Während der letzten Minuten hatte Alexander Coleman genau beobachtet. Vom ersten Augenblick an, als der neue Arzt mit Bannister in das Labor kam, glaubte er ihn irgendwoher zu kennen. Er war jung - wahrscheinlich nicht sehr viel älter ab Alexander. Aber das allein war es nicht. Jetzt sagte Alexander: »Doktor, entschuldigen Sie, daß ich das sage, aber ich habe das Gefühl, als ob wir uns schon einmal begegnet seien.«

»Gut möglich«, antwortete Coleman absichtlich gleichgültig. Er wollte bei dem Laboranten nicht den Eindruck aufkommen lassen, daß zwischen ihnen in irgendeiner Form eine Allianz bestehe, nur weil er den Mann in einer Sache unterstützt hatte. Dann fragte er sich, ob er vielleicht nicht etwas zu schroff gewesen sei und fugte hinzu: »Ich war als Praktikant im Bellevue, anschließend im Walter Reed und im Massachusetts General.«

»Nein.« Alexander schüttelte den Kopf. »Dann muß es früher gewesen sein. Waren Sie einmal in Indiana, in New Richmond?«

»Ja«, antwortete Coleman überrascht, »ich bin dort geboren.«

Alexander strahlte. »Ich hätte mich natürlich an den Namen erinnern müssen. Dann muß Dr. Byron Coleman Ihr Vater gewesen sein.«

»Woher wissen Sie das?« Es war lange her, daß ein anderer als er selbst sich an den Namen seines Vaters erinnert hatte.

»Ich bin auch aus New Richmond«, antwortete Alexander, »und meine Frau auch.«

»Wirklich?« fragte Coleman, »haben wir uns dort gekannt?«

»Ich glaube nicht. Ich erinnere mich aber, Sie ein paarmal gesehen zu haben.« Im gesellschaftlichen Leben New Richmonds hatte John Alexander mehrere Stufen unter den Kreisen des Arztsohnes gestanden. Während ihm das durch den Kopf ging, ertönte ein >Kling< von der der Zentrifuge. Er unterbrach sich, um die geschleuderte Blutprobe herauszunehmen, und fuhr dann fort: »Mein Vater war ein Gemüsefarmer. Wir wohnten ein paar Meilen vor der Stadt. Vielleicht erinnern Sie sich aber an meine Frau, Elizabeth Johnson. Ihre Familie besaß die Eisenwarenhandlung.«

Coleman sagte nachdenklich: »Ja, ich glaube, ich erinnere mich wirklich.« In seinem Gedächtnis regte sich etwas. »War da nicht irgend etwas mit ihr. hatte sie nicht einen Unfall, oder so etwas?«

»Das stimmt«, antwortete John Alexander. »Ihr Vater kam bei einem Autounfall an der Eisenbahnkreuzung ums Leben. Elizabeth saß bei ihm im Wagen.«

»Ich erinnere mich, daß ich davon gehört habe.« David Colemans Gedanken liefen um Jahre zurück - zu dem Sprechzimmer seines Vaters, der als Landarzt so vielen Kranken geholfen hatte, bis seine eigene Gesundheit versagte. »Ich ging damals aufs College, aber mein Vater hat es mir später erzählt.«

»Elizabeth starb beinahe. Aber sie gaben ihr Bluttransfusionen, und sie kam durch. Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich je in einem Krankenhaus war. Ich habe dort fast eine Woche gelebt.« Alexander schwieg. Dann sagte er, immer noch über seine Entdeckung erfreut: »Wenn Sie zufällig mal einen Abend frei haben, Dr. Coleman. Ich bin überzeugt, meine Frau würde sich freuen, Sie zu sehen. Wir haben eine kleine Wohnung.« Er zögerte, weil er die Wahrheit spürte. Obwohl sie beide New Richmond verlassen hatten, lag immer noch eine gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen.

Auch Coleman war sich dessen bewußt. Sein Gehirn funkte eine Warnung: Sei vorsichtig im Umgang mit Untergebenen, selbst bei einem wie diesem hier. Nüchtern überlegte er: Das ist diesmal kein Snobismus, das ist nur eine Frage der Krankenhausdisziplin und des gesunden Menschenverstandes. Laut sagte er: »Ich werde zunächst einmal sehr viel Arbeit haben. Wir wollen es vorläufig lassen und sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«

Ihm selbst klangen seine Worte falsch und hohl.

Er dachte: das hättest du freundlicher sagen können. Im Geist fügte er für sich die Bemerkung hinzu: du hast dich nicht geändert, mein Freund; du hast dich nicht im geringsten geändert.

Einen Augenblick lang wünschte Harry Tomaselli, daß Mrs. Straughan in ihre Küche zurückgehen und dort bleiben würde. Dann nahm er sich zusammen. Eine gute Küchenleiterin war ein kostbares Juwel. Und Mrs. Straughan war gut. Diese Tatsache war dem Verwaltungsdirektor klar bewußt.

Aber es gab Zeiten, zu denen er sich fragte, ob Hilda Straughan an das Three Counties Hospital je als eine Einheit, als ein Ganzes, dachte. Wenn er mit ihr sprach, gewann er meistens den Eindruck, daß die Küche das Herz des Krankenhauses bildete, um das die anderen, weniger wichtigen Organe sich herumgruppierten. Er berücksichtigte allerdings auch - Harry Tomaselli war in erster Linie ein gerecht denkender Mann -, daß man diese Haltung häufig bei Leuten findet, die ihre Aufgabe ernst nehmen. Und wenn das ein Mangel war, dann zog er ihn zweifellos der Trägheit und der Gleichgültigkeit vor. Ein anderer Punkt: ein guter Abteilungsleiter war immer bereit, für etwas, an das er glaubte, zu kämpfen und sich dafür einzusetzen, und Mrs. Straughan kämpfte und setzte sich mit jedem Kubikzentimeter ihrer fülligen Person für ihre Sache ein.

In diesem Augenblick füllte ihre umfangreiche Gestalt einen Sessel im Büro des Verwaltungsdirektors mehr als aus. Sie kämpfte verbissen. »Ich frage mich, ob Ihnen klar ist, Mr. T., wie ernst der Fall ist.« Mrs. Straughan verwendete stets den Anfangsbuchstaben des Familiennamens, wenn sie Leute ansprach, die sie kannte. Sie hatte auch die Gewohnheit, ihren eigenen Mann als >Mr. S.< zu bezeichnen.

»Ich glaube schon«, erwiderte Harry Tomaselli.

»Die Geschirrspülmaschinen, die ich habe, sind mindestens schon seit fünf Jahren veraltet. In jedem Jahr, das ich jetzt hier bin, wurde mir versichert: Im nächsten Jahr bekommen Sie neue. Und als das nächste Jahr kam, wo blieben meine Geschirrspülmaschinen? Sie wurden einfach um weitere zwölf Monate aufgeschoben. Das geht nicht, Mr. T., das geht einfach nicht.«

Mrs. Straughan verwendete immer das besitzanzeigende Fürwort >mein<, wenn sie sich auf Dinge bezog, die ihr unterstellt waren. Tomaselli hatte dagegen nichts einzuwenden. Wogegen er allerdings etwas einzuwenden hatte, das war Hilda Straughans mangelhafte Bereitschaft, auch anderer Leute Probleme zu berücksichtigen. Er fand sich damit ab, noch einmal das anzuführen, was er ihr erst vor ein oder zwei Wochen auseinandergesetzt hatte.

»Es steht außer Frage, Mrs. Straughan, daß die Geschirrspüler eines Tages erneuert werden. Mir ist das Problem, vor dem Sie in der Küche stehen, geläufig. Aber es handelt sich dabei um große, teure Maschinen. Erinnern Sie sich doch, nach der letzten Schätzung beliefen sich die Kosten allein für den Umbau der Heißwasseranlage auf knapp elftausend Dollars.«

Mrs. Straughan beugte sich über den Schreibtisch. Mit ihren gewaltigen Brüsten schob sie einen Ablegekorb beiseite. »Und je länger Sie warten, um so teurer wird es werden.«

»Das ist mir zu meinem Bedauern nur zu gut bekannt.« Die steigenden Kosten für alles, was das Krankenhaus brauchte, gehörten zu Tomasellis täglichem Brot. Er fügte hinzu: »Aber gerade in diesem Augenblick sind die Mittel des Krankenhauses für große Anschaffungen sehr begrenzt. Das hängt zum Teil natürlich mit dem geplanten Erweiterungsbau zusammen. Es ist einfach eine Frage der Zuteilung von Prioritäten, und manchen medizinischen Anlagen muß einfach der Vorrang eingeräumt werden.«

»Was nützen Ihnen medizinische Anlagen, wenn die Patienten keine sauberen Teller bekommen, von denen sie essen können.«

»Mrs. Straughan«, antwortete er fest, »ganz so schlimm ist die Lage nicht, und das wissen wir beide genau.«

»Es ist aber nicht sehr weit davon entfernt.« Die Küchenleiterin beugte sich vor, und der Aktenkorb erhielt einen weiteren Stoß. Harry Tomaselli wünschte im stillen, sie würde ihren Busen von seinem Schreibtisch nehmen. Sie fuhr fort: »In der letzten Zeit kamen verschiedentlich ganze Stöße von Tellern schmutzig aus meinen Maschinen heraus. Wir versuchen es zu kontrollieren, so gut wir können, aber wenn großer Andrang beim Essen herrscht, ist das einfach nicht immer möglich.«

»Ja«, antwortete er, »das glaube ich gern.«

»Was mich beunruhigt, ist die Gefahr einer Infektion, Mr. T. Unter unseren Angestellten sind in letzter Zeit viele Fälle von Darmgrippe aufgetreten, und natürlich gibt jeder dann der Küche die Schuld. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn da die Ursache läge.«

»Um das sicher zu wissen, brauchen wir erheblich mehr Beweise.« Harry Tomasellis Geduld begann sich zu erschöpfen. Mrs. Straughan war an einem ungewöhnlich arbeitsreichen Morgen zu ihm gekommen. Für den Nachmittag war eine Sitzung des Krankenhausausschusses angesetzt, und im Augenblick hatte er gerade mehrere dringliche Fragen vorliegen, die vorher geklärt werden mußten. In der Hoffnung, damit das Gespräch zu beenden, fragte er: »Wann hat die Pathologie die Geschirrspüler zum letztenmal auf Bakterien untersucht?«

Hilda Straughan überlegte: »Ich kann nachsehen, aber ich glaube, es ist etwa sechs Monate her.«

»Dann wäre es gut, wenn es wieder geschähe. Wir wissen dann, woran wir sind.«

»Also gut, Mr. T.« Mrs. Straughan fand sich damit ab, daß sie heute nicht mehr erreichen konnte. »Soll ich mit Dr. Pearson sprechen?«

»Nein, ich werde es tun.« Der Verwaltungsdirektor machte eine Notiz. Wenigstens, dachte er, kann ich Joe Pearson dadurch eine ähnliche zeitraubende Unterhaltung sparen.

»Danke, Mr. T.« Die Küchenleiterin stemmte sich aus dem Sessel hoch. Er wartete, bis sie aus dem Zimmer war, und schob dann sorgfältig den Aktenkorb an seinen ursprünglichen Platz zurück.

David Coleman kam vom Essen in der Kantine in die Pathologie zurück. Auf seinem Weg durch die Gänge und über die Treppe in das Souterrain dachte er über die Zeit nach, die er bisher mit Dr. Pearson verbracht hatte. Er kam zu dem Ergebnis, daß sie bis zu diesem Augenblick unbefriedigend und ergebnislos verstrichen war.

Pearson hatte sich zwar höflich gezeigt, wenn auch nicht von Anfang an, so doch später. Als er Coleman in seinem Zimmer auf ihn wartend vorfand, war seine erste Bemerkung gewesen: »Sie haben es also ernst gemeint, als Sie schrieben, Sie wollten sofort anfangen.«

»Es schien mir nicht viel Sinn zu haben, länger zu warten«, antwortete Coleman und fügte hinzu: »Ich habe mich inzwischen in den Labors umgesehen. Hoffentlich hatten Sie nichts dagegen.«

»Das ist Ihr gutes Recht.« Pearsons Antwort kam halb knurrend, als ob es sich um eine Invasion handele, die ihm zwar nicht gefiel, mit der er sich aber abfinden mußte. Dann, als ob er seine Unfreundlichkeit erkenne, sagte er: »Nun, ich muß Sie wohl wenigstens willkommen heißen.«

Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, fügte der alte Mann hinzu: »Als erstes muß ich jetzt einen Teil von dem hier aufarbeiten.« Er deutete auf einen unordentlichen Stapel von Behältern mit Objektträgern, Aktendeckeln und einzelnen Papieren auf seinem Schreibtisch. »Vielleicht können wir uns anschließend über Ihre Arbeit hier unterhalten.«

Coleman hatte dagesessen, ohne daß er etwas anderes zu tun hatte, als eine medizinische Zeitschrift zu lesen, während Pearson sich durch einen Teil der Papiere wühlte. Dann kam ein Mädchen zum Diktat, und anschließend begleitete er Pearson zu einem Kolloquium im Nebenzimmer des Obduktionsraumes. Als er Pearson und den beiden Assistenten - McNeil und Seddons - an dem Sektionstisch gegenübersaß, kam er sich weitgehend wie ein jüngerer Assistent vor. Er konnte zu dem Kolloquium fast nichts beitragen. Pearson führte das Kolloquium durch, als ob Coleman lediglich ein Zuschauer sei, und der alte Mann erkannte auch mit keiner Andeutung Colemans Stellung als neuer stellvertretender Leiter der gesamten Abteilung an.

Später gingen er und Pearson gemeinsam zum Essen, und im Verlauf der Mahlzeit stellte Pearson ihn ein paar Mitgliedern des Ärztestabes vor. Dann entschuldigte sich der alte Pathologe mit der Bemerkung, er habe eine dringende Arbeit zu erledigen, und verließ den Tisch. Jetzt kehrte Coleman allein in die Pathologie zurück und erwog in Gedanken das Problem, das vor ihm zu stehen schien.

Natürlich hatte er bei Dr. Pearson einen gewissen Widerstand erwartet. Aus den verschiedensten fragmentarischen Informationen hatte er sich zusammengereimt, daß Pearson keinen zweiten Pathologen wünschte, aber auf diese Behandlung war er nicht gefaßt gewesen. Als das mindeste hatte er vorausgesetzt, daß bei seiner Ankunft ein Arbeitszimmer für ihn bereitstand und sein Aufgabengebiet klar umrissen war. Gewiß, er hatte nicht erwartet, daß ihm sofort eine große und wichtige Verantwortung übertragen würde. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, daß der alte Pathologe ihn eine Zeitlang kontrollierte. Er selbst hätte an Pearsons Stelle einem Neuling gegenüber die gleiche Vorsichtsmaßnahme ergriffen. Aber darüber ging die Situation, wie die Dinge lagen, weit hinaus. Dem Anschein nach hatte sich trotz Colemans Brief niemand mit der Frage abgegeben, worin seine Pflichten bestehen sollten. Anscheinend herrschte die Vorstellung, daß er herumsitzen solle, bis seine Post und seine anderen Pflichten Dr. Pearson genügend Zeit ließen, um ihm ein paar Aufgaben zu übertragen. Nun, in diesem Falle mußten einige Vorstellungen korrigiert werden - und das bald.

David Coleman kannte die Schwächen seines eigenen Charakters seit langem. Aber ebenso war er sich seiner Qualitäten bewußt; die wichtigsten darunter waren seine Kenntnisse und seine Fähigkeiten als Arzt und Pathologe. Kent O'Donnell hatte nur eine Tatsache festgestellt, als er Coleman als hochqualifiziert bezeichnete. Trotz seiner Jugend verfügte er bereits über ein Können und einen Schatz an Erfahrungen, denen viele praktizierende Pathologen kaum Gleichwertiges gegenüberzustellen vermochten. Gewiß bestand für ihn kein Grund, vor Dr. Joseph Pearson in Ehrfurcht zu erstarren, und wenn er auch gewillt war, das Alter und die vorgesetzte Stellung des alten Pathologen zu respektieren, hatte er andererseits aber nicht die Absicht, sich als unerfahrener Grünschnabel behandeln zu lassen.

Er besaß noch eine andere Stärke: ein Gefühl, das alle anderen Überlegungen, ob es nun den Charakter, den Versuch zur Duldsamkeit oder irgend etwas anderes betraf, beiseite schob. Das war seine Entschlossenheit, Medizin kompromißlos, sauber, ehrlich zu praktizieren - und sogar exakt, soweit Exaktheit auf medizinischem Gebiet möglich war. Für jeden, der sich mit weniger begnügte - und selbst in den kurzen Jahren seiner eigenen Erfahrungen hatte er derartige Leute getroffen und kennengelernt: die Kompromißler, die Politiker, die Trägen, die um jeden Preis Ehrgeizigen -, empfand David Coleman nur Zorn und Abscheu.

Wenn man ihn gefragt hätte, woher dieses Gefühl stammte, wäre ihm die Antwort schwergefallen. Keinesfalls war er sentimental, noch hatte er sich der Medizin zugewandt, weil er offensichtlich von dem Wunsch getrieben wurde, der Menschheit zu helfen. Der Einfluß seines Vaters mochte eine gewisse Rolle spielen, aber, wie David Coleman vermutete, keine allzu große. Sein Vater, das war ihm jetzt bewußt, war innerhalb der Grenzen eines praktischen Arztes ein durchschnittlich guter Arzt gewesen, aber im Wesen der beiden bestand ein auffallender Unterschied. Der ältere Coleman war eine warme, aufgeschlossene Persönlichkeit gewesen, die viele Freunde besessen hatte. Der Sohn war kühl, schwer zugänglich, häufig zurückhaltend. Der Vater hatte mit seinen Patienten gescherzt und ihnen mühelos sein Bestes gegeben. Der Sohn hatte als Praktikant, ehe die Pathologie ihn von den Patienten absonderte, nie mit ihnen gescherzt, sondern ihnen gewissenhaft, exakt und überlegen etwas mehr gegeben, als viele andere als ihr Bestes zu geben hatten. Und wenn sich als Pathologe sein Verhältnis zu den Patienten auch verändert hatte, seine Einstellung war die gleiche geblieben.

Manchmal empfand David Coleman in Augenblicken ehrlicher Selbstprüfung den Verdacht, seine Einstellung wäre nicht anders, wenn er statt der Medizin irgendeinen anderen Beruf ergriffen hätte. Im Grunde genommen vermutete er, werde sie durch seine Genauigkeit in Verbindung mit seiner Unduldsamkeit gegenüber Fehlern oder Versagern bestimmt -durch das Gefühl, daß die Person oder die Sache, der immer man dienen wolle, berechtigt sei, das Äußerste zu verlangen, das man geben konnte. In gewisser Weise widersprachen sich diese Gefühle vielleicht. Wahrscheinlich war er von einem Studienkameraden treffend charakterisiert worden, der einmal einen angeheiterten Trinkspruch ausbrachte: »Auf David Coleman - den Burschen mit dem antiseptischen Herz.«

Während er jetzt durch den Gang im Souterrain ging, kehrten seine Gedanken zur Gegenwart zurück, und sein Instinkt warnte ihn, daß ein Zusammenstoß nahe bevorstand.

Er trat in das Arbeitszimmer der Pathologie und fand Pearson über ein Mikroskop gebeugt, vor sich einen geöffneten Behälter mit Objektträgern. »Kommen Sie, und sehen Sie sich das an. Was halten Sie davon?« Er machte vor dem Mikroskop Platz und winkte Coleman heran.

»Was ist das für ein Fall?« Coleman schob den ersten Objektträger unter die Halteklammer und stellte das Okular ein.

»Eine Patientin Lucy Graingers. Lucy ist Chirurgin bei uns. Sie werden sie noch kennenlernen.« Pearson blickte in seine Notizen. »Der Fall betrifft ein neunzehnjähriges Mädchen, Vivian Loburton, eine unserer Lernschwestern. Sie hat eine Schwellung unter dem linken Knie, anhaltende Schmerzen. Die Röntgenuntersuchung ergab eine Mißbildung am Knochen. Die Schnitte stammen von der Probeexcision.«

Es waren acht Schnitte, und Coleman studierte sie nacheinander. Er wußte sofort, warum Pearson nach seiner Meinung fragte. Das war ein Grenzfall, so schwierig wie er nur sein konnte. Schließlich sagte er: »Meiner Meinung nach gutartig.«

»Ich halte es für bösartig«, entgegnete Pearson ruhig. »Für ein Osteosarkom.«

Wortlos nahm Coleman noch einmal den ersten Schnitt vor. Geduldig und sorgfältig untersuchte er ihn wieder, wiederholte das gleiche mit den sieben anderen. Bei seiner ersten Untersuchung hatte er die Möglichkeit eines Osteosarkoms erwogen. Jetzt tat er es wieder. Während er die rot und blau eingefärbten, durchscheinenden Schnitte studierte, die dem ausgebildeten Pathologen so vieles verrieten, prüfte er in Gedanken noch einmal die Für und Wider. Alle Schnitte zeigten umfangreiche Bildung von neuem Knochengewebe -osteoblastisches Wachstum mit Knorpeleinsprengseln dazwischen. Eine Verletzung mußte in Betracht gezogen werden.

Hatte die Verletzung einen Bruch verursacht? War die neue Knochenbildung das Ergebnis der Regeneration - des Versuchs des Körpers, sie zu heilen? Wenn ja, war das Wachstum zweifellos gutartig. Bestanden Anzeichen für eine Knochenmarkentzündung? Unter dem Mikroskop konnten sie leicht mit dem gefährlichen Osteosarkom verwechselt werden. Aber nein, es waren keine polymorphokernigen Leukozyten in der charakteristischen Weise in dem Mark zwischen den Knochenfasern vorhanden. Es lagen keine vordringenden Blutgefäße vor. Folglich hing die Entscheidung von der grundsätzlichen Untersuchung der Osteoblasten, der Knochenbildungszellen, ab. Das war die ewige Frage, vor der alle Pathologen standen. Stellte die Wucherung an einer Verletzung einen natürlichen Heilungsprozeß dar, um eine Lücke in der Abwehr des Körpers auszufüllen? Oder wucherte die Verletzung, weil ein Neoplasma vorhanden war, und war sie folglich bösartig? Bösartig oder gutartig? Man konnte sich so leicht irren, und alles, was man tun konnte, war, sich darauf zu beschränken, die vorliegenden Erscheinungen gegeneinander abzuwägen und dementsprechend zu urteilen.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht zustimmen«, sagte er höflich zu Pearson. »Ich möchte immer noch sagen, daß dieses Gewebe gutartig ist.«

Der alte Pathologe stand schweigend und nachdenklich da, offensichtlich wog er seine Ansicht gegen die des jüngeren Mannes ab. Nach einem Augenblick sagte er: »Sie werden aber wohl zugeben, daß man in diesem Fall zweifeln kann, in der einen, wie in der anderen Richtung.«

»Ja, das ist richtig.« Coleman wußte, daß es in Situationen, wie der vorliegenden, Anlaß zu Zweifeln gibt. Die Pathologie war keine exakte Wissenschaft. Sie kannte keine mathematischen Formeln, durch die man beweisen konnte, daß eine Ansicht falsch oder richtig war. Manchmal konnte man sein Urteil nur auf eine wohlerwogene Schätzung stützen. Man konnte es kluges Raten nennen. Er verstand Pearsons Zögern. Auf dem alten Mann lag die Verantwortung für die endgültige Entscheidung. Aber Entscheidungen dieser Art gehörten zur Arbeit des Pathologen. Vor ihnen gab es kein Ausweichen. Man mußte sie auf sich nehmen. Nach einer Pause fügte Coleman hinzu: »Falls Sie recht haben und es tatsächlich Knochenkrebs ist, bedeutet das natürlich Amputation.«

»Das weiß ich.« Die Worte kamen heftig, aber ohne Feindschaft. Coleman erkannte: Wie vernachlässigt die Abteilung in anderer Hinsicht auch sein mochte, Pearson war ein zu erfahrener Pathologe, um eine ehrliche abweichende Meinung zu verübeln. Außerdem wußten sie beide, wie trügerisch die Voraussetzungen bei jeder Diagnose waren. Jetzt ging Pearson durch das Zimmer. Als er sich umdrehte, sagte er grimmig: »Diese verfluchten Grenzfälle. Ich hasse sie. Immer wieder, wenn ich darauf stoße. Man muß eine Entscheidung treffen und weiß genau, daß sie falsch sein kann.«

Ruhig antwortete Coleman: »Gilt das nicht für einen großen Teil der Pathologie?«

»Aber wer weiß das sonst? Das ist doch der springende Punkt.« Pearsons Erwiderung war laut, fast leidenschaftlich, als ob der Jüngere eine empfindliche Stelle getroffen habe. »Die Öffentlichkeit weiß nichts - nichts ist gewisser als das. Sie sieht den Pathologen nur im Kino oder im Fernsehen, einen Wissenschaftler im weißen Mantel, der vor ein Mikroskop tritt, kurz hineinblickt und dann verkündet: >gutartig< oder >bösartig<. Das ist alles. Die Leute glauben, wenn man da hineinsieht« - er deutete auf das Mikroskop, mit dem sie untersuchten -, »hätte man auch ein Schema, das alles klar und übersichtlich einteilt wie bei einer Ziegelmauer. Aber sie haben keine Ahnung, daß es Fälle gibt, bei denen wir nicht im entferntesten sicher sein können.«

David Coleman hatte oft das gleiche gedacht, wenn er es auch nicht so eindeutig formuliert hatte. Ihm kam der Gedanke, daß dieser Ausbruch vielleicht durch etwas verursacht wurde, was der alte Mann schon lange in sich herumtrug. Schließlich war das eine Überlegung, die nur ein Pathologe wirklich verstehen konnte. Behutsam warf er dazwischen: »Sind Sie nicht der Meinung, daß wir meistens richtig urteilen?«

»Gewiß, das stimmt schon.« Pearson ging im Zimmer umher, während er sprach. Jetzt standen sie dicht beieinander. »Aber wie ist es mit den Fällen, bei denen wir uns irren? Was ist mit diesem Fall hier, wie? Wenn ich erkläre: bösartig, wird Lucy Grainger amputieren. Ihr bleibt gar keine andere Wahl. Und wenn ich mich irre, verliert ein neunzehnjähriges Mädchen umsonst ein Bein. Und andererseits: wenn es bösartig ist und keine Amputation vorgenommen wird, stirbt sie wahrscheinlich innerhalb von zwei Jahren.« Er schwieg. Nach einer Pause fügte er bitter hinzu: »Vielleicht stirbt sie auch so. Eine Amputation bedeutet nicht immer die Rettung.«

Damit offenbarte Pearson eine Seite seiner Persönlichkeit, die Coleman nicht bei ihm vermutet hatte: eine tiefe innere Anteilnahme an dem einzelnen Patienten. Selbstverständlich ließ sich dagegen nichts einwenden. Für den Pathologen war es gut, wenn er sich daran erinnerte, daß er es in vielen Fällen nicht lediglich mit Gewebestückchen zu tun hatte, sondern mit lebenden Menschen, deren Geschick er durch seine Entscheidung im Guten oder im Bösen beeinflußte. Wenn man diese Tatsache nicht vergaß, blieb man wachsam und gewissenhaft. Das heißt, solange man sorgfältig darauf achtete, daß man sein wissenschaftliches Urteil nicht durch seine Gefühle beeinflussen ließ. Coleman hatte schon einige der Zweifel, die Pearson aussprach, selbst erfahren mü ssen, obwohl er viel jünger war. Seinem Wesen gemäß, behielt er sie für sich selbst. Das besagte aber nicht, daß sie ihn weniger bedrückten. In dem Versuch, dem alten Mann bei seinen Überlegungen zu helfen, sagte er: »Wenn es bösartig ist, darf keine Zeit verloren werden.«

»Ich weiß.« Pearson dachte wieder angestrengt nach.

»Darf ich vorschlagen, daß wir uns einige frühere Fälle ansehen«, sagte Coleman. »Fälle mit den gleichen Symptomen?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das dauert zu lange.«

Taktvoll drängte Coleman: »Aber wenn wir das Krankheitsregister durchgehen.?« Er schwieg.

»Wir haben keins.« Das wurde leise gesagt, und zunächst fragte sich Coleman, ob er richtig gehört habe. Dann fuhr Pearson fort, fast als habe er Colemans ungläubige Überraschung erwartet: »Ich habe schon lange die Absicht, eins einzurichten... bin einfach nicht dazu gekommen.«

Coleman glaubte kaum, was er hörte. »Heißt das. wir können keine früheren Fälle studieren?«

»Es würde eine Woche dauern, bis wir sie gefunden haben.«

Pearsons Verlegenheit war nicht mehr zu verkennen. »Diese Fälle sind nicht sehr häufig, und wir haben nicht genug Zeit, danach zu suchen.«

Nichts, was Pearson sagen konnte, hätte David Coleman so schockiert wie das. Für ihn und für alle Pathologen, bei denen er gelernt und mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte, war das Krankheitsregister ein wichtiges Arbeitsmittel. Es war die Quelle für Hinweise, ein Lehrmittel, die Ergänzung des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung für den Pathologen, ein Detektiv, der Hinweise sammelt und Lösungen anbot, eine Rückversicherung, eine Stütze in Augenblicken des Zweifels.

Das alles bot es und mehr. Es war ein Zeichen für die Leistungen einer pathologischen Abteilung, dafür, daß sie nicht nur in den Tag hineinlebte, sondern auch Wissen für die Zukunft aufbewahrte. Es war die Garantie, daß die Patienten des Krankenhauses von morgen in den Genuß dessen kamen, was man heute lernte. Die pathologischen Abteilungen neuer Krankenhäuser betrachteten die Einrichtung eines Krankheitsregisters als eine primäre Aufgabe. In alten, lange bestehenden Instituten unterschieden sich die Register ihrer Art nach. Manche waren schlicht und einfach, andere umständlich und komplex, lieferten Daten für die Forschung und die Statistik neben den Informationen für die tägliche Arbeit. Aber einfach oder umständlich, eines hatten alle gemeinsam: ihren Nutzen für den Vergleich eines vorliegenden Falles mit gleichartigen früheren. David Coleman konnte das Fehlen des Fallregisters im Three Counties Hospital nur mit einem einzigen Wort bezeichnen: Verbrecherisch!

Bis zu diesem Augenblick hatte er trotz des vorherrschenden Eindrucks, daß die pathologische Abteilung des Three Counties Hospitals dringend einer Neuorganisation bedurfte, versucht, sich von jedem persönlichen Urteil über Dr. Joseph Pearson zurückzuhalten. Schließlich hatte der alte Mann lange allein gearbeitet, und der Arbeitsanfall in einem Krankenhaus dieser Größe konnte für einen einzelnen Pathologen nicht leicht zu bewältigen gewesen sein. Diese Belastung konnte die unzulänglichen Verfahren erklären, die Coleman in den Labors bereits entdeckt hatte, und wenn diese Mängel auch nicht entschuldbar waren, wurden sie dadurch doch wenigstens verständlich.

Es war auch möglich, daß Pearson in anderer Hinsicht Format besaß. Nach David Colemans Ansicht gingen im allgemeinen ein hoher medizinischer Standard mit einer guten Verwaltung Hand in Hand. Aber von den beiden war die Medizin - in diesem Fall die Pathologie - wichtiger. Er wußte, daß es viele weißschimmernde Abteilungen gab, die glänzendem Chrom und einer tüchtigen Verwaltung die erste Stelle einräumten und der Medizin erst in weitem Abstand die zweite. Er hatte es für möglich gehalten, daß es hier umgekehrt war - eine schlechte Verwaltung, aber gute Medizin. Das war der Grund gewesen, warum er seine natürliche Neigung unterdrückte, den alten Pathologen auf Grund dessen zu beurteilen, was er bisher gesehen hatte. Aber jetzt fand er es unmöglich, sich länger Illusionen hinzugeben. Dr. Joseph Pearson war nachlässig und unfähig.

Coleman versuchte, die Verachtung in seiner Stimme zu verbergen, und fragte: »Was beabsichtigen Sie zu tun?«

»Ich kann nur eines tun.«

Pearson war an seinen Schreibtisch zurückgegangen und hatte das Telefon abgehoben. Er drückte auf einen Knopf. Nach einer Pause sagte er: »Bannister soll kommen.«

Er legte den Hörer zurück und wandte sich an Coleman: »Es gibt zwei Männer, die Experten auf diesem Gebiet sind. Chollingham in Boston und Earnhart in New York.«

Coleman nickte. »Ja, ich habe von ihnen gehört.«

Bannister trat ein. »Sie haben mich gewünscht?« Er sah auf Coleman und ignorierte ihn dann betont.

»Nehmen Sie diese Schnitte.« Pearson schloß den Behälter und schob ihn über den Schreibtisch. »Schicken Sie heute abend noch zwei Sätze fort, mit Luftpost Eilboten und einem Schild >Dringend< darauf. Der eine Satz geht an Dr. Chollingham in Boston, der andere an Dr. Earnhart in New York. Lassen Sie die üblichen Begleitbriefe schreiben. Fügen Sie Abschriften der Krankengeschichte bei und bitten Sie beide, ihren Befund telegrafisch zu übermitteln.«

»Jawohl.« Den Behälter mit den Objektträgern unter dem Arm ging Bannister hinaus.

Wenigstens hier hat der Alte schnell und richtig gehandelt, dachte Coleman. Krankheitsregister oder nicht, die Ansicht von zwei Experten über diesen Fall einzuholen, war ein guter Gedanke.

Pearson sagte: »In zwei bis drei Tagen müßten wir Antwort haben. Inzwischen muß ich wohl mit Lucy Grainger reden.« Er überlegte. »Ich werde ihr nicht zuviel sagen, nur, daß geringe Zweifel vorhanden sind und wir« - er warf Coleman einen scharfen Blick zu - »eine Bestätigung von anderer Seite einholen.«

XIII

Vivian verhielt sich völlig still - war verwirrt, verständnislos. Das durfte ihr doch nicht geschehen. Es mußte jemand anders sein, von dem Dr. Grainger da sprach. Ihre Gedanken überstürzten sich. Ja, das war es! Irgendwie mußten die Krankenblätter von zwei Patienten verwechselt worden sein. Das war in Krankenhäusern schon vorgekommen. Dr. Grainger hatte sehr viel zu tun. Sie konnte leicht etwas verwechseln. Vielleicht wurde jetzt einem anderen Patienten gesagt, daß...

Unvermittelt brach sie diesen Gedankengang ab, hielt bewußt inne, versuchte, sich klarzuwerden. Es war keine Verwechslung. Sie wußte es. Klar und eindeutig erkannte sie es am Gesichtsausdruck von Dr. Grainger und von Mike Seddons, die Vivian jetzt von beiden Seiten ihres Krankenhausbettes beobachteten, in dem sie durch Kissen im Rücken gestützt halb lag, halb saß.

Sie wandte sich an Lucy Grainger. »Wann werden Sie es. endgültig wissen?«

»In zwei Tagen. Dr. Pearson wird uns benachrichtigen, sobald das Ergebnis vorliegt.«

»Und er weiß nicht...«

»Im Augenblick weiß er es nicht«, antwortete Lucy. »Er weiß es noch nicht mit Gewißheit.«

»Oh, Mike.« Sie griff nach seiner Hand.

Er hielt sie zärtlich. Dann sagte sie: »Entschuldigung. aber ich glaube. ich muß weinen.«

Während Seddons seinen Arm um Vivian legte, stand Lucy von ihrem Stuhl auf. »Ich komme später wieder.« Sie fragte Seddons: »Bleiben Sie noch?«

»Ja.«

Lucy sagte: »Machen Sie Vivian ganz klar, daß noch nichts Endgültiges entschieden ist. Ich wollte nur, daß sie darauf vorbereitet ist. für den Fall.«

Er nickte langsam mit seinem wirren, roten Haarschopf. »Ich verstehe.«

Als Lucy in den Gang hinaustrat, dachte sie: ja, davon bin ich überzeugt.

Gestern nachmittag, als Joe Pearson sie telefonisch benachrichtigte, konnte Lucy sich nicht entschließen, ob sie Vivian sofort darüber unterrichten solle, welche Möglichkeit bestand, oder ob sie damit bis später warten solle. Wenn sie wartete, und der pathologische Befund über die Probe lautete: >gutartig<, war alles in Ordnung, und Vivian würde nie von dem drohenden Schatten erfahren, der eine Zeitlang über ihr gelegen hatte. Aber auf der anderen Seite, wenn in zwei Tagen der pathologische Befund >bösartig< hieß, war die sofortige Amputation lebenswichtig. Konnte Vivian dann noch rechtzeitig darauf vorbereitet werden oder würde der psychologische Schock zu groß sein? Dieser Schock konnte auf das junge Mädchen, das nicht damit rechnete, daß ihr irgend etwas Ernsthaftes fehle, ungeheuer wirken, wenn er es plötzlich und unvorbereitet traf. Es konnte Tage dauern, ehe Vivian seelisch auf die große Operation vorbereitet war - Tage, die zu verlieren sie nicht riskieren durfte.

Lucy berücksichtigte dabei noch eine weitere Überlegung. Die Tatsache, daß Joe Pearson ein Gutachten von dritter Seite einholte, war an sich schon bezeichnend. Wenn es sich um eine eindeutig gutartige Geschwulst handelte, hätte er das gleich gesagt. Die Tatsache, daß er es nicht tat, trotz seiner Ablehnung, sich in der einen oder der anderen Richtung festzulegen, als er mit ihr sprach, bedeutete, daß zumindest starke Anhaltspunkte für die Bösartigkeit vorlagen.

Nach Berücksichtigung all dieser Argumente entschloß Lucy sich, Vivian gleich über die Situation zu unterrichten. Wenn das Urteil später auf gutartig lautete, hatte sie zwar unnötigerweise Ängste ausgestanden - das war richtig -, das war aber immer noch besser als ein plötzlicher, vernichtender Schlag, der sie völlig unvorbereitet traf.

Dieses unmittelbare Problem wurde auch durch das Auftreten von Dr. Seddons vereinfacht. Der junge Praktikant war am vergangenen Abend zu Lucy gekommen und hatte ihr von seinem und Vivians Plan, zu heiraten, erzählt. Er hatte zugegeben, daß es zunächst seine Absicht gewesen war, im Hintergrund zu bleiben, daß er es sich jetzt aber überlegt habe. Lucy war froh darüber. Das bedeutete wenigstens, daß Vivian nicht ganz für sich allein stand und jemand hatte, bei dem sie Trost und Unterstützung finden konnte.

Zweifellos würde das Mädchen beides in hohem Maß nötig haben. Lucy hatte ihr so behutsam, wie sie konnte, den Verdacht auf Knochenkrebs mit all seinen tragischen Konsequenzen mitgeteilt. Aber wie behutsam man seine Worte auch wählte, tatsächlich bestand keine Möglichkeit, den Schlag wirklich zu mildern. Nun überlegte Lucy den nächsten Schritt, den sie unternehmen mußte: die Eltern des Mädchens unterrichten. Sie sah auf den Zettel in ihrer Hand mit einer Adresse in Salem, Oregon, die sie von Vivians Krankenkarte als die der nächsten Angehörigen abgeschrieben hatte. Sie hatte schon Vivians Zustimmung, ihre Eltern zu benachrichtigen. Jetzt stand Lucy vor der schweren Aufgabe, ihnen die Nachricht durch ein Ferngespräch so schonend wie möglich zu übermitteln.

Sie überlegte sich, welche Schwierigkeiten sich noch ergeben konnten. Vivian war minderjährig. Nach den Gesetzen war für eine Amputation die Zustimmung der Eltern erforderlich. Wenn die Eltern beabsichtigten, sofort mit dem Flugzeug nach Burlington zu kommen, konnte sie die schriftliche Genehmigung bei ihrer Ankunft erhalten. Wenn nicht, mußten sie überredet werden, ihre Einwilligung telegrafisch zu erteilen und Lucy das Recht einräumen, notfalls davon Gebrauch zu machen.

Sie sah auf ihre Uhr. Ihr ganzer Vormittag war mit Terminen in ihrer Sprechstunde in der Stadt ausgefüllt. Vielleicht war es das beste, gleich zu telefonieren, ehe sie das Krankenhaus verließ. Im zweiten Stock betrat sie das kleine Arbeitszimmer, das sie mit Gil Bartlett teilte. Es war kaum mehr als eine Kammer - so klein, daß sie es selten gleichzeitig benutzten. Im Augenblick war es reichlich besetzt - von Bartlett und Kent O'Donnell. Als O'Donnell sie sah, sagte er: »Verzeihen Sie, Lucy, ich gehe sofort. Für drei Personen ist dieses Zimmer nicht gebaut worden.«

»Das ist nicht nötig.« Sie drückte sich an den beiden Männern vorbei und setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch. »Ich muß nur schnell ein oder zwei Dinge erledigen. Dann gehe ich sofort wieder.«

»Ich rate Ihnen, zu bleiben.« Gil Bartletts Bart vollführte das übliche hüpfende Auf und Ab. Sein Ton war scherzhaft. »Kent und ich sind heute morgen außergewöhnlich tiefsinnig. Wir diskutieren gerade über die Zukunft der Chirurgie.«

»Es gibt Leute, die behaupten, daß sie keine Zukunft hat.« Lucy paßte ihren Ton dem Bartletts an. Sie hatte ihre Schreibtischschublade geöffnet und suchte nach klinischen Unterlagen, die sie für eine Untersuchung in der Stadt brauchte. »Es wird behauptet, daß alle Chirurgen aussterben werden, daß sie in ein paar Jahren so veraltet sind wie Wudu-Zauberer oder Medizinmänner.«

Bartlett bereitete nichts größeres Vergnügen als Gespräche dieser Art. »Und wer, wenn ich fragen darf, soll unsere blutrünstige Knochenschlosserei übernehmen?«

»Die ist dann überflüssig.« Lucy hatte die Aufzeichnungen gefunden und griff nach ihrer Aktentasche. »Alles wird durch Diagnose ersetzt. Die Medizin wird die Kräfte der Natur gegen die Mißfunktionen der Natur einsetzen. Man wird beweisen, daß unsere psychische Gesundheit die Wurzel aller organischen Erkrankungen bildet. Krebs wird durch die Psychiatrie und Gicht durch angewendete Psychologie verhindert. «Sie schloß den Reißverschluß ihrer Aktentasche und fügte in leichterem Ton hinzu: »Wie Sie wohl erraten haben, zitiere ich.«

»Ich kann das kaum erwarten.« Kent O'Donnell lächelte. Wie immer freute er sich über Lucys Nähe. War es töricht oder gar lächerlich von ihm, daß er sich davor scheute, ihr Verhältnis enger und vertrauter werden zu lassen? Was fürchtete er eigentlich? Vielleicht sollten sie noch einen Abend gemeinsam verbringen und dann die Ereignisse ihren Lauf nehmen lassen. Aber hier und jetzt, in Gil Bartletts Gesellschaft, war offensichtlich keine geeignete Gelegenheit, um sich mit ihr zu verabreden.

»Ich bezweifle, daß einer von uns das noch erleben wird.« Während Lucy sprach, summte leise das Telefon auf dem Tisch. Sie nahm den Hörer auf und meldete sich, reichte ihn dann Gil Bartlett. »Für Sie.«

»Ja, bitte«, meldete sich Bartlett.

»Dr. Bartlett?« Sie konnte die Frau am anderen Ende der Leitung verstehen.

»Am Apparat.«

»Hier ist Miss Rawson in der Notaufnahme. Ich habe eine Nachricht von Dr. Clifford.« Clifford war der erste chirurgische Assistent des Krankenhauses.

»Ja, bitte?«

»Er bittet Sie, herunterzukommen und sich auf eine Operation vorzubereiten, falls Sie können. Auf der Autobahn war ein Verkehrsunfall mit mehreren Schwerverletzten, darunter eine gefährliche Brustverletzung. Dr. Clifford bittet Sie, diesen Fall zu übernehmen.«

»Sagen Sie ihm, ich komme sofort.« Bartlett hängte den Hörer auf. »Tut mir leid, Lucy, wir müssen die Diskussion ein andermal weiterführen.« Er ging zur Tür, blieb noch einmal stehen. »Aber eines will ich Ihnen sagen. Ich glaube nicht, daß wir befürchten müssen, arbeitslos zu werden. Solange immer größere und schnellere Autos gebaut werden, gibt es für Chirurgen immer Arbeit.«

Er ging hinaus, und mit einem freundlichen Nicken für Lucy folgte ihm O'Donnell. Als sie allein war, wartete Lucy einen Augenblick und nahm dann wieder das Telefon ab. Als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Ich möchte ein Ferngespräch, bitte, mit einem Teilnehmer in Salem, Oregon.«

Mit der Übung langer Praxis suchte sich Kent O'Donnell seinen Weg durch das Hin und Her auf dem Gang und ging zu seinem eigenen Büro im Krankenhaus. Auch sein Vormittag war ausgefüllt. In weniger als einer halben Stunde mußte er in den Operationsräumen erscheinen, danach war eine Sitzung des medizinischen Ausschusses angesetzt, und später erwarteten ihn in der Stadt mehrere Patienten. Sein Programm erstreckte sich bis spät in den Nachmittag.

Auf seinem Weg dachte er wieder an Lucy Grainger. Als er sie vor wenigen Augenblicken sah, ihr nahe war, stiegen wieder die Fragen nach Lucy und sich selbst in ihm auf. Aber gleich bedrängten ihn auch die alten, bekannten Zweifel, das Gefühl, daß sie für eine ständige Verbindung vielleicht zu viele gemeinsame Interessen besaßen.

Er fragte sich, weshalb er in letzter Zeit so viel an Lucy dachte oder genaugenommen: an Frauen überhaupt. Vielleicht weil Anfang Vierzig von jeher ein Alter ist, in dem Männer ungeduldig sind. Dann lächelte er innerlich, als er sich erinnerte, daß es in seinem Leben selten Perioden gegeben hatte, in denen sich nicht eine gelegentliche Liebesaffäre der einen oder anderen Art ganz natürlich ergab. Jetzt lagen sie nur weiter auseinander. Und er war auch genötigt, dabei erheblich diskreter vorzugehen als in jüngeren Jahren.

Von Lucy sprangen seine Gedanken zu Denise Quantz über. Nach ihrer Einladung, sie in New York aufzusuchen, die sie an dem Abend ausgesprochen hatte, als er ihr in Eustace Swaynes Haus begegnete, hatte O'Donnell seine Teilnahme an dem chirurgischen Kongreß angemeldet. Jetzt fiel ihm ein, daß der Kongreß in der nächsten Woche stattfand. Wenn er Mrs. Quantz sehen wollte, mußte er bald eine Verabredung treffen. Als er in sein Büro kam, sagte ihm ein Blick auf die Uhr, daß er vor seiner ersten Operation noch zwanzig Minuten Zeit hatte. Er nahm das Telefon auf und redete sich dabei selbst ein, es sei immer richtig, Dinge zu erledigen, wenn man an sie dachte.

Er hörte, wie die Zentrale die Nummer von der New Yorker Auskunft erfragte. Dann folgte ein surrender Ton und anschließend ein Knacken. Eine Stimme meldete sich: »Hier ist die Wohnung von Mrs. Quantz«

»Ich habe ein Ferngespräch für Mrs. Denise Quantz«, meldete sich das Amt in Burlington.

»Mrs. Quantz ist nicht anwesend.«

»Wissen Sie, wo sie zu erreichen ist?« Die Telefongesellschaft war immer bemüht, ihren Kunden zu helfen.

»Mrs. Quantz hält sich in Burlington, Pennsylvania, auf. Wünschen Sie ihre dortige Nummer?«

»Ja, bitte.« Das war wieder das Fernamt in Burlington.

»Die Nummer ist Hunter 6-5735.«

»Danke, New York.« Wieder ein Knacken, dann fragte das Fernamt: »Haben Sie die Nummer verstanden, Teilnehmer?«

»Ja, danke«, antwortete O'Donnell und hängte ein. Mit der anderen Hand hatte er schon nach dem Burlingtoner Telefonbuch gegriffen. Er blätterte darin, bis er zu >Swayne, Eustace R. < kam. Wie erwartet entsprach der Anschluß der Nummer, die er gerade erhalten hatte.

Wieder nahm er den Hörer ab und wählte.

Eine männliche Stimme antwortete: »Hier ist die Wohnung von Mr. Eustace Swayne.«

»Ich möchte mit Mrs. Quantz sprechen.«

»Einen Augenblick, bitte.«

Es folgte eine Pause, dann: »Hier Mrs. Quantz.«

Bis zu diesem Augenblick hatte O'Donnell vergessen, wie sehr ihre Stimme ihn angezogen hatte. Sie war von einer sanften Gedecktheit, die den einfachsten Worten Charme zu verleihen schien.

»Hier ist Kent O'Donnell«, meldete er sich, »ich weiß nicht, ob Sie sich meiner erinnern.«

»Selbstverständlich, Dr. O'Donnell. Wie nett von Ihnen, mich anzurufen.«

In einer plötzlichen Vision sah er sie am Telefon, ihre dunkles Haar, das auf ihre Schultern fiel. Er sagte: »Ich wollte Sie gerade in New York anrufen. Dort nannte man mir Ihren hiesigen Anschluß.«

»Ich bin gestern abend mit dem Flugzeug hergekommen«, antwortete Denise Quantz. »Vater hat eine leichte Bronchitis, und ich wollte für ein oder zwei Tage bei ihm sein.«

Höflich fragte er: »Hoffentlich ist es nichts Ernstes?«

»Durchaus nicht.« Sie lachte. »Vater besitzt auch die Konstitution eines Maultieres, nicht nur seine Bockigkeit.«

Er dachte, das glaube ich gern. Laut sagte er: »Ich wollte Sie bitten, mit mir in New York zu Abend zu essen. Ich werde nächste Woche dort sein.«

»Das können Sie mich jetzt gleich fragen.« Ihre Antwort erfolgte sofort und vorbehaltlos. »Nächste Woche bin ich wieder in New York.«

Einer Eingebung folgend fragte er: »Können wir uns nicht schon vorher sehen? Haben Sie in Burlington noch einen Abend frei?«

Nach einer kurzen Pause antwortete sie: »Die einzige Möglichkeit wäre heute abend.«

O'Donnell überlegte schnell. Die Patienten in seiner Sprechstunde würden ihn bis sieben Uhr festhalten, aber wenn sich nichts weiter ergab.

Seine Gedanken wurden unterbrochen. »Nein, warten Sie«, sagte Denise Quantz, »ich hatte vergessen, daß Dr. Pearson zum Abendessen zu Vater kommt. Ich glaube, dazu muß ich bleiben.« Sie fügte hinzu: »Vielleicht wollen Sie auch kommen?«

Er lachte lautlos vor sich hin. Joe Pearson würde überrascht sein, wenn er ihm dort begegnete. Sein Instinkt sagte ihm indessen, das sei kein guter Einfall. Er antwortete: »Vielen Dank, aber vielleicht ist es doch besser, wenn wir es verschieben.«

»Wie schade.« Auch ihre Stimme klang enttäuscht; dann war sie wieder munter. »Aber wenn Sie wollen, können wir uns nach dem Abendessen treffen. Vater und Dr. Pearson werden bestimmt Schach spielen, und dann bemerken sie gar nicht, ob noch jemand anwesend ist.«

Der Vorschlag entzückte ihn. »Das wäre wunderbar. Ab wann sind Sie frei?«

»Gegen halb zehn, denke ich.«

»Soll ich Sie abholen?«

»Wahrscheinlich sparen wir Zeit, wenn wir uns gleich in der Stadt treffen. Bestimmen Sie, wo.«

Er überlegte einen Augenblick und schlug dann vor: »Im Regency Room.«

»Sehr gut. Um halb zehn also. Auf Wiedersehen.«

Als O'Donnell den Hörer zurücklegte, erfüllte ihn eine freudige Erwartung. Er blickte wieder auf die Uhr. Er mußte sich beeilen, wenn er rechtzeitig in den Operationsraum kommen wollte.

Die Schachpartie nach dem Abendessen zwischen Eustace Swayne und Dr. Joseph Pearson war schon seit vierzig Minuten im Gange. Die beiden alten Männer saßen an einem niedrigen Spieltisch aus Rosenholz einander in der eichengetäfelten Bibliothek gegenüber, in der vor drei Wochen O'Donnell und Swayne ihr Wortgefecht geführt hatten. Nur zwei Lampen brannten in dem Raum; eine unter einem Schirm hing unmittelbar über dem Spieltisch, die andere, eine gedämpft schimmernde Rokokolampe, stand neben der Tür zur Halle. Die Köpfe beider Männer lagen im Schatten, das Licht zwischen ihnen fiel unmittelbar auf das eingelegte Schachbrett in der Mitte des Tisches. Nur wenn der eine oder der andere sich vorbeugte, um eine Figur auf dem Brett zu ziehen, ließ der Rand des Lichtscheins kurz ihre Gesichter erkennen.

Im Augenblick schwiegen beide. Die tiefe Stille des Zimmers lag wie eine dämpfende Hülle über den beiden Louis XV.-Sesseln, in denen sie saßen. Eustace Swayne hatte sich zurückgelehnt. Er hielt ein Kognakglas aus Rubinkristall zwischen den Fingern und überprüfte den Stand der Partie.

Dr. Joseph Pearson war zuletzt am Zug gewesen. Vor ein oder zwei Minuten hatte er die weiße Dame der kostbaren, aus indischem Elfenbein geschnitzten Schachfiguren behutsam aufgenommen und die Figur ein Feld vorgeschoben.

Jetzt stellte Eustace Swayne das Kognakglas ab und schob den Bauern an seinem äußersten rechten Flügel zwei Felder vor. Dann unterbrach er das Schweigen und sagte brummend: »Ich habe gehört, daß es im Krankenhaus Veränderungen gegeben hat.«

Joe Pearson studierte das Schachbrett im Lichtschein der Lampe. Nachdem er überlegt hatte, beugte er sich vor, schob seinen äußersten linken Bauern ein Feld weiter und blockierte damit den Weg des Gegners. Erst dann antwortete er mit dem einzigen geknurrten Wort: »Einige!«

Wieder herrschte Schweigen, Friede, als ob die Zeit stillstehe. Dann regte sich der alte Finanzmann in seinem Stuhl. »Finden diese Veränderungen Ihre Zustimmung?« Er griff vor und schob seinen Läufer zwei Felder diagonal nach rechts. Halb belustigt blickte er über den Tisch in das Halbdämmer; sein Ausdruck besagte: Schlage diesen Aufmarsch, wenn du kannst.

Diesmal antwortete Joe Pearson, ehe er zog.

»Nicht völlig.« Er blieb im Schatten, studierte die Position des Gegners, erwog die vorhandenen Möglichkeiten. Dann griff er wieder behutsam nach den Figuren und schob seinen Turm ein Feld nach links, so daß er eine offene Linie beherrschte.

Eustace Swayne wartete. Eine Minute verging, eine zweite, dann eine dritte. Schließlich griff er nach seinem Turm zu einem ähnlichen Zug auf die gleiche offene Linie, um den Angriff seines Gegners abzuwehren, und sagte: »Sie haben in Zukunft die Möglichkeit, Ihr Veto einzulegen, falls Sie davon Gebrauch machen wollen. «

»So? Was für eine Art Veto?« Die Frage kam beiläufig, aber die Handlung, die sie begleitete, erfolgte schnell. Pearson ergriff seinen Damenspringer und placierte ihn auf eines der Mittelfelder.

Während Swayne das Brett studierte und die Stärke seiner Stellung erwog, antwortete er: »Ich habe Orden Brown und eurem Chef der Chirurgie gesagt, daß ich bereit bin, eine Viertelmillion Dollars für den Baufonds zu geben.« Mit dem letzten Wort machte er einen Zug, der dem Pearsons entsprach, und setzte seinen Königsspringer vor, neben das Feld mit dem stark placierten Springer seines Gegners.

Diesmal dauerte das Schweigen lange. Am Ende nahm der Pathologe seinen Läufer, zog ihn über das ganze Feld und schlug einen Bauern. Ruhig sagte er: »Schach.« Dann: »Das ist viel Geld.«

»Ich habe eine Bedingung daran geknüpft.« Swayne, jetzt in der Defensive, zog seinen König ein Feld nach rechts. »Das Geld wird nur gegeben, wenn Sie freie Hand behalten, Ihre Abteilung im Krankenhaus in der Weise und so lange zu leiten, wie Sie wünschen.«

Dieses Mal macht Joe Pearson keinen Zug. Er schien nachzudenken, blickte in die Dunkelheit über dem Kopf des anderen. Dann sagte er einfach: »Sie beschämen mich.« Seine Augen wendeten sich wieder dem Schachbrett zu. Nach einer Weile setzte er seinen Springer auf ein Feld, so daß die Figur Swaynes jetzt den in die Enge getriebenen König angriff.

Eustace Swayne hatte den Zug sorgfältig beobachtet. Aber vor seinem Gegenzug griff er nach der Kognakkaraffe, füllte Pearsons Glas, dann sein eigenes. Als er die Karaffe abstellte, sagte er: »Wir leben in einer Welt der jungen Männer, und ich nehme an, daß sie immer eine Welt der jungen Männer war, selbst wenn alte Männer manchmal noch Macht besitzen. und den Verstand, sie zu benutzen.« Dann griff er mit funkelnden Augen vor, nahm den Bauern vor seinem König und schlug damit den lästigen Springer.

Nachdenklich strich Pearson mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn. Dann nahm er seine Dame, zog sie sechs Felder auf der offenen Line vor und schlug den Bauern des schwarzen Königs. »Sie sagen. Orden Brown und O'Donnell wissen das?«

»Ich habe es ihnen eindeutig klargemacht.«

Der alte Finanzmann schlug mit seinem Königsläufer den Läufer seines Gegners auf g5.

Plötzlich schmunzelte Joe Pearson. Es war nicht zu erkennen, ob das Spiel oder die Unterhaltung seine Heiterkeit verursachte. Aber schnell griff er vor. Er schob seine Dame neben den schwarzen König, sagte leise: »Matt.«

Eustace Swayne verhehlte seine Bewunderung für den entscheidenden Überraschungsangriff nicht. Er nickte, wie um sein eigenes Urteil zu bestätigen.

»Ja«, sagte er, »Sie sind ohne Zweifel so gut wie eh und je.«

Die Musik endete, und die Paare auf der Tanzfläche des kleinen, aber eleganten Nachtlokals - eines der wenigen, die Burlington aufweisen konnte - begaben sich langsam zu ihren Tischen zurück.

»Verraten Sie mir, was Sie denken«, forderte Denise Quantz O'Donnell auf. Sie lächelte ihm über die schwarze Platte des kleinen Tisches zu, der zwischen ihnen stand.

»Ehrlich gesagt, ich dachte gerade, daß es hübsch wäre, wenn wir diesen Abend wiederholen könnten.«

Ganz leicht hob sie das Glas in ihrer Hand. Es enthielt den Rest ihres zweiten Old Fashioned. »Hoffentlich denken Sie es noch öfter.«

»Darauf trinke ich gern.« Er leerte seinen Scotch und Soda, winkte dann dem Kellner und bestellte das gleiche. »Wollen wir tanzen?« Die Musik hatte wieder eingesetzt.

»Sehr gern.« Sie erhob sich, wendete sich ihm halb zu, als er ihr zu der kleinen, gedämpft beleuchteten Tanzfläche folgte. Er hob seine Arme, und sie legte sich in sie hinein. Sie tanzten dicht aneinander.

O'Donnell war nie ein guter Tänzer gewesen, die Medizin hatte ihm dazu zuwenig Zeit gelassen. Aber Denise Quantz folgte jedem seiner Schritte. Während die Minuten verstrichen, spürte er ihren Körper, schlank, biegsam, ihm gehorsam folgend, die Musik und seine Bewegungen vorausahnend. Einmal strich ihr Haar leicht über sein Gesicht und brachte einen Hauch des gleichen Parfüms mit sich, das er schon bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen hatte.

Das Fünf-Mann-Orchester, gedämpft und unaufdringlich, seine Arrangements sorgfältig auf die intime Umgebung abgestimmt, spielte ein einschmeichelndes, ein paar Jahre altes Lied von Pyramiden am Nil, Tropeninseln, Sonnenaufgängen und ewiger Liebe. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, als lebe er von geliehener Zeit, als ob er sich in einem Vakuum befinde, als ob er von allem abgeschlossen sei, fern von der Medizin, von dem Three Counties Hospital und den anderen Dingen, mit denen er täglich lebte. Dann ging die Musik in ein schnelleres Tempo über, und er mußte über seine Sentimentalität lächeln.

Während sie tanzten, fragte er: »Kommen Sie oft hierher -nach Burlington, meine ich?«

»Eigentlich nicht«, antwortete sie. »Gelegentlich, um meinen Vater zu besuchen, aber das ist auch alles. Offen gesagt, kann ich die Stadt nicht leiden.« Dann lachend: »Ich hoffe, daß ich damit nicht Ihren Bürgerstolz verletze.«

»Nein«, antwortete er. »Ich bin in der einen oder anderen nicht unabhängig geblieben. Aber sind Sie nicht hier geboren worden...« Er fügte hinzu: »Denise - wenn ich darf?«

»Selbstverständlich, wir wollen nicht formell miteinander sein.« Sie sah gerade zu ihm auf und lächelte. Als Antwort auf seine Frage sagte sie: »Ja, ich wurde hier geboren. Ich bin hier aufgewachsen und ging hier auch zur Schule. Meine Mutter lebte damals noch.«

»Und warum wohnen Sie jetzt in New York?«

»Ich glaube, ich bin New Yorkerin aus Instinkt. Außerdem wohnte mein Mann in New York; er lebt immer noch dort.« Es war das erstemal, daß sie ihren Mann erwähnte. Sie tat es leichthin und ohne Verlegenheit. »Nachdem wir uns trennten, stellte ich fest, daß ich New York nicht mehr verlassen wollte. Es gibt keine Stadt, die man mit New York vergleichen kann.«

»Ja«, antwortete er, »das stimmt wohl.« Er dachte wieder: Wie schön diese Frau ist. Sie besaß ohne jeden künstlichen Zwang jene Sicherheit, die jüngere Frauen selten erreichen. Aber nichts an ihr ließ erkennen, daß sie auf ihre Fraulichkeit verzichtete, eher im Gegenteil. Kent O'Donnell, der sie jetzt umfaßt hielt, während ihr Körper sich im gleichen Rhythmus mit seinem bewegte, erschien sie unendlich begehrenswert.

Bewußt änderte er die Richtung seiner Gedanken, Sie waren voreilig. Wie schon früher, fiel ihm wieder ihr Kleid auf, das sie an diesem Abend trug. Es ließ ihre Schultern frei und bestand aus leuchtend roter, schwerer Peau de Soie, umhüllte eng ihre Figur und fiel erst unter den Hüften weit auseinander. Es wirkte gleichzeitig dramatisch, vornehm und teuer.

Das erinnerte ihn an einen anderen Gedanken, der ihm an diesem Abend zum erstenmal durch den Kopf ging: an die Tatsache, daß Denise offensichtlich reich war. Sie waren vor dem Regency Room fast gleichzeitig angekommen. Er hatte seinen eigenen Wagen geparkt und ging gerade auf den Eingang des Nachtklubs zu, als ein glänzender Cadillac vorfuhr und der uniformierte Chauffeur schnell ausstieg, um für Denise die Tür zu öffnen. Nach der Begrüßung drehte sie sich zu dem Chauffeur um, der diskret zurückgetreten war. »Danke, Tom, Sie brauchen nicht noch einmal herzukommen. Ich nehme an, daß Dr. O'Donnell mich nach Hause bringen wird.«

Höflich hatte der Mann »Danke, Madam« geantwortet, dann zu O'Donnell »Guten Abend, Sir« gesagt und war davongefahren.

Wenn er darüber nachgedacht hätte, wäre O'Donnell selbstverständlich klargewesen, daß die Tochter von Eustace Swayne zweifellos ein großes Vermögen erben würde. Nicht daß diese Erkenntnis ihn sonderlich beeindruckte. Sein eigenes Einkommen reichte für ein bequemes, angenehmes Leben gut aus, und zu mehr als das. Dessenungeachtet war eine wirklich reiche Frau für ihn eine neue Erfahrung. Wieder stellte er fest, daß er in Gedanken Denise und Lucy Grainger miteinander verglich.

Mit einem gedämpften Crescendo beendete das Orchester die Musik. O'Donnell und Denise klatschten kurz, ehe sie die Tanzfläche verließen. Er faßte sie leicht am Arm und führte sie zu ihrem Tisch. Der Kellner wartete schon. Er schob ihnen die Stühle zurecht und servierte die Drinks, die O'Donnell bestellt hatte.

Denise nahm einen Schluck von ihrem neuen Old Fashioned und sagte: »Jetzt haben wir über mich gesprochen. Nun erzählen Sie mir etwas von sich.«

Er goß mehr Soda in seinen Scotch. Er trank seinen Whisky gern mit viel Wasser - eine Praxis, die die meisten Kellner zu verabscheuen schienen. »Bei mir ist alles ziemlich alltäglich.«

»Ich kann gut zuhören, Kent.« Denise war mit ihren Gedanken nur halb bei ihren Worten. Die andere Hälfte dachte: Das ist ein Mann - ein ganzer Mann. Ihre Blicke liefen über die große Gestalt, die breiten Schultern, das kräftige Gesicht. Sie fragte sich, ob er sie zum Abschied küssen werde und zu was das später führen könnte. Sie kam zu der Ansicht, daß Dr. Kent O'Donnell interessante Möglichkeiten bot.

O'Donnell erzählte ihr vom Three Counties Hospital, von seiner Arbeit dort und von dem, was er zu vollbringen hoffte. Sie fragte ihn nach seiner Vergangenheit, seinen Erlebnissen, Menschen, denen er begegnet war, und war von der Tiefe seiner Gedanken und Empfindungen, die aus allem sprach, was er sagte, stark beeindruckt.

Sie tanzten wieder. Der Kellner brachte ihnen frische Drinks. Sie unterhielten sich, sie tanzten, der Kellner kam zurück. Die Reihenfolge wiederholte sich. Denise erzählte ihm von ihrer Ehe. Sie hatte vor achtzehn Jahren geheiratet, die Ehe hatte zehn Jahre gedauert. Ihr Mann war Rechtsanwalt mit einer großen Praxis in New York. Sie hatte zwei Kinder-Zwillinge, Alex und Philippa -, die in Denises Obhut geblieben waren. In ein paar Wochen wurden die Kinder siebzehn.

»Mein Mann ist ein vollkommen rationales Wesen«, sagte sie. »Wir waren einfach völlig unvereinbar miteinander und verschwendeten viel Zeit darauf, zu der offensichtlichen Lösung zu gelangen.«

»Sehen Sie ihn jetzt noch?«

»Ja, oft. Auf Partys und in der Stadt. Gelegentlich verabreden wir uns zum Mittagessen. In mancher Weise kann Geoffrey bezaubernd sein. Ich bin überzeugt, er würde Ihnen gefallen.«

Beide sprachen jetzt unbefangener. Der Kellner brachte ihnen jetzt frische Drinks, ehe er dazu aufgefordert wurde. O'Donnell fragte sie nach einer Scheidung; ob es Hinderungsgründe dafür gebe.

»Eigentlich nicht«, antwortete sie offen. »Geoffrey ist durchaus bereit, sich scheiden zu lassen, besteht aber darauf, daß ich den Scheidungsgrund stelle. Wie Sie wissen, muß das im Staate New York Ehebruch sein. Und so weit bin ich bisher noch nicht gekommen.«

»Hatte Ihr Mann nie den Wunsch, sich wieder zu verheiraten?«

Sie schien überrascht. »Geoffrey? Das kann ich mir nicht vorstellen. Im übrigen ist er mit der Jurisprudenz verheiratet.«

»Ah so.«

Denise drehte ihr Glas am Fuß. »Geoffrey glaubte immer, das Bett sei der richtige Platz, um seine Akten zu studieren.« Sie sagte es leise, fast vertraulich. O'Donnell verstand den Hinweis, weshalb ihre Ehe scheiterte. Er fand den Gedanken erregend.

Der Kellner stand neben ihm. »Verzeihen Sie, Sir, die Bar schließt in ein paar Minuten. Wollen Sie jetzt noch einmal bestellen?«

Überrascht sah O'Donnell auf seine Uhr. Es war fast eins. Schon dreieinhalb Stunden waren sie zusammen. Ihm kam die Zeit viel kürzer vor. Er sah Denise an. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, antwortete er und bezahlte die Rechnung, die der Kellner ihm reichte. Sie tranken ihre Gläser aus und standen auf, um zu gehen. Der Kellner wünschte höflich »Gute Nacht«; sein Trinkgeld war großzügig gewesen. O'Donnell fühlte sich in gehobener Stimmung.

Im Foyer wartete er auf Denise, während ein Page zum Parkplatz ging, um seinen Wagen zu holen. Als sie kam, nahm sie seinen Arm. »Eigentlich schade, daß wir schon gehen. Ich wünschte beinahe, wir hätten uns doch noch einen Drink bestellt.«

Er zögerte und schlug dann unbefangen vor: »Wir können bei mir vorbeifahren, wenn Sie mögen. In meiner Bar ist alles vorhanden, und es liegt auf dem Weg.«

Einen Augenblick fürchtete er, das sei ungeschickt gewesen. Er glaubte, bei ihr eine plötzliche Kühle, die Andeutung einer peinlichen Überraschung zu bemerken. Dann war es verschwunden. Sie erwiderte einfach: »Warum eigentlich nicht?«

Draußen wartete der Buick. Die Türen wurden aufgehalten, der Motor lief. Durch die Stadt fuhr er vorsichtig, langsamer als gewöhnlich, weil er sich bewußt war, daß er eine ganze Menge getrunken hatte. Es war eine warme Nacht, und die Wagenfenster waren heruntergedreht. Von dem Sitz neben sich nahm er wieder den duftigen Hauch ihres Parfüms wahr. Vor seiner Wohnung parkte er den Wagen auf der Straße, und sie fuhren im Fahrstuhl hinauf.

Nachdem er die Drinks gemixt hatte, brachte er sie durch das Zimmer und reichte Denise den Old Fashioned. Sie stand vor dem offenen Wohnzimmerfenster und sah auf die Lichter Burlingtons hinunter. Der Fluß, der durch die Stadt lief, bildete zwischen seinen Ufern eine breite, dunkle Schlucht.

Als er neben ihr stand, sagte er ruhig. »Es ist schon eine Zeitlang her, daß ich einen Old Fashioned gemixt habe. Ich hoffe, daß er nicht zu süß ist.«

Sie probierte ihn. Dann sagte sie leise: »Wie so vieles an Ihnen, ist er absolut richtig, Kent.«

Ihre Blicke begegneten sich. Er nahm ihr das Glas aus der Hand. Als er es abgestellt hatte, trat sie weich, ungezwungen zu ihm. Er umschlang sie fest mit seinen Armen, als sie sich küßten.

Plötzlich schrillte gellend, herrisch, hinter ihnen im Zimmer das Telefon auf. Es ließ sich nicht überhören.

Sanft löste sich Denise von ihm. »Liebster, ich glaube, du mußt dich melden.« Mit ihren Lippen berührte sie leicht seine Stirn.

Während er durch das Zimmer ging, bemerkte er, daß sie ihre Tasche, ihre Stola und ihre Handschuhe aufnahm. Offensichtlich war der Abend vorüber. Fast ärgerlich nahm er den Hörer ab, meldete sich knapp und hörte zu. Sein Ärger schwand schnell. Es war das Krankenhaus, der Praktikant im Nachtdienst. Einer von O'Donnells Patienten zeigte Symptome, die ernst zu sein schienen. Er stellte zwei schnelle Fragen, dann: »Also gut, ich komme sofort. Benachrichtigen Sie inzwischen die Blutbank und bereiten Sie eine Transfusion vor.« Er hängte ein und rief den Nachtportier an, um eine Taxe für Denise zu bestellen.

XIV

Meistens legte Dr. Joseph Pearson Wert darauf, früh schlafen zu gehen. An Abenden, an denen er mit Eustace Swayne Schach spielte, wurde es jedoch zwangsläufig sehr spät. Infolgedessen war er am nächsten Morgen noch müder und reizbarer als gewöhnlich. Unter dieser Wirkung stand er nach dem gestrigen Schachabend auch jetzt.

Augenblicklich sah er gerade die Einkaufsanforderungen für Labormaterial durch, eine Arbeit, die er schlechthin verabscheute und an diesem Tage mehr denn je. Er knurrte und legte eines der Formulare beiseite. Dann kritzelte er ein paar weitere Unterschriften, unterbrach sich und zog ein zweites Formular aus dem Packen. Dieses Mal begleitete ein Stirnrunzeln sein Knurren. Wer ihn kannte, hätte das als Sturmzeichen erkannt. Dr. Pearson stand vor einem Wutausbruch.

Der Augenblick kam, als er über einem dritten Formular zögerte. Dann schleuderte er plötzlich heftig seinen Bleistift auf den Tisch, packte alle Papiere in einem unordentlichen Stoß und eilte zur Tür. Er stürmte in das serologische Labor und sah sich nach Bannister um. Er fand den ersten Laboranten in einer Ecke, wo er eine Stuhlkultur vorbereitete.

»Lassen Sie alles stehen und liegen und kommen Sie her!« Pearson warf den Stoß Papiere auf den Mitteltisch. Ein paar flatterten zu Boden, und John Alexander bückte sich, sie aufzuheben. Unwillkürlich war er erleichtert, daß Pearsons Ärger sich gegen Bannister und nicht gegen ihn selbst richtete.

»Was ist denn los?« Bannister kam gelassen näher. Er war an diese Ausbrüche so gewöhnt, daß sie ihn manchmal ruhiger werden ließen.

»Ich will Ihnen sagen, was los ist. Diese ganzen Einkaufsanforderungen hier sind los!« Pearson schien sich zu beherrschen. Seine Wut siedete nur noch, statt zu kochen. »Manchmal scheinen Sie sich einzubilden, wir seien hier in der Mayo-Klinik.«

»Wir müssen doch Labormaterial haben, oder etwa nicht?«

Pearson ignorierte die Frage. »Es scheint fast so, als ob Sie das Zeug fressen. Und habe ich Ihnen nicht immer wieder gesagt, Sie sollen bei jeder außergewöhnlichen Bestellung schriftlich erklären, wozu sie gebraucht wird?«

»Habe ich das vergessen? Das kann mal passieren«, antwortete Bannister resigniert.

»Na schön. Aber Sie könnten anfangen, sich daran zu erinnern.« Pearson nahm das oberste Formular von dem Stoß. »Wozu soll das Kalziumoxyd sein? Wir haben es hier nie verwendet.«

Bannister verzog sein Gesicht zu einem boshaften Grinsen. »Sie haben mich selbst beauftragt, es zu bestellen. Sie brauchen es doch in Ihrem Garten.« Der erste Laborant verwies auf etwas, das ihnen beiden bekannt war, wovon sie aber selten sprachen. Pearson war einer der führenden Rosenzüchter im Gärtnerverein des Counties und zweigte eine ansehnliche Menge Chemikalien aus dem Krankenhaus ab, um seinen Garten zu düngen.

Er besaß den Anstand, verwirrt zu erscheinen. »Oh... ja, richtig. Lassen wir das also.« Er legte das Formular beiseite und nahm ein anderes. »Was soll diese Anforderung hier? Wozu brauchen wir plötzlich Coombs-Serum? Wer hat das bestellt?«

»Das war Dr. Coleman«, antwortete Bannister bereitwillig. Jetzt war der Augenblick gekommen, auf den er gewartet hatte. John Alexander neben ihm wurde es unbehaglich.

»Wann?« Pearsons Frage klang scharf.

»Gestern. Dr. Coleman hat die Anforderung sowieso unterschrieben.« Bannister deutete auf das Formular und fügte boshaft hinzu: »Da, wo Sie sonst unterschreiben.«

Pearson sah auf das Blatt. Er hatte noch nicht bemerkt, daß es eine Unterschrift trug. Er fragte Bannister: »Wozu will er das? Wissen Sie es?«

Der erste Laborant blieb gelassen. Er hatte das Räderwerk der Rache in Bewegung gesetzt und konnte die folgende Szene als Zuschauer genießen. Zu John Alexander sagte er: »Los, erklären Sie es.«

Etwas unbehaglich sagte Alexander: »Es ist für einen Blutsensibilitätstest, Dr. Pearson. Für meine Frau. Dr. Dornberger hat ihn angefordert.«

»Weshalb Coombs-Serum?«

»Es ist für einen indirekten Coombs-Test, Doktor.«

»Sagen Sie mal, ist Ihre Frau etwas Besonderes?« Pearsons Stimme hatte einen sarkastischen Ton. »Was ist an den Tests mit Salzlösung und konzentriertem Protein verkehrt, die wir in allen anderen Fällen anwenden?«

Alexander schluckte nervös. Es entstand eine Pause. Pearson drängte: »Ich warte auf Antwort.«

»Nun, Sir.« Alexander zögerte. Dann platzte er heraus: »Ich habe Dr. Coleman vorgeschlagen - und er stimmte mir zu -, es wäre zuverlässiger, wenn wir nach den anderen Tests einen.«

»Sie haben Dr. Coleman vorgeschlagen? So!« Der Ton der Frage ließ keinen Zweifel darüber, was jetzt kommen mußte. Alexander, der es spürte, fuhr schnell fort:

»Ja, Sir, wir sind der Ansicht, daß Antikörper in Salzlösung und konzentriertem Protein manchmal nicht festgestellt werden können, und der zusätzliche Test.«

»Nun aber Schluß!« Die Worte kamen laut, scharf und brutal. Während Pearson sie aussprach, klatschte er seine Hand hart auf die Formulare auf dem Tisch. In dem Labor herrschte eisiges Schweigen. Mühsam atmend wartete der alte Mann und musterte Alexander. Als er sich so weit gefaßt hatte, erklärte er grimmig: »Sie haben einen großen Fehler. Sie nehmen sich etwas zuviel heraus mit dem Zeug, das Sie da auf der Fachschule gelernt haben.«

Pearsons Erbitterung brach durch seine Worte hindurch - die Erbitterung gegen alle, die jünger waren, die sich einmischten, die versuchten, seine Autorität zu beschneiden - seine Autorität, die bisher unbedingt und unantastbar gewesen war. In einer anderen Stimmung und zu einer anderen Zeit hätte er sich vielleicht duldsamer gezeigt, aber jetzt entschloß er sich, diesen jungen Anfänger ein und für allemal in seine Schranken zu verweisen.

»Hören Sie mir zu, und passen Sie genau auf. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, und ich beabsichtige nicht, es noch einmal zu wiederholen.« Jetzt sprach die Autorität, der Leiter der Abteilung, der mit harter Hand einer kleinen Hilfskraft klarmachte, daß von nun an keine weiteren Warnungen mehr erfolgen würden, sondern nur Aktionen. Das Gesicht dicht vor dem Alexanders sagte Pearson: »Ich bin derjenige, der diese Abteilung leitet. Und wenn Sie oder jemand anders Fragen haben, werden sie mir vorgelegt, verstehen Sie mich?«

»Ja, Sir.« In diesem Augenblick wünschte Alexander, die Szene wäre vorüber. Er wußte schon, daß er zum letztenmal einen Vorschlag gemacht hatte. Wenn das der Lohn dafür war, daß man mitdachte, würde er von jetzt an nur still seine Arbeit tun und seine Gedanken für sich behalten. Sollten sich doch andere Leute den Kopf zerbrechen, sollten sie doch die Verantwortung tragen.

Aber Pearson war noch nicht zu Ende. »Unternehmen Sie nichts hinter meinem Rücken«, drohte er, »und versuchen Sie nicht, Dr. Coleman auszunutzen, weil er neu ist.«

Kurz flackerte Alexanders Widerspruch auf. »Ich habe niemand ausgenutzt.«

»Das taten Sie doch, sage ich, und ich rate Ihnen, das zu unterlassen«, schrie der alte Mann wütend. Seine Gesichtsmuskeln arbeiteten, seine Augen funkelten.

Alexander stand vernichtet und schweigend da.

Einen Augenblick noch musterte Pearson den jungen Mann grimmig. Dann, als ob er sich überzeugt habe, daß er den gewünschten Eindruck erreicht hatte, sprach er weiter: »Nun will ich Ihnen noch etwas über diesen Test sagen.« Sein Ton war jetzt zwar nicht freundlich, aber doch zumindest weniger schroff. »Aus dem Test in Salzlösung und konzentriertem Protein ist alles zu erkennen, was wir brauchen, und ich will Sie daran erinnern, daß ich Pathologe bin und weiß, worüber ich spreche. Haben Sie das begriffen?«

Mürrisch antwortete Alexander: »Ja, Sir.«

»Nun gut. Ich will Ihnen sagen, was ich tun werde.« Pearsons Ton wurde noch gemäßigter. Es war fast, als biete er eine Versöhnung an. »Da Sie so begierig darauf sind, daß dieser Test richtig vorgenommen wird, übernehme ich ihn selbst. Jetzt sofort. Wo ist die Blutprobe?«

»Im Kühlschrank«, sagte Bannister.

»Bringen Sie sie her.«

Unzufrieden ging Bannister durch das Labor zum Kühlschrank. Die Szene war nicht ganz so verlaufen, wie er gewünscht hatte. Richtig war allerdings, daß dieser Bursche Alexander eine Abfuhr nötig gehabt hatte. Aber der alte Mann hatte den Jungen etwas scharf angefaßt. Bannister hätte es lieber gesehen, wenn ein Teil des Sturmes über den angeberischen jungen Arzt niedergebrochen wäre. Aber vielleicht bewahrte der alte Mann das für später auf. Er nahm die Blutprobe mit der Aufschrift »Alexander, Mrs. E.« heraus und schloß den Kühlschrank.

Pearson nahm die Blutprobe, aus der das geronnene Blut bereits entfernt war. Während er das tat, fiel Bannisters Blick auf die Einkaufsanforderung, die den Sturm verursacht hatte. Sie war zu Boden gefallen. Er bückte sich und hob sie auf.

Er fragte Pearson: »Was soll ich damit machen?«

Der alte Pathologe hatte zwei saubere Reagenzgläser genommen, in die er einen Teil des Blutserums verteilte. Ohne aufzusehen fragte er gereizt: »Womit machen?«

»Mit der Bestellung für das Coombs-Serum.«

»Die brauchen wir nicht. Zerreißen Sie sie!«

Pearson kontrollierte das Schild auf einer kleinen Flasche, die Rh-positive Zellen enthielt. Das von einer pharmazeutischen Fabrik hergestellte Präparat wurde als Reagenz bei der Untersuchung von Rh-negativem Blut verwendet.

Bannister zögerte. Er hatte zwar gegen Coleman sehr viel einzuwenden, aber er wußte auch, daß es hierbei um eine Frage des ärztlichen Protokolls ging. »Sie sollten es Dr. Coleman aber mitteilen«, sagte er zweifelnd. »Oder soll ich es ihm sagen?«

Pearson hatte Mühe, den Korken aus der Flasche zu ziehen. Ungeduldig antwortete er: »Nein, nein. Das sage ich ihm schon selbst.«

Bannister hob die Schultern. Er hatte Pearson darauf hingewiesen. Wenn es jetzt Ärger gab, war er nicht dafür verantwortlich. Er nahm die Einkaufsanforderung, zerriß sie und ließ die Fetzen in einen Abfallkübel fallen.

Roger McNeil, der pathologische Assistent, war überzeugt, daß er, ungeachtet, wie lange er Medizin praktizieren würde, sich niemals an die Obduktion von Kindern gewöhnen könne. Er hatte gerade eine abgeschlossen, und jetzt lag im Obduktionsraum der rot klaffende Körper eines vierjährigen Jungen offen und anklagend vor ihm. Der Anblick verfolgte McNeil jedesmal. Er wußte schon, daß er, wie immer in diesen Fällen, in der Nacht wenig Schlaf finden würde. Ständig würde das Bild wieder vor seinen Augen auftauchen - insbesondere, wenn er daran dachte und dagegen konnte er sich nicht wehren -, wie unnötig und sinnlos der vorliegende Todesfall war.

Er blickte auf und bemerkte, daß Mike Seddons ihn beobachtete. Der chirurgische Assistent sagte: »Das arme kleine Wurm.« Dann fügte er erbittert hinzu: »Wie dumm die Menschen doch sind.«

McNeil fragte: »Wartet der Polizist noch?«

Seddons nickte. »Ja, und die anderen auch.«

»Am besten benachrichtigen Sie Pearson.«

»Ja.« Im Nebenzimmer des Obduktionsraumes befand sich ein Telefon, und Seddons ging hinüber.

McNeil fragte sich, ob es Feigheit war, daß er dieser heiklen Aufgabe aus dem Wege ging. Aber der alte Mann mußte über den Fall ja doch unterrichtet werden. Also sollte er entscheiden, wer den Befund weitergab.

Seddons kam vom Telefon zurück. »Pearson war in der Serologie«, sagte er, »er kommt gleich herüber.«

Die beiden Männer warteten schweigend. Dann vernahmen sie Pearsons schlurfende Schritte, und der alte Mann trat ein. Er sah auf die Leiche, während McNeil die Einzelheiten des Falles darlegte. »Vor ein bis zwei Stunden ist das Kind vor dem Hause seiner Eltern von einem Auto angefahren worden. Es wurde mit einem Krankenwagen in das Krankenhaus gebracht, war aber bei der Ankunft schon tot. Daraufhin wurde eine Obduktion angeordnet.« McNeil informierte Pearson über seinen Befund.

Der alte Mann fragte ungläubig: »Und das war alles?«

»Das allein war die Todesursache«, antwortete McNeil. »Sonst nichts.«

Pearson trat näher an die Leiche, blieb dann stehen. Er kannte McNeil gut genug, um zu wissen, daß der Assistent keinen Fehler beging. Er sagte: »Dann müssen sie einfach danebengestanden. und zugesehen haben.«

Seddons warf ein: »Höchstwahrscheinlich wußte niemand, was geschah.«

Pearson nickte langsam. Seddons fragte sich, was der alte Mann wohl dachte. Dann fragte Pearson: »Wie alt war das Kind?«

»Vier«, antwortete McNeil. »Ein hübscher Junge.«

Sie blickten stumm auf den stillen, kleinen Körper auf dem Obduktionstisch. Die Augen waren geschlossen, das blonde, verwirrte Haar wieder an seine Stelle geschoben, nachdem das Gehirn entfernt worden war. Pearson schüttelte den Kopf, wendete sich dann zur Tür. Über die Schulter sagte er: »Also gut. Ich gehe hinauf und sage es ihnen.«

Die drei Personen, die sich in einem Wartezimmer des Krankenhauses aufhielten, sahen auf, als Pearson eintrat. Einer war ein uniformierter Beamter der städtischen Polizei. Neben ihm stand ein großer Mann mit geröteten Augen. Der dritte - ein grauer, kleiner Mann, mit einem großen Schnurrbart - saß niedergeschlagen für sich in einer Ecke.

Pearson stellte sich vor. Der Polizist sagte: »Ich bin Stevens vom fünften Revier, Sir.« Er zog ein Notizbuch und einen Bleistift.

Pearson fragte: »Waren Sie bei dem Unfall dabei?«

»Ich kam unmittelbar danach.« Er deutete auf den großen Mann. »Das ist der Vater des Jungen. Der andere ist der Fahrer des Wagens.«

Der graue Mann blickte auf. Flehend sagte er zu Pearson: »Er kam gerade herausgelaufen, direkt hinter dem Haus hervor. Ich bin kein rücksichtsloser Fahrer. Ich habe selbst Kinder. Ich fuhr nicht schnell. Ich stand fast, als es geschah.«

»Und ich sage, Sie sind ein verfluchter Lügner!« Die Stimme des Vaters schwankte vor Schmerz und Erbitterung. »Sie haben ihn getötet, und hoffentlich kommen Sie dafür ins Gefängnis.«

Pearson sagte beruhigend: »Einen Augenblick, bitte.« Es herrschte Schweigen. Die drei Männer sahen ihn an. Er deutete auf das Notizbuch des Polizisten. »Die Polizei erhält von uns den vollständigen Befund. Aber die wesentlichen Ergebnisse kann ich Ihnen jetzt schon sagen.« Er machte eine Pause. »Die Obduktion hat ergeben, daß der Junge nicht von dem Auto getötet wurde.«

Der Polizist sah ihn überrascht an. Der Vater sagte: »Aber ich war doch dabei. Ich sage Ihnen.«

»Ich wünschte, ich könnte es Ihnen schonender beibringen«, unterbrach Pearson ihn, »aber leider geht das nicht.« Er wendete sich unmittelbar an den Vater. »Der Stoß, den Ihr Junge erhielt, warf ihn zwar auf die Straße, und er erlitt eine leichte Gehirnerschütterung, die ihn bewußtlos machte. Er erlitt auch einen Nasenbeinbruch - nicht sehr schlimm, aber unglücklicherweise verursachte er starkes Nasenbluten.« Pearson wandte sich an den Polizisten. »Ich nehme an, das Kind wurde auf dem Rücken liegengelassen - so, wie es hingefallen war.«

»Ja, Sir«, antwortete der Polizist. »Das stimmt. Wir wollten ihn nicht bewegen, bis der Krankenwagen kam.«

»Und wie lange dauerte das?«

»Etwa zehn Minuten.«

Pearson nickte langsam. »Das war mehr als ausreichend. Fünf Minuten hätten genügt.« Er sagte: »Ich fürchte, das hat den Tod veranlaßt. Das Blut aus der Nase lief dem Jungen den Rachen hinunter. Er bekam keine Luft und sog das Blut in die Lungen ein. Daran ist er erstickt.«

Das Gesicht des Vaters verriet Entsetzen, Unglauben. Er sagte: »Sie meinen, wenn wir ihn nur umgedreht hätten.«

Pearson hob abwehrend seine Hände. »Ich meine, was ich sage. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen auf andere Weise mitteilen, aber ich kann nur die Wahrheit berichten: die ursprünglichen Verletzungen Ihres Sohnes waren geringfügig.«

Der Polizist fragte: »Dann war der Stoß von dem Wagen.?«

»Man kann natürlich nicht sicher sein, aber meine Meinung ist, daß er nur gestreift und verhältnismäßig leicht getroffen wurde.« Pearson deutete auf den grauen Mann, der jetzt dicht vor ihm stand. »Ich nehme an, daß dieser Mann hier die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, daß er langsam fuhr.«

»Heilige Mutter Gottes«, stieß der Vater aus, eine verzweifelte, gequälte Klage. Die Hände vor das Gesicht geschlagen schluchzte er. Nach einem Augenblick führte ihn der graue Mann zu einer Bank, den Arm um die Schultern des anderen gelegt, mit feuchten Augen.

Das Gesicht des Polizisten war weiß. Heiser sagte er: »Doktor, ich stand die ganze Zeit dabei. Ich hätte den Jungen umdrehen können. aber ich wußte es nicht.«

»Ich glaube nicht, daß Sie sich etwas vorzuwerfen haben.«

Der Mann schien ihn nicht zu hören. Wie im Trancezustand fuhr er fort: »Ich habe einen Kurs für Erste Hilfe absolviert und ein Abzeichen dafür bekommen. Immer wieder haben sie uns gelehrt, keinen Verletzten zu bewegen; was man auch täte, bewegen dürfe man sie nicht.«

»Ich weiß.« Pearson legte dem Polizisten seine Hand tröstend auf den Arm. Langsam sagte er: »Unglücklicherweise gibt es für diese Regel einige Ausnahmen. Eine davon ist, wenn ein Verletzter im Mund blutet.«

Auf dem Korridor im ersten Stock sah David Coleman auf dem Weg zum Essen Pearson aus dem Wartezimmer kommen. Zuerst fragte sich Coleman, ob der alte Pathologe krank sei. Er schien verstört zu sein, seine Umgebung nicht wahrzunehmen.

Dann erblickte Pearson ihn und trat auf ihn zu. Coleman blieb stehen.

»Ah ja. Dr. Coleman. Ich wollte Ihnen noch etwas sagen.« Coleman spürte, daß es Pearson aus irgendeinem Grund schwer fiel, seine Gedanken zu ordnen. Wie geistesabwesend streckte er seine Hand aus und ergriff den Aufschlag von Colemans weißem Arztmantel. Coleman bemerkte, daß die Hände des alten Mannes nervös und fahrig waren. Er machte sich von dem Griff unauffällig los.

»Ja, bitte, Dr. Pearson?«

»Was war es noch? Hatte etwas mit dem Labor zu tun.« Pearson schüttelte den Kopf. »Nun, jetzt ist es fort. Es wird mir wieder einfallen.«

Er war im Begriff, sich abzuwenden, als ihm ein anderer Gedanke kam. »Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie den Obduktionsraum übernähmen, von morgen an. Überwachen Sie alles. Sorgen Sie dafür, daß anständig gearbeitet wird.«

»Sehr gut, ich werde das gern tun.« David Coleman hatte eine ganze Reihe klarer Vorstellungen, wie Obduktionen ausgeführt werden sollten, und hier bot sich ihm eine Gelegenheit, sie zu verwirklichen. Ihm fiel ein, daß er einen anderen Punkt vorbringen konnte, da sie gerade miteinander sprachen. »Ich wollte mit Ihnen über etwas sprechen, Dr. Pearson. Es betrifft die Labors.«

»Die Labors?« Die Gedanken des alten Mannes schienen immer noch mit anderen Dingen beschäftigt zu sein.

»Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Ihnen in meinem Brief vorschlug, mir einen Teil der Labors zu unterstellen.« Es erschien Coleman etwas merkwürdig, die Frage in diesem Augenblick und an dieser Stelle zu besprechen, aber er spürte, daß sich nicht so bald wieder eine Gelegenheit ergeben mochte.

»Ja. ja. Ich erinnere mich, daß etwas darin stand.« Pearson schien drei Männer zu beobachten, die vor ihnen durch den Korridor davongingen - ein Polizist und ein kleiner, grauer Mann, die einen großen zwischen sich stützten.

»Ich wüßte gern, ob ich in der Serologie beginnen kann«, fuhr Coleman fort. »Ich würde gern einige Überprüfungen der Verfahren vornehmen - ich meine Normüberprüfungen.«

»Hm, wie meinten Sie?«

Es war lästig, seine Worte zu wiederholen. »Ich sagte, ich würde gern einige Überprüfungen in der Serologie vornehmen.«

»Oh? Ja, ja. Tun Sie das.« Pearson antwortete gedankenverloren. Er sah immer noch den Gang entlang, als Coleman ihn verließ.

Elizabeth Alexander ging es sehr gut. Sie wollte gerade mit ihrem Mittagessen in der Kantine des Three Counties Hospitals anfangen, als ihr bewußt wurde, daß sie sich schon seit Tagen sehr wohl fühlte, ganz besonders aber an diesem Vormittag. Das Kind in ihr lebte und regte sich. Selbst in diesem Augenblick konnte sie seine Bewegungen schwach spüren. Sie kam gerade aus einem Warenhaus, wo sie im Gedränge eines Ausverkaufs siegreich ein paar farbenfrohe Stoffe für ihre Wohnung erobert hatte, darunter ein Stück für das winzige zweite Schlafzimmer, in dem das Baby schlafen sollte. Und nun hatte sie sich mit John getroffen.

Es war das erste Mal, daß sie gemeinsam in dem Krankenhaus aßen. Das Krankenhaus gestattete den Familienangehörigen seiner Angestellten stillschweigend, daß sie in der Kantine aßen, wie John vor ein paar Tagen erfahren hatte. Vor wenigen Minuten hatten sie sich der Schlange angeschlossen, um sich ihr Essen zu holen, und Elizabeth hatte sich einen Salat, Suppe, ein Brötchen, Hammelbraten mit Kartoffeln und Kohl, Käsekuchen und Milch ausgesucht. Gutgelaunt hatte John gesagt: »Glaubst du wirklich, daß dir das reicht?«

Elizabeth nahm einen Selleriestengel und biß hinein. Sie sagte: »Ich habe ein sehr hungriges Baby.«

John lächelte. Noch vor ein paar Minuten auf dem Weg zur Kantine war er bedrückt und niedergeschlagen über die Zurechtweisung durch Dr. Pearson gewesen. Er hatte sie noch nicht verwunden. Aber Elizabeths ansteckend gute Laune hatte ihn seine Mißstimmung vergessen lassen, wenigstens für den Augenblick. Von jetzt an, dachte er, gibt es im Labor für mich keinen Ärger mehr, denn in Zukunft werde ich sehr vorsichtig sein. Auf jeden Fall hatte Dr. Pearson inzwischen den Sensibilitätstest selbst durchgeführt - in Salzlösung und in konzentriertem Protein und beide Testergebnisse als negativ bezeichnet.

»Was das Blut Ihrer Frau angeht«, hatte er gesagt, »besteht keinerlei Grund zur Beunruhigung.« Tatsächlich war er fast freundlich gewesen. Zum mindesten schien es nach seinem vorhergehenden Ausbruch so.

Es war noch etwas anderes zu bedenken. Dr. Pearson war Pathologe, und John war es nicht. Vielleicht hatte Dr. Pearson recht. Vielleicht maß John manchem, was er auf der Fachschule gelernt hatte, zu große Bedeutung bei. Es war doch eine allgemein bekannte Tatsache, daß Schulen immer einen Haufen theoretischen Zeugs in einen hineinpumpten, für den man draußen in der Praxis keine Verwendung hatte. Der Himmel weiß, dachte er, es gibt viele Fächer auf der Oberschule und im College, mit denen man niemals etwas anfangen kann, wenn man das Abschlußexamen hinter sich hat. Konnte es hier nicht genauso sein? Konnte John nicht selbst die in der Schule gelehrte Theorie über die Notwendigkeit eines dritten Sensibilitätstests zu wichtig nehmen, während Dr. Pearson aus seiner langen praktischen Erfahrung wußte, daß er unnötig war?

Was hatte Dr. Pearson noch gesagt, während er den Test ausführte?

»Wenn wir die Methoden in unseren Labors jedesmal änderten, wenn etwas Neues herauskommt, fanden wir nie ein Ende. In der Medizin werden täglich neue Gedanken entwickelt, aber in einem Krankenhaus müssen wir uns vergewissern, daß sie erprobt sind und einen Wert haben, ehe wir sie anwenden können. Wir haben es hier mit Menschenleben zu tun und können uns nicht erlauben, Risiken einzugehen.«

John hatte zwar nicht ganz einsehen können, wieso durch einen zusätzlichen Bluttest das Leben irgendeines Patienten bedroht werden könne, trotzdem räumte er aber ein, daß an dieser Bemerkung Dr. Pearsons über neue Ideen etwas dran sei. John wußte aus seiner Lektüre, daß es ständig viel Neues gab, und nicht alles davon war brauchbar. Natürlich hatte Dr. Coleman sich ziemlich eindeutig über die Notwendigkeit des dritten Sensibilitätstests geäußert, aber er war viel jünger als Dr. Pearson und besaß ganz gewiß keine so große Erfahrung.

»Deine Suppe wird kalt«, unterbrach Elizabeth seine Gedanken. »Worüber bist du so nachdenklich?«

»Nichts Besonderes, Liebling.« Er entschloß sich, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Elizabeth zeigte manchmal eine beunruhigende Hartnäckigkeit, aus ihm herauszufragen, woran er gerade dachte. »Ich wollte dich schon vergangene Woche danach fragen«, sagte er, »wieviel du jetzt wiegst.«

»Ziemlich genau gerade so viel, wie ich soll«, antwortete Elizabeth fröhlich. »Aber Dr. Dornberger sagte, ich müsse gut essen.« Sie war mit ihrer Suppe fertig und wendete sich hungrig dem Hammelbraten zu.

Als John Alexander aufblickte, bemerkte er Dr. Coleman in der Nähe. Der neue Pathologe ging auf die Tische zu, an denen die Ärzte im allgemeinen saßen. Einem Impuls folgend, stand Alexander auf. »Dr. Coleman.«

David Coleman wandte sich ihm zu. »Ja, bitte?«

»Doktor, ich möchte Sie mit meiner Frau bekannt machen.« Als Coleman näher kam, sagte er: »Elizabeth, das ist Dr. Coleman.«

»Guten Tag, Mrs. Alexander.« Coleman blieb stehen, das Tablett in den Händen, das er sich an der Ausgabe geholt hatte.

Etwas verlegen sagte Alexander: »Du erinnerst dich, Liebling. Ich habe dir erzählt, daß Dr. Coleman auch aus New Richmond kommt.«

»Ja, natürlich«, antwortete Elizabeth. Dann lächelnd zu Coleman: »Guten Tag, Dr. Coleman. Ich erinnere mich sehr gut an Sie. Sie kamen doch auch manchmal in das Geschäft meines Vaters.«

»Ja, das stimmt.« Er erinnerte sich jetzt deutlich an sie. Ein fröhliches, langbeiniges Mädchen, das hilfsbereit in dem überfüllten, altmodischen Laden herumsuchte und die Dinge fand, die in dem allgemeinen Durcheinander verschwunden waren. Sie schien sich nicht sehr verändert zu haben. Er sagte: »Ich glaube, sie verkauften mir einmal eine Wäscheleine.«

Sie antwortete vergnügt: »Ich erinnere mich daran. War sie gut?«

Er schien nachzudenken. »Ich fürchte nein. Soviel ich weiß, ist sie gerissen.«

Elizabeth lachte. »Ich bin überzeugt, meine Mutter tauscht sie um, wenn sie ihr zurückgebracht wird. Sie führt das Geschäft noch, und es ist jetzt noch unordentlicher als je.« Ihre gute Laune war ansteckend. Coleman lächelte.

John Alexander rückte einen Stuhl zurecht. »Wollen Sie sich zu uns setzen, Doktor?«

Einen Augenblick zögerte Coleman. Dann wurde ihm bewußt, daß es unhöflich wäre, wenn er sich weigerte. »Gern«, sagte er. Er stellte sein Tablett hin - einen spartanischen Lunch aus einer Schale Fruchtsalat und einem Glas Milch - und nahm Platz. Während er Elizabeth ansah, sagte er: »Wenn ich mich richtig entsinne, trugen Sie doch damals Zöpfe.«

»Ja«, antwortete sie bereitwillig, »und auch eine Zahnspange. Ich bin aber über beides hinausgewachsen.«

David Coleman gefiel die junge Frau, und als er sie heute vor sich sah, hatte er das Gefühl, als sei plötzlich eine Seite aus der Vergangenheit aufgeschlagen worden. Sie erinnerte ihn an die vergangenen Jahre. Indiana war ein Land, in dem es sich gut leben ließ. Die Sommerferien seiner Schulzeit fielen ihm wieder ein, in denen er seinen Vater in dem alten, abgeklapperten Chevrolet bei den Fahrten zu seinen Patienten begleitet hatte. Nachdenklich sagte er: »Es ist lange her, daß ich in New Richmond war. Mein Vater starb, wie Sie wissen, und Mutter zog an die Westküste. Daher gibt es nichts, was mich dorthin zurückbringt.« Dann wendete er seine Gedanken in eine andere Richtung. »Erzählen Sie mir, wie es Ihnen gefällt«, fragte er Elizabeth, »mit einem Mediziner verheiratet zu sein?«

Schnell warf John Alexander dazwischen: »Kein Mediziner nur ein Laborant.« Als er die Worte ausgesprochen hatte, fragte er sich, warum? Vielleicht war es eine Reflexhandlung auf die Ereignisse am Vormittag. Vor ein paar Minuten, als Coleman zu ihnen an den Tisch trat, hatte John noch überlegt, ob er ihm von dem Zwischenfall berichten solle, sich aber sofort dagegen entschieden. Er hatte schon genug Ärger gehabt, weil er offen mit Dr. Coleman sprach. Er zog vor, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Unterschätzen Sie die technische Laborarbeit nicht. Sie ist sehr wichtig«, sagte Coleman.

»Das tut er bestimmt nicht«, antwortete Elizabeth, »aber manchmal wünscht er sich doch, er hätte statt dessen Medizin studiert.«

Coleman wandte sich Alexander zu. »Stimmt das?«

Alexander wäre lieber gewesen, Elizabeth hätte nicht darüber gesprochen. Zögernd antwortete er: »Ich hatte eine Zeitlang daran gedacht.«

Coleman spießte mit seiner Gabel ein Stück von seinem Obstsalat auf. »Und warum haben Sie es nicht getan?«

»Aus den üblichen Gründen, in erster Linie Geld. Ich hatte keins und wollte verdienen.«

Zwischen zwei Bissen sagte Coleman: »Sie könnten es noch schaffen. Wie alt sind Sie?«

Elizabeth antwortete für ihn: »John wird dreiundzwanzig. In zwei Monaten.«

»Das ist natürlich schon ein erhebliches Alter.« Sie lachten alle, dann fügte Coleman hinzu: »Sie haben noch die Zeit dazu.«

»Ja, ich weiß.« John Alexander sprach langsam, nachdenklich, als wisse er im voraus, daß seine eigenen Argumente ihn nicht überzeugen konnten. »Die Schwierigkeit ist, daß es einen schweren finanziellen Kampf bedeuten würde und wir doch gerade anfangen, in geordnete Verhältnisse zu kommen. Und außerdem mit einem Kind.« Er ließ den Satz unvollendet.

Coleman nahm sein Glas Milch und trank langsam. Dann entgegnete er: »Viele Leute mit einem Baby haben Medizin studiert. Und mit finanziellen Problemen.«

»Genau das sage ich auch immer«, erklärte Elizabeth nachdrücklich und beugte sich über den Tisch. »Ich bin froh, daß er es auch einmal von jemand anderem hört.«

Coleman betupfte sich mit der Serviette den Mund, legte sie dann hin. Er sah Alexander gerade an. Er hatte das Gefühl, als ob sein erster Eindruck von dem jungen Laboranten richtig gewesen sei. Er schien intelligent und gewissenhaft zu sein, und zweifellos war er an seiner Arbeit ehrlich interessiert. Das war gestern klar zu erkennen gewesen. »Wollen Sie meine Ansicht wissen, John? Ich meine, wenn Sie so empfinden, aber nicht Medizin studieren, solange Sie die Möglichkeit dazu haben, werden Sie es wahrscheinlich für den Rest Ihres Lebens bereuen.«

Alexander sah vor sich hin und aß in Gedanken verloren weiter.

Elizabeth fragte: »Es besteht doch immer noch ein großer Bedarf an Pathologen, nicht wahr?«

»Aber ja!« Coleman nickte nachdrücklich. »Bei den Pathologen vielleicht mehr als auf jedem anderen Gebiet.«

»Wie kommt das?«

»Zunächst einmal, weil noch viele Forschungsaufgaben gelöst werden müssen, um die Medizin weiterzubringen, um die offengebliebenen Lücken zu füllen.«

Sie fragte: »Was meinen Sie mit den offengebliebenen Lücken?«

David Coleman erkannte flüchtig, daß er unbefangener sprach als sonst. Er überraschte sich dabei, Gedanken auszusprechen, die er meistens für sich behielt. Aber die Gesellschaft der beiden Alexanders erschien ihm erfrischend, möglicherweise weil es eine Entspannung war, nach der Begegnung mit Dr. Pearson mit jüngeren Menschen zusammen zu sein. Er antwortete auf Elizabeths Frage: »In gewisser Weise ist es in der Medizin wie im Krieg. Genau wie im Kriege werden manchmal eindrucksvolle Siege errungen. In diesen Fällen drängen alle -Ärzte meine ich damit - an die neue Front, aber hinterlassen dabei Lücken im Wissen, die ausgefüllt werden müssen.«

Elizabeth fragte: »Und das ist die Aufgabe der Pathologen? Diese Lücken zu füllen?«

»Es ist die Aufgabe jedes Zweiges der Medizin. Aber mitunter bieten sich der Pathologie bessere Möglichkeiten.« Coleman dachte einen Augenblick nach, ehe er fortfuhr. »Und noch etwas anderes. Die ganze Forschung in der Medizin gleicht weitgehend dem Bau einer Mauer. Jemand bringt eine neue Erkenntnis, fügt einen weiteren Ziegel hinzu. Ein anderer schafft den nächsten Stein bei, und so wächst die Mauer, Stein für Stein, bis schließlich einer kommt und den letzten Ziegel oben aufsetzt.« Er lächelte. »Es ist nicht vielen vergönnt, etwas weithin Sichtbares zu leisten, ein Fleming oder ein Salk zu sein.

Das Größte, was ein Pathologe im allgemeinen leisten kann, besteht in irgendeinem bescheidenen Beitrag zu den medizinischen Erkenntnissen. Etwas, das innerhalb seines eigenen Bereiches, innerhalb seiner eigenen Zeit liegt. Aber das sollte er wenigstens tun.«

John Alexander hatte gespannt zugehört. Jetzt fragte er begierig: »Werden Sie hier Forschungsarbeiten durchführen?«

»Ich hoffe es.«

»Auf welchem Gebiet?«

Coleman zögerte. Das war ein Punkt, über den er noch nie gesprochen hatte. Aber er hatte schon so vieles gesagt, daß er glaubte, es komme auf etwas mehr nicht an. »Nun, zunächst einmal über Lipome - gutartige Tumore des Fettgewebes. Wir wissen sehr wenig über sie.« Ohne es zu bemerken, hatte er sich an seinem Thema erwärmt. Seine normale Kühle und Zurückhaltung waren von ihm abgefallen.

»Wissen Sie, daß es Fälle gibt, in denen Menschen verhungern, während sich in ihnen trotzdem diese Geschwülste bilden? Was ich zu erreichen hoffe, ist.« Er brach plötzlich ab. »Fehlt Ihnen etwas, Mrs. Alexander?«

Elisabeth hatte plötzlich gestöhnt und ihr Gesicht mit den Händen bedeckt. Jetzt senkte sie ihre Hände wieder und schüttelte den Kopf, wie um ihn klar zu bekommen.

»Elizabeth? Was ist dir?« Alarmiert sprang John Alexander von seinem Stuhl auf. Er ging um den Tisch herum.

»Es ist. es ist schon in Ordnung.« Elizabeth winkte ihn auf seinen Platz zurück. Sie schloß einen Augenblick die Augen, öffnete sie wieder. »Es war nur. einen Augenblick ein Schmerz, dann Schwindel. Es ist schon vorbei.«

Sie trank einen Schluck Wasser. Ja, es stimmte, es war vorbei. Aber einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, spitze, glühende Nadeln in sich zu spüren - innen, wo sich das Kind bewegte -, dann war ihr schwindelig geworden und die Kantine hatte sich im Kreis um sie herum gedreht.

»Ist das schon einmal vorgekommen?« fragte Coleman.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ganz bestimmt nicht, Liebling?« John fragte mit ängstlicher Stimme.

Elizabeth griff über den Tisch und legte ihre Hand auf die seine. »Mach dir keine Sorgen. Es ist zu früh für das Kind. Es dauert mindestens noch zwei Monate.«

»Trotzdem«, warnte Coleman ernst, »rate ich Ihnen, Ihren Arzt anzurufen und ihm zu berichten, was geschehen ist. Vielleicht will er Sie untersuchen.«

»Das werde ich tun.« Sie lächelte ihm herzlich zu. »Ich verspreche es Ihnen.«

In diesem Augenblick meinte Elizabeth, was sie sagte. Aber später, als sie nicht mehr im Krankenhaus war, schien es ihr zu albern, Dr. Dornberger wegen eines einzigen Schmerzes zu belästigen, der ganz kurz aufgetreten und so schnell wieder verschwunden war. Wenn er wiederkam, war gewiß noch Zeit genug, ihn anzurufen aber nicht jetzt schon. Sie entschloß sich also, zu warten.

XV

»Gibt es etwas Neues?«

Von ihrem Rollstuhl blickte Vivian zu Dr. Grainger auf, als Lucy in das Krankenzimmer trat. Vier Tage waren seit der Probeexcision vergangen, drei, seit Pearson die Schnitte nach New York und Boston geschickt hatte.

Lucy schüttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich etwas weiß, Vivian.«

»Wann. wann werden Sie es wissen.. endgültig?«

»Wahrscheinlich heute noch.« Lucy antwortete sachlich. Sie wollte nicht verraten, daß auch sie das Warten beunruhigte. Gestern abend hatte sie noch einmal mit Joe Pearson gesprochen. Dabei hatte er versprochen, die beiden Spezialisten anzurufen und zu bitten, ihren Befund sofort abzuschicken, wenn ihre Antwort bis heute mittag nicht eintreffe. Das Warten fiel allen schwer, auch Vivians Eltern, die am Tage vorher aus Oregon in Burlington angekommen waren.

Lucy nahm den Verband von Vivians Knie ab. Die Schnittnarbe schien gut zu verheilen. Während sie den Verband erneuerte, sagte sie: »Es ist schwer. Das weiß ich. Versuchen Sie, soviel wie möglich an anderes zu denken.«

Das Mädchen lächelte schwach. »Es ist wirklich nicht leicht.«

Lucy stand jetzt an der Tür. Sie sagte: »Vielleicht lenkt ein Besuch Sie ab. Hier kommt schon ein sehr früher.« Sie öffnete die Tür und winkte. Mike Seddons trat ein, als Lucy hinausging.

Seddons trug seinen weißen Krankenhausanzug. Er sagte: »Ich habe mir zehn Minuten gestohlen. Sie sind ganz für dich.«

Er kam zu ihr herüber und küßte sie. Einen Augenblick schloß sie die Augen und schmiegte sich fest an ihn. Er strich ihr mit der Hand über das Haar. Seine Stimme an ihrem Ohr war sanft.

»E» fällt einem schwer, nicht wahr, so zu warten?«

»Oh, Mike, wenn ich nur wüßte, was kommt. Ich glaube nicht, daß ich es nicht ertragen kann. Es ist dieses ständige. Sichfragen. diese Ungewißheit.«

Er hielt sie etwas von sich ab und sah ihr ins Gesicht. »Vivian, Liebling, ich wünsche so, daß ich etwas für dich tun könnte, und sei es noch so wenig.«

»Du hast schon sehr viel getan. «Vivian lächelte schwach. »Schon daß du da bist - daß du bei mir bist. Ich wüßte nicht, wie ich es ohne dich...«

Sie schwieg, als er die Hand ausstreckte und ihr einen Finger auf die Lippen legte.

»Sprich es nicht aus. Ich mußte hier sein. Es war vorausbestimmt, alles durch das kosmische Geschehen festgelegt.« Er zeigte ihr sein strahlendes, breites Lächeln. Nur er selbst spürte die Hohlheit hinter seinen Worten. Mike Seddons wußte wie Lucy genau, was die Verzögerung des pathologischen Befundes zu bedeuten hatte.

Es gelang ihm jedoch, Vivian zum Lachen zu bringen. »Unsinn«, sagte sie. »Wenn ich nicht zu dieser alten Obduktion gekommen wäre oder eine andere Lernschwester dich zuerst.«

»Na ja.« Dann schüttelte er den Kopf. »Es sieht vielleicht so aus, aber man kann seinem vorausbestimmten Geschick nicht entgehen. Seit unsere Urahnen sich von Baum zu Baum schwangen und sich die Unterarme kratzten, haben unsere Gene sich durch die sandigen Wüsten von Zeit, Leben und Schicksal einander genähert.« Er redete nur, um etwas zu sagen, sprach die ersten Worte aus, die ihm in den Kopf kamen, aber sie erzielten die gewünschte Wirkung.

Vivian sagte: »Oh, Mike, du redest so einen großartigen Quatsch, und ich liebe dich so.«

»Das kann ich verstehen.« Er küßte sie wieder sanft. »Ich glaube, deine Mutter mag mich auch.«

Sie legte eine Hand auf ihren Mund. »Da kannst du sehen, was du mit mir machst. Danach hätte ich als erstes fragen sollen. Ging alles gut, nachdem ihr gestern abend hier fortgegangen seid?«

»Aber sicher. Ich brachte deine Eltern zum Hotel zurück. Wir saßen dann noch eine Weile zusammen und unterhielten uns. Deine Mutter sagte nicht viel, aber ich merkte genau, wie dein Vater mich abschätzte und bei sich dachte: was ist das für ein Bursche, der daherkommt und behauptet, er werde meine schöne Tochter heiraten?«

»Das werde ich ihm heute genau erklären«, antwortete Vivian.

»Und was wirst du ihm sagen?«

»Oh, das weiß ich noch nicht.« Sie streckte die Hände aus, faßte Seddons bei den Ohren, drehte seinen Kopf hin und her und betrachtete ihn prüfend. »Vielleicht sage ich, er hat das hübscheste rote Haar, das ich kenne. Es ist immer unordentlich, aber man kann mit den Fingern hindurchfahren, und es ist sehr weich.« Sie begleitete ihre Worte mit den entsprechenden Bewegungen.

»Das ist natürlich alles sehr wichtig. Ohne das wäre keine Ehe vollkommen. Was weiter?«

»Ich werde sagen: >Natürlich sieht er nicht besonders gut aus, aber er hat ein Herz aus Gold und wird einmal ein brillanter Chirurg.««

Seddons runzelte die Stirn. »Könntest du nicht sagen: außerordentlich brillant?«

»Vielleicht, wenn. «

»Wenn was?«

»Wenn du mich noch einmal küßt - jetzt gleich.«

In der zweiten Etage des Krankenhauses klopfte Lucy Grainger leicht an die Tür des Chefs der Chirurgie und trat ein.

Kent O'Donnell blickte von seinem Bericht auf und grüßte: »Hallo, Lucy. Machen Sie es Ihren müden Knochen bequem.«

»Da Sie mich darauf aufmerksam machen, merke ich: sie sind wirklich etwas müde.« Sie ließ sich in den großen Ledersessel fallen, der O'Donnells Schreibtisch gegenüberstand.

»Ab erstes heute morgen erhielt ich den Besuch von Mr. Loburton.« O'Donnell kam um seinen Schreibtisch herum und setzte sich ungezwungen auf die Schreibtischkante vor Lucy. »Zigarette?« Er reichte ihr sein gehämmertes, goldenes Zigarettenetui.

»Danke.« Sie griff nach einer Zigarette. »Ja, Vivians Vater.«

Lucy nahm das Feuer, das O'Donnell ihr anbot und atmete tief ein. Der Rauch war kühl, beruhigend. »Ihre Eltern kamen gestern an«, fuhr sie fort. »Natürlich sind sie sehr beunruhigt, und selbstverständlich wissen sie nicht das geringste über mich. Ich riet Mr. Loburton, mit Ihnen zu sprechen.«

»Das hat er auch getan«, antwortete O'Donnell ruhig. »Ich erklärte ihm, daß seine Tochter meiner Meinung nach kaum in besseren Händen sein könne, daß es unter den Ärzten des Krankenhauses keinen gebe, zu dem ich größeres Vertrauen hätte. Ich kann Ihnen versichern, daß er sehr beruhigt erschien.«

»Danke.« Lucy war O'Donnell für seine Worte ungemein dankbar.

Der Chef der Chirurgie lächelte. »Danken Sie mir nicht. Das ist meine ehrliche Meinung.« Nach einer Pause fragte er: »Und was ist nun mit dem Mädchen, Lucy? Wie sieht die Sache aus?«

In wenigen Worten schilderte sie ihm ihren Untersuchungsbefund, ihre vorläufige Diagnose, die Probeexcision.

O'Donnell nickte. »Hat es Schwierigkeiten mit der Pathologie gegeben? Hat Joe Pearson seinen Befund prompt geliefert?« fragte er.

Lucy berichtete ihm über die Verzögerung und deren Gründe. Er überlegte kurz. »Nun, mir scheint das sehr vernünftig. Ich glaube nicht, daß dagegen etwas einzuwenden ist. Aber drängen Sie Joe. Sie dürfen es nicht noch länger hinauszögern.«

»Das werde ich auch nicht.« Lucy blickte auf ihre Uhr. »Ich beabsichtige, Joe nach dem Mittagessen wieder zu fragen. Bis dahin erwartet er die endgültige Nachricht.«

O'Donnell verzog das Gesicht. »So endgültig, wie es in diesem Fall sein kann.« Er wurde nachdenklich. »Das Mädchen ist zu bedauern. Wie alt ist sie?«

»Neunzehn.« Lucy beobachtete Kent O'Donnells Gesicht. Ihr erschien es wie ein Spiegel, der seine Gedanken, seinen Charakter, sein Verständnis verriet. Sie dachte: Er besitzt Format, und er zeigt es unaufdringlich, weil es echt ist und zu ihm gehört. Das schien seinem Urteil über ihre eigenen Fähigkeiten, das er vor einigen Augenblicken ausgesprochen hatte, noch mehr Wärme und größere Bedeutung zu verleihen. Dann erkannte Lucy, plötzlich durch eine Offenbarung überwältigt, das, was sie sich in den vergangenen Monaten einzugestehen versagt hatte: daß sie diesen Mann liebte - tief und leidenschaftlich. Mit überraschender Klarheit wurde ihr bewußt, daß sie sich gegen diese Erkenntnis gewehrt hatte, vielleicht aus der instinktiven Furcht, verletzt zu werden. Aber, was auch geschah, jetzt konnte sie es sich nicht länger verhehlen. Für einen Augenblick wurde ihr bei dem Gedanken schwach. Sie fragte sich, ob ihr Gesicht sie verraten habe.

O'Donnell sagte entschuldigend: »Ich muß Sie jetzt verlassen, Lucy. Ich habe wieder einen arbeitsreichen Tag vor mir.« Er lächelte. »Aber ist das nicht ständig so?«

Mit schneller klopfendem Herzen und aufwallenden Gefühlen stand sie auf und ging zur Tür. Während O'Donnell sie öffnete, legte er seinen Arm um ihre Schultern. Es war eine zwanglose, freundschaftliche Geste, die auch jeder andere ihrer Kollegen machen konnte. Aber in diesem Augenblick wirkte sie elektrisierend, machte sie atemlos und verwirrt.

»Geben Sie mir Bescheid, Lucy, falls Probleme auftauchen«, sagte O'Donnell. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich vielleicht heute zu Ihrer Patientin und sehe sie mir an.«

Sie riß ihre Gedanken zusammen und antwortete: »Das würde sie bestimmt freuen, und mich auch.« Als die Tür hinter ihr zufiel, schloß Lucy einen Augenblick die Augen, um ihre aufwallenden Gefühle zu beherrschen.

Die Qual des Wartens auf Vivians Diagnose übte auf Mike Seddons eine tiefgreifende Wirkung aus. Von Natur aus war er heiter und aufgeschlossen. In normalen Zeiten galt er als einer der lebhaftesten unter den jungen Ärzten des Three Counties Hospitals, und es war nicht ungewöhnlich, ihn im Brennpunkt einer lauten, ausgelassenen Gruppe in den Wohnräumen der Assistenzärzte anzutreffen. In den letzten Tagen hatte er jedoch meistens die Gesellschaft anderer gemieden. Das Wissen, was eine schicksalsvolle Entscheidung der Pathologie für Vivian und ihn selbst bedeutete, lastete schwer auf ihm.

Seine Empfindungen für Vivian waren unerschüttert. Wenn überhaupt, waren sie noch stärker geworden. Er hoffte, daß Vivians Eltern das in der Zeit, die er am vergangenen Abend nach der ersten Begegnung im Krankenhaus mit ihnen verbrachte, erkannt hatten. Wie zu erwarten, waren zunächst alle - Mr. und Mrs. Loburton, Vivian und er selbst - etwas verlegen gewesen. Ihre Unterhaltung war gezwungen und gelegentlich sogar förmlich. Selbst nachher schien es, daß die Loburtons der Begegnung mit dem künftigen Schwiegersohn, die unter anderen Umständen große Bedeutung gehabt hätte, nur eine zweitrangige Rolle hinter ihrer vordringlichen Sorge um Vivians Gesundheit zuerkannten. In gewissem Sinn spürte Mike Seddons, daß er hingenommen wurde, weil für irgend etwas anderes keine Zeit vorhanden war.

In dem Hotel hatten sich die Loburtons allerdings kurz mit ihm über Vivian und ihn selbst unterhalten. Henry Loburton, dessen große Gestalt den Polstersessel im Wohnzimmer ihrer Hotelsuite ausfüllte, fragte Mike Seddons nach dessen Zukunftsplänen, mehr aus Höflichkeit allerdings, wie Seddons vermutete, als aus echter Anteilnahme. Seddons schilderte darauf kurz seine Absicht, sich in Philadelphia als Chirurg niederzulassen, nachdem er seine Assistenzzeit im Three Counties Hospital beendet habe. Die Loburtons nickten höflich und ließen das Thema dann fallen.

Gewiß war von ihrer Seite kein Widerstand gegen die Heirat zu erwarten. »Vivian wußte immer, was sie wollte«, sagte Henry Loburton. »Das war auch so, als sie sich entschloß, Krankenschwester zu werden. Wir hatten unsere Zweifel, sie ließ sich aber nicht davon abbringen, und später blieb uns dann nicht mehr viel zu sagen übrig.«

Mike Seddons sprach die Hoffnung aus, daß sie Vivian nicht für zu jung hielten, um zu heiraten. Bei diesen Worten lächelte Angela Loburton. »Ich fürchte, daß wir aus diesem Grund kaum einen Einwand erheben können«, antwortete sie. »Denn, sehen Sie, ich selbst habe mit siebzehn geheiratet. Ich bin deswegen von zu Hause fortgelaufen.« Sie lächelte ihrem Mann zu. »Wir hatten zwar kein Geld, aber wir sind durchgekommen.«

Mit einem breiten Lächeln antwortete Seddons: »Nun, das haben wir dann gemeinsam. Jedenfalls, bis ich meine Praxis in Schwung gebracht habe.«

Das war gestern abend gewesen. Heute morgen, nach seinem Besuch bei Vivian, fühlte er sich aus irgendeinem Grund erleichtert und erlöst. Vielleicht hatte seine Depression schon zu lange gedauert, und seine natürliche Heiterkeit setzte sich wieder durch. Aber was auch der Grund war, er war wohlgemut und innerlich überzeugt, daß alles gut gehen werde. Dieses Gefühl beherrschte ihn auch jetzt im Obduktionsraum, wo er Roger McNeil bei der Obduktion einer älteren Frau assistierte, die in der vergangenen Nacht gestorben war. Es hatte ihn veranlaßt, McNeil witzige Anekdoten zu erzählen. Mike Seddons verfugte über ein ansehnliches Repertoire, und das war mit ein Grund für seinen Ruf als Witzbold.

Mitten in seiner Erzählung unterbrach er sich und fragte McNeil: »Haben Sie eine Zigarette?«

Der pathologische Assistent deutete mit dem Kopf. Er sezierte gerade das Herz, das er eben aus dem Körper herausgenommen hatte.

Seddons ging durch den Raum, fand die Zigaretten in McNeils Jacke und zündete eine an. Während er zurückkam, fuhr er fort: »Sie sagte also zu dem Leichenbestatter: >Dafür danke ich Ihnen sehr, es muß aber doch sehr schwierig für Sie gewesen sein.< Und der Leichenbestatter antwortete: >Oh, so schwer war es gar nicht. Ich brauchte nur die Köpfe auszutauschen.««

So makaber der Scherz in dieser Umgebung auch klang, McNeil lachte laut auf. Er lachte immer noch, als die Tür des Obduktionsraumes geöffnet wurde und David Coleman eintrat.

»Dr. Seddons, wollen Sie bitte die Zigarette ausmachen.« Colemans Stimme schnitt kühl durch den Raum.

Mike Seddons sah sich um. Liebenswürdig antwortete er: »Oh, guten Morgen, Dr. Coleman. Ich habe Sie nicht gleich erkannt.«

»Die Zigarette, Dr. Seddons.« Colemans Ton war eisig, sein Blick hart.

Seddons begriff nicht sofort. »Wie?. Ah ja«, sagte er und sah sich nach einer Stelle um, an der er seine Zigarette ausdrücken konnte, und als er keinen geeigneten Platz fand, streckte er die Hand nach dem Obduktionstisch aus, auf dem die Leiche lag.

»Dort nicht.« Mit scharfer Stimme wies Coleman den chirurgischen Assistenten zurecht. Nach einem Augenblick ging Seddons durch den Raum, fand einen Aschenbecher und drückte die Zigarette darin zusammen.

»Dr. McNeil.«

»Bitte, Dr. Coleman?« antwortete Roger McNeil ruhig.

»Wollen Sie bitte das Gesicht bedecken.«

Voller Unbehagen, weil er wußte, was in Coleman vorging, griff McNeil nach einem Handtuch. Er hatte es schon vorher benutzt, und mehrere große Blutflecken waren darauf. Mit dem gleichen, keinen Widerspruch duldenden Ton sagte Coleman: »Ein sauberes Handtuch, bitte. Und tun Sie das gleiche mit dem Geschlecht.«

McNeil nickte Seddons zu, der zwei saubere Handtücher brachte. McNeil breitete eines behutsam über das Gesicht der toten Frau, mit dem anderen bedeckte er ihr Geschlecht.

Jetzt standen die beiden Assistenten vor Coleman. Beiden war ihre Verlegenheit anzumerken, beide ahnten, was als nächstes kommen mußte.

»Meine Herren, mir scheint, daß ich Ihnen etwas ins Bewußtsein zurückrufen muß.« David Coleman sprach ruhig -nicht ein Mal, seit er den Raum betrat, hatte er seine Stimme erhoben -, aber worauf er abzielte und die Autorität, die hinter seiner Forderung stand, waren unverkennbar. Nachdrücklich fuhr er fort: »Wenn wir eine Obduktion vornehmen, tun wir das mit der Erlaubnis der Familie des Verstorbenen. Ohne diese Erlaubnis gäbe es keine Obduktion. Ich nehme an, das ist Ihnen völlig klar.«

»Völlig klar«, bestätigte Seddons. McNeil nickte.

»Also gut.« Coleman blickte auf den Obduktionstisch, dann auf die beiden Assistenten. »Unser eigenes Ziel ist, unsere medizinischen Kenntnisse zu vervollkommnen. Die Familie des Verstorbenen ihrerseits vertraut uns den Körper in der Erwartung an, daß er mit Anstand, Respekt und Würde behandelt wird.« Hörbar stand das Schweigen nach seinen Worten im Raum. McNeil und Seddons standen völlig regungslos.

»Und so, meine Herren, werden wir ihn behandeln.« Coleman betonte seine Worte wieder: »Mit Anstand, Respekt und Würde.«

Er fuhr fort: »Bei allen Obduktionen werden Gesicht und Genitalien bedeckt, und in diesem Raum wird nicht geraucht. Was Ihr eigenes Verhalten und insbesondere das Erzählen von Witzen« - bei diesen Worten lief Mike Seddons dunkelrot an -»angeht, ich glaube, das darf ich in Zukunft Ihrem eigenen Urteil überlassen.«

Einen Augenblick sah Coleman jeden der beiden unmittelbar an. Dann: »Ich danke Ihnen, meine Herren. Wollen Sie bitte fortfahren.« Er nickte und ging hinaus.

Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schwiegen beide noch ein paar Sekunden lang. Dann sagte Seddons leise: »Mir scheint, daß wir gerade nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen worden sind.«

Beschämt fügte McNeil hinzu: »Nicht ganz ohne Grund, glaube ich. Wie?«

Sobald sie es sich leisten könnten, beschloß Elizabeth, würde sie einen Staubsauger kaufen. Der altmodische Teppichkehrer, den sie besaß, nahm nur den oberflächlichsten Schmutz weg, aber das war auch alles. Sie schob ihn noch ein paarmal über den Teppich hin und her und musterte kritisch das Ergebnis. Nicht sehr befriedigend, aber es mußte genügen. Sie durfte nicht vergessen, heute abend mit John darüber zu sprechen.

Staubsauger waren nicht so schrecklich teuer, und eine monatliche Rate sollte auch noch zu tragen sein. Eine Schwierigkeit war allerdings, daß sie noch so viele Dinge brauchten. Immer standen sie vor dem Problem, was zuerst an die Reihe kommen sollte.

In gewisser Weise war sie geneigt, John recht zu geben. Es war alles schön und gut, von Opfern zu sprechen und auf Dinge zu verzichten, damit John Medizin studieren konnte. Aber wenn man es genau überlegte, war es schwer mit einem geringen Einkommen durchzukommen, wenn man sich erst einmal an einen bestimmten Lebensstandard gewöhnt hatte. Zum Beispiel Johns Gehalt im Krankenhaus. Es versetzte sie gewiß noch nicht in die höhere Einkommensschicht, aber es genügte, um erträglich zu leben, und ermöglichte ihnen, sich einen bescheidenen Luxus zu leisten, der vor ein paar Monaten noch unerreichbar gewesen war. Konnten sie auf diese Dinge jetzt wieder verzichten? Elizabeth glaubte es, wenn es ihr auch schwerfallen würde. Das Medizinstudium bedeutete vier weitere Jahre kämpfen, und selbst dann würden die Jahre als Praktikant und vielleicht noch die Zeit als Assistenzarzt folgen, falls John sich entschied, sich zu spezialisieren. War es den Aufwand wert? War es nicht vielleicht besser, wenn sie sich mit dem Glück begnügten, das sie gegenwärtig gefunden hatten, wenn sie sich mit ihrer gegenwärtigen Situation - trotz aller Bescheidenheit - abfanden?

Das war doch eine vernünftige Überlegung, oder nicht? Trotzdem war Elizabeth sich ihrer Sache irgendwie nicht sicher. Sollte sie John weiterdrängen, sein Ziel höherzustecken und um jeden Preis auf die Universität zu gehen? Dr. Coleman war offensichtlich dieser Ansicht. Was hatte er noch zu John gesagt? »Wenn Sie so empfinden, aber nicht Medizin studieren, solange Sie noch die Möglichkeit dazu haben, werden Sie es wahrscheinlich für den Rest Ihres Lebens bereuen.« Als Dr. Coleman diese Worte aussprach, hatten sie Elizabeth tief beeindruckt, und, wie sie vermutete, auch John. Als sie sich jetzt an sie erinnerte, kamen sie ihr bedeutungsvoller denn je vor. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Vielleicht war es das richtigste, heute abend die ganze Angelegenheit noch einmal durchzusprechen. Wenn sie sich davon überzeugte, daß John es wirklich wünschte, konnte sie ihn vielleicht zu einer Entscheidung drängen. Es wäre nicht das erste Mal, daß sich Elizabeth in einer Frage, die sie beide betraf, durchsetzte.

Elizabeth stellte den Teppichkehrer fort und ging rund durch die Wohnung, räumte auf und staubte ab. Sie sang während ihrer Arbeit und schob ihre ernsten Gedanken für den Augenblick von sich. Es war ein schöner Morgen. Die warme Augustsonne, die hell in das kleine, aber behagliche Wohnzimmer schien, zeigte die neuen Vorhänge, die sie gestern abend genäht und aufgehängt hatte, im besten Licht. Elizabeth blieb vor dem Mitteltisch stehen, um die Blumen in einer Vase neu zu ordnen. Sie entfernte zwei Blüten, die zu welken begannen, und war im Begriff, in die winzige Küche zu gehen, als der Schmerz sie überfiel. Er kam plötzlich, ohne Vorwarnung, traf sie wie ein sengendes Feuer und war schlimmer, viel schlimmer, ab am Tage vorher in der Krankenhauskantine. Elizabeth holte tief Atem, biß sich auf die Lippe, um einen Schrei zu unterdrücken, und ließ sich in einen Sessel sinken. Der Schmerz legte sich kurz, kehrte dann, wie ihr schien, noch stärker wieder. Er kam wie in einem Zyklus. Dann erkannte sie seine Bedeutung. Unwillkürlich sagte sie laut: »Nein, o nein.«

Trotz der Qual, die Elizabeth ergriff, wußte sie, daß sie schnell handeln mußte. Die Nummer des Krankenhauses stand auf der Liste neben dem Telefon. Der Apparat auf der anderen Seite des Zimmers wurde plötzlich das einzige Ziel ihrer Gedanken. Sie nutzte die Pause zwischen den Anfällen, griff nach dem Tisch als Stütze, zog sich aus dem Sessel und näherte sich mühevoll dem Apparat. Als sie gewählt hatte und sich das Krankenhaus meldete, sagte sie keuchend: »Dr. Dornberger. es ist dringend.«

Darauf folgte eine Pause, ehe er sich meldete: »Hier ist. Mrs. Alexander«, stöhnte Elizabeth mühsam. »Es hat angefangen. Mein Kind kommt. «

David Coleman klopfte an die Tür zu Dr. Pearsons Zimmer und trat ein. Er fand den Leiter der Pathologie hinter seinem Schreibtisch vor. Neben ihm stand Carl Bannister. Der Laborant zeigte ein finsteres Gesicht. Nach einem kurzen Blick vermied er vorsätzlich, Coleman anzusehen.

»Sie wollten mich sprechen, wurde mir gesagt.« Coleman kam aus der chirurgischen Abteilung, wo er einen Gefrierschnitt ausführte, als sein Name durch die Lautsprecheranlage aufgerufen wurde.

»Jawohl.« Pearsons Verhalten war kühl und förmlich. »Dr. Coleman, mir wurde von einem Mitarbeiter eine Beschwerde vorgebracht. Von Carl Bannister hier.«

»So?« Coleman zog die Augenbrauen hoch. Bannister sah unbewegt vor sich hin.

Pearson fuhr fort: »Ich habe gehört, daß Sie beide heute morgen eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten.«

»So würde ich es nicht gerade nennen.« Colemans Stimme klang sicher und gelassen.

»Und wie würden Sie es nennen?« Die Schärfe im Ton des alten Mannes war nicht zu verkennen.

Coleman antwortete geduldig: »Offen gesagt hatte ich nicht die Absicht, Ihnen die Angelegenheit vorzutragen. Aber da Bannister es für richtig hielt, ist es wohl das beste, wenn Sie den Vorfall im vollen Umfang erfahren.«

»Wenn Ihnen das nicht zu viele Umstände macht.«

Coleman ignorierte den Sarkasmus und fuhr fort: »Gestern abend teilte ich den beiden serologischen Laboranten mit, daß ich beabsichtige, gelegentliche Stichproben zur Überprüfung der Arbeit im Labor durchzuführen. Heute vormittag nahm ich eine solche Überprüfung vor.« Coleman sah Bannister an. »Ich hielt die Probe eines Patienten vor der Ablieferung in das serologische Labor auf und teilte sie. Dann fügte ich die zusätzliche Probe auf der Anforderungsliste hinzu, so daß sie als besonderer Test erschien. Als ich später die Ergebnisse kontrollierte, stellte ich fest, daß Mr. Bannister zwei verschiedene Testbefunde erzielt hatte, obwohl sie selbstverständlich hätten identisch sein müssen.« Er fügte hinzu: »Falls Sie wünschen, können wir die Einzelheiten aus den Aufzeichnungen im Labor sofort ersehen. «

Pearson schüttelte den Kopf. Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben und halb abgewendet. Er schien nachzudenken. Coleman fragte sich gespannt, was er als nächstes tun würde. Er wußte, daß er auf vollkommen sicherem Boden stand. Das von ihm eingeschlagene Verfahren war in den meisten Krankenhauslabors üblich. Es stellte einen Schutz für die Patienten und eine Sicherheitsmaßnahme gegen Unachtsamkeit dar. Gewissenhafte Laboranten nahmen derartige Überprüfungen widerspruchslos als einen Teil ihrer Arbeit hin. Außerdem hatte Coleman die Gepflogenheiten gewahrt, indem er gestern sowohl Bannister als auch John Alexander mitteilte, daß derartige Prüfungen erfolgen würden.

Plötzlich fuhr Pearson auf Bannister los: »Nun und? Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Mir paßt nicht, daß hinter mir her spioniert wird.« Die Antwort erfolgte gereizt und aggressiv. »Ich habe nie so zu arbeiten brauchen, und ich finde nicht, daß ich jetzt noch anfangen soll, es mir gefallen zu lassen.«

»Ich sage Ihnen, Sie sind ein Idiot«, schrie Pearson Bannister an. »Sie sind ein Idiot, weil Sie so einen dummen Schnitzer gemacht haben, und Sie sind noch ein größerer Idiot, sich bei mir zu beschweren, weil man Sie dabei erwischt hat.« Schwer atmend schwieg er mit zusammengepreßten Lippen. Coleman spürte, daß der Ärger des alten Mannes zum großen Teil darauf beruhte, daß er keine andere Wahl hatte, ab sein Vorgehen gutzuheißen, wie sehr es ihm auch widerstreben mochte. Jetzt trat Pearson direkt vor Bannister und knurrte ihn an: »Was haben Sie sich denn eingebildet? Soll ich Ihnen vielleicht noch auf den Rücken klopfen oder einen Orden umhängen?«

Bannisters Gesichtsmuskeln arbeiteten. Zum erstenmal schien er keine Antwort zu finden. Pearson musterte ihn grimmig und schien weiterschreien zu wollen, zwang sich dann aber plötzlich zur Ruhe. Er wendete sich halb ab und wies mit der Hand zur Tür. »Hinaus mit Ihnen! Hinaus!«

Wortlos, mit starrem Gesicht, ohne nach rechts oder links zu sehen, verließ Bannister das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Jetzt wandte sich Pearson scharf an Coleman. »Was, zum Donnerwetter, soll das bedeuten?«

David Coleman nahm den brennenden Zorn in den Augen des alten Mannes wahr. Er erkannte, daß die Angelegenheit mit Bannister lediglich ein Vorspiel war. Entschlossen, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, antwortete er maßvoll: »Was soll was bedeuten, Dr. Pearson?«

»Sie wissen verdammt gut, was ich meine. Ich meine die Durchführung von Überprüfungen im Labor - ohne meine Genehmigung.«

»Benötige ich in reinen Routinefragen dieser Art wirklich Ihre Genehmigung? «

Pearson schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wenn ich eine Überprüfung im Labor wünsche, werde ich sie anordnen.«

»Falls es Sie interessieren sollte«, erwiderte Coleman immer noch ruhig, »ich besitze zufällig Ihre Genehmigung. Um der Form zu genügen und aus Respekt vor Ihnen, erwähnte ich gestern Ihnen gegenüber, daß ich Standardüberprüfungen im serologischen Labor durchführen wollte, und Sie gaben Ihre Zustimmung.«

Argwöhnisch antwortete Pearson: »Daran erinnere ich mich nicht.«

»Ich versichere Ihnen, daß diese Vereinbarung getroffen wurde. Im übrigen gehört es nicht zu meinen Gepflogenheiten, derartiges zu erfinden.« David Coleman spürte, wie der Ärger in ihm aufwallte. Es fiel ihm schwer, seine Verachtung für diesen unfähigen alten Mann zu verbergen. Er fügte hinzu: »Ich darf dazu bemerken, daß Sie allerdings bei dieser Gelegenheit mit Ihren Gedanken ziemlich beschäftigt erschienen.«

Es hatte den Anschein, als hätte er Pearson zum mindesten teilweise überzeugt. Knurrend erwiderte der alte Mann: »Wenn Sie es sagen, glaube ich Ihnen, aber es ist das letztemal, daß Sie etwas von sich aus unternehmen. Haben Sie verstanden?«

Coleman wußte, daß jetzt der kritische Augenblick gekommen war, sowohl für Pearson als auch für ihn selbst. Eisig fragte er: »Würden Sie die Güte haben und mir mitteilen, welche Art Verantwortung ich hier übernommen habe?«

»Sie werden die Verantwortungen übernehmen, die Ihnen zuzuweisen ich für richtig halte.«

»Ich fürchte, daß ich mich damit nicht zufriedengeben kann.«

»So, das können Sie nicht?« Pearson stand jetzt unmittelbar vor dem jüngeren Mann, den Kopf vorgeschoben. »Nun, es gibt auch ein paar Dinge, die mir unbefriedigend erscheinen.«

»Zum Beispiel?« David Coleman hatte nicht die Absicht, sich einschüchtern zu lassen. Und wenn der alte Mann eine grundsätzliche Auseinandersetzung wünschte, war er durchaus bereit, gleich und an Ort und Stelle.

»Zum Beispiel habe ich erfahren, daß Sie für den Obduktionsraum Regeln erlassen haben.«

»Sie haben mir die Leitung des Obduktionsraumes

übertragen.«

»Ich habe Sie beauftragt, die Obduktionen zu überwachen, aber nicht irgendwelche phantastischen Regeln aufzustellen. Rauchen verboten, habe ich gehört. Ich nehme an, daß auch mich das betrifft?«

»Darüber zu entscheiden, steht bei Ihnen, Dr. Pearson.«

»Das will ich auch meinen, daß das bei mir steht.« Die Ruhe des anderen schien Dr. Pearsons Ärger zu steigern. »Nun hören Sie mir zu, und hören Sie mir gut zu: Sie mögen einige recht eindrucksvolle Empfehlungen besitzen, Herr, aber Sie haben immer noch eine Menge zu lernen, und der Leiter dieser Abteilung bin immer noch ich. Wichtiger noch, es bestehen gute Gründe für die Annahme, daß ich auch noch recht lange hierbleiben werde. Sie können sich also gleich entscheiden. Wenn Ihnen meine Arbeitsweise nicht paßt, wissen Sie, welche Wege Ihnen offenstehen.«

Ehe Coleman antworten konnte, wurde an die Tür geklopft. Ungeduldig rief Pearson: »Ja?«

Eine Sekretärin trat ein und sah neugierig von einem zum anderen. Coleman fiel ein, daß zum mindesten Pearson auf dem Gang draußen deutlich verständlich gewesen sein mußte. Das Mädchen sagte: »Entschuldigung, Dr. Pearson, hier sind zwei Telegramme für Sie. Sie sind gerade angekommen.«

Pearson nahm die beiden gelblichen Umschläge, die das Mädchen ihm reichte.

Als sie gegangen war, wollte Coleman antworten. Aber Pearson unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Während er den ersten Umschlag aufriß, sagte er: »Das müssen die Antworten auf unsere Anfrage sein - wegen Lucy Graingers Patientin.« Er sprach in einem völlig anderen Ton als vor wenigen Sekunden. »Hat lange genug gedauert«, fügte er hinzu.

David Coleman spürte, daß sein Interesse automatisch wach wurde. Stillschweigend akzeptierte er Pearsons Haltung, daß ihre Auseinandersetzung vertagt war. Das Vorliegende war wichtiger. Als Pearson den ersten Umschlag geöffnet hatte, klingelte schrill das Telefon. Mit einem unmutigen Ausruf legte er die Umschläge hin, um den Hörer abzunehmen.

»Ja?«

»Dr. Pearson, hier ist die Entbindungsstation«, sagte eine Stimme. »Dr. Dornberger möchte Sie sprechen. Einen Augenblick, bitte.«

Es folgte eine Pause, dann meldete sich Dornberger. Drängend sagte er: »Joe, was ist denn bei euch in der Pathologie los?« Ohne auf eine Antwort zu warten: »Bei der Frau deines Technikers, Mrs. Alexander, haben Wehen eingesetzt, und das Kind wird eine Frühgeburt. Sie ist in einem Krankenwagen auf dem Weg hierher, und ich habe noch keinen Befund über den Blutsensibilitätstest. Jetzt schickt ihn aber schnell herauf.«

»Sofort, Charlie.« Pearson ließ den Hörer auf die Gabel zurückfallen und griff nach einem Stoß Formulare in dem Korb mit der Aufschrift: >Zur Unterschrift<. Dabei fiel sein Blick auf die beiden Telegrammumschläge. Schnell reichte er sie Coleman. »Machen Sie auf, sehen Sie nach, was darin steht.«

Pearson blätterte durch die Formulare. Beim erstenmal blätterte er über das Gesuchte hinweg, erst beim zweiten Durchblättern fand er es. Er nahm den Telefonhörer wieder ab, lauschte und sagte dann schroff: »Schicken Sie Bannister.« Nachdem er den Hörer zurückgelegt hatte, kritzelte er seine Unterschrift auf das Formular, das er herausgesucht hatte.

»Sollte ich herkommen?« Bannisters Ton und Ausdruck verkündeten deutlich, daß er die Zurechtweisung von vorhin noch nicht verschmerzt hatte.

»Selbstverständlich sollten Sie kommen.« Pearson hielt ihm das unterschriebene Formular hin. »Bringen Sie das zu Dr. Dornberger hinauf - schnell. Er ist in der Entbindungsstation. John Alexanders Frau liegt in Wehen. Sie erwartet eine Frühgeburt.«

Bannisters Ausdruck veränderte sich. »Weiß der Junge es schon? Er ist drüben in.«

Ungeduldig schnitt Pearson ihm das Wort ab: »Gehen Sie schon! So gehen Sie doch endlich!« Eilig lief Bannister mit dem Formular hinaus.

David Coleman nahm nur undeutlich wahr, was um ihn herum vorging, ohne daß er die Einzelheiten voll erfaßte. Im Augenblick wurde er von der furchtbaren Bedeutung der beiden Telegramme, die er in seinen Händen hielt, in Anspruch genommen.

Pearson wandte sich zu ihm. Der alte Mann sagte: »Nun, verliert das Mädchen sein Bein oder nicht? Sind beide eindeutig?«

Coleman dachte: Hier fängt Pathologie an, und hier endet sie. Hier liegt das Grenzgebiet, hier müssen wir erkennen, wie wenig wir in Wahrheit wirklich wissen. Hier verläuft die Trennungslinie, hier ist das Ufer der dunklen, rauschenden Wasser des noch Unbekannten. Ruhig antwortete er: »Ja. Sie sind beide völlig eindeutig. Dr. Chollingham in Boston sagt: Probe eindeutig bösartig. Dr. Earnhart in New York telegrafiert: Das Gewebe ist gutartig, keine Anzeichen für Bösartigkeit.«

Es folgte ein langes Schweigen. Langsam und gedämpft sagte Pearson dann: »Die beiden besten Männer im Lande. Der eine stimmt dafür, der andere dagegen.« Er sah Coleman an, und als er wieder sprach, lag in seinem Ton wohl Ironie, aber keine Feindschaft. »Nun, mein junger pathologischer Kollege, Lucy Grainger erwartet heute unsere Antwort. Sie muß eine haben, und sie muß endgültig sein.« Mit einem schiefen Lächeln: »Ist Ihnen danach, Gott zu spielen?«

XVI

Der Polizist, der an der Kreuzung der Main und der Liberty Street Dienst hatte, hörte die Sirene des Krankenwagens schon, als sie noch sechs Blocks entfernt war. Er trat vom Bürgersteig hinunter, und mit der Übung langer Praxis begann er, den Verkehrsstrom so zu lenken, daß er flüssig über die Kreuzung lief. Als die Sirene lauter und das blinkende Warnlicht sichtbar wurde, das auf ihn zu kam, blähte er seine Backen auf und ließ auf seiner Pfeife zwei grelle Pfiffe ertönen. Dann stoppte er den ganzen Verkehr in der Querstraße und winkte im Bewußtsein seiner Amtsgewalt dem Fahrer des Krankenwagens zu, über das rote Licht hinwegzufahren. Passanten an der Kreuzung drehten neugierig ihre Köpfe, erhaschten mit einem kurzen Blick das weiße Gesicht einer jungen Frau, als der Krankenwagen vorbeifegte.

Elizabeth im Wagen nahm ihre Fahrt durch den dichten Verkehr der Stadt nur undeutlich wahr. Sie spürte, daß sie schnell fuhr, aber Häuser und Menschen draußen boten nur ein verwischtes Bild, das hinter dem Fenster neben ihrem Kopf vorbeiflog. Im Augenblick blickte sie zwischen zwei Schmerzwellen zu dem Fahrer hinter sich hinauf, sah seine beiden großen Hände am Steuerrad, die es schnell erst nach rechts, dann nach links drehten, um jede Lücke im Verkehr auszunutzen, die vor ihm auftauchte. Dann kam der Schmerz wieder, und sie konnte nur noch daran denken, nicht laut herauszuschreien und sich irgendwo festzuklammern.

»Nehmen Sie meine Hände, und halten Sie sich so fest, wie Sie wollen.« Das war der Beifahrer des Krankenwagens, der sich über sie beugte. Er hatte Bartstoppeln und ein Grübchen am Kinn, und einen Augenblick glaubte Elizabeth, er sei ihr Vater, der gekommen war, um sie zu trösten. Aber ihr Vater war tot. War er nicht bei der Eisenbahnkreuzung umgekommen? Oder vielleicht doch nicht? Und er war jetzt hier bei ihr in diesem Krankenwagen, um zu einem Ort gebracht zu werden, wo sie beide gesund gepflegt würden? Dann wurde ihr Kopf wieder klar, und sie erkannte, daß es ein Fremder war und nicht ihr Vater, der da vor ihr saß und dessen Handgelenke rote Kratzspuren von ihren Fingernägeln zeigten.

Sie hatte Zeit, über die Kratzer zu streichen, ehe der Schmerz wieder über sie kam. Es war nur eine Geste, zu mehr war sie nicht fähig. Der Mann schüttelte den Kopf. »Macht nichts. Halten Sie so fest, wie Sie wollen. Wir sind bald da. Joe da vorn ist der beste Fahrer in der Stadt.« Dann kamen wieder Schmerzen, schlimmer als vorher. Die Pausen zwischen den Wehen wurden kürzer. In ihrem Rücken bohrte es, als ob ihre Knochen über alles Erträgliche hinaus verdreht würden, mit einem tödlichen Schmerz, dessen überwältigende Qual als flammendes Rot, Gelb und Purpur vor ihren Augen brannte. Ihre Nägel gruben sich tiefer, und sie schrie.

»Können Sie spüren, ob das Kind kommt?« Das war wieder der Begleiter. Er hatte gewartet, bis die letzte Wehe verklungen war, und sich dann vorgebeugt. Es gelang ihr, mit dem Kopf zu nicken und zu keuchen: »Ich. ich glaube, ja.«

»Also gut.« Er löste seine Hände sanft. »Halten Sie sich einen Augenblick hieran fest.« Er gab ihr ein Hindtuch, das er fest zusammengedreht hatte, schlug dann die Decke über der Bahre zurück und begann, ihr Kleid aufzuknöpfen. Dabei sagte er sanft: »Wir tun alles, was wir können, wenn es sein muß. Es ist nicht das erste, das ich hier zur Welt bringe. Ich bin Großvater, verstehen Sie, und kenne mich aus.« Seine letzten Worte wurden von ihrem Schrei übertönt. Wieder setzte in ihrem Rücken blendend, überwältigend das Crescendo tödlicher Qual ein, überflutete sie, vernichtend, unaufhaltsam. »Bitte.« Sie packte wieder seine Handgelenke, und er überließ sie ihr. Dünne Blutspuren erschienen, als sich ihre Nägel in seine Haut gruben. Er wendete den Kopf und rief nach vorn: »Wie kommen wir vorwärts, Joe?«

»Wir haben gerade Main und Liberty hinter uns.« Die großen Hände drehten scharf das Steuerrad. »Da war ein Polizist, der hat den Verkehr angehalten und uns dadurch eine Minute erspart.« Wieder eine Drehung nach links, dann beugte er den Kopf zurück. »Bist du schon Pate?«

»Noch nicht ganz, Joe, aber ich stehe dicht davor, glaube ich.« Wieder wurde das Steuer gedreht, eine scharfe Wendung nach rechts. Dann: »Wir haben es gleich geschafft, Alter, versuche es noch, eine Minute aufzuschieben.«

Alles, was Elizabeth in dem roten Nebel, der sie umgab, denken konnte, war: Mein Kind - es wird zu früh geboren. Es wird sterben. O Gott, laß es nicht sterben! Diesmal nicht! Bitte nicht wieder!

Auf der Entbindungsstation stand Dr. Dornberger gewaschen und im Operationsanzug bereit. Als er aus dem Waschraum in den belebten Zwischengang kam, der die Labors von den Entbindungsräumen trennte, sah er sich um. Durch die Glaswand ihres Büros erkannte ihn Mrs. Yeo, die Stationsschwester. Sie stand auf und brachte ihm ein Formular.

»Hier ist der Befund über den Sensibilitätstest Ihrer Patientin, Dr. Dornberger. Er kam gerade aus der Pathologie herauf.« Sie hielt ihm das Formular hin, so daß er lesen konnte, ohne es anzufassen.

»Es war auch Zeit.« Die Worte kamen für ihn ungewöhnlich knurrend heraus. Er überflog das Formular und sagte: »Sensibilität negativ, wie? Nun, von dieser Seite ist also keine Komplikation zu erwarten. Ist alles bereit?«

»Ja, Doktor.« Mrs. Yeo lächelte. Sie war eine nachsichtige Frau und vertrat die Ansicht, daß jeder Mann, einschließlich ihres eigenen, hin und wieder ein Recht hatte, brummig zu sein.

»Was ist mit dem Brutkasten?«

»Er ist schon da.«

Als Dornberger sich umsah, hielt eine Schwester die Außentür weit auf, während eine Helferin einen Isolette-Brutkasten hereinrollte. Die Schwester hielt das elektrische Kabel hoch, damit es nicht auf dem Boden schleifte, und warf Mrs. Yeo einen fragenden Blick zu.

»Ja, nach Nummer zwei, bitte.«

Die Schwester nickte und schob den Brutkasten durch eine Pendeltür unmittelbar vor sich. Als die Tür hinter ihr zufiel, kam ein Mädchen aus dem Schwesternzimmer.

»Entschuldigen Sie, Mrs. Yeo.«

»Ja, was gibt' s?«

»Die Aufnahme hat gerade angerufen.« Das Mädchen wandte sich an Dr. Dornberger. »Ihre Patientin ist gerade angekommen, Doktor, und befindet sich auf dem Weg nach oben. Die Aufnahme sagt, daß die Wehen schon ziemlich weit fortgeschritten sind.«

Vor der fahrbaren Trage, auf die Elizabeth aus dem Krankenwagen umgebettet worden war, konnte sie den jungen Praktikanten sehen, der sie bei ihrer Ankunft in Empfang genommen hatte. Er ging mit schnellen, aber ruhigen Schritten voraus, bahnte gelassen und methodisch durch die Menschengruppen in dem belebten Gang des Erdgeschosses den Weg. »Treten Sie zur Seite, bitte, ein eiliger Fall.« Seine Worte klangen ruhig, fast gelassen, aber sie wirkten sofort. Vorbeigehende blieben stehen, Gruppen traten zur Wand zurück, um die kleine Prozession - den Praktikanten, die Trage und die Schwester, die sie schob - vorbeizulassen. Vom anderen Ende des Ganges hatte der Fahrstuhlführer sie kommen sehen und den Fahrstuhl freigehalten.

»Warten Sie auf die nächste Fahrt, bitte. Wir brauchen den Fahrstuhl für einen dringenden Fall.« Folgsam traten die Wartenden beiseite, und der Wagen wurde hineingeschoben.

Reibungslos lief die vielgeübte Aufnahmeprozedur des Krankenhauses ab, um einen neuen Patienten in Pflege zu nehmen.

Etwas von der Ruhe übertrug sich auch auf Elizabeth. Obwohl sie jetzt die Schmerzen ständig spürte und sich in ihrem Leib ein neuer Druck ankündigte, konnte sie beides besser ertragen. Sie entdeckte, daß sie den fast unüberwindlichen Drang, laut herauszuschreien, besser unterdrücken konnte, wenn sie in ihre Unterlippe biß und sich in den Saum der Decke, die über sie gebreitet war, hineinkrallte. Sie wußte allerdings, daß die letzte Phase der |Geburt eingesetzt hatte. Unwillkürlich begann sie zu pressen und spürte zwischen ihren Oberschenkeln das herausdrängende Kind. Nun befanden sie sich im Fahrstuhl, die Türen glitten zu, und die Schwester hinter ihr beugte sich zu ihr und ergriff ihre Hand. »Jetzt dauert es nur noch ein oder zwei Minuten.« Dann wurden die Türen wieder geöffnet, und sie sah Dr. Dornberger, der schon auf sie wartete.

Als ob es eine Hoffnung gebe, daß er sie vorher falsch verstanden habe, nahm Dr. Pearson die beiden Telegramme wieder auf. Er las sie noch einmal, legte sie dann eins nach dem anderen wieder hin. »Bösartig! Gutartig! Und keiner von beiden hat einen Zweifel. Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben.«

»Nicht ganz«, entgegnete Coleman ruhig. »Wir haben fast drei Tage verloren.«

»Ich weiß, ich weiß!« Joe Pearson schlug mit einer schweren Faust in seine andere offene Hand. Unsicherheit umhüllte ihn wie ein Mantel. »Wenn es bösartig ist, muß das Bein schnell amputiert werden, sonst kann es zu spät sein.« Er drehte sich um und sah Coleman gerade an. »Aber das Mädchen ist neunzehn. Wäre sie fünfzig, würde ich sagen >bösartig< und mir weiter keine Sorgen machen. Aber neunzehn! - Und womöglich ein Bein verlieren, ohne daß es notwendig ist.«

Trotz seiner Ansichten über Pearson, trotz seiner eigenen Überzeugung, daß die Geschwulst, von der sie sprachen, gutartig und nicht bösartig war, spürte Coleman, wie seine Sympathie für Pearson wuchs. Der alte Mann trug in diesem Falle die letzte Verantwortung. Es war verständlich, daß er in Bedrängnis war. Die Entscheidung, die er treffen mußte, war ungewöhnlich schwer. Er sagte langsam: »Die Diagnose verlangt in einem derartigen Fall sehr großen Mut.«

Pearson loderte auf, als ob er ein brennendes Streichholz in einen leicht entzündlichen Stoff geworfen hätte. »Bleiben Sie mir doch mit Ihren Sekundanerklischees vom Halse. Ich tue das seit dreißig Jahren.« Er starrte Coleman mit funkelnden Augen an.

Die frühere Feindschaft war zurückgekehrt. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

»Ja?« Pearsons Antwort war zwar schroff, aber sein Ausdruck besänftigte sich, während er zuhörte. Dann sagte er: »Also gut, Lucy. Das beste ist, Sie kommen herunter. Ich warte hier auf Sie.« Er legte den Hörer zurück und starrte auf einen Punkt in der Mitte des Schreibtisches. Dann sagte er, ohne den Kopf zu heben, zu Coleman: »Lucy Grainger ist auf dem Wege hierher. Sie können bleiben, wenn Sie wollen.«

Fast als ob er ihn nicht gehört habe, sagte Coleman nachdenklich: »Wissen Sie, es gibt vielleicht noch einen anderen Weg, der uns einen brauchbaren Hinweis liefern kann.«

»Welchen?« Pearson hob scharf den Kopf.

»Diese Röntgenaufnahmen.« Coleman sprach immer noch langsam, als überlegte er, während er sprach. »Sie wurden schon vor zwei Wochen aufgenommen. Wenn ein Tumor vorliegt, und wenn er sich weiterentwickelt hat, könnte eine neue Röntgenuntersuchung das zeigen.«

Ohne ein Wort beugte Pearson sich wieder vor und griff noch einmal nach dem Telefon. Das Knacken in der Leitung war zu hören. Dann sagte er: »Geben Sie mir Dr. Bell in der Röntgenabteilung.«

Während der alte Mann wartete, musterte er Coleman mit seltsamem Ausdruck. Dann bedeckte er die Sprechmuschel und sagte widerwillig anerkennend: »Das muß man Ihnen lassen. Sie denken nach - ständig.«

In dem Zimmer, das der Krankenhausstab scherzhaft als den >Schwitzkasten für werdende Väter< bezeichnete, drückte John Alexander eine halbgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher aus. Er stand auf, klopfte auf den Ledersessel, in dem er die letzten anderthalb Stunden gesessen hatte, und von dem er jedesmal, wenn sich die Tür öffnete und jemand von dem Gang draußen hereinkam, aufgefahren war. Aber immer war die Nachricht für einen anderen bestimmt gewesen, und jetzt waren von den fünf Männern, die sich vor neunzig Minuten in dem Raum aufgehalten hatten, nur noch er und ein anderer übriggeblieben.

Er trat an das große Fenster, von dem man den Vorhof des Krankenhauses überblickte und über andere Gebäude hinweg auf das Industrieviertel Burlingtons sah, und stellte fest, daß Straßen und Dächer naß waren. Seit er hierhergekommen war, mußte es also geregnet haben, ohne daß er es bemerkt hatte. Jetzt bot die Umgebung des Krankenhauses den unerfreulichsten Anblick. Schmutzig und deprimierend erstreckten sich die Dächer vernachlässigter Häuser und billiger Wohnblocks bis zu den Fabriken mit ihren verrußten Schloten zu beiden Ufern des Flusses. Ab er auf die Straße vor dem Krankenhaus hinunterblickte, sah er eine Gruppe Kinder, die aus einer Seitengasse herausgelaufen kam und über die Pfützen, die auf dem unebenen, zerrissenen Pflaster des Bürgersteiges standen, hinweghüpfte oder sie umging. Während er die Kinder beobachtete, bemerkte er, wie ein größerer Junge stehenblieb und einem Kind hinter sich ein Bein stellte. Es war ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf. Sie fiel mit dem Gesicht in eine große Pfütze. Schmutziges Wasser spritzte um sie auf. Weinend erhob sie sich, wischte sich Schlamm aus dem Gesicht und versuchte, das Wasser aus ihrem verdreckten, durchnäßten Kleid zu wringen. Die anderen waren stehengeblieben, sprangen im Kreis um sie herum, ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen hingerissen vor Schadenfreude.

»So sind Kinder.« Die angewiderte Stimme sprach unmittelbar neben ihm, und erst jetzt bemerkte John, daß der andere Mann in dem Raum neben ihn ans Fenster getreten war. Er blickte zur Seite und sah eine große, spindeldürre Gestalt vor sich. Das Gesicht mit den hohlen Wangen war ungewöhnlich hager. Der Mann war unrasiert. Vermutlich war er zwanzig Jahre älter als John. Er trug eine fleckige Cordjacke über einem schmutzigen Overall. John nahm einen Dunst von Schmieröl und abgestandenem Bier wahr, der den Mann umgab.

»Kinder sind alle gleich.« Der Mann wendete sich vom Fenster ab und wühlte in seinen Taschen. Gleich darauf zog er Papier und Tabak heraus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er sah John scharf an, als er fragte: »Ihr erstes?«

»Eigentlich nicht. Es ist unser zweites. Unser erstes Baby starb.«

»Wir verloren auch eins in dem Alter, das zwischen dem vierten und dem fünften. Ganz gut so.« Der Mann suchte wieder in seinen Taschen. Er fragte: »Haben Sie Feuer?«

John zog sein Feuerzeug heraus und hielt es ihm hin. »Sie erwarten schon Ihr sechstes?«

»Nein - das achte.« Der hagere Mann hatte jetzt seine Zigarette in Brand. »Manchmal finde ich, es sind acht zuviel.« Dann fragte er schroff: »Sie wollten Ihres wohl, was?«

»Meinen Sie das Kind?«

»Ja.«

»Selbstverständlich.« John war überrascht.

»Wir wollten sie nie. Nach dem ersten nicht mehr. Das hat mir gelangt.«

»Warum haben Sie dann acht?« John konnte die Frage nicht unterdrücken. Die Unterhaltung übte einen fast hypnotischen Zwang auf ihn aus.

»Fragen Sie besser meine Frau. Bei der ist es immer heiß in der Hose. Wenn sie zwei Glas Bier in sich hat und mit ihrem Hintern eine Weile über eine Tanzfläche gewackelt ist, muß sie es immer gleich besorgt haben. Dann kann sie einfach nicht warten, bis sie zu Hause ist.« Der Hagere stieß Rauch aus und fuhr ruhig fort: »Wir haben alle unsere Kinder an den komischsten Stellen gemacht. Einmal waren wir im Warenhaus Macy einkaufen, und da trieben wir es in einer Besenkammer im Souterrain. Da kommt unser viertes her, glaube ich. Aus dem Souterrain bei Macy. War aber kein Gelegenheitskauf. «

John war nahe daran, laut herauszulachen, aber dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war. Statt dessen sagte er: »Ich hoffe nur, daß bei Ihnen alles gut geht - ich meine dieses Mal.«

Der Hagere antwortete finster: »Es geht immer gut. Das ist ja unser Ärger.« Er ging auf die andere Seite des Zimmers zurück und nahm eine Zeitung.

Als John wieder allein am Fenster stand, sah er noch einmal auf seine Uhr. Nun wartete er schon eindreiviertel Stunden hier oben. Bestimmt mußte er bald etwas erfahren. Er wünschte, er hätte Elizabeth gesehen, bevor sie in das Entbindungszimmer gebracht worden war. Aber alles ging so schnell, daß er keine Gelegenheit mehr dazu hatte. Er befand sich in der Krankenhausküche, wohin er auf Dr. Pearsons Anweisung gegangen war, als Carl Bannister ihm die Nachricht überbrachte. Pearson hatte ihm befohlen, von den Tellern Kulturen abzunehmen, nachdem sie durch die Geschirrspülmaschinen gelaufen waren. John vermutete, daß der Verdacht bestand, die Maschinen würden nicht hygienisch einwandfrei arbeiten. Aber sobald Bannister ihn über Elizabeths Aufnahme im Krankenhaus benachrichtigt hatte, ließ er die Arbeit liegen und lief in die Aufnahme, in der Hoffnung, sie dort noch anzutreffen. Sie war aber schon im Krankenwagen angekommen und in die Entbindungsstation gebracht worden. Danach war er sofort hier hinaufgekommen, um zu warten.

Jetzt öffnete sich wieder die Tür, und diesmal war es Dr. Dornberger. John versuchte, auf seinem Gesicht zu lesen, aber vergeblich. Dornberger fragte: »Sind Sie John Alexander?«

»Ja, Sir.« John hatte den alten Geburtshelfer schon mehrere Male im Krankenhaus gesehen, aber es war das erstemal, daß er mit ihm sprach.

»Ihre Frau wird alles gut überstehen.« Dornberger war erfahren genug, um keine langen Umschweife zu machen.

Johns erste Reaktion war die Empfindung überwältigender Dankbarkeit. Dann fragte er: »Und das Kind?«

Dornberger antwortete ruhig: »Sie haben einen Jungen. Er ist natürlich zu früh geboren, und ich muß Sie darauf aufmerksam machen, John, daß er sehr schwach ist.«

»Ist er lebensfähig?« Erst als er die Frage ausgesprochen hatte, wurde ihm bewußt, wieviel für ihn von der Antwort abhing.

Dornberger hatte seine Pfeife aus der Tasche gezogen und stopfte sie. Ruhig antwortete er: »Wir wollen sagen, daß seine Chancen nicht so günstig sind, als wenn er voll ausgetragen wäre.«

John nickte betrübt. Mehr gab es nicht zu sagen, jedenfalls nichts, was jetzt Bedeutung hatte.

Der alte Arzt schwieg, während er seinen Tabaksbeutel wieder einsteckte. Dann sagte er im gleichen bedachtsamen Ton: »Soweit ich es beurteilen kann, ist Ihr Kind zweiunddreißig Wochen alt, das heißt, es wurde acht Wochen zu früh geboren.« Mitfühlend fügte er hinzu: »Der Junge ist für die Welt noch nicht fertig, John. So früh ist das keiner von uns.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.« John war sich kaum bewußt, was er antwortete. Seine Gedanken waren bei Elizabeth und bei dem, was dieses Kind ihnen beiden bedeutete.

Dr. Dornberger hatte Streichhölzer aus der Tasche gezogen und zündete seine Pfeife an. Als sie brannte, sagte er: »Ihr Kind wog bei der Geburt tausendfünfhundertfünfzig Gramm. Das sagt Ihnen vielleicht mehr, wenn ich Ihnen erkläre, daß wir heute jedes Kind unter zweitausendfünfhundert Gramm Gewicht bei der Geburt als nicht ausgetragen ansehen.«

»Ich verstehe.«

»Wir haben das Baby natürlich in einen Brutkasten gelegt. Selbstverständlich tun wir alles, was in unserer Macht steht.«

John sah den Geburtshelfer fest an. »Dann besteht also Hoffnung?«

»Hoffnung besteht immer, mein Sohn«, sagte Dornberger still. »Wenn wir auch sonst nicht viel haben, hoffen dürfen wir wohl immer.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte John: »Kann ich meine Frau jetzt sehen?«

»Ja«, antwortete Dornberger, »ich komme mit Ihnen auf die Station.«

Als sie hinausgingen, bemerkte John, daß der große, hagere Mann ihn neugierig musterte.

Vivian begriff nicht ganz, was geschah. Sie wußte nur, daß eine der Stationsschwestern in ihr Zimmer gekommen war und ihr gesagt hatte, sie würde sofort in die Röntgenabteilung gebracht. Mit Hilfe einer Lernschwester war sie auf eine Trage gebettet worden und wurde durch den Gang gerollt, durch den sie vor kurzer Zeit erst selbst noch gegangen war. Ihr Weg durch das Krankenhaus erschien ihr wie ein Traum, brachte die Unwirklichkeit von allem, was bisher geschehen war, auf den Höhepunkt. Vivian entdeckte, daß ihre Angst sie im Augenblick verlassen hatte, als ob alles, was folgte, sie letzten Endes nicht berührte, weil das, was kam, unvermeidlich und unabänderlich war. Sie überraschte sich bei der Frage, ob diese Empfindung das Ergebnis ihrer Depression sei ob sie die Hoffnung aufgegeben habe. Sie wußte bereits, daß dieser Tag das Urteil bringen mußte, das sie fürchtete: das Urteil, das sie zum Krüppel machte, ihr die Bewegungsfreiheit raubte, ihr mit einem harten Schlag so vieles nahm, was sie bisher als selbstverständlich hingenommen hatte. Bei diesem letzten Gedanken verließ ihre Gelassenheit sie wieder, und die Angst kam zurück. Sie wünschte verzweifelt, daß Mike in diesem Augenblick bei ihr wäre.

Lucy Grainger erwartete sie am Eingang der Röntgenabteilung.

»Wir haben beschlossen, noch einmal zu röntgen, Vivian«, sagte sie »Es dauert nicht lange.« Sie wandte sich an den Arzt im weißen. Mantel neben ihr. »Dies ist Dr. Bell.«

»'n Tag, Vivian.« Bell lächelte ihr durch seine dicken, horngefaßten Brillengläser zu, wandte sich dann an die Schwester: »Kann ich bitte das Krankenblatt haben?« Während er es durchsah, die daran geklammerten Befunde schnell durchblätterte, drehte Vivian den Kopf hin und her und sah sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Empfangsraum, ein durch Glaswände abgeteiltes Schwesternzimmer in der Ecke. An der Wand erblickte sie andere Patienten - zwei Männer in Rollstühlen, die Pyjamas und Krankenhausmäntel trugen, und eine Frau und einen Mann in Straßenkleidung, der Mann mit einem Gipsverband um ein Handgelenk. Diese beiden, das wußte sie, mußten entweder aus der ambulanten Abteilung oder von der Notaufnahme hergeschickt worden sein. Dem Mann mit dem Gipsverband war sichtlich unbehaglich, und er wirkte fehl am Platz. In seiner gesunden Hand hielt er ein vorgedrucktes Formular. Er schien sich daran zu klammern, als sei es ein Paß, den er brauche, um aus dieser fremdartigen Umgebung wieder hinauszugelangen.

Bell hatte die Krankenpapiere durchgesehen und reichte sie zurück. Er sagte zu Lucy: »Joe Pearson hat mich schon angerufen. Wenn ich richtig verstanden habe, wollen Sie durch die zweite Röntgenaufnahme feststellen, ob an dem Knochen inzwischen eine Veränderung eingetreten ist?«

»Ja«, nickte Lucy. »Es ist Joes Gedanke, daß in der Zwischenzeit etwas« - sie zögerte, weil Vivian sie hören konnte - »etwas erkennbar geworden sein könnte.«

»Es wäre möglich.« Bell war zu dem Schwesternzimmer hinübergegangen und füllte eine Röntgenanforderung aus. Er fragte das Mädchen hinter dem Schreibtisch: »Welche Techniker sind frei?«

Sie sah in eine Liste. »Jane und Mr. Firban.«

»Dann lassen wir das am besten Firban machen. Wollen Sie ihn bitte herrufen.« Zu Lucy gewendet sagte er, als er zu dem Wagen zurück kam: »Firban ist einer unserer besten Techniker, und wir wollen ja gute Filme haben.« Er lächelte Lucy zu. »Dr. Pearson hat mich gebeten, mich persönlich um Ihren Fall zu kümmern. Darum bin ich hier. Jetzt wollen wir hier hineingehen.«

Mit Bells Hilfe schob die Schwester die Trage aus dem Vorraum in ein größeres Zimmer. Die Mitte wurde von einem Röntgentisch eingenommen, über dem das Gehäuse mit der Röntgenröhre an Schienen und Rollen schwebte. Ein kleinerer Teil des Raumes wurde durch eine dicke Glaswand abgetrennt, hinter der Vivian eine elektrische Schalttafel erkennen konnte. Fast gleich darauf kam ein kleiner, jüngerer Mann mit kurzgeschnittenem Haar in einem weißen Labormantel zu ihnen in den Raum. Seine Bewegungen waren knapp und flink, als ob er alles, was er tat, schnell, aber mit einem Minimum an Kraftaufwand tun wolle. Er sah Vivian an und wandte sich dann an Bell.

»Sie wünschen, Dr. Bell?«

»Ah, Karl, da sind Sie ja. Ich möchte, daß Sie diesen Fall über nehmen. Kennen Sie übrigens Dr. Grainger?« Und zu Lucy gewandt: »Das ist Karl Firban.«

»Ich glaube nicht, daß wir uns kennen.« Lucy streckte ihre Hand aus, und der Techniker ergriff sie.

»Sehr angenehm, Doktor.«

»Und unsere Patientin ist Vivian Loburton.« Bell lächelte auf die Trage hinunter. »Sie ist eine unserer Lernschwestern. Darum geben wir uns solche Mühe mit ihr.«

»Wie geht's, Vivian?« Firbans Gruß war knapp wie seine Bewegungen. Er schwenkte jetzt den Röntgentisch aus seiner senkrechten Stellung in die Waagrechte und sagte mit einer forschen Munterkeit: »Unseren Vorzugskunden stellen wir die Wahl zwischen Vista Vision und Cinemascope - alles in prächtigem Grau und Schwarz.« Er las die Anforderung, die Bell ihm hingelegt hatte. »Das linke Knie also. Besondere Wünsche, Doktor?«

»Wir brauchen ein paar gute, frontale, seitliche und weiche Aufnahmen. Und dann glaube ich, eine Schrägaufnahme des Kniegebietes von oben.« Bell schwieg, um nachzudenken. »Ich würde sagen, fünf oder sechs Filme, und dazu die entsprechenden Aufnahmen des anderen Knies.«

»Wünschen Sie Aufnahmen auf dreißig mal vierzig, um auch das angrenzende Schien- und Wadenbein auf den Film zu bekommen?«

Bell überlegte kurz und nickte dann. »Das ist ein guter Gedanke.« Zu Lucy sagte er: »Wenn eine Knochenmarkentzündung vorliegt, könnten weiter unten am Knochen Veränderungen an der Knochenhaut erkennbar sein.«

»Also gut, Doktor. In einer halben Stunde ist alles fertig.«

Das war ein höflicher Wink Firbans, der es vorzog, allein und ungestört zu arbeiten, und der Röntgenarzt respektierte seinen Wunsch.

»Wir trinken eben eine Tasse Kaffee und kommen wieder her.« Bell lächelte Vivian wieder zu. »Sie sind in guten Händen.« Dann folgte er Lucy hinaus.

»Also an die Arbeit.« Der Techniker winkte der Schwester, und gemeinsam halfen sie Vivian von der Trage auf den Röntgentisch hinüber. Im Vergleich mit der Auflage der Trage war die schwarze Ebonitplatte des Tisches hart und unnachgiebig.

»Nicht sehr bequem bei uns, wie?« Firban schob Vivian behutsam in die Stellung, die er wünschte, und ließ ihr linkes Knie unbedeckt. Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Man gewöhnt sich daran. Ich habe auf diesem Tisch schon oft geschlafen, wenn ich Nachtdienst hatte und nichts zu tun war.« Er nickte der Schwester zu, und das Mädchen trat hinter die Glaswand.

Vivian beobachtete den Techniker, der routiniert die Vorbereitungen für die Aufnahme traf. Mit flinken, ruckartigen Bewegungen nahm er eine Filmkassette aus einem in die Wand eingebauten Behälter und setzte sie mit geübtem Griff in einen Schlitten unter dem Röntgentisch ein, den er unter Vivians Knie schob. Dann steuerte er durch herabhängende Knopfschalter die schwere Röntgenröhre auf ihren Schienen und Rollen an der Decke über Vivians Knie und ließ sie bis dicht darüber herunter. Die Nadel auf dem Höhenanzeiger der Maschine zeigte vierzig Zoll an.

Wie fremdartig und unwirklich hier alles ist, dachte Vivian, so ganz anders als das übrige Krankenhaus. Als sich die schimmernde Anlage aus schwarzem Lack und blankem Chrom langsam und mit einem sanften Surren über ihr bewegte, kam sie ihr fast wie ein Ungeheuer vor. Hier herrschte eine wissenschaftliche und seelenlose Atmosphäre. Dieser Raum schien in gewisser Weise von der Medizin so weit entfernt zu sein wie der Maschinenraum eines Ozeanschiffes von dem hochgelegenen, sonnenbestrahlten Promenadendeck. Aber mit diesen geheimnisvollen und einschüchternden Geräten wurde ein großer Teil der wirklichen Forschungsarbeiten der Medizin verrichtet. Der Gedanke ängstigte sie einen Augenblick. Über all dem schwebte eine bedrohliche Unpersönlichkeit, an diesen Maschinen war so wenig Menschliches. Was sie auch aufdecken mochten, wurde ohne Wärme oder Freude, ohne Trauer oder Anteilnahme registriert und übermittelt. Gut oder schlecht, es spielte keine Rolle. Einen Augenblick erschien ihr die Öffnung vor der Röntgenröhre, die jetzt über ihr hing, wie das Auge des Gesetzes, unbeugsam, leidenschaftslos. Wie würde seine Entscheidung jetzt ausfallen? Durfte sie hoffen, oder wurde sie gar erlöst - oder würde es ein Verdammnisurteil fallen, gegen das es keine Berufung gab? Wieder sehnte sie Mike herbei. Sie nahm sich vor, ihn anzurufen, sobald sie wieder in ihr Zimmer kam.

Der Techniker hatte seine Vorbereitungen beendet. »So wird es wohl gehen.« Er warf einen letzten überprüfenden Blick auf den Apparat. »Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie völlig ruhig bleiben müssen. Sie müssen wissen, wir sind die einzigen im Krankenhaus, die den Patienten versprechen können, daß sie nichts spüren, und es stimmt auch wirklich.«

Jetzt trat er hinter die zolldicke Glaswand, die die Röntgentechniker vor der Strahlung schützte. Aus dem Augenwinkel konnte Vivian erkennen, wie er, eine Liste in der Hand, hierhin und dorthin griff und Schalter einstellte.

Vor dem Schaltbrett dachte Firban: ein hübsches Mädchen. Was ihr wohl fehlt? Es muß etwas Ernstes sein, wenn Bell sich selbst um sie kümmert. Im allgemeinen interessiert sich der Chef nicht für Patienten, ehe die Filme vorliegen. Er überprüfte noch einmal das Schaltbrett. Bei dieser Arbeit lernte man bald, nichts zu riskieren. Die Einstellungen stimmten - vierundachtzig Kilovolt, zweihundert Milliampere, Belichtungszeit eine fünfzehnhundertstel Sekunde. Er drückte auf den Knopf, der die Drehanode der Röhre in Bewegung setzte, Dann rief er das übliche: »Nicht bewegen! Ganz stillhalten!« preßte mit dem Daumen auf den zweiten Knopf und wußte: was es auch zu sehen gab, war jetzt durch die durchdringenden Röntgenstrahlen festgehalten, um von anderen beurteilt zu werden.

Im Vorführraum der Röntgenabteilung waren die Jalousien heruntergelassen, um das Tageslicht auszuschalten. Dr. Bell und Lucy Grainger warteten. In ein paar Minuten mußten die Filme, die Firban aufgenommen hatte zum Vergleich mit den Aufnahmen von vor zwei Wochen, vorliegen. Der Techniker hatte die belichteten Negative bereits in die automatische Entwicklungsanlage eingeschoben, die in diesem Augenblick -sie sah wie eine etwas groß geratene Ölheizung aus - noch leise vor sich hinsummte. Dann begannen, einer nach dem anderen, die entwickelten Filme aus einem Schlitz am Vorderteil der Maschine herauszufallen.

Bell nahm jeden Film sofort auf und klammerte ihn vor einem Betrachter fest, der durch Leuchtröhren erhellt wurde. Vor einem zweiten Betrachter unmittelbar darüber hatte er schon die früheren Aufnahmen aufgehängt.

»Sind die Aufnahmen nicht schön geworden?« Der Ton des Technikers verriet einen Anflug von Stolz.

»Ausgezeichnet.« Die Antwort kam mechanisch. Bell betrachtete schon konzentriert die neuen Filme, verglich sie mit den entsprechenden Stellen auf den alten Aufnahmen. Dabei deutete er mit einem Bleistift auf diese Stellen, um sich bei seinen Überlegungen zu helfen und gleichzeitig Lucy seine Gedanken zu erläutern.

Nachdem sie beide Serien gründlich verglichen hatten, fragte Lucy: »Sehen Sie einen Unterschied? Ich fürchte, ich kann keinen erkennen. «

Der Röntgenarzt schüttelte den Kopf. »Hier liegen Anzeichen einer geringfügigen Reizung der Knochenhaut vor.« Er deutete mit dem Bleistift auf einen kleinen Unterschied in der grauen Schattierung auf zweien der Filme. »Das sind aber wahrscheinlich Folgen Ihrer Probeexcision. Sonst sind keine Veränderungen festzustellen, die irgendwelche Schlüsse zulassen.« Bell nahm seine dicke Brille ab und rieb sein rechtes Auge. Fast wie um Entschuldigung bittend, sagte er: »Es tut mir leid, Lucy, ich glaube, die Entscheidung liegt nach wie vor bei der Pathologie. Wollen Sie Joe Pearson benachrichtigen, oder soll ich es tun?« Er begann, die beiden Serien Filme von den Haltern abzunehmen.

»Ich tue es selbst«, antwortete Lucy ernst. »Ich gehe gleich zu Joe und sage es ihm.«

XVII

Die Stationsschwester Mrs. Wilding schob eine Strähne grauer Haare, die immer wieder unter ihrer gestärkten Haube hervorkroch, zurück und ging rasch vor John Alexander durch den Gang der Entbindungsstation im vierten Stock. Vor der fünften Tür blieb sie stehen und blickte hinein. Dann verkündete sie fröhlich: »Ein Besucher für Sie, Mrs. Alexander«, und ließ John in das kleine Krankenzimmer eintreten.

»Johnny, Liebster.« Elizabeth streckte ihre Arme aus. Sie zuckte unwillkürlich etwas zusammen, als sie dabei ihre Stellung veränderte. Er trat schnell zu ihr und küßte sie zärtlich. Einen Augenblick hielt sie ihn fest umschlungen. Er spürte ihre Wärme und unter seiner Hand das frische, saubere, leicht gestärkte Krankenhausnachthemd, das sie trug. Ihr Haar hatte einen Geruch, der an eine Mischung von Schweiß und Äther erinnerte. Es gemahnte ihn an das, was er nicht mit ihr hatte teilen können, etwas, das wie der fremde Hauch eines fernen Landes über ihr lag, von dem sie jetzt zurückgekehrt war. Einen Augenblick empfand er eine Spannung zwischen ihnen, als ob sie sich nach einer langen Trennung wiederfinden und von neuem kennenlernen müßten. Dann löste sich Elizabeth sanft von ihm.

»Ich muß schrecklich aussehen.«

»Du bist wunderschön«, versicherte er.

»Ich hatte gar keine Zeit mehr, etwas mitzunehmen.« Sie sah auf das formlose Krankenhaushemd hinunter. »Nicht mal ein Nachthemd oder einen Lippenstift.«

Mitfühlend sagte er: »Ich weiß.«

»Ich werde eine Liste aufstellen, dann kannst du mir alles bringen.«

Hinter ihnen hatte Schwester Wilding den Vorhang zugezogen, der das andere Bett in dem kleinen Zimmer abtrennte.

»So. Jetzt sind Sie so ungestört, wie Sie sein können.« Sie nahm ein Glas von Elizabeths Nachttisch und füllte es aus einem Krug mit Eiswasser.

»Ich komme gleich wieder, Mr. Alexander, dann können Sie Ihr Baby sehen.«

»Danke.« Beide lächelten der Schwester dankbar zu, als sie hinausging.

Nachdem die Tür geschlossen war, wandte Elizabeth sich John wieder zu. Ihr Ausdruck war gespannt, ihr Blick forschend. »Johnny, Liebster, du mußt es mir sagen: welche Chancen hat das Kind?«

»Nun, Liebste.« Er zögerte.

Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf die seine. »Johnny, ich will die Wahrheit wissen. Die Schwestern werden sie mir nicht sagen. Ich muß sie von dir erfahren.« Ihre Stimme schwankte. Er sah ihr an, daß ihr die Tränen nahe waren.

Leise antwortete er: »Es ist ungewiß.« Er wählte seine nächsten Worte vorsichtig. »Ich habe mit Dr. Dornberger gesprochen, die Aussichten stehen eins zu eins. Das Baby kann leben oder.« John vollendete seinen Satz nicht und schwieg.

Elizabeth ließ den Kopf in die Kissen zurücksinken. Sie blickte zur Decke. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie fragte: »Dann besteht nicht sehr viel Hoffnung?«

John erwog die Wirkung seiner nächsten Worte sorgfältig, ehe er antwortete. Vielleicht war es für sie beide besser, wenn sie sich jetzt schon auf die Möglichkeit gefaßt machten, daß das Kind starb, besser jedenfalls, als bei Elizabeth Hoffnungen zu wecken, die dann in ein oder zwei Tagen womöglich grausam enttäuscht wurden. Behutsam sagte er: »Es ist. schrecklich klein, verstehst du? Er wurde zwei Monate zu früh geboren.

Wenn irgendeine Infektion eintritt, wenn es auch nur das Geringste ist. Er ist eben nicht sehr kräftig.«

»Danke.« Elizabeth lag völlig regungslos. Sie sah ihn nicht an, sondern drückte nur fest seine Hand. Auf ihren Wangen standen Tränen, und John spürte, daß auch seine Augen feucht wurden. Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben und sagte: »Elizabeth, Liebling, was auch geschieht. Wir sind noch jung. Wir haben noch so vieles vor uns.«

»Ich weiß.« Ihre Worte waren kaum hörbar. Er legte wieder seine Arme um sie, drückte ihren Kopf an sich und hörte sie zwischen unterdrücktem Schluchzen flüstern: »Aber zwei Babys. auf diese Weise.« Sie hob den Kopf und schrie verzweifelt auf: »Es ist nicht gerecht!«

Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Zärtlich flüsterte er: »Es ist schwer zu begreifen. aber wir haben immer noch uns.«

Er hielt sie noch eine Minute umschlungen. Ihr Schluchzen wurde ruhiger, dann spürte er, wie sie sich bewegte. Sie murmelte: »Taschentuch, bitte.« Er zog eines aus seiner Tasche und reichte es ihr.

»Es ist jetzt schon gut.« Sie wischte sich über die Augen. »Es ist manchmal nur so.«

Liebevoll erwiderte er: »Wenn es dir hilft, Liebling, dann weine soviel, wie du willst.«

Sie lächelte unsicher und gab ihm das Taschentuch zurück. »Ich fürchte, du kannst es nicht mehr gebrauchen.« Dann sagte sie in gefaßterem Ton: »Johnny, während ich hier lag, habe ich nachgedacht.«

»Worüber?«

»Ich möchte, daß du Medizin studierst.«

Vorsichtig protestierte er: »Aber, Liebling, darüber haben wir schon so oft.«

»Nein«, unterbrach Elizabeth ihn. Ihre Stimme war immer noch schwach, hatte aber einen entschiedenen Klang. »Ich habe es immer gewünscht, und jetzt sagt auch Dr. Coleman, du solltest es tun.«

»Hast du denn eine Vorstellung, was das kosten würde?«

»Ja, das habe ich. Ich kann mir ja wieder eine Stellung suchen.« Behutsam warf er ein: »Aber mit einem Baby?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann antwortete Elizabeth leise: »Vielleicht behalten wir es nicht.« Die Tür öffnete sich geräuschlos, und Schwester Wilding kam herein. Sie bemerkte Elizabeths rotgeränderte Augen und vermied taktvoll, sie anzusehen. Zu John sagte sie: »Wenn Sie wollen, Mr. Alexander, zeige ich Ihnen jetzt Ihr Baby.«

Nachdem Dr. Dornberger John Alexander auf der Pflegestation zurückgelassen hatte, ging er zu dem Säuglingszimmer.

Der Raum lag am Ende eines langen, hellen, in fröhlichen Pastelltönen gestrichenen Ganges. Er lag in einem Teil des Krankenhauses, der vor zwei Jahren renoviert worden war und in dem der neue Zug zur Geräumigkeit und Helligkeit sich durchgesetzt hatte. Auf seinem Weg durch den Gang vernahm Dornberger wie immer das Schreien der Säuglinge, dessen Ausdruck und Tonstärke von einem kräftigen, ungehaltenen Protest bis zum schwächlichen Vorsichhinwimmern reichte. Mehr aus Gewohnheit als aus einem unmittelbaren Anlaß blieb er stehen und sah durch die dicken Glasscheiben, die das Säuglingszimmer auf drei Seiten abschlossen. Der gleiche Andrang wie immer, ging es ihm durch den Kopf, als er bemerkte, daß die meisten Bettchen belegt waren, und ließ seinen Blick über die ordentlich ausgerichteten Reihen wandern.

Das hier sind die normalen, gesunden Wesen, dachte er. Zunächst haben sie ihren Kampf ums Dasein einmal gewonnen.

Und in ein paar Tagen ziehen sie weiter in die auf sie wartende Welt hinaus. Vor ihnen liegt das Zuhause, die Schule, der Lebenskampf, der Wettstreit um Ruhm und Besitz. Manche von ihnen werden Erfolge genießen und unter Niederlagen leiden. Da waren welche, die, wenn sie alles überstanden, sich ihrer Jugend erfreuen, sich mit den mittleren Lebensjahren abfinden und traurig altern würden. Da waren welche, für die stärkere und glänzendere Autos entworfen wurden, denen schnellere und weiter fliegende Flugzeuge dienen, denen jedes Bedürfnis und jede Anwandlung von anderen ihresgleichen erfüllt werden würden. Sie würden alle einer unbekannten Zukunft gegenübertreten, die meisten mit Unbehagen, viele tapfer, ein paar zaghaft und ängstlich. Vielleicht würden einige von ihnen die Grenzen des Weltraums durchbrechen, andere durch die Gabe der Rede ihre Mitmenschen vielleicht zu Wut und Verzweiflung anstacheln. Die meisten würden in zwanzig Jahren erwachsen sein und dem gleichen uralten, angeborenen Drang, der ihren eigenen Samen gesät und sie wimmernd und begehrend in diese Welt gebracht hatten, gehorchen und sich paaren. Im Augenblick waren sie aber die Sieger, die Geborenen, die Fordernden. Das erste und größte Hindernis hatten sie überwunden, die anderen Kämpfe standen ihnen noch bevor.

Auf der anderen Seite des Ganges befand sich eine andere Abteilung, an die sich ein kleineres Säuglingszimmer anschloß. Dort lagen still und für sich, jede in einem Brutkasten, die Frühgeburten. Sie, über deren Anfang Fragezeichen standen, deren Existenz ungewiß war, hatten ihre erste Schlacht noch nicht gewonnen. Dr. Dornberger wandte sich von dem Hauptsäuglingszimmer ab und ging in diese Abteilung.

Als er seinen jüngsten Patienten betrachtete - ein winziges Fragment schwacher Menschlichkeit -, schob er die Lippen vor und schüttelte zweifelnd den Kopf. Dann schrieb er, methodisch wie immer, sorgfältig seine Behandlungsvorschriften auf.

Später, als Dornberger die Abteilung verließ, traten Schwester Wilding und John Alexander zusammen durch eine andere Tür ein.

Wie jeder, der in die Station der Frühgeburten kam, hatten sie sterile Kittel und Gesichtsmasken angelegt, obwohl gläserne Trennwände sie von dem Raum, dessen Wärme und Luftfeuchtigkeit streng kontrolliert wurde, abschlossen. Als sie jetzt stehenblieben, beugte Schwester Wilding sich vor und klopfte leicht an das Glas. Die junge Schwester in dem abgeteilten Raum blickte auf und trat mit fragenden Augen über ihrer Maske vor sie.

»Baby Alexander.« Schwester Wilding erhob ihre Stimme laut genug, daß die andere Schwester sie verstehen konnte, und deutete auf John. Die Schwester nickte und winkte ihnen. Sie folgten ihr auf der anderen Seite der Glaswand und blieben mit ihr stehen. Sie deutete auf einen Brutkasten - einen von dem Dutzend in dem Raum - und drehte ihn etwas, damit sie hineinsehen konnten.

»Mein Gott, ist das alles?« rief John unwillkürlich aus.

Schwester Wilding sah ihn mitfühlend an. »Er ist wirklich nicht sehr groß.«

John starrte ungläubig auf sein Kind. »Ich habe noch nie ein so unglaublich kleines Kind gesehen.«

Gebannt blickte er in den Isolette-Brutkasten. Konnte das ein Mensch sein? Dieses winzige, runzlige, affenartige Etwas, nur wenig größer als seine beiden Hände?

Das Baby lag völlig still, mit geschlossenen Augen. Nur ein leichtes, regelmäßiges Heben und Senken der winzigen Brust verriet, daß es atmete. Selbst in dem Brutkasten, der für kleinste Säuglinge gebaut war, wirkte der kleine, hilflose Körper verloren. Es schien unverständlich, daß es bei seiner Schwächlichkeit überhaupt leben konnte.

Die jüngere Schwester war zu ihnen hinausgekommen.

Schwester Wilding fragte: »Wie hoch war sein Gewicht bei der Geburt?«

»Drei Pfund und fünfzig Gramm.« Die junge Schwester wandte sich an John. »Verstehen Sie, was hier vor sich geht, Mr. Alexander? Wie Ihr Kind versorgt wird?«

Er schüttelte den Kopf. Es fiel ihm schwer, seine Augen auch nur für einen Augenblick von dem winzigen Körper abzuwenden.

Die junge Schwester sagte sachlich: »Manche wollen es gern wissen. Sie fühlen sich dann ruhiger.«

John nickte. »Ja, wenn Sie mir es bitte erklären wollen.«

Die Schwester deutete auf den Brutkasten. »Die Temperatur in dem Kasten beträgt immer 36,7 Grad. Der Luft wird Sauerstoff zugeführt, etwa vierzig Prozent. Der Sauerstoff erleichtert dem Kind das Atmen. Seine Lungen sind zu klein, verstehen Sie? Sie waren noch nicht fertig entwickelt, als es zur Welt kam.«

»Ja, ich verstehe.« Seine Blicke ruhten wieder auf der schwachen, pulsierenden Bewegung der Brust. Solange sie anhielt, bezeugte sie Leben, daß das winzige, schwerbelastete Herz schlug, daß der Lebensfaden nicht gerissen war.

Die Schwester fuhr fort: »Ihr Kind hat nicht so viel Kraft, daß es saugen kann, darum wird es durch einen dünnen Schlauch ernährt. Sehen Sie ihn?« Sie deutete auf einen Plastikschlauch, der von oben von dem Brutkasten in den Mund des Säuglings führte. »Er geht direkt in den Magen. Alle anderthalb Stunden bekommt er dadurch Dextrose und Wasser. «

John zögerte, ehe er fragte: »Haben Sie viele solcher Fälle gesehen?«

»Ja.« Die Schwester nickte ernst, als wenn sie die kommende Frage erraten hätte. Er bemerkte, daß sie klein und hübsch war, mit rotem Haar unter ihrer Haube. Sie war auch überraschend jung, vielleicht zwanzig, sicherlich nicht viel älter. Aber ihr Auftreten verriet Fähigkeit und Erfahrung.

»Glauben Sie, daß er am Leben bleibt?« John sah wieder durch die Glasscheibe.

»Das kann man nicht mit Sicherheit sagen.« Die junge Schwester zog nachdenklich die Stirn kraus. Er spürte, daß sie versuchte, ehrlich zu sein, seine Hoffnungen weder zu zerstören noch zu heben. »Manche kommen durch, andere nicht. Manchmal scheint es, daß Babys den Willen zum Leben haben. Sie kämpfen um ihr Leben.«

Er fragte sie: »Und er - kämpft er?«

Vorsichtig antwortete sie: »Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Aber die acht Wochen, die er zu früh geboren wurde, fehlen ihm sehr.« Still fügte sie hinzu: »Es wird ein harter Kampf werden.«

Wieder wanderten seine Blicke zu dem winzigen Körper zurück. Zum erstenmal wurde ihm klar bewußt: Das da ist mein Sohn, mein eigen, ein Teil meines Lebens. Plötzlich wurde er von einer überwältigenden Liebe für dieses gebrechliche Wesen ergriffen, das seinen einsamen Kampf in dem kleinen gewärmten Kasten da unten führte. Der absurde Impuls packte ihn, ihm durch das Glas zuzurufen: Du bist nicht allein, Junge, ich bin hier, um dir zu helfen. Er wünschte, er könnte zu dem Brutkasten laufen und sagen: Hier sind meine Hände, nimm sie, um Kraft zu schöpfen, hier sind meine Lungen, benutze sie und laß sie für dich atmen. Gib nicht auf, Junge, gib nur nicht auf! Vor uns liegt so viel, was wir zusammen tun können, wenn du nur lebst. Hör auf mich und halte durch. Ich bin dein Vater, und ich liebe dich.

Er konnte nicht verhindern, daß ihm die Tränen aus den Augen traten. Er spürte Schwester Wildings Hand auf seinem Arm. Freundlich sagte sie: »Es ist besser, wir gehen jetzt.«

Unfähig zu sprechen, nickte er. Nach einem letzten Blick durch die Glaswand wendeten sie sich ab.

Lucy Grainger klopfte und trat in das Arbeitszimmer des Pathologen. Joe Pearson saß hinter seinem Schreibtisch. David Coleman auf der anderen Seite des Zimmers studierte ein Aktenstück. Er drehte sich um, als Lucy eintrat. »Ich habe die neuen Röntgenfilme von Vivian Loburton«, sagte sie.

»Was zeigen sie?« Pearsons Interesse war sofort geweckt. Er schob ein paar Papiere beiseite und stand auf.

»Sehr wenig, fürchte ich.« Lucy war vor den Filmbetrachter getreten, der an der Wand hing, und beide Männer folgten ihr. Coleman streckte die Hand aus und knipste einen Schalter an. Nach ein oder zwei Sekunden begannen die Leuchtröhren hinter der Mattscheibe aufzuflackern.

Paarweise verglichen sie die Röntgenaufnahmen. Lucy wies, wie Dr. Bell in der Röntgenabteilung, auf das Gebiet, wo nach der Probeexcision an der Knochenhaut Wachstum erkennbar war. Im übrigen, berichtete sie, habe sich nichts verändert. Schließlich rieb sich Pearson nachdenklich das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er sah Coleman an und sagte: »Mir scheint, Ihr Gedanke hat uns nicht geholfen.«

»Offenbar nicht.« Colemans Ton verriet nichts. Trotz aller Bemühungen standen sie vor dem gleichen Problem: sie waren entgegengesetzter Meinung. Er war gespannt, wie sich der alte Mann entscheiden würde.

»Der Versuch war es auf jeden Fall wert.« Pearson hatte eine eigentümliche Art, die geringste Anerkennung widerwillig klingen zu lassen, aber Coleman vermutete, daß er nur sprach, um Zeit zu gewinnen und seine Unschlüssigkeit zu verbergen.

Jetzt wandte sich der alte Mann an Lucy. Fast höhnisch sagte er: »Die Röntgenabteilung weiß also auch nichts?«

Sie antwortete ausdruckslos: »Man kann es so bezeichnen.« »Und damit bleibt es an mir hängen, an der Pathologie?«

»Ja, Joe«, sagte sie ruhig und wartete.

Zehn Sekunden lang herrschte Schweigen, ehe Pearson wieder sprach. Dann sagte er klar und selbstsicher: »Meine Diagnose lautet, daß Ihre Patientin einen bösartigen Tumor hat -einen Knochenkrebs, Lucy.«

Lucy sah ihn an. Sie fragte: »Ist das endgültig? Ganz eindeutig?«

»Ganz eindeutig.« Die Stimme des Pathologen verriet nicht eine Spur des Zweifels oder des Zögerns. Er fuhr fort: »Ich war von Anfang an davon überzeugt. Ich hoffte, das hier« - er deutete auf die Röntgenfilme - »würde uns eine zusätzliche Bestätigung geben.«

»Also gut.« Lucy nickte ergeben. Ihre Gedanken richteten sich auf die unmittelbaren nächsten Dinge.

Pearson fragte sachlich: »Wann werden Sie amputieren?«

»Morgen vormittag, denke ich.« Lucy nahm die Röntgenfilme an sich>und ging zur Tür. Sie sah auch Coleman an, als sie sagte: »Jetzt muß ich ihr wohl die Nachricht bringen.« Sie verzog das Gesicht etwas. »Das ist eine der schwersten Aufgaben.«

Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte Pearson sich an Coleman. Überraschend höflich sagte er: »Einer mußte es entscheiden. Ich bat Sie jetzt nicht um Ihre Ansicht, weil ich nicht wagen durfte, durchblicken zu lassen, daß Zweifel bestanden. Wenn Lucy Grainger das erfuhr, war sie verpflichtet, das Mädchen und seine Eltern darüber zu unterrichten. Und wenn sie das hören, werden sie die Operation hinauszögern wollen. Das wollen alle immer hinausschieben. Man kann ihnen daraus keinen Vorwurf machen.« Er schwieg und fügte schließlich hinzu: »Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was eine Verzögerung bei einem Osteosarkom bedeutet.«

Coleman nickte. Er konnte Pearson keinen Vorwurf daraus machen, daß er eine Entscheidung gefällt hatte. Wie der alte Mann richtig sagte: Einer mußte es tun. Dennoch fragte er sich, ob die Amputation, die morgen vollzogen wurde, unerläßlich notwendig war oder nicht. Gewiß, am Ende würde man es erfahren. Wenn das amputierte Glied in das Labor herunterkam, würde sich bei der Sektion zeigen, ob die Diagnose >bösartig< richtig oder falsch war. Unglücklicherweise war es dann zu spät, der Patientin noch zu helfen, wenn sie auf einem Irrtum beruhte. Die Chirurgie hatte viele Methoden gelernt, Glieder zu amputieren, aber sie besaß kein Verfahren, sie wieder anzusetzen.

Das Nachmittagsflugzeug von Burlington landete kurz nach vier auf dem La Guardia-Flughafen, und vom Flugplatz nahm Kent O'Donnell ein Taxi nach Manhattan. Auf dem Weg in die Stadt lehnte er sich zurück. Zum erstenmal seit einigen Tagen fühlte er sich entspannt. Er bemühte sich immer, in den New Yorker Taxis abzuschalten, hauptsächlich, weil jeder Versuch, den Verkehr oder das Vorwärtskommen durch die Straßen zu beobachten, ihn im allgemeinen nervös werden ließ. Er hatte schon vor langem erkannt, daß hier Fatalismus die einzig richtige Einstellung war. Man fand sich mit der Möglichkeit eines Unfalls ab. Wenn er dann nicht eintrat, gratulierte man sich selbst zu seinem großen Glück.

Ein weiterer Grund für seine Entspannung war, daß er in den vergangenen Wochen mit höchster Anstrengung gearbeitet hatte, sowohl im Krankenhaus selbst als auch außerhalb. Seine Privatpraxis war gewachsen, und er hatte ein paar zusätzliche Operationen angesetzt, um für die vier Tage, die vor ihm lagen, vom Three Counties Hospital abwesend sein zu können. Ferner hatte er vor zwei Tagen eine Sondersitzung des Ärztestabes des Krankenhauses geleitet, auf der er mit Hilfe der von Harry Tomaselli ausgearbeiteten Unterlagen den Umfang der vorgeschlagenen Spenden der Ärzte für den Baufonds des Krankenhauses bekanntgegeben hatte. Seinen Erwartungen entsprechend, wurde reichlich dagegen gemurrt, aber er zweifelte nicht, daß die Verpflichtungserklärungen und anschließend auch das Geld eingehen würden.

Obwohl O'Donnell bewußt den lebhaften Straßenverkehr New Yorks nicht beachtete, sah er die vertraute, gezackte Silhouette Manhattans näher kommen. Sie überquerten die Queensborough Bridge. Die Strahlen der warmen Nachmittagssonne stießen wie Lanzen zwischen den schmutziggrünen Stahlträgern hindurch, und tief unten konnte er Welfare Island mit seinen finster und nüchtern zusammengedrängten städtischen Kliniken mitten im grauen East River liegen sehen. Er überlegte, daß ihm New York jedesmal, wenn er es wieder sah, häßlicher erschien und seine Unordnung und sein Schmutz auffälliger zutage traten. Und dennoch wurde das alles selbst dem Nicht-New Yorker nach einiger Zeit geläufig und vertraut. Es schien den Reisenden wie ein altvertrauter Freund dem für den Empfang des Gastes ein alter, abgetragener Anzug gut genug ist, ihn willkommen zu heißen. Er lächelte, hielt sich selbst sein unmedizinisches Denken vor - die Art Denken, die die Überwachung der Luftverschmutzung und die Beseitigung von Slums behinderte. Den Gegnern des Fortschritts ist Sentimentalität eine Hilfe und ein Trost, dachte er.

Das Taxi ließ die Brücke hinter sich und fuhr durch die 60th Street zur Madison Avenue, mühte sich dann einen Block weiter, bog nach Westen in die 59th Street ein. An der Ecke Seventh Avenue und Central-Park bog es wieder links in den dichten Verkehr ein und hielt vier Blocks weiter vor dem Park Sheraton Hotel.

O'Donnell trug sich in dem Hotel ein, anschließend duschte er und zog sich um. Aus seinem Koffer nahm er das Tagungsprogramm des chirurgischen Kongresses, den äußeren Anlaß für seine Reise nach New York. Drei der Vorträge wollte er sich anhören, zwei über Herzchirurgie und einen dritten über die Ersetzung erkrankter Arterien durch Verpflanzung. Aber der erste Vortrag war erst für elf am nächsten Vormittag angesetzt. Das ließ ihm morgen reichlich Zeit. Er sah auf seine Uhr. Es war kurz vor sieben, noch über eine Stunde, bis er mit Denise verabredet war. Er fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, schlenderte durch das Foyer zur Pyramid Lounge.

Es war die Cocktailstunde, und die Bar begann sich mit Gästen zu füllen, die später essen und ins Theater wollten, die meisten, vermutete er, wie er fremd in der Stadt. Ein Kellner führte ihn zu einem Tisch, und während er durch den Raum ging, bemerkte er eine anziehende Frau, die allein an einem Tisch saß und ihn interessiert betrachtete. Das war ihm nicht ungewohnt, und in der Vergangenheit hatten ähnliche Begegnungen gelegentlich zu willkommenen Erlebnissen geführt. Aber heute dachte er: bedaure, ich habe andere Pläne.

Der Kellner nahm seine Bestellung für einen Whisky Soda entgegen, und nachdem er den Drink erhalten hatte, trank er ihn langsam und ließ gelassen seine Gedanken wandern.

Solche Minuten, dachte er, gibt es in Burlington zu selten. Darum war es ganz gut, ein paar Tage herauszukommen. Es schärfte den Sinn für die Perspektive, ließ einen erkennen, daß manche Dinge der eigenen Umgebung aus einiger Distanz betrachtet sich als bedeutend weniger wichtig erwiesen, als man sie sonst einschätzte. Erst kürzlich war ihm die Vermutung gekommen, daß die Nähe zu dem Krankenhaus sein Denken in manchem aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er blickte sich um.

Seit er in die Bar gekommen war, hatte sie sich gefüllt. Kellner eilten umher, um die Getränke zu servieren, die drei Mixer in Gläser füllten. Eine oder zwei Gruppen der ersten Gäste gingen gerade. Wie viele dieser Leute, fragte er sich - der Mann und die Frau am Nebentisch etwa, der Kellner bei der Tür, die Vierergruppe, die gerade ging - hatten je etwas vom Three Counties Hospital gehört? Und falls doch, interessierte es sie wirklich, was dort vorging? Trotzdem schien ihm selbst das Krankenhaus mit seinen Problemen in letzter Zeit fast zum Lebensinhalt geworden zu sein. War das ein gutes Zeichen? War es für seinen Beruf gut? O'Donnell hatte immer Menschen mißtraut, die sich restlos hingaben. Sie neigten zur Besessenheit, ihre Urteilskraft wurde durch die Begeisterung für ihre Sache beeinträchtigt. Stand er in Gefahr, selbst so zu werden?

Beispielsweise das Problem Joe Pearson. War O'Donnell durch seine Nähe zu den Vorgängen hier fehlgeleitet worden? Für das Krankenhaus war es notwendig, daß ein zweiter Pathologe eingestellt wurde. Davon war er überzeugt. Aber hatte er sich dazu verleiten lassen, den alten Mann ungerecht zu kritisieren und die Mängel bei der Leitung seiner Abteilung -und in jeder Abteilung eines Krankenhauses bestanden Mängel -ungerechtfertigt scharf zu beurteilen? Zeitweise hatte O'Donnell schon erwogen, Pearson zum Rücktritt aufzufordern. War das etwa ein Symptom für ein unausgeglichenes Urteil, die voreilige Verdammung eines älteren Mannes durch einen viel jüngeren?

Selbstverständlich war das, bevor Eustace Swayne ihm klargemacht hatte, daß seine Viertelmillion-Dollar-Spende davon abhing, ob Pearson die Leitung der Pathologie beibehielt oder nicht. Über dies hatte Swayne seinen Beitrag noch nicht bestätigt. Aber O'Donnell glaubte, in seinem Urteil von Überlegungen dieser Art, so wichtig sie dem Anschein nach auch waren, unabhängig zu sein. Höchstwahrscheinlich konnte Joe Pearson dem Three Counties Hospital noch vieles geben. Seine reiche Erfahrung besaß zweifellos ihren Wert.

Es stimmt schon, entschied er, man dachte klarer, wenn man fort war - selbst wenn man sich in eine Cocktailbar setzen mußte, um in Ruhe zu überlegen.

Ein Kellner war an seinem Tisch stehengeblieben: »Noch einmal das gleiche, Sir?«

O'Donnell schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

Der Kellner legte ihm seine Rechnung vor. O' Donnell fügte ein Trinkgeld hinzu und zeichnete sie ab.

Es war sieben Uhr dreißig, als er das Hotel verließ. Er hatte immer noch reichlich Zeit und ging über die 55th Street quer durch die Stadt bis zur Fifth Avenue. Dann winkte er einem Taxi und fuhr weiter hinaus zu der Adresse, die Denise ihm angegeben hatte.

Der Fahrer hielt nahe der 86th Street vor einem Apartmenthaus aus grauem Stein. O'Donnell bezahlte und trat ein.

Er wurde von einem uniformierten Portier respektvoll in der Halle begrüßt, der ihn nach seinem Namen fragte, dann in eine Liste sah und sagte: »Mrs. Quantz hat hinterlassen, Sie möchten bitte hinaufkommen, Sir.« Er deutete auf einen Fahrstuhl, neben dem ein Liftboy in der gleichen Uniform wie er stand. »Es ist das oberste Stockwerk, das zwanzigste, Sir. Ich werde Mrs. Quantz benachrichtigen, daß Sie kommen.«

Im zwanzigsten Stockwerk glitten die Fahrstuhltüren leise vor einem breiten, mit Teppichen ausgelegten Gang auf. Den größten Teil der einen Wand bedeckte ein Gobelin mit einer Jagdszene. Gegenüber befanden sich geschnitzte, eichene Doppeltüren. Eine von ihnen öffnete sich und ein Diener erschien. Er sagte: »Guten Abend, Sir. Mrs. Quantz läßt Sie in die Diele bitten. Sie wird sofort kommen.«

Er folgte dem Mann durch einen Gang und in einen Wohnraum, der fast so groß wie sein gesamtes Apartment in Burlington war. Er war in beigen, braunen und korallenfarbenen Tönen dekoriert. Eine Reihe Sessel ohne Armstützen war zu einem Sofa zusammengeschoben, das an beiden Seiten durch Walnußtische begrenzt wurde. Das reiche Dunkelbraun des Holzes hob sich wirkungsvoll von dem blassen Beige des schweren Teppichs ab. An den Wohnraum schloß sich eine gepflasterte Terrasse an, hinter der er die letzten Strahlen der Abendsonne wahrnahm.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?« fragte der Diener.

»Nein, danke«, antwortete er, »ich werde auf Mrs. Quantz warten.«

»Das brauchst du nicht«, sagte eine Stimme. Und da war Denise. Mit ausgestreckten Händen kam sie auf ihn zu. »Kent, mein Lieber, ich freue mich so, dich zu sehen.«

Einen Augenblick betrachtete er sie, dann sagte er langsam: »Ich mich auch.« Und wahrheitsgemäß fügte er hinzu: »Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewußt, wie sehr.«

Denise lächelte und beugte sich vor, um ihn leicht auf die Wange zu küssen. O'Donnell verspürte den plötzlichen Impuls, sie in seine Arme zu nehmen, unterdrückte ihn aber.

Sie war noch schöner, als er sich erinnerte, von einem lächelnden Strahlen, das ihm den Atem benahm. Sie trug ein kurzes Abendkleid mit weit schwingendem Rock aus jetschwarzer Spitze über einem schulterfreien Unterkleid aus schwarzer Seide. Der Hauch der Spitzen über ihren Schultern hob den sanften Schimmer ihrer weißen Haut darunter hervor. An ihrem Gürtel steckte eine einzelne rote Rose.

Sie ließ seine Hand los, und sie traten auf die Terrasse. Der Diener war ihnen mit einem silbernen Tablett mit Gläsern und einem Cocktailshaker vorausgegangen. Jetzt zog er sich unauffällig zurück.

»Die Martinis sind schon gemixt.« Denise sah O'Donnell fragend an. »Aber wenn du willst, kannst du etwas anderes trinken.«

»Martini ist ausgezeichnet.«

Denise füllte zwei Gläser und reichte ihm das eine. Sie lächelte mit einem warmen Leuchten in den Augen. Leise sagte sie: »Als mein persönliches Empfangskomitee heiße ich dich in New York willkommen.«

Er schlürfte an dem Martini, er war kühl und trocken. Unbeschwert antwortete er: »Ich danke dem Komitee für den Empfang.«

Für einen kurzen Augenblick hielt ihr Blick den seinen fest. Dann nahm sie ihn am Arm, führte ihn über die Terrasse auf die niedrige Säulenbalustrade zu, die sie abschloß.

»Wie geht es deinem Vater, Denise?« fragte O'Donnell.

»Danke, es geht ihm gut. Wie alle echten Konservativen hat er sich natürlich eingegraben, aber gesundheitlich geht es ihm gut. Manchmal glaube ich, er wird uns alle überleben.« Sie fügte hinzu: »Ich liebe ihn sehr.«

Sie waren stehengeblieben und blickten hinunter. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die warme, milde Spätsommerdämmerung, und die Lichter New Yorks leuchteten auf. Von der Straße unten drang das stetige und durchdringende Pulsieren des Abendverkehrs herauf, von dem plötzlichen Aufbrausen der Dieselbusse und dem Stakkato ungeduldiger Hupen synkopisiert. Gegenüber lag der Central-Park, dessen Umrisse im Schatten verschwanden. Nur die in das Dunkel hineingestreuten Straßenlampen ließen den Verlauf der hindurchführenden Straßen erkennen. Jenseits lösten sich die Straßen der West-Side im Dunkel zum Hudson River auf, und auf dem Fluß schlugen die Lichtpünktchen der Schiffslampen eine Brücke zwischen der Schwärze und den fernen Lichtern des Ufers von New Jersey. Oberhalb der Stadt konnte O'Donnell die George-Washington-Brücke erkennen, ihre hochgespannten Bogenlampen eine Kette heller, weißer Perlen, und darunter die Scheinwerfer der Wagen, die in mehreren Reihen nebeneinander über die Brücke aus der Stadt hinausströmten, Menschen, die nach Hause fahren, dachte O'Donnell.

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