stadt die Möglichkeit besteht. Jedenfalls nicht so kurzfristig.«

Bill Rufus fragte: »Wie wird es mit Neuaufnahmen gehalten?«

»Verzeihen Sie«, antwortete O'Donnell, »ich hätte das erwähnen müssen. Bis auf weiteres nehmen wir keine neuen Patienten auf. Die Aufnahmeabteilung ist bereits informiert. Aber selbstverständlich hoffen wir, daß die Pathologie die Infektionsquelle schnell ausfindig machen kann. Und dann werden wir die Frage der Neuaufnahmen sofort überprüfen. Sonst noch etwas?«

Es lagen keine weiteren Fragen mehr vor. O'Donnell sah über den Tisch und fragte: »Dr. Coleman, haben Sie noch etwas hinzuzufügen?«

David Coleman schüttelte den Kopf. »Nein.«

O'Donnell schloß den Aktendeckel, der vor ihm lag. »Nun, meine Damen und Herren, ich schlage vor, wir gehen an die Arbeit.« Als dann mit den Stühlen gescharrt wurde und die allgemeine Unterhaltung begann, fragte er Pearson: »Joe, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

Sie traten zusammen an ein Fenster, abseits von den anderen, die den Raum verließen. O'Donnell vergewisserte sich erst, daß kein anderer ihn hörte, ehe er ruhig sagte: »Joe, selbstverständlich behalten Sie die Leitung der Pathologie während dieser Epidemie bei. Aber es muß Ihnen völlig klar sein, daß sich an allem anderen damit nichts ändert.«

Pearson nickte langsam. »Ja«, sagte er, »das hatte ich mir schon gedacht.«

XXII

Wie ein General, der vor der Schlacht seine Streitkräfte mustert, sah Dr. Joseph Pearson sich in dem pathologischen Labor um.

Anwesend waren David Coleman, der Assistenzarzt der Pathologie Dr. McNeil, Carl Bannister und John Alexander. Pearson, Coleman und McNeil kamen unmittelbar von der Sitzung. Die beiden anderen hatten auf Grund vorher erteilter Anweisungen das Labor aufgeräumt und alle nicht unmittelbar dringlichen Arbeiten beiseite gestellt.

Als Pearson seine Inspektion beendet hatte, wandte er sich an die vier. »Unser Problem«, verkündete er, »besteht in einer Detektivarbeit. Unsere Aufgabe ist, aus einem Kreis von rund fünfundneunzig Personen - dem Küchenpersonal - diejenige ausfindig zu machen, von der wir glauben, daß sie in unserem Krankenhaus Typhuserreger verbreitet. Weiter ist wichtig: wir müssen sie schnell finden. Je länger wir brauchen, desto schlimmer kann die Epidemie werden. Unsere Methode der Entdeckung besteht in Stuhlproben, von denen wir die ersten heute erhalten, den weitaus größten Teil aber erst morgen.«

Er wendete sich an Roger McNeil: »Dr. McNeil. Ihre Aufgabe in den nächsten Tagen besteht darin, alle Arbeit, die nicht unbedingt erforderlich ist, von dem Labor fernzuhalten. Überprüfen Sie alle eingehenden Anforderungen und entscheiden Sie, welchen Priorität zukommt und welche mindestens für ein oder zwei Tage zurückgestellt werden können. Die Untersuchungen, die Ihrer Meinung nach dringend sind, werden von Carl Bannister übernommen. Unterstützen Sie ihn dabei, so sehr Sie können, aber laden Sie ihm nicht mehr auf, als notwendig ist. Die übrige Zeit wird er mit an unserem Hauptprojekt arbeiten.« Als McNeil nickte, fuhr Pearson fort:

»Sie selbst müssen sich um alle pathologischen Befunde kümmern. Erledigen Sie alles, was dringend erscheint, und stellen Sie alles, was warten kann, zurück. Wenn Sie bei einer Diagnose nicht absolut sicher sind, wenden Sie sich an Dr. Coleman oder an mich.«

»Gut. Ich setze mich sofort mit dem Büro in Verbindung.« McNeil ging hinaus.

Zu den anderen sagte Pearson: »Wir werden für jede Stuhlkultur eine besondere Schale verwenden. Ich will nicht riskieren, mehrere Kulturen zusammen anzusetzen, damit sie nicht ineinanderwachsen. Dadurch würden wir nur Zeit verlieren und müßten von vorn anfangen.« Er fragte Alexander: »Haben wir genügend mittelgroße Schalen vorrätig, um fast hundert Kulturen anzusetzen?«

John Alexander war blaß und seine Augen gerötet. Vor einer halben Stunde war er von Elizabeth zurückgekommen. Aber er antwortete sofort: »Nein, ich glaube, wir haben kaum mehr als zwei Dutzend. Das reicht normalerweise für ein paar Tage.«

Als er gesprochen hatte, erkannte er, daß seine Antwort auf diese Frage über die Laborarbeit mechanisch erfolgt war. Er fragte sich, was er gegenüber Dr. Pearson empfand, und kam zu dem Ergebnis, daß er seine Gefühle nicht definieren konnte. Eigentlich müßte er diesen alten Mann doch hassen, dessen Nachlässigkeit den Tod seines Sohnes verschuldet hatte, und später würde er es vielleicht tun. Aber jetzt empfand er nur dumpfen, tiefsitzenden Schmerz und Kummer. Vielleicht war es ganz gut, daß ihnen allen im Augenblick sehr viel Arbeit bevorstand. Wenigstens konnte er versuchen, darüber einen Teil zu vergessen.

»Ah so«, sagte Pearson. »Gut, dann arbeiten Sie im Spülraum mit, und bleiben Sie dort, bis alle erforderlichen Schalen bereitstehen. Wir müssen sie heute noch haben.«

»Ich gehe sofort.« Alexander folgte McNeil hinaus.

Jetzt überlegte Pearson laut: »Wir müssen fünfundneunzig Kulturen ansetzen. Sagen wir hundert. Nehmen wir an, daß fünfzig Prozent auf Laktose positiv reagieren, dann bleiben weitere fünfzig Prozent, die wir weiter untersuchen müssen.« Er sah Coleman fragend an.

»Ganz meine Meinung.« Coleman nickte.

»Also gut. Wir brauchen zehn Reagenzgläser mit Zuckerlösung für jede Kultur. Fünfzig Kulturen bedeuten also fünfhundert Unterkulturen.« Zu Bannister gewandt fragte Pearson: »Wieviel Reagenzgläser liegen bereit? Sauber und sterilisiert.«

Bannister überlegte: »Vielleicht zweihundert.«

»Sind Sie ganz sicher?« Pearson musterte ihn scharf.

Bannister errötete. Dann sagte er: »Auf jeden Fall hundertfünfzig.«

»Dann bestellen Sie noch dreihundertundfünfzig. Rufen Sie die Lieferfirma an, und sagen Sie denen, daß wir sie heute noch haben müssen. Auf jeden Fall! Sagen Sie auch gleich, daß der Papierkram nachkommt.« Pearson fuhr fort: »Wenn Sie das getan haben, fangen Sie damit an, die Gläser in Gruppen von je zehn vorzubereiten. Überprüfen Sie die Zuckerbestände. Vergessen Sie nicht, wir brauchen Glukose, Laktose, Dulcitol, Sucrose, Mannitol, Maltose, Xylose, Arabinose, Rhamnose und ein Glas für Indol-Bildung.«

Pearson hatte die verschiedenen Zuckersorten ohne zu zögern heruntergerasselt. Mit dem Anflug eines Lächelns sagte er zu Bannister: »Sie finden die Liste und die Tabelle für die Reaktionen von Salmonella typhi auf Seite Sechsundsechzig des Laboratoriumshandbuches. Und nun an die Arbeit.«

Hastig schlurfte Bannister zum Telefon.

Pearson wendete sich an David Coleman und fragte: »Habe ich irgend etwas vergessen?«

Coleman schüttelte den Kopf. Die Art, wie der alte Mann sich der Situation gewachsen zeigte, und seine Schnelligkeit und seine Gründlichkeit hatten Coleman überrascht und beeindruckt. »Nein«, antwortete er, »nicht daß ich wüßte.«

Einen Augenblick sah Pearson den jüngeren Mann an, ehe er sagte: »Dann lassen Sie uns Kaffee trinken gehen. Es ist für ein paar Tage vielleicht die letzte Möglichkeit.«

Nachdem Mike Seddons Vivian verlassen hatte, überfiel es sie, wie groß die Lücke war, die er hinterließ, und wie lang sich die nächsten Tage ohne ihn dahinziehen würden. Sie glaubte jedoch, es sei richtig gewesen, von Mike zu verlangen, sich für ein paar Tage von ihr fernzuhalten. Das gab ihnen beiden die Möglichkeit, sich zu beruhigen und klar über die Zukunft nachzudenken. Nicht, daß Vivian selbst Zeit zum Nachdenken brauchte. Sie war sich ihrer Gefühle völlig sicher, aber so war es Mike gegenüber fairer, oder etwa nicht? Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß sie durch ihr Verhalten von Mike vielleicht verlangte, er solle seine Liebe für sie beweisen, während er ihre ohne zu fragen als selbstverständlich hinnahm.

Aber das war nicht ihre Absicht gewesen. Vivian fragte sich unbehaglich, ob Mike es so aufgefaßt habe, ob sie ihm mißtrauisch und nicht bereit erschienen sei, seine Zuneigung auf sein Wort hin zu glauben. Anscheinend hatte er es nicht getan -das stimmte. Aber wenn er darüber nachdachte, wie sie selbst jetzt, konnte er auf diesen Gedanken kommen. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen oder ihm einen Brief schreiben solle, um ihm zu erklären, was sie wirklich beabsichtigte - festzustellen, ob sie sich ihrer selbst sicher sei. War sie sich wirklich absolut sicher? Auch jetzt? Manchmal war es schwer, klar zu denken. Man begann etwas, was man für richtig hielt, dann begann man sich zu fragen, ob ein anderer es nicht falsch verstehe, nach einem Hintersinn suche, an den man selbst nicht gedacht hatte. Wie konnte man tatsächlich sicher sein, was das beste war, bei allem. überall. immer.?

Es klopfte leicht an die Tür, und Mrs. Loburton trat ein. Als Vivian sie sah, vergaß sie plötzlich, daß sie schon neunzehn war, erwachsen, in der Lage, für sich selbst zu entscheiden. Sie streckte ihre Arme aus. »Oh, Mutter«, seufzte sie, »ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Die Untersuchung des Küchenpersonals war in vollem Gang. In einem kleinen Sprechzimmer - dem ersten einer Reihe gleichartiger Räume in der Abteilung für ambulante Patienten -beendete Dr. Harvey Chandler die Untersuchung eines der Köche. »Gut«, sagte er, »Sie können sich anziehen.«

Zunächst war sich der Chef der inneren Abteilung nicht sicher gewesen, ob es mit seiner Würde vereinbar sei, selbst einige der Untersuchungen vorzunehmen. Aber schließlich hatte er sich dazu entschlossen. Sein Auftreten glich etwa dem eines Truppenkommandeurs, der sich moralisch verpflichtet fühlt, sich bei einer Landungsoperation an die Spitze seiner Soldaten zu stellen.

Dr. Chandler war geneigt, Dr. O'Donnell und Dr. Pearson ihre bisher führende Rolle zu verübeln. Gewiß, Dr. O'Donnell war Präsident des medizinischen Ausschusses und berechtigt, sich um das Gesamtwohl des Krankenhauses zu kümmern. Trotzdem, argumentierte Chandler, O'Donnell war nicht mehr als ein Chirurg und Typhus selbstverständlich eine Angelegenheit der inneren Medizin. In gewisser Weise fühlte sich der Chef der inneren Abteilung um eine Starrolle in der gegenwärtigen Krise beraubt. Insgeheim sah Dr. Chandler in sich selbst manchmal den Mann des Schicksals, aber die Gelegenheiten, das zu beweisen, ergaben sich nur zu selten. Jetzt, als eine derartige Gelegenheit vorlag, war ihm, wenn auch nicht gerade eine geringfügige, so doch zumindest eine zweitrangige Rolle zugewiesen worden. Er mußte allerdings zugeben, daß die von O'Donnell und Pearson getroffenen Anweisungen sich zu bewähren schienen, und zum mindesten verfolgten sie alle gemeinsam das Ziel, diesen beklagenswerten Typhusausbruch zu bekämpfen. Mit leicht gerunzelter Stirn gab er dem Koch, der sich jetzt angezogen hatte, seine Anweisungen: »Vergessen Sie nicht, besonders sorgfältig auf Hygiene zu achten, und halten Sie unbedingte Sauberkeit bei Ihrer Arbeit in der Küche ein.«

»Ja, Doktor.«

Als der Mann hinausging, trat Kent O'Donnell ein. »Nun«, fragte er, »wie läuft alles?«

Chandler war zunächst geneigt, hochmütig zu antworten. Dann dachte er, daß dazu vielleicht doch kein Anlaß vorliege, und von dem kleinen Fehler abgesehen, daß O'Donnell nach Chandlers Meinung sich manchmal etwas zu demokratisch gab, war er als Leiter des Ausschusses ein guter Mann und zweifellos erheblich viel besser als sein Vorgänger. Deshalb antwortete er recht liebenswürdig: »Ich habe schon seit einiger Zeit vergessen, zu zählen. Ich nehme an, wir werden fertig. Aber bisher hat sich noch nichts ergeben.«

»Gibt es neue Typhuskranke?« fragte ODonnell. »Und wie steht es mit den vier Verdächtigen?«

»Es sind jetzt vier eindeutige Fälle«, antwortete Chandler, »und von den Verdächtigen können Sie zwei streichen.«

»Sind schwere Fälle darunter?«

»Ich glaube nicht. Dem Himmel sei Dank für die Antibiotika. Vor fünfzehn Jahren noch wäre die Situation sehr viel ernster gewesen.«

»Ja, zweifellos.« O'Donnell war klug genug, darauf zu verzichten, nach den Maßnahmen für die Isolierung der Erkrankten zu fragen. Bei all seiner Anmaßung konnte man sich bei Chandler immer darauf verlassen, daß er medizinisch die richtige Entscheidung traf.

»Zwei der Patienten sind Schwestern«, sagte Chandler. »Eine aus der Psychiatrie, die andere aus der Urologie. Die beiden anderen Fälle sind Männer, ein Arbeiter aus dem Generatorraum und ein Angestellter aus der Verwaltung.«

»Sie kommen also alle aus weit auseinander gelegenen Teilen des Krankenhauses«, sagte O'Donnell nachdenklich.

»Richtig. Sie haben nur einen gemeinsamen Berührungspunkt, nämlich die Krankenhausküche. Ich denke, wir sind fraglos auf der richtigen Spur.«

»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte O'Donnell. »Sie haben noch zwei Leute draußen warten, aber andere haben noch mehr, und wir verteilen die übrigen neu.«

»Gut«, antwortete Chandler. »Ich mache weiter, bis wir fertig sind. Es darf uns nichts aufhalten, gleichgültig, wie lange es dauert.« Er richtete sich auf seinem Stuhl etwas auf. Er hatte das Gefühl, daß seine Worte den richtigen markigen und mannhaften Ton hatten.

»Ausgezeichnet«, antwortete O'Donnell. »Ich überlasse alles Ihnen.«

Etwas pikiert über die beiläufige Reaktion bat der Chef der inneren Abteilung steif: »Bitten Sie die Schwester, den nächsten hereinzuschicken. «

»Aber gern.«

O'Donnell ging hinaus, und einen Augenblick später trat eine Küchenhelferin ein. Sie hielt eine Karte in der Hand. Chandler sagte: »Geben Sie das mir. Setzen Sie sich, bitte.« Er legte die Karte vor sich und nahm ein neues Krankenblatt.

»Ja, Sir«, sagte das Mädchen.

»Als erstes möchte ich Ihre bisherigen Krankheiten wissen, Ihre eigenen, aber auch die Ihrer Familie - soweit wir es zurückverfolgen können. Beginnen wir bei Ihren Eltern.«

Während das Mädchen auf seine eindringlichen Fragen antwortete, füllte Chandler das Formular mit schnell geschriebenen Notizen aus. Als er fertig war, lag, wie immer bei ihm, eine vorbildliche Krankengeschichte vor, die geeignet war, als Muster in jedes medizinische Lehrbuch aufgenommen zu werden. Einer der Gründe, weshalb Dr. Chandler es zum Chef der inneren Abteilung im Three Counties Hospital gebracht hatte, lag darin, daß er ein außerordentlich genauer und gewissenhafter Kliniker war.

Während Kent O'Donnell die beschlagnahmte Abteilung für ambulante Patienten verließ, erlaubte er sich zum erstenmal, aus einigem Abstand heraus über die Ereignisse dieses Tages nachzudenken. Es war jetzt Nachmittag, und seit dem Morgen war zu vieles geschehen, als daß er schon alle Auswirkungen der Ereignisse übersehen konnte.

Schnell und unerwartet hatte er zuerst von der falschen Diagnose über den Zustand des Kindes erfahren, und bald danach war dessen Tod eingetreten. Darauf erfolgten Charlie Dornbergers Rücktritt und Pearsons Entlassung und die Entdeckung, daß in dem Krankenhaus seit über sechs Monaten die elementarsten hygienischen Kontrollmaßnahmen vernachlässigt worden waren. Und nun die Typhusfälle mit der Drohung einer ernsten Epidemie, die wie ein rächendes Schwert über dem Three Counties Hospital hing.

So vieles war auf einmal zusammengekommen. Warum nur? Wie konnte das geschehen? War es ein plötzlich zutage getretenes Symptom für ein Leiden, das bisher unentdeckt das Krankenhaus gepackt hielt? Stand vielleicht noch mehr bevor? War es ein Vorzeichen für den bald bevorstehenden allgemeinen Verfall? Hatten sie sich alle der Überheblichkeit schuldig gemacht - die O'Donnell vielleicht sogar selbst verursacht hatte?

Er dachte: wir waren alle sicher, so sicher, daß das gegenwärtige Regime besser als das vorherige ist. Dafür hatten wir gearbeitet. Wir glaubten, wir seien schöpferisch und kämen weiter, wir errichteten einen Tempel des Heilens, einen Ort, wo Medizin verantwortungsbewußt gelehrt und praktiziert würde. Aber wir haben versagt, schimpflich und blind versagt, gerade durch unsere guten Absichten. Waren wir dumm und verblendet, hatten wir unsere Blicke nach den Wolken gerichtet, auf schillernde Ideale, während wir die klaren, irdischen Warnungen des Alltags nicht beachteten? Was haben wir hier geschaffen? O'Donnell prüfte sich. War es wirklich eine Stätte des Heilens? Oder haben wir in unserer Torheit ein blendendes Grabmal errichtet - einen hohlen, antiseptischen Schrein?

In diese bohrenden und quälenden Gedanken versunken ging O'Donnell mechanisch durch das Krankenhaus, ohne auf seinen Weg zu achten. Jetzt kam er zu seinem Büro und trat ein.

Er blieb am Fenster stehen und sah auf den Vorplatz des Krankenhauses hinunter. Wie immer kamen und gingen dort Menschen. Er sah einen humpelnden Mann, eine Frau stützte ihn. Sie gingen vorbei und verschwanden. Ein Wagen fuhr vor, ein Mann sprang heraus und half einer Frau hinein. Eine Schwester erschien und reichte der Frau ein Baby. Die Türen wurden zugeschlagen, der Wagen fuhr an. Ein Junge an Krücken tauchte auf. Er bewegte sich schnell, schwang seinen Körper mit der Mühelosigkeit langer Übung. Ein alter Mann in einem langen Regenmantel hielt ihn an. Der Alte schien seinen Weg nicht zu wissen. Der Junge wies ihm die Richtung. Gemeinsam näherten sie sich dem Krankenhaus.

O'Donnell dachte: sie kommen als Bittende zu uns, voller Vertrauen. Sind wir dessen wert? Entschuldigen unsere Erfolge unsere Fehler? Können wir im Lauf der Zeit durch unsere Hingabe unsere Irrtümer wiedergutmachen? Werden sie uns je vergeben?

Nüchtern zog er die Folgerung. Nach dem heutigen Tag mußte vieles geändert werden, Lücken geschlossen - nicht nur die schon entdeckten, sondern andere, die sie durch eifriges Suchen noch aufdecken mußten. Sie mußten nach den schwachen Stellen tasten, bei sich selbst und in der Organisation des Krankenhauses. Sie mußten selbstkritischer sein, sich häufiger selbst überprüfen. Der heutige Tag, dachte er, soll ein helleuchtendes Mahnmal, ein Kreuz des Leidens, ein Zeichen für den neuen Anfang sein.

Es gab so vieles zu tun; viel Arbeit lag vor ihnen. Sie würden in der Pathologie anfangen, der schwachen Stelle, an der die Heimsuchung begonnen hatte. Aber sie mußten auch woanders neu ordnen. Da waren noch andere Abteilungen, von denen er vermutete, daß sie es dringend brauchten. Es lag jetzt endgültig fest, daß die Arbeit an dem Neubau im Frühjahr beginnen sollte, und beide Programme mußten miteinander verbunden werden. O'Donnell begann zu planen, sein Verstand arbeitete schnell.

Das Telefon klingelte.

Die Zentrale meldete: »Dr. O'Donnell, ein Ferngespräch für Sie.«

Es war Denise. Ihre Stimme hatte den gleichen gedeckten, weichen Klang, der ihn von Anfang an bezaubert hatte. Nach der Begrüßung sagte sie: »Kent, mein Lieber, ich möchte, daß du dieses Wochenende nach New York kommst. Ich habe für Freitag abend ein paar Leute eingeladen und möchte dich ihnen vorführen.«

Er zögerte nur einen Augenblick, ehe er antwortete: »Es tut mir furchtbar leid, Denise, aber das wird mir nicht möglich sein.«

»Du mußt aber kommen.« Ihre Stimme war eindringlich. »Ich habe die Einladungen verschickt und kann unmöglich wieder absagen.«

»Ich fürchte, du verstehst mich nicht.« Er spürte selbst, daß er mühsam die richtigen Worte suchen mußte. »Wir haben eine Epidemie hier. Ich kann nicht eher fort, als bis die Gefahr abgewendet ist, und muß dann wenigstens erst noch ein paar andere Dinge ordnen.«

»Aber du hattest versprochen, daß du kommst, Lieber, sobald ich dich rufe.« Ihr Ton verriet eine Andeutung von Ungeduld. Er überraschte sich bei dem Wunsch, bei Denise zu sein. Er war überzeugt, daß er es ihr dann verständlich machen könnte. Aber konnte er es wirklich?

Er antwortete: »Bedauerlicherweise konnte ich nicht voraussehen, was kam.«

»Aber du leitest doch das Krankenhaus. Bestimmt kannst du die Verantwortung für ein oder zwei Tage jemand anders übertragen.« Es war offensichtlich, daß Denise nicht verstehen wollte.

Er antwortete fest: »Ich fürchte, das geht nicht.«

Am anderen Ende der Leitung folgte ein Schweigen. Schließlich sagte Denise leichthin: »Ich habe dich gewarnt, Kent. Ich bin eine sehr besitzbewußte Person.«

Er begann: »Denise, Liebste.« Dann brach er ab.

»Ist das wirklich deine endgültige Antwort?« Die Stimme am Telefon klang noch sanft, fast zärtlich.

»Es geht nicht anders«, antwortete er, »es tut mir leid.« Er fügte hinzu: »Ich rufe dich an, Denise, sobald ich mich hier frei machen kann.«

»Ja«, antwortete sie, »tue das, Kent. Adieu.«

»Adieu«, antwortete er und legte nachdenklich den Hörer zurück.

Es war mitten am Vormittag, dem zweiten Tag seit dem Auftreten der Typhusfälle.

Wie Dr. Pearson vorausgesehen hatte, waren gestern zwar noch ein paar Stuhlproben im Labor eingetroffen, aber die große Masse erst in den letzten Stunden.

Die Proben befanden sich in kleinen Pappbehältern mit Deckeln. Sie standen in Reihen auf dem Mitteltisch des pathologischen Labors. Jede war bezeichnet, und Pearson, der auf einem Stuhl an einer Schmalseite des Tisches saß, teilte ihnen eine laufende Nummer des Labors zu und füllte die Untersuchungsformulare aus, auf denen die Untersuchungsergebnisse später eingetragen wurden.

Nachdem Pearson das Formular ausgefüllt hatte, reichte er die Probe an David Coleman und John Alexander weiter, die nebeneinander arbeiteten und in Schalen die Kulturen ansetzten.

Bannister bearbeitete allein an einem Seitentisch die anderen Anforderungen an das Labor, von denen McNeil, der jetzt an Pearsons Schreibtisch thronte, entschieden hatte, daß sie sofort erledigt werden mußten.

In dem Labor stank es.

Mit Ausnahme von David Coleman rauchten alle in dem Raum. Pearson stieß dicke Wolken Zigarrenrauch aus, um gegen den Geruch anzukämpfen, der aus den Behältern aufstieg, wenn die Deckel geöffnet wurden. Er hatte Coleman stillschweigend eine Zigarre angeboten, und der junge Pathologe hatte sie für einige Zeit angezündet. Aber dann war ihm der Zigarrenrauch fast ebenso unangenehm wie die verpestete Luft, und er hatte sie wieder ausgehen lassen.

Der junge Krankenhausbote, Bannisters verschworener Feind, hatte seinen Spaß daran, wenn er die Stuhlproben ablieferte, und begleitete jede neue Partie mit einem neuen Witz. Beim erstenmal hatte er Bannister angesehen und verkündet: »Für das Zeug hier konnten Sie gar keinen besseren Platz finden.« Später sagte er zu Coleman: »Sechs neue Duftsorten für Sie, Doktor.« Jetzt stellte er eine Reihe Pappbehälter vor Pearson hin und fragte: »Nehmen Sie Ihre mit Zucker und Sahne, Sir?« Pearson grunzte nur und schrieb weiter.

John Alexander arbeitete methodisch, seine Gedanken auf die vorliegende Arbeit konzentriert. Mit den gleichen gewandten Bewegungen, die David Coleman aufgefallen waren, als er ihn das erstemal sah, griff er nach einem Behälter mit einer Probe und hob den Deckel ab. Er zog eine Kulturschale näher und übertrug mit einem Fettstift die Nummer von dem Deckel auf die Schale. Dann nahm er eine kleine Platinschleife, die an einem Holzgriff befestigt war, und sterilisierte sie durch Ausglühen in der Flamme eines Spiritusbrenners. Er fuhr mit der Schlinge durch die Stuhlprobe und übertrug eine kleine Menge in ein Reagenzglas mit steriler Salzlösung. Darauf wiederholte er den gleichen Prozeß und übertrug einen Tropfen der Lösung mit einer gleichmäßigen, sicheren Handbewegung auf die Kulturschale.

Anschließend beschriftete er das Reagenzglas mit der Salzlösung und stellte es auf einem Gestell ab. Die Petrischale mit dem Nährboden brachte er zu einem Brutkasten auf der anderen Seite des Labors. Dort blieb sie bis zum folgenden Tag, an dem in den Fällen, in denen es erforderlich war, die Unterkulturen angesetzt wurden. Es war ein umständliches Verfahren, das aber nicht beschleunigt werden konnte.

Als er sich umdrehte, stand David Coleman dicht hinter ihm. Impulsiv sagte Alexander leise, weil ihm bewußt war, daß auch Pearson sich im Raum befand: »Ich wollte Ihnen gern etwas sagen, Doktor.«

»Ja, bitte?« Coleman stellte eine weitere Kulturschale in den Brutkasten und schloß ihn wieder.

»Ich. das heißt wir. haben beschlossen, Ihrem Rat zu folgen. Ich will Medizin studieren.«

»Das freut mich.« Colemans Anteilnahme war echt. »Ich bin überzeugt, daß Sie es schaffen.«

»Was wird er schaffen?« fragte Pearson, der den Kopf gehoben hatte und sie aufmerksam beobachtete.

Coleman ging zu seinem Arbeitsplatz zurück, setzte sich und öffnete eine neue Probe. In gleichgültigem Ton antwortete er: »John hat mir gerade mitgeteilt, daß er sich entschlossen hat, seine Aufnahme bei der medizinischen Fakultät zu beantragen. Ich hatte ihm dazu geraten.«

»Oh.« Pearson sah Alexander scharf an. Er fragte: »Wovon wollen Sie leben?«

»Meine Frau kann arbeiten, Doktor. Das ist eine Möglichkeit, und dann hoffe ich, daß ich außerhalb der Vorlesungen Laborarbeit bekommen kann. Das machen viele Medizinstudenten.« Alexander schwieg. Dann sah er zu Coleman hinüber und fügte hinzu: »Ich bilde mir nicht ein, daß es leicht werden wird, aber wir glauben, es sei der Mühe wert.«

»Ah so.« Pearson blies Rauch von sich. Jetzt legte er seine Zigarre hin. Es schien, als ob er noch etwas sagen wolle, zögerte aber, und schließlich fragte er: »Wie geht es Ihrer Frau?«

Still antwortete Alexander: »Sie wird sich erholen. Danke.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Pearson langsam:

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen.« Er schwieg wieder. »Aber ich glaube nicht, daß Worte viel helfen würden.«

Alexander sah dem alten Mann in die Augen. »Nein, Dr. Pearson«, antwortete er, »das glaube ich auch nicht.«

Allein in ihrem Krankenzimmer hatte Vivian versucht, einen Roman zu lesen, den ihre Mutter ihr mitgebracht hatte. Aber ihr Verstand erfaßte die Worte nicht. Sie seufzte und legte das Buch fort. In diesem Augenblick wünschte sie verzweifelt, sie hätte Mike nicht das Versprechen abgenötigt, nicht zu ihr zu kommen. Sie fragte sich, ob sie nach ihm rufen solle. Ihr Blick fiel auf das Telefon. Wenn sie ihn anrief, würde er kommen, wahrscheinlich sofort. Hatte diese törichte Idee, sich für ein paar Tage nicht zu sehen, damit sie alles durchdenken konnte, wirklich einen Sinn?

Schließlich liebten sie sich doch. Genügte das nicht? Sollte sie ihn anrufen? Sie streckte die Hand aus, zog sie aber im letzten Moment wieder zurück, weil ihre nüchterne Überlegung sich doch durchsetzte. Nein, sie wollte warten. Heute war schon der zweite Tag. Die anderen drei würden schnell vergehen. Dann würde sie Mike für sich haben - für immer und ewig.

Im Aufenthaltsraum für die Ärzte des Krankenhauses lag Mike Seddons tief in einem ledernen Sessel. Er hatte eine halbe Stunde dienstfrei. Er tat genau das, was Vivian ihm aufgetragen hatte: er stellte sich vor, wie ein Leben mit einer Frau sein mußte, die nur ein Bein hatte.

XXIII

Es war früher Nachmittag. Vier Tage waren vergangen, seit die ersten Typhusfälle im Three Counties Hospital aufgetreten waren.

Im Büro des Verwaltungsdirektors saßen schweigend und mit ernsten Gesichtern Orden Brown, der Ausschußvorsitzende, und Kent O'Donnell und hörten Harry Tomaselli zu, der telefonierte.

»Ja«, sagte der Verwaltungsdirektor jetzt, »ich verstehe.« Es folgte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Für den Fall, daß das erforderlich ist, werden wir mit allen Vorbereitungen fertig sein. Um fünf Uhr also. Guten Tag.« Er legte den Hörer zurück.

»Nun?« fragte Orden Brown ungeduldig.

»Die städtische Gesundheitsbehörde gibt uns bis heute nachmittag um fünf Zeit«, entgegnete Tomaselli unbewegt. »Wenn wir bis dahin den Typhusträger nicht gefunden haben, werden wir gezwungen sein, die Küche zu schließen.«

»Aber sind die sich denn darüber klar, was das bedeutet?« O'Donnell war aufgesprungen, seine Stimme klang erregt. »Wissen die denn nicht, daß das praktisch der Schließung des Krankenhauses gleichkommt? Sie haben ihnen doch erklärt, daß wir von außerhalb die Verpflegung für nicht mehr als eine Handvoll Patienten bekommen können.«

Immer noch ruhig antwortete Tomaselli: »Das habe ich ihnen auseinandergesetzt, aber darauf wollen sie keine Rücksicht nehmen. Das Problem ist, daß die Gesundheitsbehörde ein Übergreifen der Epidemie auf die Stadt befürchtet.«

Orden Brown fragte: »Liegt noch nichts Neues aus der Pathologie vor?«

»Nein.« O'Donnell schüttelte den Kopf. »Sie arbeiten immer noch. Ich war vor einer halben Stunde unten.«

»Ich kann es nicht verstehen.« Der Aus schußvorsitzende war beunruhigter, als Kent O'Donnell ihn je gesehen hatte. »Vier Tage und zehn Typhusfälle direkt hier im Krankenhaus. Vier davon Patienten. Und wir haben immer noch nicht die Quelle gefunden.«

»Es steht außer Frage, daß es für das Labor eine schwere Aufgabe ist«, erklärte O'Donnell, »und ich bin überzeugt, daß sie dort keine Zeit vergeudet haben.«

»Niemand macht einen Vorwurf«, antwortete Orden Brown scharf. »Jedenfalls nicht in diesem Stadium. Aber wir müssen zu einem Ergebnis kommen.«

»Joe Pearson sagte mir, er rechne damit, daß sie bis morgen vormittag alle Kulturen überprüft haben. Wenn der Typhusträger sich unter dem Küchenpersonal befindet, haben sie ihn bis dahin entdeckt.« O'Donnell wandte sich an Tomaselli. »Können Sie die Gesundheitsbehörde nicht überreden, wenigstens bis morgen mittag zu warten?«

Der Verwaltungsdirektor schüttelte verneinend den Kopf. »Das habe ich schon früher versucht. Sie haben uns schon vier Tage Zeit gelassen, und sie wollen nicht länger warten. Der Leiter des Gesundheitsamts war heute vormittag hier und kommt um fünf Uhr wieder. Wenn wir dann kein Ergebnis vorlegen können, müssen wir, fürchte ich, seiner Anordnung folgen.«

»Und was beabsichtigen Sie in der Zwischenzeit zu tun?« fragte Orden Brown.

»Meine Abteilung arbeitet schon den Plan aus.« Harry Tomasellis Stimme verriet jetzt den gleichen ungläubigen Ärger, der sie alle gepackt hatte. »Wir gehen dabei von der Annahme aus, daß wir das Krankenhaus schließen müssen.«

Wieder herrschte ein langes Schweigen, dann fragte der Verwaltungsdirektor: »Kent, können Sie um fünf Uhr hier sein, um den Leiter des Gesundheitsamtes mit mir zu empfangen?«

»Ja«, antwortete O'Donnell finster, »das kann ich wohl einrichten.«

Die Anspannung, mit der die drei Männer in dem Labor arbeiteten, war ebenso groß wie ihre Erschöpfung.

Dr. Joseph Pearson war zusammengefallen, seine Augen rot gerändert, und die Langsamkeit seiner Bewegungen verriet seine Müdigkeit. Während der letzten vier Tage und drei Nächte war er im Krankenhaus geblieben, hatte sich nur ein paar Stunden Schlaf auf einem Feldbett gegönnt, das in seinem Büro aufgestellt worden war. Er war seit zwei Tagen nicht rasiert, sein Anzug war zerknittert, sein Haar stand ihm wild um den Kopf. Nur am zweiten Tag war er ein paar Stunden nicht in der Pathologie anwesend gewesen. Niemand wußte, wohin er gegangen war, und Coleman war nicht in der Lage gewesen, ihn ausfindig zu machen, obwohl von dem Verwaltungsdirektor und Kent O'Donnell mehrfach nach Pearson gefragt wurde. Als er wieder erschien, hatte er für seine Abwesenheit keinerlei Erklärung abgegeben und sich wieder der Überwachung der Kulturen und Unterkulturen zugewendet, mit denen sie beschäftigt waren.

Jetzt fragte Pearson: »Wieviel haben wir fertig?«

Coleman sah in eine Liste. »Neunundachtzig«, antwortete er. »Damit bleiben noch fünf für morgen vormittag, die im Brutkasten stehen.«

David Coleman, der zwar frischer als der alte Pathologe erschien und dessen persönliche Erscheinung nicht die Zeichen äußerlicher Vernachlässigung zeigte wie Pearson, spürte trotzdem eine überwältigende Müdigkeit, die ihn sich fragen ließ, ob er so lange aushalten würde wie der alte Mann. Im Gegensatz zu Pearson hatte Coleman die drei Nächte in seiner eigenen Wohnung geschlafen, wenn er das Labor auc h erst lange nach Mitternacht verließ und schon gegen sechs Uhr morgens in das Krankenhaus zurückkehrte.

So früh das auch war, nur einmal war er vor John Alexander dagewesen, und auch in diesem Fall nur wenige Minuten. An den anderen Tagen hatte der junge Laborant wie von Anfang an schon vor einem der Labortische gestanden und wie eine genau eingestellte Maschine mit sicheren und sparsamen Bewegungen gearbeitet und die Ergebnisse aus jedem Test sorgfältig in sauberer, lesbarer Schrift niedergeschrieben. Nach den ersten Erklärungen am Anfang war es auch nicht mehr notwendig gewesen, ihm weitere Anweisungen zu geben. Es war so unverkennbar, daß Alexander seine Arbeit völlig beherrschte und wußte, was er tat, daß Dr. Pearson, nachdem er ihn kurz beobachtet und überprüft hatte, anerkennend nickte und ihn von da an ganz sich selbst überließ.

Pearson wandte sich von Coleman zu Alexander und fragte: »Wie weit sind wir mit den Unterkulturen?«

Alexander las von seinen Notizen ab: »Von neunundachtzig untersuchten Schalen sind zweiundvierzig für Unterkulturen bestimmt und zweihundertachtzig Unterkulturen angesetzt worden.«

Pearson rechnete im Kopf nach. Halb zu sich selbst sagte er: »Das bedeutet, daß noch weitere hundertvierzig Unterkulturen überprüft werden müssen und dazu noch die Partie von morgen.«

David Coleman sah zu John Alexander hinüber und fragte sich, was der junge Mann in diesem Augenblick empfinden mochte und ob seine Arbeitswut ihn wenigstens teilweise von seinem persönlichen Kummer ablenke. Vier Tage waren seit dem Tod des Babys der Alexanders vergangen. In dieser Zeit waren die ersten Anzeichen des Schocks und der Verzweiflung, die der junge Laborant gezeigt hatte, verschwunden, oder mindestens hatten sie nachgelassen. Coleman vermutete jedoch, daß John Alexanders Empfindungen erst von einer dünnen Schutzschicht verdeckt wurden, und als der junge Laborant ihm seine Absicht mitteilte, Medizin zu studieren, hatte er sie zu entdecken geglaubt. Dieser Plan war ein Thema, auf das David Coleman bisher nicht zurückgekommen war, aber er beabsichtigte es noch, und sobald die gegenwärtige Krise überwunden war, wollte er mit Alexander ausführlich darüber sprechen. Coleman konnte dem jungen Mann auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in vieler Hinsicht raten und behilflich sein. Zweifellos fiel es Alexander, wie er selbst gesagt hatte, nicht leicht - besonders finanziell nicht -, eine bezahlte Stellung aufzugeben und noch einmal Student zu werden. Aber es gab gewisse Punkte und Fallgruben, auf die Coleman Alexander hinweisen konnte, um ihm zu helfen.

Das vierte Mitglied des ursprünglichen Laborteams, Carl Bannister, war zeitweise arbeitsunfähig. Der alte Laborant hatte drei Tage lang und den größten Teil der Nächte durchgearbeitet, die Routineaufgaben des Labors allein übernommen und den anderen geholfen, sobald er dazu Zeit fand. Heute morgen allerdings war seine Stimme so heiser und stand er offensichtlich so nahe dem völligen Zusammenbruch, daß David Goleman, ohne Pearson erst zu fragen, ihn nach Hause schickte. Bannister war dankbar und ohne Widerspruch gegangen.

Die Vorbereitungen der Stuhlkulturen waren ohne Unterbrechung weitergegangen, wie die Proben im Labor eintrafen. Am zweiten Tag waren die Proben, die am ersten Tag in den Brutkasten gestellt worden waren, zur weiteren Untersuchung bereit gewesen. Dr. Pearson hatte seine Streitkraft neu eingeteilt, damit die Arbeit ohne Unterbrechung weiterging. John Alexander und er selbst setzten die Unterkulturen an, während David Coleman weiter die neuankommenden Stuhlproben vorbereitete.

Die rosa Oberflächen der vorbereiteten Nährböden in den Schalen zeigten, als sie aus dem Brutkasten genommen wurden, kleine, feuchte Bakterienkolonien an den Stellen, wo am Tage vorher winzige Mengen menschlichen Kots aufgetragen worden waren. Da jede einzelne Stuhl probe Millionen von Bakterien enthielt, bestand die erste Aufgabe darin, die Bakterienkolonien, die offensichtlich harmlos waren, von denen zu trennen, die weiter untersucht werden mußten.

Rosafarbene Bakterienkolonien wurden sofort ausgeschieden, da sie keinen Typhuserreger enthielten. Von den blassen Kolonien, die möglicherweise Typhusbazillen enthielten, wurden Proben für die Unterkulturen in Zuckerlösungen entnommen. Zu jeder ursprünglichen Kultur gehörten zehn Reagenzgläser mit verschiedenen Zuckerlösungen. Es waren diese Reagenzmittel, die nach einer weiteren Behandlung im Brutkasten schließlich zeigen würden, welche Stuhlproben die gefährlichen und ansteckenden Typhuserreger enthielten.

Heute, am vierten Tag, waren endlich die letzten Stuhlproben eingegangen. Sie stammten alle von Angestellten des Krankenhauses, die in irgendeiner Form mit dem Empfang, der Vorbereitung und der Ausgabe der Verpflegung zu tun hatten, und ihre Bearbeitung würde erst spät am nächsten Tag beendet werden. Im Augenblick waren die zweihundertachtzig Unterkulturen, von denen John Alexander gesprochen hatte, auf Gestellen im ganzen Laboratorium und im Brutkasten verteilt. Bei vielen war die endgültige Überprüfung schon abgeschlossen, aber bisher hatte noch keine die Person aufgedeckt - den vermuteten Typhusträger -, nach der sie Tag und Nacht angespannt und unermüdlich gesucht hatten.

Das Telefon klingelte, und Pearson, der dem Wandtelefon im Labor am nächsten stand, antwortete. »Ja?« Er hörte zu, erwiderte dann: »Nein, noch nichts. Ich sage Ihnen noch einmal, ich rufe Sie an, sobald wir etwas finden.« Er legte den Hörer auf die Gabel zurück.

John Alexander beendete eine Eintragung in ein Untersuchungsformular. Dann gab er der ihn plötzlich überwältigenden Müdigkeit nach und ließ sich auf einen unbequemen Laborstuhl sinken. Er schloß einen Augenblick die Augen und genoß erleichtert die kurze Unterbrechung.

David Coleman neben ihm sagte: »Warum machen Sie nicht ein oder zwei Stunden Pause, John? Gehen Sie doch ür eine Weile zu Ihrer Frau hinauf.«

Alexander stand wieder auf. Er wußte, wenn er zu lange sitzen blieb, würde er einschlafen. »Ich mache noch eine Serie fertig«, sagte er, »dann gehe ich vielleicht hinauf.«

Er nahm ein Gestell mit Unterkulturen aus dem Brutkasten, holte ein neues Formblatt und begann, die zehn Reagenzgläser mit Zuckerlösung auszurichten, die er überprüfen wollte. Als er auf die Laboruhr an der Wand sah, stellte er überrascht fest, daß schon wieder ein Tag zu Ende ging. Es war zehn Minuten vor fünf.

Kent O'Donnell legte den Hörer zurück. Auf Harry Tomasellis unausgesprochene Frage antwortete er: »Joe Pearson sagt, noch nichts Neues.«

In dem birkengetäfelten Arbeitszimmer des Verwaltungsdirektors herrschte Schweigen. Auf beiden Männern lag drückend das Bewußtsein, was es bedeutete, daß das Labor immer noch kein Ergebnis gemeldet hatte. Beiden war auch bewußt, daß sich rings um die Verwaltungsabteilung herum die Arbeit im Krankenhaus dem Stillstand näherte.

Am frühen Nachmittag war mit der Durchführung des Planes zur Schließung des Krankenhauses, der von Harry Tomaselli schon vor mehreren Tagen ausgearbeitet worden war und der jetzt durch die bevorstehende Stillegung der Küche in Kraft treten mußte, endgültig begonnen worden. Das Frühstück am nächsten Morgen würde für hundert Patienten, die normale Verpflegung erhielten, in zwei Restaurants, die gemeinsam diese Arbeit übernommen hatten, zubereitet und für die schwerkranken, nicht transportfähigen Patienten an das Krankenhaus geliefert werden. Von den übrigen Patienten wurden so viele wie möglich nach Hause entlassen, während der Rest, der noch unbedingt der Krankenhauspflege bedurfte, in andere Krankenhäuser in Burlington und der Umgebung verlegt wurde. Dort bereitete man sich jetzt darauf vor, diesen durch den Notstand erzwungenen Zustrom aus dem Three Counties Hospital aufzunehmen.

Vor einer Stunde hatte Harry Tomaselli die Anweisung gegeben, mit der Verlegung zu beginnen, von der er wußte, daß sie bis spät in die Nacht dauern würde. Inzwischen hatte sich vor der Notaufnahmestation eine Anzahl Krankenwagen eingefunden, die telefonisch von allen Stellen, die welche zur Verfügung stellen konnten, herbeigerufen worden waren. In den Krankensälen und in den Zimmern der Privatpatienten bemühten sich Schwestern und Ärzte unermüdlich, um die Patienten aus ihren Betten auf Tragen und Rollstühlen unterzubringen, und bereiteten sie auf die unerwartete Verlegung vor. Zum erstenmal in seinem vierzigjährigen Bestehen wurden vor den Toren des Three Counties Hospitals Kranke und Verletzte abgewiesen.

Flüchtig klopfte es an die Tür, und Orden Brown trat in das Zimmer des Verwaltungsdirektors. Er hörte aufmerksam zu, während Harry Tomaselli berichtete, was in den vier Stunden seit ihrer letzten Begegnung geschehen war. Als Tomaselli geendet hatte, fragte der Ausschußvorsitzende: »Sind die Leute von der Gesundheitsbehörde schon hiergewesen?«

»Noch nicht«, antwortete Tomaselli. »Wir erwarten sie jeden Augenblick.«

Ruhig sagte Orden Brown: »Dann werde ich mit Ihnen warten, falls Sie nichts dagegen haben.«

Nach einer Pause wandte sich der Ausschußvorsitzende an O'Donnell. »Kent, es ist im Augenblick nicht wichtig, aber ich will es Ihnen sagen, da ich gerade daran denke. Eustace Swayne hat mich angerufen. Wenn das hier alles vorüber ist, möchte er, daß Sie ihn aufsuchen.«

Einen Augenblick lang war O'Donnell über die Herausforderung, die in dieser Vorladung lag, sprachlos. Er erkannte sofort, warum Eustace Swayne ihn sprechen wollte. Es konnte nur einen Grund haben: Trotz allem beabsichtigte der alte Mann, sein Geld und seinen Einfluß zu benutzen, um für seinen Freund Dr. Joseph Pearson zu intervenieren. Nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war, erschien es unglaublich, daß es derartige Blindheit und Anmaßung geben konnte. Eine kochende Wut wallte in O'Donnell auf. Er explodierte: »Zum Teufel mit Eustace Swayne und all seinem Geld.«

»Darf ich Sie erinnern«, unterbrach Orden Brown eisig, »daß Sie von einem Mitglied des Krankenhausausschusses sprechen, das zumindest Anspruch auf Höflichkeit hat, auch wenn Sie anderer Meinung sein sollten als er.«

O'Donnell trat vor Orden Brown. Seine Augen funkelten. Also gut, dachte er, wenn es jetzt zur Auseinandersetzung kommt, mir soll es recht sein. Ich habe genug von Krankenhauspolitik. Von nun an und für immer.

Im gleichen Augenblick ertönte der Summer auf dem Schreibtisch des Verwaltungsdirektors. »Mr. Tomaselli«, sagte eine Mädchenstimme über den Lautsprecher, »die Herren von der Gesundheitsbehörde sind gerade gekommen.«

Es war drei Minuten vor fünf.

Wie an dem Morgen vor sechs Wochen - dem Tag, an dem Kent O'Donnell, wie ihm plötzlich einfiel, die erste Warnung für den bevorstehenden Zerfall in dem Krankenhaus erhielt -schlug die Glocke der Erlöserkirche die volle Stunde, als die kleine Gruppe durch die Gänge des Three Counties Hospitals ging. Von O'Donnell geführt, bestand sie aus Orden Brown, Harry Tomaselli und Dr. Norbert Ford, dem Leiter des Gesundheitsamtes in Burlington. Hinter ihnen folgten Mrs. Straughan, die Küchenleiterin, die gerade zur Verwaltungsabteilung kam, als sie dort fortgingen, und der junge Assistent des Gesundheitsamtes, dessen Name O'Donnell bei der flüchtigen Vorstellung nicht richtig verstanden hatte.

Nachdem sein erster Ärger verflogen war, fühlte der Chef der Chirurgie sich erleichtert, daß die Auseinandersetzung zwischen ihm und Orden Brown, aus der ein ernstes Zerwürfnis hätte erwachsen können, rechtzeitig unterbrochen worden war. Er erkannte, daß sie alle einschließlich ihm selbst infolge der Ereignisse in den letzten Tagen ungewöhnlich reizbar waren, und schließlich hatte der Ausschußvorsitzende nicht mehr getan, als ihm eine Benachrichtigung übermittelt. O'Donnells wirklicher Gegner war Eustace Swayne, und er war schon fest entschlossen, dem alten Mann gegenüberzutreten, sobald die gegenwärtige Krise überwunden war. Bei dieser Gelegenheit beabsichtigte O'Donnell, wie Swayne die Unterhaltung auch führen würde, in knappen und unmißverständlichen Worten zu antworten, ungeachtet der Folgen, die sich daraus ergeben sollten.

Auf Kent O'Donnells Vorschlag hin befand sich die Gruppe auf dem Weg zur Pathologie. Er hatte dem Leiter des Gesundheitsamtes gesagt: »Sie sollen sich davon überzeugen, daß wir alles tun, was in unseren Kräften steht, um die Quelle der Infektion zu entdecken.«

Dr. Ford hatte zunächst abgelehnt: »Niemand hat angedeutet, daß das nicht geschieht, und ich bezweifle, daß ich Ihren Pathologen einen Rat geben kann«, hatte er geantwortet. Auf O'Donnells Drängen stimmte er schließlich doch zu, und jetzt gingen sie in das Souterrain zu den Labors hinunter.

John Alexander blickte auf, als die Gruppe eintrat, wandte sich dann wieder der Untersuchung zu, an der er gerade arbeitete. Pearson trat O'Donnell und Orden Brown entgegen, um sie zu begrüßen. Er wischte sich beide Hände an seinem verschmutzten Laborkittel ab. Auf einen Wink von Harry Tomaselli folgte ihm David Coleman.

O'Donnell stellte vor. Als Pearson und Dr. Norbert Ford sich die Hände reichten, fragte der Leiter des Gesundheitsamtes: »Sind Sie schon auf etwas gestoßen?«

»Noch nicht.« Pearson wies mit einer Handbewegung im Labor umher. »Wie Sie sehen, sind wir noch an der Arbeit.«

O'Donnell sagte: »Joe, Sie müssen es auch erfahren. Dr. Ford hat die Schließung unserer Küche angeordnet.«

»Heute noch?« Pearsons Ton war ungläubig.

Der Leiter des Gesundheitsamtes nickte ernst. »Ich fürchte, es läßt sich nicht vermeiden.«

»Aber das können Sie doch nicht. Das ist lächerlich.« Das war der alte, aggressive Pearson, sein kriegerischer Ton, mit Augen, die hinter der Maske der Erschöpfung funkelten. Er tobte weiter: »Aber Mann Gottes, wir werden die ganze Nacht arbeiten, und bis morgen mittag sind wir mit allen unseren Unterkulturen durch. Wenn es einen Träger gibt, haben wir ihn bis dahin aller Wahrscheinlichkeit nach entdeckt.«

»Es tut mir leid.« Der Gesundheitsbeamte schüttelte ablehnend den Kopf. »Wir dürfen das nicht riskieren.«

»Aber die Küche schließen bedeutet das Krankenhaus schließen«, wütete Pearson. »Sie werden doch bis morgen noch warten können, wenigstens noch so lange.«

»Ich fürchte nein.« Dr. Ford blieb höflich, aber unnachgiebig. »Außerdem liegt die Entscheidung nicht ausschließlich bei mir. Die Stadt kann sich nicht einfach der Gefahr einer verheerenden Epidemie aussetzen. Im Augenblick beschränken sich die Fälle auf Ihr Krankenhaus, aber sie können jeden Augenblick weiter um sich greifen. Das müssen wir berücksichtigen.«

Harry Tomaselli warf dazwischen: »Wir geben noch das Abendessen aus, Joe, und das ist die letzte Mahlzeit. Wir schicken alle Patienten nach Hause, die wir entlassen können, und verlegen die meisten in andere Krankenhäuser.«

Es herrschte Schweigen. Pearsons Gesichtsmuskeln arbeiteten. Seine tiefliegenden, rotgeränderten Augen schienen den Tränen nahe. Fast flüsternd sagte er: »Ich hätte nie geglaubt, den Tag zu erleben.«

Während sich die Gruppe abwandte, sagte O'Donnell still: »Offen gesagt, Joe, ich auch nicht.«

Sie hatten die Tür erreicht, als John Alexander ausrief: »Hier habe ich es!«

Wie auf einen Befehl drehte sich die Gruppe um. Pearson fragte scharf: »Was haben Sie entdeckt?«

»Eine eindeutige Typhusreaktion.« Alexander deutete auf die Reihe der Reagenzgläser mit den Zuckerlösungen, die er untersucht hatte.

»Lassen Sie mich sehen.« Pearson lief fast durch das Labor. Die anderen traten näher. Pearson betrachtete die Reihe Reagenzgläser. Seine Zunge fuhr nervös über die Lippen. Wenn Alexander recht hatte, war das der Augenblick, für den sie gearbeitet hatten. »Lesen Sie von der Tabelle ab«, befahl er.

Alexander nahm das Handbuch auf, in dem eine Tafel aufgeschlagen war. Es war die Tabelle der biochemischen Reaktionen von Bakterien in Zuckerlösungen. Er legte einen Finger auf die Spalte mit der Überschrift >Salmonella typhi< und war bereit, vorzulesen.

Pearson nahm das erste der zehn Reagenzgläser. Er rief auf: »Glukose.«

Alexander verglich auf der Liste und antwortete: »Säurebildung, aber kein Gas.«

Pearson nickte. Er stellte das Glas zurück und nahm das nächste. »Laktose.«

»Keine Säure, kein Gas«, las Alexander vor.

»Richtig.« Eine Pause. »Dulcitol.«

Wieder las Alexander: »Keine Säure, kein Gas.«

»Sucrose.«

»Keine Säure, kein Gas.« Wieder die richtige Reaktion für Typhusbazillen. Die Spannung in dem Raum wuchs.

Pearson nahm das nächste Glas. »Mannitol.«

»Säurebildung, aber kein Gas.«

»Richtig.« Die nächste: »Maltose.«

»Säure, aber kein Gas.«

Pearson nickte. Das waren sechs. Es blieben noch vier. Jetzt sagte er: »Xylose.« Noch einmal las Alexander: »Säure, aber kein Gas.« Sieben. »Arabinose.«

John Alexander las: »Entweder Säure, aber kein Gas, oder gar keine Reaktion.« Pearson verkündete: »Keine Reaktion.« Acht. Noch zwei. »Rhamnose.« »Keine Reaktion.«

Pearson prüfte das Glas. Leise bestätigte er: »Keine Reaktion.«

Noch eine.

Von dem letzten Glas las Pearson ab: »Indol-Bildung. « »Negativ«, antwortete Alexander und legte das Buch zurück.

Pearson wandte sich den anderen zu. Er sagte: »Es besteht keine Frage: Das ist der Typhusträger.« »Wer ist es?« Der Verwaltungsdirektor fragte als erster. Pearson drehte die Petrischale um. Er las die Nummer ab:

»Zweiundsiebzig. «

David Coleman hatte schon nach einem Schreibheft gegriffen. Es enthielt die Liste des Personals in seiner eigenen Handschrift. Er gab bekannt: »Charlotte Burgess.«

»Ich kenne sie«, sagte Mrs. Straughan schnell. »Sie arbeitet an der Essenausgabe.«

Unwillkürlich sahen alle auf die Uhr. Es war sieben Minuten nach fünf.

Mrs. Straughan rief erschrocken: »Das Abendessen! Sie fangen gerade an, es auszugeben.«

»Schnell in die Kantine.« Noch ehe er ausgesprochen hatte, war Harry Tomaselli bereits an der Tür.

Im zweiten Stock des Krankenhauses trat die Oberschwester der Station mit gehetztem Ausdruck in Vivians Zimmer und warf dabei einen schnellen Blick auf die Zimmernummer.

»Ah ja, Sie sind Miss Loburton.« Sie sah auf ihre Notiztafel und machte mit ihrem Bleistift eine Notiz. »Sie werden in die West-Burlington-Klinik verlegt.«

Vivian fragte: »Wann denn, bitte?« Sie hatte schon früher am Nachmittag von der bevorstehenden Verlegung und ihren Gründen erfahren.

»Die Krankenwagen haben sehr viel zu tun«, antwortete die Oberschwester. »Ich vermute, es wird noch ein paar Stunden dauern. Wahrscheinlich gegen neun Uhr heute abend. Ihre Stationsschwester wird rechtzeitig kommen, um Ihnen zu helfen.«

»Danke«, antwortete Vivian.

Mit ihren Gedanken schon wieder bei ihrer Notiztafel, nickte die Oberschwester und ging hinaus. Jetzt war es Zeit, entschied Vivian, Mike zu rufen. Ihre fünf Tage der Trennung waren erst morgen vorüber, aber keiner von beiden hatte mit etwas Derartigem gerechnet. Außerdem bereute sie schon ihren ganzen Einfall mit der Trennungszeit. Sie sah jetzt ein, daß er eine dumme Idee und überflüssig war, und wünschte, sie sei nie darauf gekommen.

Sie streckte die Hand nach dem Telefon auf dem Nachttisch aus, und diesmal zögerte sie nicht. Als sich die Zentrale meldete, sagte Vivian: »Dr. Michael Seddons, bitte.«

»Einen Augenblick.«

Sie mußte ein paar Minuten warten, ehe sich die Zentrale wieder meldete. »Dr. Seddons ist nicht im Krankenhaus. Er ist mit einem der Krankenwagen unterwegs. Kann Ihnen ein anderer Arzt helfen?«

»Nein, danke«, antwortete Vivian. »Ich würde aber gern eine Nachricht für ihn hinterlassen.«

Die Zentrale fragte: »Betrifft es eine medizinische Angelegenheit?«

Sie zögerte. »Nein, eigentlich nicht.«

»Wir können jetzt nur dringende medizinische Benachrichtigungen übernehmen. Rufen Sie bitte später wieder an.« Es folgte ein Knacken, und die Leitung war tot. Langsam legte Vivian den Hörer zurück.

Von draußen auf dem Gang konnte sie Unruhe und erhobene Stimmen vernehmen. Sie spürte die allgemeine Aufregung. Ein scharfer Befehl wurde gegeben, dann folgte ein Klappern, als etwas zu Boden fiel, und jemand lachte. Es klang ganz alltäglich, und doch wünschte sie sich in diesem Augenblick, dabeizusein, an dem, was vorging, teilnehmen zu können. Dann fiel ihr Blick auf das Bett, auf den Punkt, wo ihr linkes Bein endete und die Decke unvermittelt flach abfiel. Zum erstenmal spürte Vivian eine plötzliche Angst und fühlte sich verzweifelt einsam.

»Oh, Mike«, flüsterte sie, »Mike, Liebling, wo du auch bist, bitte, komm bald zu mir.«

Schwester Penfield war im Begriff, die Kantine zu betreten, als sie die Gruppe erblickte, die hinter ihr herkam. Sie erkannte den Verwaltungsdirektor und den Chef der Chirurgie. Hinter ihnen bemühte sich die Küchenleiterin Mrs. Straughan mit heftig wallendem Busen, mit ihnen Schritt zu halten.

Harry Tomaselli verlangsamte sein Tempo, als sie durch den Eingang der Kantine traten. Er sagte zu Mrs. Straughan: »Es muß schnell und unauffällig gehen.«

Die Küchenleiterin nickte, und durch einen Nebeneingang betraten sie die Küche.

O'Donnell winkte Schwester Penfield. »Kommen Sie bitte mit. Ich möchte, daß Sie uns helfen.«

Was jetzt geschah, erfolgte schnell und präzise. Eben noch hatte eine Frau in mittlerem Alter am Schalter der Kantine Essen ausgegeben, und jetzt hatte Mrs. Straughan sie am Arm ergriffen und führte sie in ihr Büro im Hintergrund. O'Donnell sagte zu der verwirrten Frau: »Einen Augenblick, bitte«, und winkte Schwester Penfield zu, bei ihr zu bleiben.

»Nehmen Sie die Speisen, die sie ausgegeben hat«, wies er Mrs. Straughan an, »und verbrennen Sie sie. Holen Sie alles, was sie ausgegeben hat, soweit Sie können, zurück. Entfernen Sie alles Geschirr, das sie berührt haben kann, und kochen Sie es ab.«

Die Küchenleiterin ging zu den Ausgabeschaltern. Nach ein paar Minuten waren O'Donnells Anweisungen befolgt, und die Schlange der Kantinenbesucher bewegte sich wieder weiter. Nur die paar Leute, die in unmittelbarer Nähe standen, hatten die Szene bemerkt.

In dem Büro im Hintergrund der Küche sagte O'Donnell zu der Frau: »Mrs. Burgess, Sie müssen sich als Patientin des Krankenhauses betrachten.« Freundlich fügte er hinzu: »Seien Sie nicht beunruhigt, wir werden Ihnen alles erklären.«

Zu Schwester Penfield sagte er: »Bringen Sie diese Patientin in die Isolierstation. Sie darf mit niemanden in Berührung kommen. Ich werde Dr. Chandler benachrichtigen, und er wird die Anweisungen für ihre Behandlung geben.«

Sanft führte Elaine Penfield die erschrockene Frau fort.

Mrs. Straughan fragte neugierig: »Was geschieht jetzt mit ihr, Dr. O'Donnell?«

»Sie wird gut versorgt werden«, antwortete O'Donnell. »Sie wird isoliert bleiben, und der Internist wird sie eine Zeitlang beobachten. Manchmal kann ein Typhusträger eine Gallenblasenentzündung haben, und in diesem Falle wird sie wahrscheinlich operiert werden.« Er fügte hinzu: »Natürlich erfolgen noch Nachuntersuchungen, auch bei allen anderen, die erkrankt sind. Dafür wird Harvey Chandler sorgen.«

Am Telefon im Büro der Küche sagte Hary Tomaselli einem seiner Untergebenen: »Sie haben richtig verstanden. Sagen Sie alles ab, und machen Sie alles rückgängig: die Verlegungen, die Entlassungen, die nicht sowieso erfolgt wären, die bestellten Mahlzeiten, alles. Und wenn Sie das getan haben, rufen Sie die Aufnahme an.« Der Verwaltungsdirektor lächelte über dem Schreibtisch O'Donnell breit zu. »Geben Sie bekannt, daß das Three Counties Hospital wieder Patienten aufnimmt.«

Tomaselli legte den Hörer zurück und nahm die Tasse Kaffee an, die die Küchenleiterin ihm aus ihrer privaten Kaffeemaschine eingegossen hatte.

»Übrigens, Mrs. Straughan«, sagte er, »ich hatte noch keine Gelegenheit, es Ihnen mitzuteilen, aber Sie bekommen Ihre neuen Geschirrspülmaschinen. Der Ausschuß hat die Ausgabe genehmigt, und der Auftrag ist schon erteilt. Ich nehme an, daß der Einbau nächste Woche erfolgt.«

Die Küchenleiterin nickte. Offensichtlich hatte sie mit dieser Mitteilung gerechnet. Jetzt wendeten sich ihre Gedanken anderen Dingen zu. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen gern zeigen möchte, da Sie gerade hier sind, Mr. T. Ich brauche mehr Kühlraum.« Sie sah den Verwaltungsdirektor streng an. »Ich hoffe, daß diesmal keine Epidemie notwendig ist, um zu beweisen, daß ich recht habe.«

Der Verwaltungsdirektor seufzte und stand auf. Er fragte O'Donnell: »Haben Sie heute auch noch Fragen an mich?«

»Heute nicht mehr«, antwortete O'Donnell, »aber morgen gibt es etwas Wichtiges zu erledigen, das ich selbst in die Hand nehmen werde.«

Er dachte dabei an Eustace Swayne.

XXIV

David Coleman hatte nicht gut geschlafen. Während der Nacht waren seine Gedanken ständig zum Three Counties Hospital, der pathologischen Abteilung und Dr. Joseph Pearson zurückgekehrt.

Nichts in den letzten Tagen hatte auch nur im geringsten Dr. Pearsons Schuld an dem Tod des Babys der Alexanders verringert. Seine Verantwortung war ebenso groß wie vor einer Woche. Coleman hatte auch seine Ansicht nicht revidiert, daß die Pathologie im Three Counties Hospital verlottert, in überholten Konzeptionen festgefahren und durch veraltete Methoden und Geräte, die schon längst hätten ersetzt werden müssen, hinter der Zeit zurückgeblieben sei.

Trotzdem hatte David Coleman in den vergangenen vier Tagen mit Unbehagen bemerkt, wie sich seine Empfindungen gegenüber Pearson veränderten und sein Urteil über ihn milder wurde. Vor einer Woche hatte er in Pearson einen fast senilen, unfähigen Mann gesehen, der sich zu lange an seine Stellung geklammert hatte. Seitdem war nichts Greifbares eingetreten, das diese Überzeugung ändern konnte. Welchen Grund gab es also, daß er jetzt Unbehagen darüber empfand?

Selbstverständlich war es richtig, daß der alte Mann dem Ausbruch des Typhus und den Folgen, die sich daraus ergaben, entschlossen entgegengetreten und die erforderlichen Maßnahmen mit einer Sachkenntnis und Fähigkeit angeordnet hatte, die Coleman selbst vielleicht nicht aufweisen konnte. Aber war das so überraschend? Schließlich fiel Pearsons Erfahrung ins Gewicht, und in Anbetracht der Bedeutung der vorliegenden Situation war es nur verständlich, daß Pearson sich ihr auch gewachsen zeigen wollte.

Aber sein eigenes Gesamtbild von Pearson war jetzt weniger klar, weniger fest. Vor einer Woche hatte er den alten Pathologen - welche Verdienste er sich auch in der Vergangenheit erworben hatte - als intellektuellen >Habenichts< klassifiziert. Jetzt war sich David Coleman seines Urteils nicht mehr sicher. Er fürchtete, daß er sich in Zukunft sehr vieler Dinge nicht mehr sicher sein würde.

Die Schlaflosigkeit hatte ihn früh ins Krankenhaus gebracht, und es war kurz nach acht, als er in die Pathologie eintrat. Roger McNeil, der Assistent, saß an Pearsons Schreibtisch.

»Guten Morgen«, sagte McNeil. »Sie sind der erste. Die anderen schlafen wahrscheinlich noch.«

David Coleman fragte: »Sind wir mit der anderen Arbeit sehr im Rückstand?«

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