25. November 1963, 4:37 Majestic, Arrestzelle

Bach überließ mich entgegen seiner Ankündigung zuerst seinen Männern, aber ich ignorierte ihre Fragen und aus irgendeinem Grund gaben sie sich auch nicht allzu viel Mühe. Sie ließen mich schließlich auf einer Pritsche ein paar Stunden schlafen. Ich war sofort hellwach, als sie mich erneut holten, und ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern eingeschlafen zu sein, aber meine Erschöpfung muss so groß gewesen sein, dass nicht einmal der Gedanke an Kimberley und die Gefahr, in der sie sich befand, mich lange hatten wach halten können.

Bach hielt letztlich doch noch Wort. Sie sperrten mich im selben Stockwerk, in dem die Labors lagen, in ein kleines Verhörzimmer mit einem rechteckigen Tisch und zwei Stühlen und einer Wache mit braunem Hemd und weißem Helm vor den Fensterscheiben zum Korridor. Jesse Marcel saß auf einem der Stühle und starrte mich verwirrt und fragend an, als sie hinter mir den Schlüssel im Türschloss zweimal herumdrehten. Ich nehme an, dass er mir Fragen gestellt hat, aber ich ignorierte ihn völlig. Ich verschmähte den Stuhl und ließ mich einfach an der Wand herabgleiten, an der ich gerade stand. So saß ich fast eine Stunde, allein mit Marcel und meinen Gedanken. In dieser endlosen Nacht vor John F. Kennedys Beisetzung, die am frühen Nachmittag des 25. November auf dem Arlington National Cemetery stattfinden sollte, haben vermutlich viele Amerikaner schlecht geschlafen - und dennoch beneidete ich sie um die Normalität ihrer alltäglichen Sorgen, die ich vollends verloren hatte. Gegenüber Bach war es leicht gewesen, alle Zweifel abzustreifen und Kim zu verteidigen. Tatsache war, sie hatte sich verändert, und selbst wenn die ART das fremde Gewebe ganz aus ihrem Körper entfernt hatte, in ihren Erinnerungen und ihrer Persönlichkeit waren tiefe Spuren zurückgeblieben. Und auch in meinen Erinnerungen, gestand ich mir selbst.

Ich dachte an glücklichere Tage, daran, wie aufgeregt ich gewesen war, als ich sie zu unserer ersten Verabredung abgeholt hatte, an die erste Nacht, die wir miteinander verbracht hatten, an den Tag, an dem sie zwei Knöpfe an der Bluse verloren hatte. Ich sah ihr Gesicht wach im Kerzenlicht und schlafend im Mondschein und ich erkannte mit albtraumhafter Gewissheit, dass die anderen, die unsagbar hässlichen Bilder schon damit begonnen hatten, diese Erinnerungen zu durchsetzen und zu überlagern, ganz so, wie sich die Ausläufer eines Schimmelpilzes plötzlich überall auf dem finden, was am Tag zuvor noch unberührt und gesund gewirkt hatte.

Ganz so, wie die Pseudopodien eines Ganglions sich im Körper eines Infizierten ausbreiteten. So, wie sie mehrere Tage lang unbemerkt in Kims Körper gewuchert hatten.

Ich unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Ich dachte daran, wie wir uns im Flughafenmotel geliebt hatten, und fragte mich, ob ich das nächstemal, wenn ich sie küsste, vor meinen geschlossenen Augen den grässlichen Kuss sehen würde, mit dem Steel den um seinen Verstand ringenden Ruby zerstört hatte. Ich fragte mich, ob ich an die tastenden Beine der Ganglien würde denken müssen, wenn ich das nächstemal ihre Zunge an der meinen spürte. Was immer Bach hatte erreichen wollen, er hatte in kaum einer Viertelstunde mein ganzes Leben vergiftet. Er hatte zu Ende gebracht, was die Hive begonnen hatten. Es ist zu spät, hatte die Kreatur in Pratt mir zu verstehen gegeben. Wir haben sie. Die Hive hatten sie berührt und worauf auch immer sie ihre widerlichen Finger legten, es war danach gezeichnet, Kimberley nicht mehr und nicht weniger als ich selbst.

»Sie sehen aus, als hätte Sie jemand auf ein Rad gespannt«, sagte Marcel. Ich hatte vollkommen vergessen, dass er dort am Tisch saß.

»Bach?«, fragte er, als sich das Schweigen wieder zu Minuten zu dehnen drohte.

Ich nickte stumm. Mir war nicht nach einem Gespräch zu Mute. Ich wollte nichts als den Rest meines Lebens mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn in dieser Ecke sitzen, mit dem Rücken an der Wand und dem kalten Beton unter mir.

»Sind Sie okay, Loengard?«

Ich starrte ihn an. Mit seiner Brille und seinen gedeckten Beamtenkleidern sah er genauso aus, wie Bach ihn dargestellt hatte. Eine Welle des Hasses überkam mich, Hass auf Marcel, auf Bach und auf mich selbst. Ich hasste Steel dafür, dass er so dumm gewesen war, den Hive in die Hände zu fallen, und mich, dass ich selbst Bach alles in die Hände gespielt hatte, was dieser nun gegen Kimberley zu verwenden drohte, und ich hasste Kimberley dafür, dass sie nicht wieder so war wie vor der unseligen Nacht, in der sie sie sich geholt hatten. Ich hasste sie dafür, dass ich mir selbst die Schuld geben musste, wenn sie den nächsten Tag nicht überleben sollte. Vor meinen Augen verschwamm alles und mein ganzer Körper verkrampfte sich; ich verspürte den unbändigen Drang zu schreien.

»Was hat Bach Ihnen angetan?«, erkundigte sich Marcel vorsichtig, vollkommen ahnungslos, was in mir vorging. Ich schloss die Augen. Ich konnte fühlen, wie sich meine Fingernägel in meine Handballen gegraben hatten, so fest hatte ich beide Hände zu Fäusten geballt. Ich wollte jemanden umbringen, ihm mit bloßen Händen das Rückgrat zerbrechen, als seien seine Knochen aus morschem Holz - und das Schlimmste daran war, ich wusste nicht einmal genau, wer es sein sollte.

»Wollen Sie nicht darüber reden?« Sein Tonfall ließ durchblicken, dass er sich unwohl fühlte, aber er wirkte entschlossen, trotz meines sichtbaren Widerwillens, nicht so leicht aufzugeben. Mein Blick sprang zurück zu seinem verknitterten Gesicht. Mit seinen horngefassten Brillengläsern und den davon vergrößerten Augen erinnerte er an einen Nachtvogel. Ich sah ihn jetzt mit anderen Augen als im Hotel TEXAS, aber ich glaubte auch etwas anderes in ihm zu sehen als das, was Bach mir über ihn hatte einreden wollen. Ich versuchte die Verzweiflung abzuschütteln, die mich so vollständig in ihren Würgegriff genommen hatte. Marcel trug keine Schuld an meinem Elend und ich wollte verdammt sein, ehe ich Bach ein weiteres Mal auf den Leim kroch.

»Er hat mir das Herz aus dem Leib gerissen«, stieß ich hervor, ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich sagte. »Er hat es mir herausgerissen und dann hat er es mir in die Hand gedrückt und mir gesagt, ich solle es gut festhalten, bis er kommt, um es sich zu holen.« Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte die Decke an. Ich atmete mehrmals tief ein und mein Blickfeld klärte sich langsam wieder. »Und am Ende wird er noch versuchen, es mir verkehrt herum wieder einzusetzen.«

Marcel konnte damit vermutlich nicht mehr anfangen als ich selbst.

»Immerhin«, sagte er unbeholfen. »Der Bach, den ich gekannt habe, hätte Sie gezwungen, es zu essen.«

Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen. Wir starrten uns an und die Absurdität unseres Wortwechsels wurde mir in ihrem vollen Ausmaß bewusst. Er zwinkerte hinter seinen Brillengläsern, zufällig oder mit Absicht. Ich musste lachen, ein unterdrücktes Lachen, das mir die Kehle zuschnürte, aber als er einstimmte, brach es frei aus mir heraus und nach und nach verlor sich der schrille Unterton der Hysterie und ich konnte so befreit lachen wie schon seit langem nicht mehr. Ich lachte Tränen und vermutlich weinte ich auch. Es ging eine ganze Weile so und die Wache auf dem Gang warf uns ein paar misstrauische Blicke durch die Glasscheibe zu, aber das kümmerte mich herzlich wenig.

Als wir uns wieder beruhigt hatten, wischte ich mir mit dem Ärmel über das Gesicht, stand auf und ging zum Tisch hinüber. Es war, als schmerze jede einzelne Muskelfaser und jede Sehne in meinem Körper. Ich bewegte mich wie ein alter Mann und vermutlich hat Marcel am Ende tatsächlich geglaubt, Bachs Leute hätten mich zusammengeschlagen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass keine Prügel der Welt mir so hätten wehtun können wie der womöglich schon verlorene Kampf um Kimberleys Leben.

Stattdessen erzählte ich ihm unsere Geschichte. Er stellte nicht viele Fragen und ich musste ein paarmal innehalten, wenn mich die Erinnerung überkam. Ich ließ eine Menge Dinge aus, aber er war ein guter Zuhörer. Er konnte sich kaum in meine Situation versetzen, aber er begriff genug von dem, was ich unausgesprochen ließ, um betroffen auf seine Hände zu sehen. Auf eine seltsame Art und Weise hatten wir die Rollen getauscht. In Fort Worth war er es gewesen, der gebeichtet hatte, jetzt war die Reihe an mir.

»Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte ich, als ich am Ende angekommen war. »Wir waren schon auf der Flucht, bevor Kennedy ermordet wurde. Wir waren gewarnt. Wir hätten weiter nach Süden fahren sollen, nach Mexiko oder bis runter nach Südamerika.« Ich stellte plötzlich fest, dass ich schon seit einiger Zeit wieder auf den Füßen war. Ich muss unzählige Male in dem kleinen Zimmer auf und ab gegangen sein. »Aber ganz gleich, wohin wir uns gewandt hätten, man sieht überall denselben Himmel, nicht wahr?«

Marcel nestelte umständlich eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus der Tasche. Es war nicht die Marke, die er in Texas geraucht hatte. Es war Bachs Marke. Ein kurzer Stich des Misstrauens durchzuckte mich. Er zog eine Zigarette heraus und entzündete sie mit seinem Feuerzeug, während er sich nach einem Aschenbecher umsah. Dann bemerkte er meinen Blick.

»Stört es Sie?«, fragte er,.

Ich hielt meinen Blick auf das Feuerzeug in seinen Händen und dachte wieder an Kim. »Ich dachte, Sie wollten es aufgeben«, sagte ich mit merklicher Zurückhaltung.

»Schlechte Gewohnheiten verlieren sich nicht so schnell«, bemerkte er und steckte sein Feuerzeug wieder ein.

»Wie etwa, für die Regierung zu arbeiten?«

Er runzelte die Stirn. »Was haben Sie auf dem Herzen?«, erkundigte er sich. Sein Blick fiel auf die Zigarettenschachtel und er nickte nach einem Moment. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und betrachtete nachdenklich den schmalen Streifen schwelenden Tabaks, der die Asche von dem weißen Papier trennte. »Kriegsgefangenen standen von jeher Zigaretten zu«, sagte er zu niemandem im Besonderen. Er hob die linke Hand und drückte die Zigarette mit den Fingern aus. »Sie haben Recht«, sagte er dann zu mir. »Es ist eine schlechte Gewohnheit.«

Ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Nichts von dem, was ich ihm erzählt hatte, konnte für Majestic eine Überraschung darstellen, und ob sich Marcel nun von Bach hatte einspannen lassen oder nicht, der Raum war ohnehin verwanzt und vermutlich hatten sich die ganze Zeit Tonspulen im Nebenraum mitgedreht. Es kam nicht darauf an. Wichtiger war, dass ich wieder einen klaren Kopf bekommen hatte und dass es mir gut tat, meine Sorgen in Worte zu fassen, bevor sie mich innerlich erdrücken konnten.

»Eine abscheuliche Geschichte«, sagte Marcel, als ich mich wieder setzte. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Schläfen. »Die ganzen Jahre habe ich geglaubt, dass diese Aliens die Antwort auf all unsere Gebete hätten sein können.« Er schüttelte beklommen den Kopf. »Was mich am meisten erschreckt, ist der Gedanke, dass sie überall sein könnten, in jedem von uns, und wir würden es womöglich nie erkennen, bis es zu spät ist.«

»In der ersten Zeit nach der Implantation finden sich ein paar untrügliche Zeichen, wenn man darauf achtet, aber danach...« Ich breitete die Hände aus. »Kann gut sein, dass es danach fast unmöglich ist ohne eine genaue medizinische Untersuchung.«

»Und diese Grauen, die haben ebenfalls so ein Ganglion in ihren Köpfen?«

»Bach sagt es.« Ich biss mir auf die Lippen. »Falls er die Wahrheit sagt, sind sie womöglich ebenso Opfer wie wir. Falls nicht, ändert das auch nichts - dann sind die Ganglien eine Waffe in den Händen der Grauen und nicht umgekehrt. Wir können die einen nicht von den anderen trennen. Wir können es ja nicht einmal bei Menschen.«

Marcel wusste, worauf ich anspielte. »Was sind das nur für Kreaturen«, sagte er mit mühsam unterdrücktem Ekel.

»Irgendjemand von den Ärzten hat die These aufgestellt, dass es sich um eine insektenähnliche Lebensform handelt, mehr weiß ich auch nicht.« Ich schloss die Augen. »Seitdem hat sich die Bezeichnung Hive eingebürgert. Aber im Grunde haben wir keine Ahnung. Es ist keine irdische Lebensform und sie passt nicht in unsere Ordnung.«

Marcel nahm das alles schweigend auf. »Sechzehn Jahre lang wollte ich unbedingt zum inneren Kreis gehören«, sagte er dann. »Sechzehn Jahre lang habe ich mir jeden Tag gewünscht, ich würde dazugehören. Ich wollte die Wahrheit wissen. Und ich wollte nicht, dass Leute wie Frank Bach die Wahrheit nach ihrem Gutdünken unterdrücken und benutzen konnten.« Er schüttelte noch einmal schwerfällig den Kopf. »Und heute ist es die Wahrheit, dass eine fremde Spezies in unsere Körper und Gedanken eindringen kann und es um nichts anderes geht, als unsere bedingungslose Kapitulation zu erzwingen.«

Ich verzichtete auf einen Kommentar.

»Glauben Sie, dass Bach und seine Männer sie aufhalten können?«

»Die Hive?«, fragte ich dagegen. »Oder die, die hinter ihnen stehen?«

Marcel hob die Schultern. »Was auch immer.«

»Ich glaube nicht mehr an die edle Mission von Bachs Majestic«, stellte ich fest. »Was die Hive betrifft...« Ich ließ den Satz unbeendet. »Ich muss sehen, dass ich erst einmal irgendwie hier wieder herauskomme...« Ich lachte voller Bitterkeit. »Manchmal frage ich mich, ob Bach nicht schlimmer ist als die Hive. Und doch ist Majestic irgendwie die einzige konstante Kraft, die sich den Aliens gegenüber stellt. So etwas wie die einzige Hoffnung der Menschheit.« Aber nicht meine Hoffnung, ergänzte ich in Gedanken, sondern ganz im Gegenteil. Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Es war früher Morgen, draußen, wo man die Sonne sehen konnte. Vielleicht würde es auch ein bedeckter Tag werden. Ich fragte mich, was Kim und Ray gerade machten, ob sie schliefen, ob man gerade irgendwelche Experimente an Kim vornahm oder Schlimmeres. Und dann kroch die entsetzliche Frage in mir hoch, die ich die ganze Zeit versucht hatte zu unterdrücken: Ob sie vielleicht schon tot war?


Die nächste halbe Stunde verging schweigend. Eingesponnen in meine Ängste und Befürchtungen hatte ich mich wieder auf den Fußboden gehockt und die Verzweiflung mischte sich mit meiner Erschöpfung zu einer abstrusen Vision, in der Kim von innen heraus von den pilzähnlichen Ganglien zerfressen wurde, bis nichts mehr übrig blieb außer ihrer äußeren Hülle. Bleib bei den Fakten!, ermahnte ich mich, Kim lebt und es besteht nach wie vor die Hoffnung, dass wir diesem ganzen Albtraum unbeschadet entrinnen können. Aber es war nicht mehr viel Hoffnung in mir, nicht, nachdem mir Bach auf seine unnachahmliche Art klargemacht hatte, dass ich mir Kims Zustand schöngeredet hatte und da etwas in ihr am Werke war, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach von innen Stück für Stück verschlang.

Irgendwann musste ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn als draußen etwas krachte, schreckte ich benommen hoch, kniff ein paarmal die Augen zusammen, bis ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, und strich mir übers Haar, wobei ich nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken konnte. »Was ist los?«, fragte ich.

Marcel war aufgestanden und an die Scheibe getreten. »Ich weiß nicht«, antwortete er leise, aber mir entging nicht der besorgte Ton in seiner Stimme. »Da geht etwas vor, was mir gar nicht gefällt. Vielleicht...«

Er kam nicht mehr dazu, seinen Gedankengang zu beenden. Das Schrillen einer Alarmsirene zerriss seinen Satz und dann mischten sich andere Geräusche in das beginnende Chaos, das Trampeln schwerer Stiefel und aufgeregte Schreie, die Kommandos oder auch Fragen brüllten. Die uniformierte Wache vor unserer Glasscheibe, die bislang Marcel sehr genau im Auge behalten hatte, drehte sich auf dem Absatz um, warf einen Blick den Gang hinab und zögerte einen Moment lang, mit der Waffe im Anschlag. Dann warf der Mann einen letzten Blick auf Marcel, der ihm wohl bedeuten sollte, keinen Unsinn zu machen, und stürmte den Gang hinab.

»Was, zum Teufel...?«, begann ich, als ich mich hochstemmte und mit zwei schnellen Schritten bei Marcel war. Ich weiß nicht, warum ich beim Schrillen der Alarmsirene automatisch an Steel denken musste. Vielleicht war es einfach die Aura von Gewalttätigkeit, die dieser Mann ausströmte, das Gefühl der Unberechenbarkeit und der animalischen Stärke, das nur zum Teil mit dem Ganglion zu tun hatte, das sich in ihn hineingefressen hatte.

Ein Gewehrschuss unterbrach meine Gedanken, gerade als ich an die Scheibe getreten war und in die Richtung starrte, in der die Wache verschwunden war. Der laute Knall hallte erschreckend laut von den Betonwänden wider, dumpf und irgendwie falsch, deplatziert in dieser unterirdischen Festung, in der Bach alles unter Kontrolle zu haben glaubte und doch nichts mehr so war, wie es sein sollte.

Doch damit war es noch nicht vorbei. Der uniformierte Mann, der uns die ganze Nacht nicht aus den Augen gelassen hatte in dieser Mischung zwischen Zelle und spartanisch eingerichtetem Aufenthaltsraum, war offensichtlich in einem der Nebenräume verschwunden. Denn jetzt taumelte er rückwärts wieder aus dem Raum heraus, verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfend. Seine Bewegungen wirkten so unkontrolliert, als ob er an einen Grizzlybären geraten war, der ihm mit einem wütenden Prankenhieb klargemacht hatte, wer hier Herr der Situation war. Der Mann war an die Einmeterneunzig groß und brachte sicherlich einhundertachtzig Pfund auf die Waage und dennoch war er der Attacke seines Gegners offensichtlich in keiner Weise gewachsen. Durch die Scheibe musste ich hilflos mit ansehen, wie er endgültig aus dem Gleichgewicht kam, hintenüber schlug und hart auf dem Boden aufprallte.

Doch der Soldat war besser in Form, als ich vermutet hatte. Er hatte seine Waffe trotz seines harten Sturzes krampfhaft festgehalten und brachte sie mit einer blitzschnellen Bewegung in Anschlag. Immer noch mit dem Rücken auf dem Boden liegend feuerte er in die Tür hinein.

Offensichtlich verfehlte er sein Ziel. Denn es stürzte ein Mann in dunklem Jackett und hellem Hemd auf ihn zu, packte die Waffe und riss sie ihm mit einer unglaublich kraftvollen Bewegung aus den Händen.

Es war Steel.

Der ehemalige Vertraute Bachs wirbelte das Gewehr herum, sodass der Lauf nicht mehr auf ihn, sondern auf den Soldaten gerichtet war. Der Soldat tat das einzig Richtige; mit beiden Händen griff er nach der Waffe, bekam den Lauf zu fassen und versuchte ihn beiseite zu drücken.

In diesem Moment löste sich ein weiterer Schuss. Der Knall schien noch lauter zu sein als zuvor; er dröhnte in meinen Ohren und riss jeden bewussten Gedanken mit sich.

»Runter«, rief Marcel und zerrte mich hinab, hinter den vielleicht fünf Fuß hohen Metallsims, auf dem die Glasscheibe aufsaß. Keine Sekunde zu früh. Denn in diesem Moment drehte Steel den Kopf in unsere Richtung, die instinktive Handlung eines jeden Kämpfers, der seine unmittelbare Umgebung sichert, bevor er die nächsten Schritte einleitet. Ein paar Sekunden lang fürchtete ich, er hätte uns gesehen. Mein Hals fühlte sich trocken und ausgedörrt an und mein Nacken verkrampft, und das nicht nur durch die ungemütliche Haltung hinter der vielleicht nur einen halben Zoll starken Metalleinfassung, unserem einzigen Schutz vor der verrückten Bestie, zu der Steel mutiert war.

Ehe mich Marcel darin hindern konnte, schob ich meinen Kopf vorsichtig so weit nach oben, dass ich den Gang einsehen konnte. Steel war verschwunden. Zumindest wusste ich, in welche Richtung er das Weite gesucht hatte; da er nicht an uns vorbeigekommen war, musste er den Gang hinabgelaufen sein, in Richtung Treppenhaus. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war und wie es Steel abermals hatte gelingen können, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Aber ich wusste, dass ich ihn nicht einfach durch die Bunkeranlage laufen lassen konnte.

»Wo, zum Teufel, sind die Wachen?«, fragte Marcel, während er sich aufrichtete und in den Gang hinaus blinzelte. »Ich habe doch gerade noch Stimmen gehört.«

»Ja.« Ich runzelte die Stirn. »Das ist seltsam.« In der Tat lag der Gang wie ausgestorben vor uns und selbst das Wimmern der Sirene war verstummt.

»Es sieht so aus, als seien wir auf uns allein gestellt«, fuhr Marcel fort. »Kommen Sie.«

Die Entschlossenheit in seiner Stimme stand im krassen Gegensatz zu seinem harmlosen Erscheinungsbild, eine Tatsache, die er sich wahrscheinlich schon oft zu Nutze gemacht hatte, um einen Gegner zu überrumpeln. Mit einer entschlossenen Bewegung nahm er den Holzstuhl, auf dem er die Nacht verbracht hatte, holte aus und ließ ihn mit aller Kraft gegen die schwere Scheibe donnern. Das Glas knirschte protestierend, nahm den Treffer aber ohne den kleinsten Riss hin.

»Verdammt«, fluchte er und versuchte es noch einmal. Sein Schwung war diesmal so groß, dass ein Bein von dem einfachen braunen Holzstuhl abriss und zentimeternah an mir vorbeisauste. Doch die Scheibe hielt nach wie vor stand. Was ihn nicht daran hinderte, es ohne zu zögern nochmals zu versuchen. Er nahm den Stuhl mit beiden Händen über den Rücken und ließ ihn mit aller Kraft auf die Scheibe niedersausen. Und diese Taktik hatte Erfolg; die Scheibe reagierte auf den Stuhl wie eine dünne Eisschicht auf einen schweren Männerstiefel und dünne Risse bewegten sich von der Stelle weg, an der der Stuhl aufgeplatzt war. Mit zwei, drei weiteren Schlägen gelang es Marcel, die angeschlagene Scheibe endgültig zu zersplittern. Ein wahrer Scherbenregen brach in den Gang hinaus und stürzte glitzernd auf den mausgrauen Boden wie ein warmer Sonnenregen auf einen unbestellten Acker.

Triumphierend drehte er sich mit dem Stuhl in der Hand um, dem die rohe Gewalt übel mitgespielt hatte: Die beiden vorderen Beine waren abgebrochen, das hintere zersplittert. Die ganze Aktion hatte nur wenige Sekunden gedauert und mich mehr als überrascht; schließlich hatte ich angenommen, einem Mann wie Marcel gegenüber die Führung übernehmen zu müssen. Das sollte ein Mann ohne Rückgrat sein? Was auch immer mir Bach über diesen ehemaligen PR-Verantwortlichen hatte einreden wollen: Es passte überhaupt nicht zum Verhalten des zerbrechlich wirkenden, aber mehr als tatkräftigen Mannes.

Ich zögerte nicht länger, sondern war mit einem Satz auf dem Gang. Glassplitter knirschten unter meinen Schuhen und irgendetwas brannte auf meiner Wange; wahrscheinlich ein Glassplitter aus der nicht vollkommen zerstörten Scheibe, den ich mir bei meinem ungestümen Satz durch das Loch im Glas zugefügt hatte. Ich achtete nicht darauf, sondern hetzte mit Riesenschritten auf die zusammengekrümmte menschliche Gestalt zu, die Steel mit einem Gewehrschuss niedergestreckt hatte.

In diesem Moment flackerte das Licht, unmerklich fast und doch ungemein störend wie alles, was daran erinnerte, dass sich über uns Tonnen an Geröll und Erde auftürmten und ein Leben in dieser Anlage tief unter der Oberfläche nur möglich war, wenn die Technik einwandfrei funktionierte. Einen Herzschlag lang blieb ich mit geballten Fäusten auf dem Gang stehen und trotz der kühlen Luft in diesem Teil des Gebäudes, den die Lüftungsanlage gleichmäßig bis in den letzten Winkel verteilte, stand mir der Schweiß auf der Stirn.

Dann fiel das Licht endgültig aus. Einen Moment lang herrschte absolute Finsternis um uns herum. Es kam so überraschend, dass ich gar nichts in mir spürte außer der Verwunderung darüber, wie dunkel es in einem Gebäude unter der Erde sein konnte, in das kein Licht einer entfernten Straßenlaterne fiel, kein Sternenlicht und kein Mondschein für eine geringe Aufhellung sorgte, keine Lampe aus einem Nachbarhaus ihre warmgelben Finger in die Nacht hinausschickte. Bevor dieser Gedanke mir überhaupt bewusst durch den Kopf schießen konnte, flackerte schon wieder etwas auf, durchbrach pulsierender Lichtschein die Schwärze um mich herum und beraubte sie ihrer alles verschlingenden Kraft. Ein paar Sekunden flackerte es noch, dann wurde es wieder heller, wenn auch nicht mit der selbstverständlichen Leuchtkraft, die von den gleichmäßig angebrachten Neonröhren ausging. Es war die Notbeleuchtung, die zuverlässig in die Bresche gesprungen war und uns vor dem Schicksal bewahrte, uns wie lebendig begraben zu fühlen.

Und mich damit erbarmungslos mit der Realität konfrontierte.

Am Boden direkt vor mir lag die Wache und sie war zweifelsohne tot. Einen Bauchschuss aus nur wenigen Zentimeter Entfernung mit der großkalibrigen Waffe konnte wahrscheinlich nur ein von Ganglien zerfressener Mensch überleben; der Schuss musste dem Mann regelrecht die Eingeweide zerfetzt haben. Aber es war nicht an der Zeit, meinen Gefühlen nachzugeben. Ich bückte mich nach dem Schnellfeuergewehr, wobei ich nicht verhindern konnte, dass mein Blick die toten Augen des Soldaten trafen. Wenn überhaupt etwas in diesen Augen im Augenblick des Todes eingefroren war, dann nicht Schmerz, sondern grenzenlose Überraschung. Der Mann hatte keine Zeit gehabt, mit seinem Leben abzuschließen; ein weiteres Opfer, das Steel bedenkenlos ausgelöscht hatte, doch diesmal nicht in Bachs Auftrag, sondern ganz im Gegenteil, im Kampf gegen ihn.

Marcel war direkt neben mir stehen geblieben und in seinem Blick war eine Nachdenklichkeit, die ich nicht zu deuten vermochte. Es herrschte eine unangenehme Ruhe, selbst das immer währende Säuseln der Lüftungsanlage schien verstummt zu sein. »Hier«, sagte ich rau und warf Marcel das Gewehr zu. Er fing es mit einem schnellen, routinierten Griff auf.

Ich kniete neben dem toten Soldaten und öffnete mit einem entschlossenen Ruck seine Pistolentasche. Das kalte Metall der Waffe glitt in meine Hand, aber die beruhigende Wirkung blieb aus. Steel war nicht unsterblich, aber nach meinem Empfinden zu nahe dran an einem Zustand der Unbesiegbarkeit, als dass mir allein eine Pistole ein Gefühl der Sicherheit hätte geben können. Während ich mich wieder erhob, schob ich den Sicherungshebel der 38er zurück.

»Gehen wir«, sagte ich. Meine Schritte quietschten unangenehm laut auf dem grauen Kunststoffboden, als ich auf die Tür zuging, die zur Nottreppe führte. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor ich begriff, dass mir Marcel nicht folgte. Ich drehte mich zu ihm um und blieb stehen. Er stand an der Tür, durch die der Soldat geflogen war, und starrte ins Innere des Raums, der nach meiner Erinnerung eines der vielen gesicherten Labors auf dieser Ebene beherbergte. Sein Gewehr hing kraftlos in seinem Arm und seine Körperhaltung verriet, dass für den Augenblick alles Kämpferische von ihm abgefallen war.

»Was für eine Scheiße«, murmelte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Was für eine gottverdammte Scheiße.«

»Was ist?«, fragte ich besorgt.

Marcel schüttelte benommen den Kopf. »Unser Mann war nicht der Einzige«, sagte er dann kraftlos. »Steel hat ein regelrechtes Blutbad angerichtet.« Er deutete ins Innere des Raums. »Da liegen noch drei Agenten. Mein Gott, wie hat er das nur geschafft?«

Ehe ich ihn fragen konnte, was genau er damit meinte, war er schon in der Tür verschwunden. »Marcel!«, rief ich und konnte dabei nicht verhindern, dass meine Stimme abkippte. »Was soll der Quatsch?«

»Ich sehe nur nach, ob hier noch jemand lebt«, hörte ich seine Stimme dumpf aus dem Labor. Irgendwo hörte ich Schritte, aber ich wusste nicht, von wem sie stammten und wohin sie führten, ich wusste nur, dass Marcel in dem Labor verschwunden war, statt sich mit mir sofort und ohne weitere Verzögerung auf die Jagd nach Steel zu machen, den wir unter allen Umständen von dem abhalten mussten, was auch immer er vorhatte.

Die Schritte verstummten und dann klirrte etwas. Mein Herz klopfte wie rasend und meine rechte Hand umklammerte die Pistole so stark, das es mir selber wehtat. Ich versuchte mich zu beruhigen, redete mir ein, dass Marcel das einzig Richtige tat. Vielleicht konnte er noch jemanden retten. Aber mein Instinkt riet mir, auf dem Absatz kehrtzumachen und sofort von hier zu verschwinden.

Dann hörte ich ein entferntes Rascheln und plötzlich und ohne Vorwarnung leise Stimmen, die sich so selbstverständlich zu unterhalten schienen, als sei überhaupt nichts Besonderes vorgefallen. »Marcel!«, rief ich erneut. »Was, zum Teufel, geht da vor?«

»Kommen Sie, John«, antwortete er. Seine Stimme klang so gedämpft, dass ich die Worte mehr erriet als wirklich verstand. »Die Agenten sind tot, aber ich habe hier jemand anderen gefunden.«

Ein merkwürdiges Gefühl ergriff mich, eine zaghafte Hoffnung, die sich explosionsartig in meinem Körper ausbreitete und schließlich komplett von mir Besitz ergriff. Ich schob die 38er in meinen Gürtel und jagte mit ein paar Schritten zu der Tür, hinter der Marcel verschwunden war. Die Andeutung in Marcels Stimme verhieß mir, dass ich hier jemand Bekannten treffen würde. Kim?!?

Es war eine unglaubliche Szene. Das Labor war verwüstet und zerstört, als wäre hier eine Herde Nashörner durchgestürmt. Ein paar Schränke waren umgestürzt und überall lagen Unmengen von Glasscherben, in die Instrumente, Spritzen und Laborschalen hineinexplodiert waren, hineingetupft wie die Farbkleckse bunter Blumen in einem Van-Gogh-Gemälde. Das Schlimmste waren die Blutlachen, die grell und abstoßend das Chaos auf dem Boden verklebten, und die drei Männer, die grotesk verrenkt am Boden lagen und so offensichtlich tot waren, wie es Opfer einer mit unglaublicher Brutalität begangenen Gewalttat nur sein konnten. Es war kaum vorstellbar, dass das nur das Werk eines einzelnen Menschen sein sollte, und doch zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass es Steel gewesen war, der diese Wahnsinnstat begangen hatte.

Aber Steel war kein Mensch mehr.

Marcel stand im Hintergrund des Raumes, an einer schräg in den Angeln hängenden Tür, die irgendwohin führte, in einen weiteren Raum oder in einen anderen Gang, von dessen Existenz mir nichts bekannt war. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Es war die Gestalt hinter ihm, verborgen durch die Tür, aufrecht stehend und offensichtlich nur durch Zufall dem brutalen Ausbruch Steels entgangen, die mich interessierte - und sonst nichts. Ich bahnte mir mit entschlossenen Schritten den Weg in den Raum. Glas und Metall knirschte unter meinen Schuhsohlen und fast wäre ich auf den Arm eines der Toten getreten, eines hageren Mannes, der mir flüchtig bekannt war und jetzt mit gebrochenen Augen an mir vorbei zur Decke starrte. Sein Arm stand in unnatürlichem Winkel vom Körper ab und unter ihm sickerte immer noch pulsierendes Blut auf den Boden. Ich spürte, wie sich mein Magen schmerzhaft verkrampfte und irgendetwas Saures würgte meine Kehle hoch. Nur mit Mühe unterdrückte ich den aufkommenden Brechreiz.

Ich umrundete die massive, schmutzigbraune Pritsche, auf der zweifelsohne der halb tote Steel festgeschnallt worden war, bewacht durch drei Männer, die sich offensichtlich zu sicher gefühlt hatten und das mit ihrem Leben hatten bezahlen müssen. Die Luft um mich schien zu flirren und es war wohl nur der Mischung aus meiner Erschöpfung und Erregung zu verdanken, dass ich das grauenvolle Bild der drei brutal totgeschlagenen Agenten zurückdrängen konnte und mich darauf konzentrierte, die letzten Meter zur gegenüberliegenden Tür zurückzulegen.

Dann erkannte ich die Gestalt, die neben Marcel stand. Es war nicht Kim, es war mein Bruder Ray. Mit Herzklopfen und einem trockenen Gefühl im Mund ging ich ihm entgegen. Auf dem Weg zu ihm schien die Luft immer kälter zu werden. Ray sah grauenvoll aus; dunkle, fast schwarze Ränder zeichneten sich unter seinen Augen ab, das Gesicht war eingefallen und blass wie das eines Schwerkranken. Die Art, wie er mich ansah, hatte etwas Erschreckendes. Es lag so viel Trauer in seinem Blick, dass ich ihm fast nicht standhalten konnte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, meinen robusten Bruder Ray jemals zuvor in einem solchen Zustand gesehen zu haben.

Ray versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Ein schmaler, vertrockneter Blutstreifen war von der Nase sein Kinn hinabgeronnen und hatte sich in den Bartstoppeln verfangen, die deutlich sichtbar zeigten, dass wir heute Morgen alle nicht zum Rasieren gekommen waren. Ich erinnerte mich daran, dass Rays Bartwuchs schon immer kräftiger als meiner gewesen war. Als Jugendlicher hatte ich ihn darum beneidet, als Erwachsener fand ich es nur lästig.

»Wo ist Kim?«, fragte ich und meine Stimme klang scharf und schneidend wie die eines Unteroffiziers, der nachhakt, weil an der Uniform eines Untergebenen ein Knopf fehlt.

»Ich... ich weiß nicht«, sagte Ray schwach. Er gab ein lautes, stöhnendes Geräusch von sich und sein Kinn ruckte nach unten, als hätte es jede Kraft verloren. Benommen schüttelte er den Kopf und richtete dann wieder den Blick auf mich. In seinen glasigen Augen war jedes Feuer erloschen.

»Ich will alles wissen, was du über Kims Unterbringung weißt«, fuhr ich ihn an und hasste mich für den brutalen Klang meiner Stimme, aber ich hatte jede Geduld verloren. »Albano hat euch doch beide zusammen weggebracht, als Bach mit mir sprechen wollte.«

»Ich hab’ keine Ahnung«, stammelte Ray. Doch dann klärte sich sein Blick etwas und er schüttelte erst den Kopf und nickte dann wieder. »Stimmt nicht. Dieser Typ... Albano?... hat zu dem anderen Typen gesagt, er solle Kim zu einem gewissen Kalligan...«

»Halligen«, korrigierte ich ihn, ohne auf Marcel zu achten, der mich verständnislos durch seine Hornbrille anblinzelte.

»Ja«, wieder nickte Ray. »Er sollte sie zu einem gewissen Halligen bringen, und hat dann dem zweiten Mann befohlen, mich ein Stock tiefer abzuliefern. Dann hat sich dieser Albano verdrückt.«

»Okay«, sagte ich bitter. Es machte Sinn. Einen Stock höher befanden sich einige wenige reguläre Labors und es war keine Frage, dass man Kim und Steel nicht auf dem gleichen Stockwerk oder sogar im selben Raum unterbringen würde. Trotzdem fragte ich mich, warum man Ray hierhin gebracht hatte, in die unmittelbare Umgebung von Steel - oder was von ihm übrig geblieben war. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Aber im Grunde genommen war es auch vollkommen nebensächlich. Ich hatte eine Spur von Kim, und das musste genügen. Vielleicht lief ich ja bei der Suche nach ihr sogar Steel über den Weg. Es war dann allerdings nur die Frage, wer damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde.

Ray war benommen und in einem so erbärmlichen Zustand, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte. Doch er erholte sich erstaunlich rasch. Ich nötigte ihn dazu, sich die 38er des toten hageren Majestic-Agenten in den Hosenbund zu stecken - mit Steel war nicht zu spaßen und ich hatte keine Ahnung, was uns hier sonst noch alles erwarten würde. Denn irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es hätte hier mittlerweile von Agenten wimmeln müssen, angelockt von der Alarmsirene und den Kampfgeräuschen. Doch stattdessen herrschte eine fast gespenstische Stille, in der das leise Säuseln der gerade wieder angelaufenen Lüftungsanlage das einzige konstante Geräusch war, unterbrochen nur von unseren Schritten, die leer und hohl von den Gangwänden widerhallten.

Es beruhigte mich durchaus, dass die Lüftung wieder funktionierte, schließlich würde die Luft hier unten ohne sie sehr schnell schal und verbraucht werden. Das änderte allerdings nichts daran, dass meine innere Anspannung in den letzten Minuten eher noch zugenommen hatte. Doch dass die Lüftungsanlage einen Geruch mittrug, der entfernt an eine Mischung zwischen Rosenduft und Marzipan erinnerte, bemerkte ich erst, als wir das Treppenhaus erreicht hatten und uns mit schussbereiten Waffen vorsichtig und langsam durch das Halbdunkel vortasteten. Denn auch hier hing dieser penetrante Geruch in der Luft. Zuvor hatte ich wie selbstverständlich angenommen, dass er von den zerbrochenen Fläschchen in dem zerstörten Labor stammte.

Die schwere Eisentür zum nächsten Stockwerk ging zum Treppenhaus hinaus auf, logisch für denjenigen, der Fluchtwege plante, ungünstig für Leute wie uns, die möglichst rasch und unbemerkt von außen in ein Stockwerk eindringen wollten. Marcel gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich vorgehen sollte, während er mir Feuerschutz geben würde. Bei einer anderen Situation wäre ich mir vollkommen lächerlich vorgekommen, als Karikatur eines Polizisten mit gezogener Waffe in einen Gebäudeteil eindringen zu wollen, in dem ich mich bislang immer wie selbstverständlich und ohne Furcht bewegt hatte. Doch jetzt lief mir nur Angstschweiß den Nacken runter.

Marcel zerrte am Türgriff und viel zu langsam glitt sie zurück. Mit der linken Hand hielt ich mein rechtes Handgelenk umklammert, genauso, wie ich es beim Waffentraining vor noch gar nicht allzu langer Zeit von Peter, dem Schießmeister Majestics, beigebracht bekommen hatte. Doch die schussbereite 38er in meiner rechten Hand war ein nur äußerst zweifelhafter Schutz gegen die Kreatur, zu der Steel mutiert war. Und das war mir nur zu bewusst: Mein Magen war so hart und verkrampft, als hätte ihn gerade jemand als Punchingball benutzt, und mein Kopf schien von einer eisernen Klammer umspannt zu sein.

Der Gang lag leer und ausgestorben vor mir. Fast war ich enttäuscht. Es war wie beim Besuch beim Zahnarzt: Wenn man sich erst einmal dazu aufgerafft hatte, die Sache anzugehen, wollte man sie auch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Einen Steel, der ahnungslos gerade den Gang entlangkommen würde, hätte ich mit so viel Blei voll gepumpt, wie das Magazin meiner Pistole hergegeben hätte. Ich konnte mir trotz seiner ungewöhnlichen Nehmerqualitäten nicht vorstellen, dass er das überlebt hätte.

Stattdessen blieb mir nun nichts anderes übrig, als mit vorsichtigen Schritten in den Gang zu treten, wobei ich mich bemühte, kein überflüssiges Geräusch zu machen. »Alles klar«, flüsterte ich Marcel zu.

Er und Ray folgten mir. Wir waren ein groteskes Trio: Ein ehemaliger PR-Mann mit einem Schnellfeuergewehr in der Armbeuge und einem wachen Blick für diese ungewöhnliche Situation, ich als ehemaliger, nichtsdestotrotz noch sehr junger Majestic-Agent, der mit Leuten wie Robert Kennedy und Frank Bach direkten Kontakt pflegte und dennoch überhaupt nicht in diese Welt der geheimen Operationen und schießwütiger Männer passte, und nicht zuletzt Ray, der blass und verstört hinter uns herstolperte, eine Pistole im Hosenbund, von der ich nicht wusste, ob er sie im Ernstfall benutzen würde.

Und der kam schneller, als mir lieb war.

Eine Tür flog auf und ein Mann stürmte heraus: dunkler Anzug, helles Hemd, unauffällige Krawatte und ein hellbrauner Pistolengurt, der für einen Moment aufblitzte, als er sich zu uns umdrehte und sein Jackett durch die schnelle Drehung zur Seite rutschte. Ich kannte ihn flüchtig. Es war einer der Agenten, die gelegentlich Albano zuarbeiteten.

»Hey«, rief er mit zusammengekniffenen Augen. Seine rechte Hand glitt unter sein Jackett, aber er führte seine Bewegung nicht zu Ende. Offensichtlich hielt er es nicht für ratsam, zwei Männer zu provozieren, die die Waffen bereits auf ihn gerichtet hatten.

»Hallo, Dirk«, sagte ich langsam. »Halte besser die Hände so, dass ich sie sehen kann.«

»Ich... was wollt ihr hier?«, fragte er. Er machte keine Anstalten, seine rechte Hand aus dem Jackett zu bewegen.

Ich erklärte ihm mit ein paar knappen Worten die Situation, berichtete ihm von Steels Ausbruch und dem Tod der Agenten, die ihn hatten bewachen sollen. »Und jetzt müssen wir Steel finden«, beendete ich meine Erklärung. »Hast du irgendeine Ahnung, wo er stecken könnte?«

»Ich habe Steel hier nicht gesehen«, antwortete er steif. Er hatte ein schmales, knochiges und merkwürdig unregelmäßiges Gesicht, mit tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen; es schien kaum in der Lage zu sein, Gefühle auszudrücken - und doch spiegelte sich jetzt deutlich Misstrauen in ihm wider. »Und ich würde mich auch wundern, wenn er hier herumlaufen würde. Das Komische ist, dass er während meiner Schicht aussah wie mein Onkel Harry auf der Intensivstation, als sie uns geholt haben, um uns von ihm zu verabschieden.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie uns nicht glauben?«, fragte Marcel scharf.

»Erraten, Freundchen«, sagte Dirk. Sein Körper straffte sich fast unmerklich und ich hob meine 38er wieder, die ich während meiner Erklärung hatte sinken lassen. »Ich sehe drei Inhaftierte, die hier mit Waffen rumfummeln, die meinen Kollegen gehören. Sie berichten mir, dass meine Kollegen ermordet wurden. Von einem Untoten, oder was?«

Während er sprach, verlagerte er fast unmerklich sein Gewicht auf den rechten vorderen Fuß. Ich spürte in mir zugleich glühende Hitze und eisige Kälte aufsteigen. Die Pistole in meiner Hand zitterte. Ich war kein Killer und wenn Dirk seine Waffe zog, wusste ich nicht, was ich machen würde. Ich betete zu Gott, dass er mich nicht zwang, ihn niederzuschießen.

Doch das war auch nicht nötig. Marcel hatte offensichtlich genauso wie ich bemerkt, dass Dirk im Begriff war, alles auf eine Karte zu setzen. Und er wollte ihn nicht sein Spiel machen lassen. »Ganz langsam«, sagte er. »Ziehen Sie Ihre Pistole ganz langsam aus dem Holster und werfen Sie sie dann auf den Boden.«

Dirk blinzelte und einen Moment lang sah es so aus, als wolle er doch noch sein Glück herausfordern. Vielleicht rechnete er sich Chancen aus, weil er mittlerweile gemerkt haben musste, dass Ray bei einer Auseinandersetzung nicht zählte. Aber er hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst; der Überraschungsmoment war nicht mehr auf seiner Seite.

»Sie können natürlich auch versuchen, den Helden zu spielen«, sagte Marcel leise. »Aber das wäre sehr unklug. Ich werde Sie zwar nicht töten, aber ich werde Ihnen ins Knie schießen. Sie kennen die Waffe, die ich in der Hand halte, und wissen, was das bedeutet. Was Sie aber nicht wissen, ist, dass ich bei meinem Jahrgang in South Carolina der beste Schütze war.«

Dirk presste die Lippen aufeinander. Blass und nervös wanderte sein Blick zwischen mir und Marcel hin und her. Dann schob er die Hand noch ein Stück tiefer ins Jackett und zog langsam die Waffe hervor. Als er die Pistole auf den Boden warf und sie klappernd ein paar Meter weitersegelte, atmete ich erleichtert auf.

»Wenn du schon Steel nicht gesehen hast«, hakte ich sofort nach, »was ist dann mit Kim? Weißt du, wo sie steckt?«

»Kimberley Sayers?«, fragte er. Seine Augen bewegten sich instinktiv nach links, zu der Tür, aus der er getreten war. Dann sah er mir wieder geradewegs in die Augen und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

Es war offensichtlich, dass er log; seine Kopfbewegung hatte ihn verraten. Wahrscheinlich kam er geradewegs aus dem Raum, in dem Kim gefangen gehalten wurde. Eine Welle heißer Erregung durchlief mich. Wenn mich mein Verdacht nicht trog, trennten mich nur wenige Meter von Kimberley. Ohne weiter auf ihn oder Marcel zu achten und ohne ein Wort der Erklärung stürmte ich an ihm vorbei, riss die Tür wieder auf, die hinter ihm zugefallen war, und war mit einem Satz in dem Raum, atemlos und für alles bereit, was mich dort erwarten würde.

Ich entdeckte Kim sofort. Sie saß im Hintergrund an einem Tisch, einem Mann gegenüber, der wie auch Dirk den typisch unauffälligen Anzug trug, der so etwas wie die Berufskleidung von Majestic-Agenten war. Der Mann hatte seine Krawatte gelockert und der leichte Ansatz von Bartstoppeln und die tief geränderten Augen verrieten, dass er heute Nacht gleich mir nicht zum Schlafen gekommen war.

Es war eine so groteske Situation, dass ich vor Überraschung an der Tür stehen blieb und meine 38er sinken ließ. Auf dem kleinen Tisch, der zwischen Kimberley und dem mir unbekannten Agenten stand, lag ein Stapel Spielkarten. Kim schien gerade ihr Blatt aufgenommen zu haben, denn sie löste nur widerwillig den Blick von den Karten, um mir den Kopf zuzuwenden. Ihre Begrüßung bestand in einem leichten Stirnrunzeln und einem angedeuteten Kopfnicken. Keine Freude, keine Erleichterung, keine Sympathie oder auch nur ein Anzeichen dafür, dass sie gleich mir überrascht war, mich so plötzlich wieder zu sehen.

Es fehlten nur noch die Whiskeyflasche auf dem Tisch und ein paar Gläser, dann wäre die traute Pokerrunde komplett. Aber vielleicht war Dirk ja auf dem Weg gewesen, um Alkohol zu besorgen. Was, zum Teufel, ging hier vor? Kims blasses und völlig ausdrucksloses Gesicht ließ mich frösteln.

Der Agent ließ die Hand sinken, in der er sein Blatt hielt. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er war ein noch sehr junger Mann, vielleicht zwei, drei Jahre jünger als ich. Aber ich zweifelte nicht daran, dass er über genügend Professionalität verfügte, um es mit einem ungebetenen Eindringling problemlos aufnehmen zu können. Zu seinem Pech war er in einer denkbar ungünstigen Situation und ich mittlerweile so geladen, dass meine Skrupel, das kalte Stück Metall in meiner Hand einzusetzen, mit jeder Sekunde geringer wurden.

»Denk noch nicht einmal daran«, sagte ich. Ich wunderte mich, dass meine Stimme so gelassen klang. »Leg die Hände vor dir auf den Tisch und verhalt dich mucksmäuschenstill.«

Er brauchte drei oder vier Sekunden, bis er begriff, dass er keine Chance hatte. Dann blinzelte er und tat, wie ich ihm geheißen hatte.

»Komm her, Kim«, sagte ich. »Es wird Zeit, dass wir gehen.«

Sie starrte mich wortlos an und rührte sich nicht.

Als Teenager hatte ich eine Zeit lang das Füttern der Guppys übernommen, die wir als Kinder in unserem winzigen Aquarium für den Inbegriff exotischer Tierwelt gehalten hatten. Irgendetwas war schief gegangen. Eines Morgens, als ich gerade wieder eine Prise Fischfutter in das trübe Wasser hatte streuen wollen, trieben alle sieben Guppys an der Oberfläche. Der Blick ihrer Augen war genauso leer und ohne Spur von Leben gewesen wie jetzt der von Kim.

»Ich hab gesagt, du sollst herkommen«, sagte ich heftig.

Wie fühlt sich ein Kaninchen, wenn es von einem Jagdhund aufgestöbert wird? Wie ein Wolf, der in die Flinte eines Jägers schaut? Vielleicht fühlen sie gar nichts, vielleicht Panik, die ihre Herzen zu schnellen Schlägen antreibt und sauerstoffreiches Blut durch ihre Körper pumpt. Vielleicht fühlen sie eine erbarmungslose Leere in sich, nicht wissend, ob sie ihr Heil im Angriff oder in der Verteidigung suchen sollten. Wenn es so war, dann fühlten sie das Gleiche wie ich in diesem Moment, in dem Kim meine Worte vollkommen teilnahmslos hinnahm wie ein gepanzerter Wagen einen schweren Gewitterregen.

Hinter mir krachte etwas und dann stolperte Dirk hinein, merkwürdig schwer atmend, als hätte er gerade eine große körperliche Leistung vollbracht. Marcel war dicht hinter ihm und trieb ihn mit dem Gewehr an, das noch vor einer Stunde der nun tote Elitesoldat ein Stockwerk tiefer in den Händen gehalten hatte.

»Na wunderbar«, sagte Marcel, als er die Situation mit einem Blick erfasste. »Jetzt haben wir zumindest ihre Freundin wieder gefunden.«

Ich erinnerte mich daran, dass er Kim nur von einem flüchtigen Blick aus Zimmer 422 im Hotel TEXAS kennen konnte. Er musste ein erstaunlich gutes Gedächtnis haben - oder er hatte nur zwei und zwei zusammengezählt.

»Du da hinten«, kommandierte Marcel, ohne mich weiter zu beachten, »steh auf und stell dich neben deinen Kumpel.«

Wie durch einen Nebel nahm ich wahr, dass Marcel den jungen Agenten entwaffnete und anschließend seine beiden Gefangenen zwang, sich an die rückwärtige Wand zu stellen. Es sah aus wie eine Hinrichtungsszene in einem der Al-Capone-Streifen, die bis in die fünfziger Jahre hinein so erfolgreich gewesen waren, mittlerweile aber von Streifen wie Hitchcocks Psycho oder Agentenfilmen wie Lemmy Caution verdrängt worden waren. Ich fühlte mich wie betäubt und doch gleichermaßen merkwürdig klar und wach. Es war eine der wenigen Situationen im Leben, in denen man sich fragte, ob man träumte oder wach war. Es war alles so unwirklich, Marcels Kopfnicken in Kimberleys Richtung, sein gemurmeltes Kommen Sie, meine Liebe, der merkwürdige Blick, den mir Kim zuwarf, als sie aufstand - ein fixiertes Starren der Pupillen, das kaum etwas Menschliches hatte.

»Nun kommen Sie schon, John«, riss mich Marcels Stimme schließlich aus meiner Erstarrung. »Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden.«

Ich nickte und folgte Marcel und Kim mit ein paar schnellen Schritten in den Gang. Ray stand immer noch da wie zuvor, ein blasses, zerstörtes Ebenbild seiner selbst. Gestern Abend war er noch vollkommen anders gewesen, kraftvoll und streitsüchtig wie immer, und es hatte kein Anzeichen gegeben, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Ich hatte noch nie eine so radikale Änderung an ihm erlebt.

Marcel ließ hinter uns die Tür ins Schloss fallen und drehte einen Schlüssel um. »So, das hätten wir«, grinste er, aber es war keine Freude in seinem Blick. »Das wird sie zumindest eine Zeit lang aufhalten.«

In diesem Moment wurde mir wieder dieser seltsame Geruch bewusst, der den ganzen unterirdischen Komplex zu durchtränken schien. Erinnerte er nicht entfernt an Bittermandeln? Gab es nicht irgendein Gift, das diesen Geruch verströmte?

»He, John, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Marcel besorgt.

»Wie?« Ich versuchte die Lähmung abzuschütteln, die mich in den letzten Minuten ergriffen hatte - was mir aber nur teilweise gelang.

»Wir können nicht einfach hier herumstehen«, sagte Marcel besorgt. »Obwohl ich nicht mehr weiß, ob es wirklich nur Steel ist, der unser Problem ist. Hier stimmt etwas nicht.« Er deutete mit der Hand den Gang hinunter. »Kein Mensch zu sehen. Die Alarmsirenen sind losgegangen, Steel hat eine Blutspur durch das Gebäude gelegt, aber keiner scheint sich darum zu kümmern.«

»Riechen Sie das auch?«, fragte ich, ohne auf ihn einzugehen. Als Marcel die Stirn runzelte, fuhr ich schnell fort: »Dieser Marzipan- oder Rosenduft. Oder bittere Mandeln...«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was sie meinen«, sagte Marcel langsam.

Ich hob hilflos die Schultern. »Es ist mir schon unten aufgefallen, aber ich dachte, dieser... dieser Gestank stammte aus den zerbrochenen Flaschen. Aber das stimmt nicht. Hier riecht es genauso.«

»Tut mir Leid«, sagte Marcel kühl. »Ich rieche nichts. Aber das hat nichts zu sagen. Mein Geruchssinn hat in den letzten Jahren gelitten.«

»Ich rieche es auch«, sagte Kim. »Die ganze Zeit schon. Was ist es?«

Ihre Unterstützung kam vollkommen unerwartet für mich. Ich drehte mich zu ihr um und musterte sie fragend. »Wie geht es dir?«, fragte ich in der Hoffnung, der Bann zwischen uns sei gebrochen.

»Danke der Nachfrage«, sagte sie spitz. »Miserabel, um ehrlich zu sein. Aber du siehst auch nicht gerade wie das blühende Leben aus.«

Einen Moment lang verfingen sich unsere Blicke und dann fingen wir beide an zu lachen. Der Lachreiz in mir überschüttete jedes andere Gefühl. Es war eine gewaltige, fast elektrisierende Erleichterung, wie der Durchbruch der Sonne durch eine dicke Wolkenschicht; ein Gefühl der Wiedergeburt. Ich hatte Kim schon fast verloren geglaubt, verloren an die Kreatur, die vielleicht immer noch in ihr wütete und danach trachtete, sie vollkommen in die Gewalt zu bekommen. Ich lachte so laut und heftig, dass mir schon nach wenigen Sekunden die Seiten wehtaten. Aber dann verebbte das Lachen und in das Gefühl der Erleichterung kroch erneut der Zweifel - der Zweifel daran, dass es überhaupt noch eine reelle Chance für uns gab.

»Ach, John«, sagte Kim, die gleich mir wieder ernst geworden war. »Was sollen wir bloß tun?«

Die Frage erübrigte sich. Denn im gleichen Augenblick begannen die Alarmsirenen loszuwimmern. Und irgendetwas krachte gegen die Tür, die Marcel gerade abgeschlossen hatte, mit grausamer Wucht und so ungestüm, dass sie in den Grundfesten erbebte. Die Geräusche vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, das jeden bewussten Gedanken mit sich riss. Die Tür splitterte und bevor ich begriff, was überhaupt vor sich ging, sprang sie aus den Angeln und uns geradezu entgegen, wie ein eigenständiges Wesen, wie der verzauberte Besen aus dem Zauberlehrling, der sich nicht mehr bremsen ließ in seiner unnatürlichen Lebendigkeit. Die Tür drehte sich einmal um ihre Achse und stürzte dann krachend zu Boden. In der Wolke aus Staub und Splittern, die sie aufgewirbelt hatte, erkannte ich zwei Gestalten, die mit gezogenen Waffen in der Tür standen.

Ich hatte entsetzliche Angst. Nicht wegen der Gefahr, in der wir zweifelsohne schwebten. Sondern davor, dass ich Kim wieder verlieren könnte, so kurz nachdem ich sie wieder gefunden hatte. Das konnte und wollte ich nicht zulassen.

Aber es war nicht Marcel und auch nicht ich, der schnell genug reagierte. Es war ausgerechnet Ray, der verstörte und völlig ausgebrannt wirkende Ray, der noch nicht einmal eine Waffe in der Hand hielt. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit drehte er sich einmal um seine eigene Achse, zog die Pistole aus seinem Hosenbund, entsicherte sie und schoss fast im gleichen Moment.

Er traf Dirk mitten ins Gesicht. Es war fürchterlich. Der Schuss hallte schmerzhaft in meinen Ohren wider und mischte sich mit Dirks Schrei, ein Schrei des Entsetzens, der sich in nichts von dem unterscheiden mochte, was ein zu Tode getroffener Seeadler ausstoßen würde. Das hagere, ungleichmäßige Gesicht des Majestic-Agenten wurde regelrecht zerschmettert; eine rote Wolke spritzte weg und traf den Kaugummi kauenden Jungen, der zum Zeitpunkt des Treffers direkt an Dirks Seite war.

Ray handelte, als stände er auf einem Schießstand und als ginge es lediglich darum, den schwarzen Punkt inmitten der Zielscheibe zu treffen. Ein zweiter Schuss löste sich aus seiner Waffe zeitgleich mit einem Schuss, den der zweite Agent abgab. Vor vielen Jahren hatte Ray einmal mit einem Kleinkalibergewehr Kaninchen gejagt, aber als er mit einem von ihm erlegten Kaninchen nach Hause gekommen war, hatte er von unserem Dad eine gehörige Tracht Prügel bekommen. Mich hatte beides sehr beeindruckt, zumal ich nie auf die Idee gekommen wäre, ohne Not ein wehrloses Tier zu erschießen. Aber ich hatte weder gewusst, welch guter Schütze Ray war, noch, wie wenig ihm ein Menschenleben bedeutete.

Der Agent hatte keine Chance. Wenn sein Gesicht eine Zielscheibe gewesen wäre, hätte Ray ungefähr dort getroffen, wo eine Drei einen durchaus akzeptablen Treffer markiert hätte: Die Kugel zerschmetterte seinen linken Wangenknochen und trat irgendwo hinterm Ohr wieder aus, um als Querschläger in die Decke zu sausen. Der Schuss des Jungen ging dagegen ins Leere, traf hinter uns die Wand.

Ich weiß nicht, was mir in diesem Moment an Gedanken durch den Kopf schoss. Es war das grauenhafte Gefühl, etwas beizuwohnen, was vollkommen außer Kontrolle geraten war.

»Bist du wahnsinnig?«, schrie ich Ray an.

Er drehte sich zu mir um und steckte die Pistole wieder ein. »Wieso?«, fragte er knapp. »Sie oder wir.«

Ich sah, wie sich Marcel auf die Lippen biss. In seinem Gesicht arbeitete es. »Das war nicht nötig«, sagte er schließlich und, wie ich fand, in maßloser Untertreibung. Als Ray etwas erwidern wollte, hob er nur die Hände. »Keine Diskussionen jetzt. Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen.«

Genau das traf die Sache auf den Punkt. Denn auf der gegenüberliegenden Seite, dort, wo sich die Nottreppe wie ein stämmiger, massiver Baumstamm durch das Gebäude zog, bewegte sich etwas, rief jemand und dann ging alles im erneuten Schrillen der Alarmsirene unter. Ich packte Kim bei den Schultern und stieß sie vor mir her. Wir hetzten den Gang hinab, keine Sekunde zu früh. Schwere Schritte waren plötzlich hinter uns und jemand schrie: »Bleibt stehen oder ich knalle euch ab!«

Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Steel hatte mindestens vier Menschen auf dem Gewissen, Ray jetzt zwei. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es in Majestic schon jemals zuvor ein solches Blutbad gegeben hätte. Sie würden sich nicht die Mühe machen zu differenzieren, wer geschossen hatte. Für sie mussten wir ein Haufen Verrückte sein und das Einzige, was sie daran hindern konnte, sofort das Feuer zu eröffnen, war wohl der Befehl Bachs, uns nach Möglichkeit lebend zu schnappen.

Ich beschleunigte meine Schritte. Ray, Marcel, Kim und ich rannten, stolperten auf den Mittelgang zu, der uns für einen Moment aus dem Sichtfeld unserer Verfolger bringen würde. Die einzige Chance, die wir hatten, waren die Aufzüge. Und das auch nur dann, wenn ein Aufzug auf uns wartete; wenn die beiden Kabinen auf irgendeinem anderen Stockwerk standen oder unterwegs waren, hingen wir fest. Ich hoffte nur, dass Ray dann nicht anfing durchzudrehen. Nach meinem Geschmack hatte es schon zu viel Tote gegeben.

»Verdammte Scheiße«, schrie jemand hinter uns. »Sie haben Dirk und Clark abgeknallt!«

Nicht sehr professionell, streifte mich ein Gedanke. Es passte nicht zu den Majestic-Agenten, wie wild gewordene Hilfssheriffs rumzubrüllen. Der Gedanke störte mich, aber dann ging er unter in den sich überstürzenden Ereignissen. Schüsse donnerten durch die Gänge und Kugeln bohrten sich in die Wände um uns.

»Bleibt stehen, verdammt noch mal!«, schrie eine sich überschlagende Stimme. »Ihr gottverdammten Bastarde!«

Wir hatten die Abzweigung erreicht und ich schubste Kim nach rechts, weg aus der Schusslinie unserer Verfolger. Die Notbeleuchtung flackerte und warf tanzende Schatten auf die Wände, aber ich achtete nicht darauf, sondern rannte so schnell ich konnte neben Kim auf die Nische zu, die der Eingang zum Aufzugschacht und damit unser Tor zur Freiheit war. Ray und Marcel taten es mir gleich, aber auch wenn sie uns nicht gefolgt wären: In diesem einen Moment war es mir ganz egal, ging es mir nur um Kim und mich selber.

Wir hatten Glück. Eine der Kabinen stand offen und das im Licht der Aufzugskabine matt schimmernde Metall ihrer Wände schien uns geradezu einzuladen. Marcel und ich waren auf gleicher Höhe, als wir die Kabine erreichten, und prallten hart gegeneinander. Kim und Ray stolperten in uns hinein und einen grotesken Augenblick fürchtete ich, wir würden uns so ineinander verkeilen, dass keiner von uns in den Aufzug kam. Aber dann stopfte ich Kim an den anderen vorbei in die Kabine, schob Ray nach und sprang nach einer einladenden Handbewegung Marcels ebenfalls in den Aufzug.

Ein Schuss jagte hinter uns her und ein Stück Metall splitterte neben Marcel von der Türverkleidung ab. Die Verfolger waren heran und würden uns erwischen, wenn wir nicht machten, dass wir von hier wegkamen. Ich packte Marcel am Revers seines Jacketts und zog ihn zu uns herein. Dann war er endlich in der Kabine und ich drückte mit zitternden Fingern die Taste für das oberste Stockwerk, den Ausgang, unseren Weg in die Freiheit, sofern es einen solchen überhaupt gab. Steel war mir im Moment herzlich egal, auch das, was hier in Majestic vor sich ging. Ich wollte nur weg, irgendwohin, wo wir zur Ruhe kommen konnten, um diesen ganzen Irrsinn zu vergessen.

Dabei fing er in diesem Moment erst richtig an. Kaum hatte ich den Knopf gedrückt, setzte sich der Aufzug zitternd und ruckend in Bewegung. Aber nicht aufwärts, sondern abwärts! Die Kabine sackte ein, zwei Fuß durch, fing sich dann wieder, zitternd und schwankend wie ein Mastkorb auf einem Segelschiff bei hoher See. Kim schrie kurz auf, ein spitzer, gequälter Schrei, der mir durch und durch ging.

Dann ging das Licht aus. Ehe ich begriff, was vor sich ging, war es plötzlich vollkommen finster um uns herum. Diesmal war es nicht nur ein kurzer Moment, nicht nur eine Ahnung davon, was das absolute Fehlen von Licht bedeuten konnte. Diese anhaltende und totale Finsternis war viel schwärzer, als ich sie mir je hätte vorstellen können. Ich hatte nie an Klaustrophobie gelitten, aber jetzt plötzlich verstand ich die Menschen, die in Eisenbahntunneln oder dunklen Kellern in Panik gerieten. Mit weit aufgerissenen, aber blinden Augen tastete ich mich an Kim heran, fand einen Arm und dann schließlich ihre Schultern. Das ist das Ende, schoss es mir durch den Kopf, als ich mich an sie drückte. Wie in diesem Film mit Robert Mitchum, der seiner Geliebten im Sterben nur nah sein konnte, weil er, als sie bereits tödlich von Pistolenschüssen durchsiebt war, ihre Hand zu erreichen versuchte. Ich weiß nicht, warum sich diese Filmszene, die ich in einem kleinen Vorstadtkino während eines Urlaubs im mittleren Westen gesehen hatte, nun breitwandfüllend vor mein inneres Auge drängte. Als ich den Film gesehen hatte, hatte er mich nicht sonderlich berührt.

Die Kabine war noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Über uns wimmerte gequältes Metall, das genauso gut von der an der Wand entlang scheuernden Aufzugskapsel stammen konnte wie auch von den massiven Drahtseilen, die sich aufspleißten und damit die an ihr hängende Kapsel dem Absturz preisgeben konnten. Kaum hatte ich den Gedanken gedacht, als sich meine schlimmsten Befürchtungen auch schon bestätigten. Die Aufzugskapsel sackte erneut durch, doch diesmal nicht nur wenige Fuß, sondern mit wahnsinniger Geschwindigkeit immer schneller hinabschießend. Ich spürte, wie mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Für einen wahnsinnigen Moment sah ich die Kapsel unten im Schacht aufschlagen, niedergedrückt von den unglaublichen Kräften des freien Falls.

Kim schrie auf, ein helles Aaaah, das sich zu einem schrillen Laut steigerte, der mir den letzten Rest Verstand aus dem Gehirn riss. Ihr Schrei dehnte sich immer länger und in diesem Laut lag alle Verzweiflung und Panik, die ein Mensch überhaupt empfinden konnte. Es war der Tod, den sie mit diesem Laut aus sich herausbrüllte, das Sterben und die Sinnlosigkeit dessen, was uns in diese ausweglose Situation gebracht hatte. Der Schrei endete erst, als die Kabine mit einem harten Ruck abbremste und wimmernd und kreischend zum Stillstand kam.

Wie auch die anderen wurde ich zu Boden geschleudert, hart und brutal von einer Kraft, die wir nicht beherrschten. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren und wusste kaum noch, wo oben und unten war, aber immerhin waren wir nicht tot, sondern hatten vom Schicksal noch einmal eine Galgenfrist bekommen.

»Oh, verdammt«, murmelte Marcel, der sich als Erster wieder aufgerappelt zu haben schien, denn seine Stimme kam von dort, wo ich oben vermutete. »Das hat mir auf meine alten Tage gerade noch gefehlt.«

»Was ist passiert?«, fragte Kim und trotz der Panik in ihrer Stimme schwang so viel Normalität darin mit, dass ich geradezu Erleichterung empfand. »Stürzen wir jetzt endgültig ab?«

Irgendetwas klackte und dann flammte ein Feuerzeug auf, ein flackernder Schein, der vier total verängstigte Gesichter beleuchtete. »Ich hoffe nicht«, sagte Marcel mit einer Ruhe in der Stimme, für die ich ihn bewunderte. Im flackernden Schein des Feuerzeugs erkannte ich, wie er sich an Ray vorbei zur Tür drängte und mit der linken Hand vergeblich versuchte, in den Schlitz zwischen den beiden Türhälften zu kommen. »Vielleicht haben wir Glück und stehen direkt in einem Stockwerk.«

Und wenn wir Pech haben, hängen wir zwischen zwei Stockwerken fest, beendete ich in Gedanken seinen Satz. Wäre Kim nicht dabei gewesen, hätte ich ihn sicherlich laut ausgesprochen. Doch so verzichtete ich lieber darauf. »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte ich stattdessen.

Doch das brauchte ich nicht mehr. Denn plötzlich ging ein erneuter Ruck durch die Kabine, dann quietschte etwas und die Aufzugstüren glitten mit einem hässlichen Schaben beiseite. Durch den unerwarteten Luftzug wurde Marcels Feuerzeug ausgeblasen und augenblicklich wurde es wieder stockdunkel.

»Raus hier, nur schnell raus hier!«, schrie Kimberley.

Irgendjemand drückte sich gegen mich und war dann an mir vorbei. Ich hörte ein leises Fluchen, das von Ray zu kommen schien. Wenn wir nicht schleunigst sahen, dass wir hier rauskamen, würde uns die Aufzugskabine letztlich doch noch in den Tod hinabreißen. In der Dunkelheit kreisten meine Gedanken um mich selbst wie die Flugzeuge, die King Kong vom Empire State Building herunterschossen.

Dann endlich flammte Marcels Feuerzeug wieder auf. Er war bereits draußen, als Einziger, und die bizarren Schatten, die der Widerschein der Feuerzeugflamme in die Kabine warf, tanzten wie Derwische um uns herum. Wäre unsere Lage nicht so verzweifelt gewesen, hätte ich es vielleicht romantisch und abenteuerlich gefunden, so wie damals, als ich und Ray in die von uns entdeckte Höhle hinabgestiegen waren im Schein altersschwacher Taschenlampen mit Batterien, die bereits kurz davor waren, den Säuretod zu sterben. Doch so hatte ich nur den Wunsch, dass uns dieser Irrweg so schnell wie möglich in die Freiheit brachte, weg aus dem Chaos, weg von allem, was mit Bach und den Ganglien zu tun hatte, weg auch aus Washington, vielleicht nach Mexiko oder irgendwo anders hin, wo sich Kim wieder erholen konnte und ich ihr dabei half, den Rest von dem, was nicht sie selbst war, aus ihr herauszupressen.

Bevor ich dazu kam, etwas zu unternehmen, wurde die Feuerzeugflamme schon wieder schwächer. Irgendetwas knirschte verdächtig und die Kabine schien ein kleines bisschen durchzusacken. Es fehlte nur noch, dass sich die Aufzugstüren wieder automatisch schlossen. Meine Augen suchten Kim. Sie war ein dunkler Schatten, der sich von den anderen Schatten erst abhob, als sie sich bewegte. Ich suchte ihre Hand, fand sie schließlich und zerrte sie mit hinaus.

Ray stolperte hinter uns her, und das keinen Augenblick zu früh. Ein metallisches Kreischen hinter uns bewies, dass ich mit meinen Befürchtungen nur zu Recht gehabt hatte; die Kabine senkte sich, auf der einen Seite stärker als auf der anderen, und dann krachte die ganze Metallkonstruktion hinab, angezogen vom Sog der Schwerkraft donnerte sie den Aufzugsschacht hinab. Als sie unten aufschlug, schien einen Moment die Erde zu beben, und das trotz des Stahlbetons, mit dem das Gebäude unter der Erde ausgegossen war. Es war wie ein Treffer einer Haubitze, vernichtend und endgültig: ein dumpfer, harter Knall, der in ein Wimmern und metallisches Reihen überging. Dann war es still.

»Das war knapp«, sagte Marcel. Aber es war keine Erleichterung in seiner Stimme. Es war Teil seiner Persönlichkeit, die Dinge realistisch zu sehen, wenn sich die Ereignisse überschlugen, das begriff ich jetzt. Und ich verstand auch, warum Bach ihn gleichermaßen faszinierend wie abstoßend fand: In einer Gefahrensituation waren sich die beiden Männer sehr ähnlich. Wenn die Gefahr gebannt war, verhielten sie sich jedoch vollkommen unterschiedlich. Marcel war sensibel und voller Skrupel, auf der Suche nach einer Wahrheit, die nicht nur etwas mit rein körperlich Fassbarem zu tun hatte. Bach dagegen war ein eiskalter Hund, der jeden opfern würde, wenn es in sein Spiel um Macht und Erfolg passte - seine eigenen Männer nicht ausgenommen.

»Da vorne ist Licht«, sagte Kim. Ihre Stimme verhallte in dem Gang wie in einem mittelalterlichen Gemäuer.

Marcel nickte. »Die Beleuchtung scheint auf diesem Stockwerk prinzipiell zu funktionieren. Vielleicht sind hier nur ein paar Birnen kaputt.« Er wechselte das Feuerzeug von einer Hand in die andere. Wahrscheinlich fing es an, heiß zu werden. »Was ich allerdings nicht weiß, ist, wo wir überhaupt sind. Ich hatte keine Ahnung, dass Majestic so viele Stockwerke hat. Wir sind jedenfalls tiefer, als wir nach der Aufzugssteuerung überhaupt sein dürften.«

»Ein geheimer Sicherheitsbereich«, vermutete ich. »Ein weiteres Spielzeug von Bach, in das zig Millionen geflossen sind.«

»Möglich«, sagte Marcel. »Aber dieses Stockwerk sieht anders aus als alle anderen. Der Gang ist schmaler. Und soweit ich erkennen kann, ist er auch anders angelegt als die oberen Stockwerke. Nein, ich glaube beinahe, das hier ist älter als das, was Bach auf Kosten des Senats verbaut hat.«

»Mir ist egal, wo wir sind«, sagte Ray. »Wir sollten uns jetzt zum Licht begeben und dann beratschlagen, was wir machen sollen.«

Ich fuhr überrascht zu meinem Bruder herum. Seine Stimme klang so frisch und befehlsgewohnt wie üblich; all seine Erschöpfung und Antriebsschwäche schien wie weggeblasen zu sein. Der plötzliche Wandel beruhigte mich nicht, sondern löste ganz im Gegenteil ein befremdliches Gefühl in mir aus, das ich nicht allein auf meine Animosität gegen Rays üblichen Befehlston zurückführen konnte. Ich bedauerte, dass ich in dem unruhigen Licht des Feuerzeugs sein Gesicht nur als tanzende Grimasse erkennen konnte; ich hätte zu gerne gewusst, welchen Ausdruck es zeigte.

»Ja, natürlich«, sagte Marcel und setzte sich in Bewegung. »Kommt.«

Sein Feuerzeug zeigte uns den Weg, in Richtung des schwachen Lichtscheins, der uns anlockte wie die alte Petroleumlampe auf der Veranda meiner Eltern die lästigen Mückenschwärme, die uns regelmäßig im Spätsommer heimgesucht hatten. Dunkelheit, vollkommene Finsternis war etwas Schreckliches und doch wusste ich nicht, ob es gut war, es dem Insekteninstinkt gleich zu tun und keine andere Möglichkeit zuzulassen, als sich nur auf die Quelle größter Helligkeit zuzubewegen. Irgendetwas in mir warnte mich, mich hier länger aufzuhalten, als unbedingt nötig war. Aber die Erinnerung an die allumfassende Dunkelheit in diesem gottverdammten Aufzug war noch zu frisch und schmerzlich, als dass ich daran lange denken wollte.

Wir kamen viel zu langsam voran, so unsicher und zögerlich waren unsere Schritte in diesem Betongang, der nur von der unruhigen Feuerzeugflamme erhellt wurde und damit plötzlich von einem nüchtern geplanten Korridor zu einer Höhle mutierte, wie sie unseren Vorfahren im fernen Europa vor einigen zehntausend Jahren bewohnt haben mochten. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich bei mir - und vielleicht auch bei den anderen. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, aber genau die hatte ich nicht. Die flüchtigen Blicke, die ich Kim zuwarf, verstörten mich mehr, als ich wahrhaben wollte. Sie schien mir gleichzeitig so nah und so fern zu sein, eher wie eine Vision in einem verrückten Traum als ein Mensch aus Fleisch und Blut, der sich gleich mir verzweifelt gegen sein Schicksal stemmte. Was, zum Teufel, qualifizierte mich dafür, ihr zu helfen und uns alle aus dieser verrückten Lage zu befreien?

Wir kamen schließlich an eine Kreuzung, die sich allerdings wesentlich von der auf den anderen Stockwerken unterschied. Der kreuzende Gang war ungewöhnlich breit und die Wände verschluckten das Licht, so schwarz und dunkel waren sie. Immerhin gab es hier eine reguläre Beleuchtung und Marcel konnte sein Feuerzeug ausknipsen. Es musste mittlerweile extrem heiß geworden sein, aber es passte zu Marcel, dass er darüber kein Wort verlor, sondern es schweigend in seiner Jacketttasche verschwinden ließ.

»Das sieht mir nicht nach einer Notbeleuchtung aus«, sagte ich und deutete auf die altmodischen Glühbirnen, die nackt und ungeschützt in ihren Fassungen steckten. Einige Glühbirnen mussten bereits durchgebrannt sein, denn in der ansonsten regelmäßigen Lichterkette gab es einige Aussetzer.

»Ein eigener Stromkreis?«, sinnierte Marcel. Seine Stimme hallte dumpf und dunkel von den Wänden wider. »Das ist alles sehr merkwürdig. Nach dem Zustand der Aufzugsverkleidung auf diesem Stockwerk zu schließen und nach dem Aufbau dieser Beleuchtungskette würde ich darauf tippen, dass das Ganze in den zwanziger Jahren gebaut worden ist. Aber damals war Majestic noch nicht einmal angedacht.«

Majestic vielleicht nicht, dachte ich, aber die Grauen können auch schon vorher aufgetaucht sein. Ein ungeheurer Verdacht begann in mir Gestalt anzunehmen. Was war, wenn Majestic gar nicht zufällig hier gebaut worden war? Was war, wenn sich etwas darunter verbarg, was von Anfang an gedacht war, die Kontrolle über Majestic zu übernehmen? Aber etwas störte mich an diesem Gedanken, und das lag nicht nur daran, dass er so abenteuerlich war. »Ich habe auch nicht das Gefühl, dass das hier ein Teil von Bachs Majestic ist«, sagte ich laut.

»Was für ein Blödsinn«, fuhr mir Ray über den Mund. »Wir haben Besseres zu tun, als hier Historiker zu spielen. Wie kommen wir raus? Wo befindet sich eine Treppe? Das sind doch die Fragen, die wir uns stellen müssen, sonst nichts.«

Wie immer steckte in dem, was er sagte, eine Menge Wahrheit. Aber leider war sein Tonfall wieder einmal vollkommen deplatziert. Immerhin hatte er wieder zu sich selbst gefunden, wenn er auch noch nicht ganz der Alte war, dazu wirkte er zu erschöpft, blass und immer noch neben sich stehend, so als sei er gar nicht er selbst. Kurz blitzte in mir ein Erinnerungsfetzen auf, der fürchterliche Moment, in dem er die beiden Majestic-Agenten erschossen hatte, dann rutschte die Erinnerung in den Hintergrund und meine Verwirrung ergriff die Oberhand. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinander zu setzen. Ich spürte förmlich die Gefahr, in der wir schwebten, sie war fast körperlich greifbar. Es war so, als spürte nun nicht Kim, sondern ich die Anwesenheit von etwas monströs Fremdem, als könnte ich die Nähe eines oder mehrerer Hive so wahrnehmen, wie sie es schon mehrmals geschafft hatte.

Und es schien nicht nur mir allein so zu gehen. Denn Marcel hob plötzlich die Stimme, rau und mit unerwarteter Schärfe, und mich überlief eine Gänsehaut: »Ich glaube, da kommt etwas.« Er deutete mit dem Lauf seines Gewehrs in den dunklen Schlund des Gangs hinein und fast sah es aus, als würde er sich an seiner Waffe festhalten wollen. Er ging ein paar Schritte in den Gang hinein, ein dunkler, kleiner Schatten von Mann, der zu allem entschlossen war, aber nun gleich mir zu ahnen schien, dass sich eine unwiederbringliche Entscheidung anbahnte.

Ich drehte mich um und Kims Gesicht war nicht einmal zwei Zoll von meinem entfernt; ich zog keuchend die Luft ein und bereute es gleich darauf wieder. Ein merkwürdig fremder Geruch ging von Kim aus, ein Geruch nach verfaulten Rosenblättern gemischt mit verfaultem Mandelöl und irgendetwas anderem, was in mir keine Assoziation auslöste. Das Blut gerann mir in den Adern.

»Sind Hive hier?«, herrschte ich sie an.

Sie zuckte die Achseln und die Bewegung ließ ihre Brüste hüpfen, unmerklich fast in dem streng geschlossenen Kleid und doch so deutlich, dass mir die damit verbundene Erinnerung an ihren Körper einen schmerzhaften Stich versetzte. Keiner von uns will die Vorzeichen sehen, die deutlich wahrnehmbaren Andeutungen, die auf etwas Unerklärliches, auf etwas Schreckliches hindeuten, auf etwas, was uns in den Strudel der Vernichtung zieht - und das trotz des großen Interesses, mit dem wir alles verfolgen, was uns einen angenehmen Schauer des Gruselns über den Rücken jagt. Aber das hier war nicht angenehm. Das war kein Anzeichen, das man so einfach übersehen konnte. Es war die Einladung zu einer Höllenfahrt und es war zweifellos eine Fahrt, vor der ich mich nicht drücken konnte.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang gequält und doch gleichzeitig hohl, so wie eine Roboterstimme in einem der unsäglich schlechten Flash-Gordon-Streifen, die mich als Jugendlicher viele Jahre lang als Vorfilme der großen Kinofilme wie Ben Hur gleichermaßen genervt wie fasziniert hatten. Ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, woran ich bei ihr war. Was oder wer war sie?

Ihr Blick wanderte an mir vorbei und in ihrem Gesicht veränderte sich etwas, fast unmerklich glitt ein Ausdruck sanften Erstaunens über ihre Züge und gleichzeitig eine Lebendigkeit, ein schwaches Erröten wie bei einem prallen Bauernmädchen, das beim Einkaufen zufällig seinen heimlichen Liebhaber entdeckt. Das war nicht Kim, die so blickte, nicht Kim, die auf diese uralte und dennoch frische Art erblühte, nicht Kim, die leicht den Mund öffnete und in einer unbewussten Geste mit ihrer Zunge sinnlich und fast nachdenklich ihre Unterlippe berührte...

Ich kämpfte ein paar Sekunden mit mir. Dann riss ich den Kopf herum und die Augen quollen mir fast aus den Höhlen.

Hinter mir, nur wenige Meter von mir entfernt, stand Steel. Er lächelte. Nein, es war eigentlich kein Lächeln, es war ein fest gefrorenes, unnatürliches, abstoßendes Grinsen, das alles bedeuten konnte oder auch nichts. Er fixierte mich mit seinem einen gesunden und seinem einen zerstörten Auge in der unnachahmlich eleganten Ruhe, wie sie vielleicht eine Raubkatze aufbringt, kurz bevor sie zum tödlichen Sprung auf ihr Opfer ansetzt. Im Halbdunkel hatte das weiße, zerstörte Auge Steels etwas Gespenstisches; das spärliche Licht der Notbeleuchtung spiegelte sich unnatürlich hell in ihm und verlieh ihm etwas Unwirkliches, so als sei es gar kein menschliches Auge, sondern tatsächlich das einer Raubkatze, das Licht auf eine ganz eigene Art reflektiert. Obwohl mich vor diesem Auge ekelte, konnte ich doch nicht den Blick von ihm wenden.

»So sieht man sich wieder«, sagte Steel und entblößte seine Zähne zu einem unechten Grinsen. Seine Stimme klang so harmlos, als ob wir uns zufällig in der Kantine des Verteidigungsministeriums über den Weg laufen würden. Der Hauch von Normalität, der dabei mitschwang, machte die Sache nur noch schlimmer. »Es wird Zeit, John, dass wir es zu Ende bringen.«

Ich wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte mir. »Ich...«, brachte ich nur mühsam hervor.

»Ja?«, fragte Steel und zog in gespielter Höflichkeit die Augenbrauen nach oben. Der sichtbare Teil seines zerstörten Auges vergrößerte sich damit und etwas schien darin aufzublitzen; ich hielt es jetzt für durchaus möglich, dass es von innen leuchtete und nicht nur Licht reflektierte.

»Lass uns vorbei, Jim«, fuhr ich stockend fort. Mein Herz klopfte mir bis zum Halse und mein Mund fühlte sich vollkommen ausgedörrt an. »Tu, was du tun musst, aber lass mich und Kim dabei aus dem Spiel.«

Steels Lächeln wirkte wie eingefroren, eher wie bei einer Schaufensterpuppe als wie bei einem Menschen. »Tut mir Leid, John. So einfach ist das nicht.« Sein Gesicht blieb maskenhaft starr, aber die Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten, dass der mit dem schleimpilzähnlichen Ding durchzogene menschliche Körper durchaus normale menschliche Reaktionen zeigen konnte. »Du kannst von mir aus verschwinden. Nicht aber Kim. Wir brauchen sie noch.«

Ich starrte ihn einen Moment lang fassungslos an. Es war offensichtlich, dass er mich nicht so einfach gehen lassen würde, selbst wenn ich auf sein Angebot eingehen würde, das er mir, aus welchem Grund auch immer, als einen perversen Köder hinwarf. Aber was mich viel mehr schockierte, obwohl ich es tief in meinem Inneren doch längst gewusst hatte, war dieses Wir brauchen sie noch.

»Komm her, Kim«, sagte Steel überraschend sanft und streckte die Hand vor. »Wir haben auf dich gewartet.«

Einen Herzschlag lang herrschte in dem Gang absolute Stille. Ich weiß nicht, was ich in diesem Moment erwartete. Ich hielt jedenfalls alles für möglich. Es war eine jener albtraumhaften Situationen, in denen alles entsetzlich schief läuft. So schief, dass man weiß, dass das Leben danach nie mehr so sein wird wie zuvor.

Kim setzte sich langsam in Bewegung. Es waren zögernde, schleppende Schritte, Schritte, die sie von mir entfernten und die sie ganz eindeutig in Steels Richtung führen würden. Es nicht wahrhaben zu wollen verscheuchte den Gedanken nicht, dass sie Steels Ruf folgen würde, hier und jetzt. Und doch weigerte ich mich einfach, die Realität als solche anzuerkennen.

»Kim!«, rief ich. Meine Stimme klang in meinen eigenen Ohren merkwürdig schal und hohl. Ich hatte das Gefühl, neben mir zu stehen, das Ganze aus den Augen eines unbeteiligten Beobachters zu sehen. Ich wollte Kim am Arm fassen und sie zu mir herumwirbeln, aber ich war wie gelähmt, paralysiert durch die unwirkliche Szene.

Steel lächelte immer noch, aber es war kein triumphierendes Lächeln, sondern das eiskalte Grinsen einer Metallpuppe, deren Züge für immer fest gegossen sind. Er hielt beide Arme leicht angewinkelt, in der grotesken Parodie einer angedeuteten Umarmung. Es kam mir nicht im Geringsten in den Sinn, dass ich in Gefahr sein könnte. Es war die Andeutung eines Irrsinns, die mich gefangen hielt, ein Irrsinn, der von Steel und Kim auf mich übergesprungen zu sein schien und dessen eisiger Hauch mich lähmte und willenlos machte.

»Schluss jetzt«, sagte Marcel hinter mir. »Hört sofort mit dem Affentheater auf. Nehmen Sie die Hände hoch, Steel, und drehen Sie sich zur Wand um.«

Steels Blick löste sich von mir, glitt an Kim vorbei und bohrte sich irgendwo hinter mir ins Halbdunkel. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie Marcel hinter mir stand, die entsicherte Pistole wie selbstverständlich in seinen Bürokratenhänden haltend, mit einem sicheren und doch von angespannter Aufmerksamkeit gezeichneten Stand wie ein Cop, der irgendwo in Harlem an einer Razzia beteiligt war und sich nun plötzlich allein in einem Hinterhof einer zu allem entschlossenen schwarzen Jugendgang gegenübersah. Marcel mit seiner Hornbrille und dem unmöglich braven Anzug; das war das Stück Normalität, das mich aus meiner Erstarrung riss.

Ich erwischte Kim gerade noch, als sie an mir vorbei auf Steel zuging, packte sie am Arm und hielt sie fest. Sie wehrte sich nicht.

»John, Kim, zur Seite«, befahl Marcel. Wahrscheinlich hatte er Sorge, wir könnten ihm sein Schussfeld versperren.

Steel runzelte die Stirn. So, wie er da stand, mit den immer noch angewinkelten Armen, dem hellroten Blutfleck auf seinem weißen Hemd, der das Einschussloch von Albanos Kugel markierte, und dem starren, aber nicht minder entschlossenen Gesichtsausdruck, wirkte er merkwürdig unbesiegbar. Sein glasiges, fast weißes Auge wanderte zu mir zurück und ein Ausdruck des Missfallens erschien auf seinem Gesicht, als er meinen festen Griff um Kimberleys Arm bemerkte.

Kim wandte im gleichen Moment den Kopf zu mir um; ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Schreckens und einen Moment fürchtete ich, dass sie versuchen würde sich loszureißen, um auf Steel zuzustürmen, genau in die Schusslinie Marcels hinein. Aber dann stabilisierten sich ihre Gesichtszüge und ihre Mundwinkel verzogen sich sogar zur Andeutung eines Lächelns.

»Es ist schon okay«, sagte sie sanft. »Lass mich einfach los, ja?«

Ich wollte etwas erwidern, aber nach einem Blick in ihr bleiches, angespanntes Gesicht ließ ich es lieber bleiben. Mir wurde plötzlich klar, dass ich einer unvermeidlichen Konfrontation nun wieder ein Stück näher gekommen war. Vielleicht war das auch gut so. Die Sache musste sich entscheiden, so oder so. Irgendwie fühlte ich bei dem Gedanken sogar eine Erleichterung, wie ich sie schon seit Tagen nicht mehr empfunden hatte; vielleicht, weil eine Entscheidung auch bedeuten würde, dass der Wahnsinn dann ein Ende hatte.

»Lass sie endlich gehen«, sagte Steel. »Du kannst sie nicht festhalten. Was passieren muss, wird passieren.«

Kim war in einem fürchterlichen Zustand. Ihre Wangen glühten, als hätte sie Fieber. Aber es war ein anderes Feuer, das in ihr brannte, ein Feuer, das ich niemand anderem gönnte als mir selbst und von dem ich mir nie hatte träumen lassen, dass ausgerechnet Steel es würde entfachen können. Aber so war es ja auch nicht; was immer in ihr vorging, es hatte wohl nichts mehr mit der Kimberley Sayers zu tun, die ich am Abend unseres ersten Rendezvous zu küssen versucht hatte und die daraufhin nur sanft den Kopf geschüttelt hatte, um zu sagen: Bitte nicht, John, lass uns Zeit. Schon damals hatte ich gewusst, dass ich sie liebte und dass ich ihr alle Zeit geben würde, die sie brauchte.

»Nein, ich werde sie nicht loslassen«, sagte ich fest.

»Das ist ungünstig«, sagte Steel kalt und in seiner Stimme schwang etwas mit, was ich nicht einordnen konnte. Es war nicht nur ein Befehlston, es war gleichzeitig viel mehr und viel weniger als das: Es war etwas wie lüsterne Begierde in seiner Stimme. »Wir werden jetzt vollenden, was wir vor viel längerer Zeit begonnen haben, als du dir überhaupt vorstellen kannst, Loengard.«

Ich hatte natürlich keine Ahnung, was er meinte, und doch lösten seine Worte in mir höchst unerfreuliche Assoziationen aus und die gleiche kalte Angst überfiel mich, die vor unvorstellbar vielen Jahren nach meinem Kinderherzen gegriffen hatte, um mir in der Dunkelheit jedes Knacken der Holzdielen als etwas unvorstellbar Monströses oder Entsetzliches vorzugaukeln. Grell leuchtende Augen, so groß wie die Schnupftabakdose meines Großvaters, in denen Bosheit und Wahnsinn funkelten, schlurfende Schritte deformierter Körper - waren meine nächtlichen Kleinkinderphantasien wirklich so weit weg von dem, was ich jetzt für die Wirklichkeit hielt?

Aber jetzt war ich kein Kind mehr und ich hielt eine tödliche, eisenspuckende Waffe in meiner Hand und was oder wer auch immer vor mir stand: Ich konnte ihn oder es besiegen, so wie sich alles besiegen ließ, was es auf unserer Welt gab. »Es wird Zeit, dass du begreifst, dass dein Spiel aus ist, Steel«, sagte ich schroff und versuchte dabei so wenig wie möglich an Kimberley zu denken, die wehrlos im Griff meiner linken Hand auf etwas zu warten schien, an das ich lieber nicht dachte. »Wir sind drei zu eins und was auch immer du vorhast: Wir werden dich abknallen, bevor du auch nur den Finger krumm machen kannst.«

»Ach ja, werdet ihr das?«, fragte Steel höhnisch. »Könnte es nicht sein, dass du damit vollkommen falsch liegst?«

»Ich wüsste nicht, wieso...«

»Ach, wirklich nicht?« Steels Stimme tropfte geradezu vor Hohn. »Dann dreh dich mal um.«

Fast wäre ich seiner Aufforderung gefolgt, hätte mich anstandslos umgedreht und ihn damit im Rücken gehabt. Doch im letzten Moment besann ich mich eines Besseren und beließ es dabei, den Kopf zu schütteln. »O nein«, sagte ich. »Das werde ich sicherlich nicht tun.«

»Was für ein Jammer«, sagte Steel. »Oder was meinst du dazu, Ray?«

»Ich...« Die Stimme meines Bruders hinter mir brach ab, und dann setzte er mit einem weiteren »John, ich...« neu an. Es war gar nicht mehr nötig, dass er weitersprach. Eine unglaubliche Klarheit ergriff mich und eine Gewissheit, nun endlich zu verstehen; ich fühlte mich wie ein Farbenblinder, dem sich plötzlich und unerwartet die Welt schillernder Farben eröffnet und der nun Schattierungen und eine Fülle des Lebens wahrnimmt, die er bislang nur vom Hörensagen kannte.

Doch es war keine freundliche bunte Welt, die sich mir eröffnete. Ganz im Gegenteil. Es war eine graue, düstere Welt, in der es keine Hoffnung gab.

»Passen Sie auf, Loengard!«, rief Marcel.

In diesem Augenblick fiel der Schuss.

Das Geräusch war unverkennbar; zu oft in letzter Zeit hatte ich den Knall von Handfeuerwaffen gehört, um auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln. Ich fühlte, wie sich meine Brust zusammenschnürte; Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und unter den Armen. Ich erwartete jeden Moment den harten Aufprall eines Treffers, aber er blieb aus.

»Ein schlechter Schuss«, sagte Steel in beiläufigem Tonfall. »Du hättest die kleine Ratte gleich erledigen sollen.«

Langsam wandte ich mich um. Benommen nahm ich wahr, wie sich Kim von meinem Griff löste und irgendwo hinter mir verschwand. Ich starrte fassungslos auf Marcel, der sich das Handgelenk rieb; seine Waffe lag ein paar Fuß von ihm entfernt auf dem Boden und war damit unerreichbar. Offensichtlich hatte Ray ihm das Schnellfeuergewehr aus der Hand geschossen - und das war kein schlechter Schuss, sondern ein ganz hervorragender Schuss gewesen, vorausgesetzt, er hatte genau dieses Ergebnis erreichen wollen.

Ray schien mich kaum wahrzunehmen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und die Waffe, die er lose in der Hand hielt, zielte zu Boden. Der Geruch verbrannten Pulvers mischte sich mit dem unangenehmen Geruch, mit dem die Lüftungsanlage alles verpestete und der in mir Übelkeit hervorrief.

»Ray, was ist los mir dir?«, fragte ich mit klopfendem Herzen. Ich dachte an die beiden Agenten, die er kaltblütig erschossen hatte und an seinen veränderten Gesichtsausdruck, als Marcel und ich ihn in dem Labor entdeckt hatten.

»Was ist los mir dir, Ray?«, äffte mich Steel nach. »Was soll schon mit ihm los sein?« Er lachte meckernd. »Er hat doch seine Sache gut gemacht. Dich und Kim aufgespürt und von diesem Affen Albano hierher bringen lassen. Damit wir endlich vollenden können, was wir vor vielen Jahren begonnen haben.«

»1947, bei Roswell«, vermutete ich. Meine Stimme kam mir seltsam fern und leise vor und eigentlich war es auch gar nicht mehr wichtig, dass ich etwas sagte. Eine Eisenklammer schien mein Herz zusammenzudrücken und der Schmerz war so tief und heftig wie mein Gefühl der Verzweiflung, der fürchterlichen Gewissheit, dass ich im Begriff war, alles zu verlieren, was mir lieb und teuer war.

»Roswell«, schnaubte Steel verächtlich. Es schien ihm ein diabolisches Vergnügen zu bereiten, mich mit seiner höhnischen Art zu quälen. »Roswell war eine Chance für die Menschheit. Sie hat sie zwischen den Fingern verstreichen lassen. Wie schon einige zuvor.«

Mit pochenden Schläfen drehte ich mich zu ihm um. »Eine Chance!«, schrie ich. »Versklavt zu werden von... von...«

»Ja, von was eigentlich?«, grinste Steel. Seine Pistole zielte genau auf meinen Kopf und ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er mich niederknallen würde, wenn ich ihn ernsthaft reizen würde. »Du weißt doch überhaupt nichts, du neunmalkluges Stückchen Scheiße. Der Obermufti Bach begreift ja schon überhaupt nicht, was um ihn herum vorgeht. Und da bildet so ein dahergelaufener Bauernlümmel wie du sich ein, er könne den Kampf gegen uns aufnehmen. Erheiternd, wirklich erheiternd.«

Ich wusste nicht, was ihn so sprechen ließ, in der bösartigen Karikatur eines kleinen Gangsters aus der Gosse, den seine Skrupellosigkeit nach oben gespielt hatte. Möglicherweise hatte sich das Ganglion in Steel symbiotisch so mit seinem Wirt vereint, dass etwas Neues daraus entstanden war, eine bösartige Mutation, die alle schlechten Eigenschaften des Menschen mit der fremdartigen Bösartigkeit des Ganglions vereinte.

»Bist du noch nie auf den Gedanken gekommen, sie könnten uns über die Beschränktheit des menschlichen Verstandes hinaus auf eine neue Stufe der Evolution führen?«, fragte er. »Bist du noch nie auf den Gedanken gekommen, dass alles könnte erst der Anfang sein?«

Ich achtete nicht auf das wirre Schwafeln Steels. Denn Kim stand direkt neben ihm, ein dunkler Schatten in dem merkwürdig verschwommenen Licht, das die Szenerie nur undeutlich ausleuchtete. Ich hatte Angst davor, was ich in ihrem Gesicht lesen würde.

Es war schlimmer, als ich gedacht hatte. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich vollkommen verändert. Die Wangenknochen schienen ein Stück nach oben gekrochen zu sein und die Wangen eingefallen, was ihr Gesicht gleichzeitig länger als auch merkwürdig dürr wirken ließ. Das Schlimmste aber war dieser vollkommen fremdartige Ausdruck in den Augen, ein kaltes Starren, das mehr Ähnlichkeit mit dem einer Schlange hatte als mit dem eines Menschen.

»Was... habt ihr mit ihr gemacht?«, keuchte ich.

»Gemacht?«, fragte Steel in einem Tonfall, wie ihn vielleicht ein Lehrer gegenüber einem begriffsstutzigen Schüler verwendet. »Das ist wohl der verkehrte Ausdruck. Nein, Kimberley kann sich stolz schätzen.« Er schien ein Stück zu wachsen. »Wir sind die Protagonisten einer neuen Rasse.« Er kicherte. »Wir und Ray natürlich. Dein guter alter Bruder Ray. Ist das nicht ein Witz, Loengard? Das, was du bekämpfen wolltest, hat sich ausgerechnet in deiner Familie eingenistet.«

»Was soll dieser ganze Mist«, mischte sich Marcel ein.

»Du«, zischte Steel. Die Pistole in seiner Hand schien wie ein verlängerter Finger durch die Dunkelheit zu schneiden, um Marcel aufzuspießen. »Was bist du doch für ein kümmerlicher Wurm. Ein Nichts. Ein Versager. Stocherst dein ganzes Leben im Schlamm herum und findest überhaupt nichts. Aber jetzt bist du am Ziel.« Er lachte meckernd. »Du gehörst zu den wenigen Auserwählten, die dazu bestimmt sind, unsere Botschaft in die Welt hinauszutragen.«

Der aus der Lüftungsanlage gedrückte Gestank wurde immer schlimmer. Die Luft wich aus meinen Lungen und hinterließ in meinen Atemwegen ein krampfhaftes, erstickendes Gefühl. Ich spürte, wie mir heißer öliger Schweiß über die Stirn lief. Mein Kopf war merkwürdig leicht. Die Welt hatte keine Farben. Mir war fürchterlich übel. Jetzt roch es nicht mehr nach Rosen und Bittermandeln, sondern nach totem Fleisch, das irgendwo im Verborgenen faulte.

»Aber es wird Zeit, dass wir es hinter uns bringen«, fuhr Steel fort. »Der nächste Schritt wird eingeleitet. Wir wissen jetzt, wie Menschen funktionieren; seit Roswell haben wir so vielen Gastrecht gewährt, die uns lehrten, wie Menschen denken, und denen wir dafür ein ganz besonderes Geschenk bereiteten.« Er lachte sein abscheuliches Lachen. »Erinnerst du dich nicht an diesen heißen Maitag 1953, Marcel, als dein Wagen plötzlich stotternd liegen blieb? Weißt du nicht mehr, dass du erst am nächsten frühen Morgen zu dir kamst, 20 Meilen weiter, direkt am Ortsschild von Radar Town? Hast du vergessen, was in der Zwischenzeit geschah? Hast du immer noch nicht begriffen, als die Hills selbst unter Hypnose aussagten, sie seien von uns entführt worden, und alle großen Fernsehanstalten darüber berichteten?«

»Was?«, keuchte Marcel. Seine Stimme hatte einen verzweifelten Klang angenommen und alle Kraft verloren, mit der er uns in den letzten Stunden angefeuert hatte. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass du vorbereitet bist«, antwortete Steel fröhlich.

1963 war noch nicht die Zeit, in der man mit LSD experimentierte, und es war auch noch nicht die große Zeit des Farbdosen-Schnüffelns angebrochen. Aber auf dem nordamerikanischen Kontinent hatte sich aus uralter Zeit ein Wissen bewahrt, das von Mittelamerika kommend immer wieder erneuert wurde, ein Wissen um spezielle Pilzarten, die unter bestimmten Bedingungen halluzinogene Zustände hervorriefen, ein merkwürdiges freies Schweben, eine Klarheit im Kopf bei gleichzeitiger Verzerrung der Wirklichkeit. Ich konnte mich nicht mehr wirklich daran erinnern, wie Ray und ich als Kinder an dieses Zeug gekommen waren; wir mussten noch sehr klein gewesen sein, vielleicht sieben, acht Jahre alt. Es war ein Landarbeiter gewesen, der uns damit bekannt gemacht hatte, ein alter Mann, jedenfalls in meiner Erinnerung, ein Mann, in dessen Adern indianisches Blut pulsierte und den wir neugierige Dreikäsehochs bei irgendeiner geheimnisvollen Art von Zeremonie beobachtet hatten. Das war ein Fehler gewesen. Der alte Landarbeiter hatte uns mit seinen geheimnisvollen alten Riten vertraut gemacht oder zumindest so getan, als würde er es tun. Wahrscheinlich hatte er nichts weiter getan, als die Methode anzuwenden, mit der manche Eltern ihrem Nachwuchs die Neugierde aufs Zigarettenrauchen austrieben: Indem sie sie in jungen Jahren ein paar Züge von einem ekelhaften Kraut inhalieren ließen, der ihre Mägen revoltieren ließ und sie davon abbrachte, das Rauchen als eine wundervolle und erstrebenswerte Sache zu betrachten.

Das, was ich bei jedem Atemzug in meine Lungen spülte, hatte eine ganz ähnliche Wirkung wie damals das, was uns der Pfeifenqualm des Alten angetan hatte, das Gefühl der Unwirklichkeit, des Abgehobenseins verbunden mit einer schrecklichen Übelkeit, die mir den Magen umdrehte wie nach einer heftig durchzechten Nacht, in der man ohne Rücksicht die verschiedensten Alkoholsorten in sich hineinschüttet. Der ganze Gang schien zu pulsieren, sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, in einem Rhythmus, in dem vielleicht ein gigantischer Walfisch atmete. Die letzten Sätze Steels kamen mir so fremd und abstrus vor, als würden sie mir von der fernen Erinnerung eines Albtraums zugetragen. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob er sie wirklich ausgesprochen hatte oder ob mir meine Phantasie einen Streich spielte. Aber ich wusste ganz genau, das Steel und Kim nur wenige Meter entfernt von mir standen, und ich sah mit seltsam geschärfter Klarheit, wie sich Ray zu ihnen gesellte.

»Habt ihr mir etwas eingepflanzt?«, fragte Marcel mit zitternder, vor ungläubigem Entsetzen verzerrter Stimme.

»Das, was ihr die Ganglien nennt, nun.« Steel spitzte die Lippen und lächelte dann plötzlich, ein Lächeln, bei dem sein ganzes Gesicht zu zerfließen schien. »Es ist schon komisch: Ihr findet das bedrohlich, dabei ist es so schrecklich harmlos. Eine wirklich nette Zwischenstufe. Aber doch nur dazu gedacht, dass mehr daraus entsteht, dass etwas erblüht, was wirklich groß und wahrhaft schrecklich ist.« Er lachte und es lag so viel hässlicher Triumph in seiner Stimme, dass alleine schon dieser Klang ausgereicht hätte, um mir den Magen umzudrehen. »Roswell war tatsächlich so etwas wie ein Wendepunkt. Und dabei habt ihr euch nie die richtigen Fragen gestellt.« Er schien einen Schritt auf mich zuzumachen, aber ich war mir nicht sicher; ich kniff die Augen zusammen und versuchte verzweifelt, in der um mich herum zerfließenden Wirklichkeit zu erkennen, was überhaupt vor sich ging. »Habt ihr euch nie gefragt, warum ihr erst seit 1947 mehr und immer mehr fremdartige Flugobjekte wahrgenommen habt? Habt ihr auch nie gefragt, warum plötzlich die Berichte über Entführungen durch Außerirdische aus aller Welt sprunghaft anstiegen? Habt ihr euch tatsächlich niemals gefragt, ob all diese Berichte nur die winzige kleine Spitze eines gigantischen Eisbergs sein könnten?« Er schüttelte den Kopf. »Tzz, tzz«, machte er. »So viel Dummheit muss ja bestraft werden. Truman und die anderen Idioten haben der Bevölkerung verschwiegen, was in Roswell wirklich passiert ist. Und deshalb hat sich die Weltöffentlichkeit nicht darauf einstellen können, uns das Leben schwer zu machen, sondern sie haben doch wirklich und tatsächlich darüber gestritten, ob es wirklich Entführungen gibt.« Er deutete eine Verbeugung an. »Danke schön, Menschheit.«

»Warum erzählst du uns das alles?«, hörte ich Marcels Stimme weit und entfernt und ihr merkwürdiger Klang konnte nicht alleine daran liegen, dass er in Panik war. Große Wellen von Übelkeit drängten meine Speiseröhre hinauf, aber das Schlimmste war die Benommenheit, die ich empfand, den Schwindel ähnlich dem, den man empfindet, wenn man sich auf einer unangemessen schnellen Achterbahn hat durchschütteln lassen.

»Weil es einen Grund zum Feiern gibt«, sagte Steel stolz. »1947 haben wir gesät, 1963 fahren wir die Ernte ein.«

»All die Entführten sind von Ganglien durchsetzt«, keuchte Marcel. »O mein Gott.«

»Von Ganglien«, sagte Steel verächtlich. »Was das schon für ein Wort ist! Aber nein, mein lieber Marcel, das ist es nicht, vor dem du Angst haben musst.«

»Was ist es dann, verdammt noch mal?«, schrie Marcel.

»Etwas viel Besseres.« Wieder kicherte Steel, ein widerwärtiger Laut, der unangenehm von den Wänden widerhallte und sich dort zu verstärken schien. Es war nicht nur dieser erbärmliche Gestank, der mir zu schaffen machte, sondern auch die penetrante Stimme dieses Mannes, der irgendetwas war, aber nicht das, was man einen Menschen nennt. Die Stimme glitschte um mich herum, als sei sie körperlich und habe es darauf abgesehen, meine Gedanken vollkommen zu zersetzen.

»Aber du bist, wie immer, auch diesmal nur zweite Wahl, mein Lieber.« Steel imitierte Bachs jovialen Tonfall, den Hochmut, mit dem er weitschweifige Erklärungen abgab, die bewiesen, wie effizient Majestic im Allgemeinen und Frank Bach im Besonderen war. Wahrscheinlich hatte Steel Bach schon immer wegen seiner Arroganz und seiner Macht gehasst und war ein umso willkommeneres Opfer für die Ganglien gewesen, die ihn an der wichtigsten Schaltstelle bei ihrer Bekämpfung gegen ihre selbst ernannten Jäger gezielt einsetzen konnten. Und da hatte Amerika in den letzten Jahren eine Hexenjagd auf die Kommunisten veranstaltet, nicht ahnend, dass das personifizierte Böse längst in anderer Gestalt unter ihnen zugeschlagen hatte!

Steel schien wieder ein Stück näher an mich herangekommen zu sein, aber das ging unter im Wust seiner Erklärungen, die er großsprecherisch wie ein Erstklässler abgab, der einer Horde kleinerer Kinder seine Lesekünste beweisen wollte. Ganz schwach reifte in mir der Gedanke, dass ich mir das vielleicht zu Nutze machen konnte. Doch dann wurde die sich vage abzeichnende Idee mit aufgesogen in den sich wild drehenden Strudel dessen, was bis heute Morgen noch mein Verstand gewesen war.

»Die ganze Sache mit dem, was ihr Ganglien nennt und sowieso nie verstehen werdet, ist für euch Menschen natürlich viel zu kompliziert«, sagte er. »Aber dafür haben wir ja jetzt auch etwas entwickelt, das speziell auf eure Spezies zugeschnitten ist.« Er machte eine Kunstpause und gleichzeitig einen erneuten Schritt auf mich zu. Erst da wurde mir bewusst, dass ich immer noch die Pistole in der Hand hielt. Ich konnte ihn jederzeit niederschießen. »Majestic ist unser Testfall. Wir haben in den letzten Jahren etwas vervollkommnet, was sich über jedes geschlossene Lüftungssystem bis in die hinterste Ecke eines Bauwerks ausbreitet. Euer Dr. Hertzog würde das wahrscheinlich die Alpha-Phase nennen. Während dieser Alpha-Phase wird etwas über die Lüftung ausgeschüttet, das sich ins lymbische System einnistet und damit die hormonelle Steuerung und das vegetative Nervensystem beeinflusst - genau in die Richtung, die wir benötigen. Und der Witz dabei«, jetzt stand er direkt vor mir: »Dieses Zeug wurde von menschlichen Wissenschaftlern speziell für unsere Belange entwickelt.«

Ich hob langsam meine 38er. Die starke Ausdünstung Steels vermischte sich mit dem, was die Lüftungsanlage ausstieß, zu einem ekelhaften Gestank, der jeden Atemzug zur Qual werden ließ und meine Gedanken durcheinander brachte, als würde sich jemand mit einem Quirl in meinem Gehirn zu schaffen machen. Trotzdem brachte ich die Pistole zentimeterweise nach oben.

Steel schnupperte wie ein Hund, der einen besonderen Leckerbissen wittert. »Riecht ihr das?«, fragte er. »So riecht das, was eurem menschlichen Wollen den Tod bringen wird. Zuerst verändert es fast unmerklich eure Reaktionen, schaltet sich zwischen euer beschränktes Großhirn und dieses komische Relikt aus eurer Vergangenheit, das eigentlich vollkommen überflüssige Stammhirn - was seid ihr doch für Fehlkonstruktionen! Dann gaukelt es euch Dinge vor, die gar nicht da sind. Es spielt mit euren Gedanken Football.« Sein blindes Auge glühte mich an, als wollte es sich durch mich hindurchbohren. »Und dann seid ihr bereit für die Beta-Phase.«

Ich wusste nicht, wo sich Kim befand, oder Ray und Marcel. Die Erinnerung an sie war merkwürdig verschwommen, als hätte ich die Ereignisse der letzten Stunden nur geträumt und würde nun langsam erwachen. Doch wenn ich erwachte, dann in einen Albtraum hinein, der schlimmer war als alles, was ich je in meinem Leben geträumt hatte. Denn nichts und niemand war realer als Steel, der so nah vor mir stand, dass ich seinen schrecklichen Odem des Todes nicht aus der Nase bekam.

»In der Beta-Phase schließlich beginnt die Mutation. Zu den Details komme ich später.« Steels Stimme war jetzt fast zu einem Flüstern abgesunken, aber vielleicht empfand ich das auch nur, vielleicht war meine Wahrnehmung schon zu sehr getrübt, um noch ohne Anstrengung seinen Worten folgen zu können. Mein Daumen glitt über den Sicherungshebel; die Pistole war bereit, kaltes Metall in Steel zu pumpen. Jetzt kam es nur noch auf mich an.

»Doch zuerst das wunderbare Ergebnis: Alle Menschen in diesem Gebäude werden danach uns gehören.« Seine Stimme klang wie die Karikatur eines Predigers, der voller Inbrunst den Tag des Herrn herbeiredet. »Diejenigen, die schon einmal Gast bei uns waren wie Marcel, haben die Ehre, den Samen der Befreiung über die ganze Welt zu tragen. Die anderen unterstützen sie dabei. Und das Beste dabei: Was bei Majestic klappt, lässt sich auch überall sonst durchführen. Bei jeder Regierung auf dieser Welt, sofern man sie nur dazu bringt, klimatisierte Räume aufzusuchen, die ein ganz klein bisschen manipuliert worden sind. Diese Regierungen werden anschließend mit Freude jeder Art bedingungsloser Kapitulation zustimmen.«

Es war nicht einfach, die Pistole in die Waagerechte zu bekommen; sie wehrte sich, als sei sie ein eigenständiges Wesen. Aber ich wusste, dass ich nicht mehr länger zögern durfte. Sosehr Steel auch offensichtlichen Gefallen daran fand, mich und Marcel mit seinen Erklärungen zu quälen, so bald würde er doch damit aufhören und dann zum praktischen Teil überleiten - wie auch immer der aussah.

»Und jetzt zur Zeremonie.« Steels Lächeln wurde noch breiter. »Ray, Kim und ich sind diejenigen, die sich vereinen müssen, um das zu gebären, was wir dann über die Lüftungsanlage hinausatmen können, bis es sich tief ins Innere aller gräbt, die sich hier aufhalten. Die Zeremonie wird uns so vereinigen, wie sich sonst Menschen nie nahe sein könnten.«

Man glaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, und dann türmt Steel Wort auf Wort zu einem neuen Satz und dieser Satz drückt alle vorhergehenden beiseite - und treibt mich in den Wahnsinn.

Das war der passende Moment, um abzudrücken. Meine Hand verkrampfte sich um das kalte Metall der Waffe und plötzlich fiel der Schleier von meinen Gedanken. Es war der Tod, an den ich dachte, der Hass gegen Steel und seinesgleichen, den ich empfand, und die Angst um Kim, die mich antrieb. Meine Finger verkrampften sich um den kühlen Stahl. Gleichzeitig spürte ich, wie auch Steel zugriff, meine 38er am Lauf packte und zur Seite bog. Sein feixendes Gesicht verschwamm vor meinen Augen und einen Augenblick war ich sicher, dass ich ohnmächtig werden würde. Doch dann gewann die kalte Entschlossenheit in mir die Oberhand und ich schob die 38er mit einer verzweifelten Anstrengung in Steels Bauchhöhle. In Steels gesundem Auge blitzte so etwas wie Überraschung auf. Ich weiß nicht, was ich in diesem Moment dachte. Ich hatte das Gefühl, Steel würde mir mein Handgelenk brechen, nein, es geradezu herausreißen, aber der stechende Schmerz war nichts gegen die ungebändigte Energie meines Hasses auf alles, was Steel repräsentierte.

Es war ein ungleicher Kampf. Ich drückte ab. Gleichzeitig presste sich Steel näher an mich. Das, was er ausdünstete, hätte mir bei anderer Gelegenheit sicherlich den Magen umgedreht, doch so steigerte es nur meine Abscheu und meinen Kampfwillen. Beim Knall des Schusses spürte ich keinen Triumph, nicht einmal Befriedigung, sondern nichts weiter als den Wunsch, diese Kreatur auszulöschen, ein für allemal auszulöschen.

Es gelang mir nicht. Steel hatte mit seiner festen Bauchdecke den Lauf der Waffe von sich weggedrückt und ich konnte dem nichts entgegensetzen. Der Schuss schrammte an seinem Bauch vorbei, nahm ein paar Stofffetzen seines sowieso schon ruinierten Hemdes mit sich und vielleicht auch ein paar Hautfetzen, das war alles.

Er ließ mir keine weitere Chance. Mit einem festen Ruck packte er die 38er und entriss sie meiner Hand. Während er ein paar Schritte zurückging, hörte ich sein schreckliches Lachen, mit dem er mich verhöhnte und klar machen wollte, dass ich aber auch nicht mehr die geringste Chance hatte.

»John!«, hörte ich Kimberleys besorgte Stimme.

»Keine Sorge, mein Schatz, er ist in Ordnung«, sagte Steel. »Und bald wird er zu uns gehören.«

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