24. November 1963, 13:17 Majestic

»Stoppen Sie dort«, sagte Bach mit dem Telefonhörer in der Hand. »Halten Sie sie genau dort... und gehen Sie noch ein Stück zurück.«

Das Surren des Projektors verstummte einen Herzschlag lang, als Albano die Stopptaste drückte und den Film dann zurücklaufen ließ. Doch kaum setzte das Summen wieder ein, da winkte Bach mit einer schnellen Bewegung ab, die an einen Streckenposten erinnerte, der einen Formel-1-Rennwagen an die Boxen zurückruft. »Frieren Sie es genau dort ein«, ordnete er an.

»Da ist Steel nur zwei Schritte hinter Oswald, direkt hinter dem Cowboy«, stellte Albano sachlich fest. Tatsächlich war dort Steel aufgetaucht, ein schwarzweißer Schatten rechts hinter dem dicken schweren Mann mit Cowboyhut, der rechts neben Oswald ging und offensichtlich nicht nur die Aufgabe hatte, einen Gefangenen zu verlegen, sondern auch, ihn zu beschützen. Was ihm offensichtlich vollkommen misslungen war. Aber darum ging es jetzt nicht und auch nicht um die Frage, warum man Kennedys Mörder so leichtsinnig in aller Öffentlichkeit verlegt hatte. Lynchjustiz war schließlich ein Wort, dass mit keinem anderen Land der Welt so eng verbunden zu sein schien wie mit den USA. Die offene und nur unzureichend gesicherte Verlegung des Mörders des beliebtesten amerikanischen Präsidenten kam der Aufforderung zu einer Affekthandlung geradezu gleich.

Um eine Affekthandlung ging es hier aber ganz und gar nicht. Steels Gesicht wirkte angespannt und selbstversunken wie das eines Mannes, der zu allem entschlossen war. Im tristen Schwarzweiß des grobkörnigen Films, den alle Wochenschauen und Fernsehstationen immer und immer wieder gezeigt hatten, war er doch nicht mehr als ein flüchtiger Schatten, ein für die meisten Menschen namenloses Gesicht, das für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzte und dann wieder vergessen war.

Nicht aber für Bach und Albano. Bachs Gesicht schien es verlernt zu haben, so etwas wie Überraschung zu zeigen, und doch schien es Albano, als zucke beim Anblick seines womöglich engsten Mitstreiters ein Anflug von Unverständnis und Ärger übers Gesicht. Aber statt das Bild zu kommentieren, nickte er wie geistesabwesend. »Und was hat die Überprüfung der Telefonverbindungen ergeben?«, fragte er seinen unsichtbaren Gesprächspartner, während er mit dem Telefon in der Hand an das nach innen führende Fenster trat, dessen Jalousien nicht nur wegen der Vorführung heruntergelassen waren. Er schob ein paar Lamellen auseinander, gerade weit genug, um einen Blick auf den Mann werfen zu können, der auf der Leinwand in Übergröße hinter Oswald stand, während er im Augenblick unruhig wartend auf dem Flur stand. Fast schien es, als würde Steel spüren, dass sich etwas gegen ihn zusammenbraute, denn seine sonst zur Schau getragene Überheblichkeit hatte einem unruhig flackernden Blick Platz gemacht. Er biss sich auf die Lippen und sah sich sichernd nach beiden Seiten im Gang um; eine erstaunlich menschliche Bewegung für jemanden, der hive sein sollte.

»Das ist genau einen Moment vor Oswalds Ermordung«, stellte Albano fest, der den Blick nicht von der Leinwand genommen hatte. »Und Steel steht genau in der richtigen Position.« Er musste nicht erklären, wozu die Position richtig war.

»Hat Steel mit Jack Rubys Klub auch am Tag vor der Ermordung Oswalds telefoniert?«, fragte Bach in den Telefonhörer, ohne auf Albanos Worte einzugehen. Er lauschte seinem Gesprächspartner und runzelte die Stirn. »Okay, gehen Sie der Sache weiter nach und halten Sie mich auf dem Laufenden. Und geben Sie Renaldo Bescheid, dass die Sache jetzt steigen wird.« Ohne ein weiteres Wort legte er auf und setzte den Telefonapparat auf dem Tisch ab. Einen Moment starrte er mit gerunzelter Stirn auf die Leinwand. »Schalten Sie den Projektor aus«, sagte er dann. »Und lassen Sie uns gehen. Bringen wir es hinter uns.«

Albano nickte und tat, wie ihm geheißen war. Als er auf den Ausgang zuging, fuhr seine Hand automatisch unter sein Jackett zum Holster, in dem seine schussbereite Waffe steckte. Nach Bach verließ er den Raum und schloss hinter sich die Tür des schalldichten Raums, in dem mehr brisante Entscheidungen getroffen worden waren, als es den Verantwortlichen im Weißen Haus lieb sein konnte. Dieser Raum war so etwas wie die geheime Kommandozentrale von Majestic - funktionell und fast spartanisch eingerichtet, aber absolut abhörsicher und unauffällig genug, um von gelegentlichen Besuchern aus der Politik nur als durchschnittlicher Tagungsraum wahrgenommen zu werden.

»Ach, Steel, gut dass ich Sie hier treffe«, sagte Bach ohne Umschweife, als er auf den Korridor trat und fast in seinen dienstältesten Außendienstmitarbeiter gestolpert wäre. »Kommen Sie mit, wir müssen da ein paar Dinge klären.«

Steel kniff die Augen zusammen, aber sein flackernder Blick beruhigte sich, als er sah, wie Albano hinter ihm auftauchte, seine Sonnenbrille aus der Tasche nahm und sie mit einer ruhigen Bewegung aufsetzte. »Ich wollte auch mit Ihnen sprechen«, stieß er hervor. »Es geht um Loengard. Wir müssen ihn unbedingt erwischen, bevor er mit Robert Kennedy Kontakt aufnehmen kann.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, antwortete Bach ruhig, während er den Korridor hinunterging, der eher zu einer Finanzbehörde gepasst hätte als zu einem hoch technisierten geheimen Sicherheitstrakt unterhalb Washingtons, wären da nicht die in regelmäßigen Abständen und zusätzlich zur flackernden Neonbeleuchtung platzierten, durch massive Stahlgeflechte gesicherten Lampen gewesen, die ungewöhnlich angeschrägte Decke und die roten und gelben Notschalter, deren Funktion auf den ersten Blick kaum erkenntlich war. »Der junge Mann wird langsam lästig. Wir müssen ihn schnellstmöglich aus dem Verkehr ziehen.«

»Ich werde mich persönlich um Loengard kümmern«, sagte Steel. In seiner Stimme schwang eine Ungeduld mit, die ahnen ließ, wie sehr ihm die Angelegenheit unter den Fingern brannte. Wer nicht wusste, was in ihm vorging, hätte ihn einfach für einen engagierten Mitarbeiter halten können. »Ich werde diesen Kerl erwischen, bevor er auch nur auf einen Kilometer an Bobby Kennedy herankommt.«

»Das wäre sicherlich wünschenswert«, antwortete Bach ruhig. Er öffnete eine Zwischentür und drehte sich mit seinem typischen kalten Lächeln zu Steel um. »Zumal Loengard sich zurzeit in Washington D.C. aufhält.«

»Da wissen Sie mehr als ich«, sagte Steel stirnrunzelnd, während er hinter Bach die Zwischentür passierte und ihm in den Seitengang folgte, der zu den Labors führte. Er konnte nicht ganz verhindern, dass Ärger in seiner Stimme mitschwang. »Aber ich werde jetzt die Angelegenheit in die Hand nehmen und Ihnen noch heute diese kleine Ratte vor die Füße werfen.«

»Keinesfalls«, sagte Bach ruhig. »Loengard ist keine persönliche Angelegenheit...«

»Aber er ist das größte Problem, das wir zurzeit haben«, unterbrach ihn Steel.

»Loengard ist ein Problem«, stellte Bach richtig. »Und er ist mein Problem. Sie brauchen sich deswegen keine grauen Haare wachsen zu lassen.« Er blieb stehen und warf einen nachdenklichen Blick auf Steel. »Sie haben doch ganz andere Dinge vor sich«, fuhr er fort, während er die Tür zu einem kleinen Besprechungsraum aufstieß, der in letzter Zeit kaum benutzt worden war. Ohne ein weiteres Wort trat er einen Schritt zur Seite und Steel betrat automatisch den Raum, der normalerweise einen runden Tisch und vielleicht ein Dutzend Stühle beherbergte.

Es war erstaunlich, wie leicht sich Steel reinlegen ließ. Die Hive verfügten offenbar doch nicht über den sechsten Sinn, den ihnen die wenigen Eingeweihten zuschrieben. Wäre es anders, hätte Steel spätestens von dem Verdacht gegen ihn Wind bekommen müssen, als sich Bach und Albano den Film über Oswalds Ermordung angesehen hatten, nur wenige Meter von ihm entfernt und nur durch eine schalldichte Wand von ihm getrennt. Aber er hatte noch nicht einmal etwas gemerkt, als sie den Raum verlassen und ihn beinahe über den Haufen gerannt hatten - die beiden Männer, die willens waren, ihn so schnell wie möglich zu enttarnen und dann die entsprechenden Schritte einzuleiten. Vielleicht aber fühlte sich der menschliche Teil von Steel auch einfach nur zu sicher oder vielleicht lag es an der Ausstrahlung von Bach und Albano, die keine Erregung verrieten und deswegen auf ihn vollkommen unverdächtig wirkten.

Steel war einen Schritt in den Raum getreten und wollte gerade den zweiten machen, als er begriff. Sein Blick fiel auf den beigefarbenen Stuhl mit den stabilen Kunststofffesseln, der mitten im Raum stand und zu der Einrichtung passte, die jetzt plötzlich mehr an ein Labor als an einen Besprechungsraum erinnerte - mit Glasvitrinen, in denen Hertzogs Utensilien untergebracht waren, einem Metallschreibtisch, auf dem ein Mikroskop und mehrere Reagenzgläser standen; so, als sei Dr. Hertzog hier bereits vor ein paar Wochen eingezogen, um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein. Erst dann bemerkte er die beiden kräftigen Männer in weißen Kitteln, die mit zielsicheren, schnellen Bewegungen von hinten auf ihn zustürmten, und Dr. Carl Hertzog, der inmitten des Raumes stand, mit gerunzelter Stirn einen nervösen Blick über den Rand seiner Brille auf Steel werfend, ohne dabei die Spritze aus den Augen zu verlieren, die wie ein bösartiges und zustechbereites Insekt in seiner Hand lauerte.

Steels Reaktion war schnell und doch nicht schnell genug; es war die Reaktion eines Menschen, der über eine Schrecksekunde verfügt und nicht über die eines übermenschlichen Wesens, das ohne jede Zeitverzögerung konsequent und folgerichtig handelt.

Als er herumwirbeln wollte, waren die beiden Weißbekittelten schon heran und auch Albano, der mit zwei, drei raschen Schritten an Bach vorbeigestürmt war und nun Steels linken Arm mit hartem Griff packte. Die drei Männer waren Profis und sie wussten, was sie wollten, und sie hatten den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Und doch genügte das nicht, um Steel so einfach in die Knie zu zwingen. Der Hive wehrte sich verzweifelt, riss die Männer mit einer unglaublich kraftvollen Bewegung nach vorne und zwang sie für einen Moment in eine Kehrtwendung zur Tür. Dann hatten die drei Majestic-Agenten ihre Bewegungen koordiniert und es gelang ihnen, Steels Fluchtbewegung zu stoppen. Zwei, drei Sekunden sah es nach einem Unentschieden aus - drei kräftige Männer gegen ein kaum mehr menschlich zu nennendes Wesen, das das Grauen in sich trug, irgendeine ekelhafte widerliche Kreatur, ein zuckendes, krabbelndes Etwas mit mehreren Inch langen Fühlern oder Tastarmen, das in Steel hineingekrochen war auf eine hinterlistige Art und Weise und nun sein Denken vergiftete, sich mit den aggressiven Impulsen des Menschen verband, um einen Auftrag auszuführen, der letztlich auf die Vernichtung der Menschheit hinauslaufen würde, wenn man nicht dieses Wesen und seinesgleichen stoppte.

Es war die pure Kraft der Verzweiflung, das Wissen um das abscheuliche Ganglion in ihrem Ex-Kollegen, dass den drei Agenten die Kraft gab, den Tobenden in eine Rückwärtsbewegung zu zwingen. »Nein«, schrie Steel als sie ihn auf den Stuhl drückten. Er kam wieder hoch, in der grotesken Satire eines Schülers, der aufspringt, um seinem Lehrer eine wütende Bemerkung entgegenzuschleudern, oder eines Abgeordneten, der für die CNN-Kameras das Schauspiel eines von ehrlicher Entrüstung getriebenen Wutanfalls bot.

»Es hat keinen Sinn, dagegen anzukämpfen«, sagte Bach. Er war einen Schritt in den Raum hineingetreten und betrachtete den ungleichen Kampf scheinbar teilnahmslos, so, als sei er sicher, wie er ausgehen würde. Und vielleicht war er das ja auch. »Es ist nur zu Ihrem eigenen Besten, Jim. Befreien Sie sich von diesem... Ding.«

Steel gab einen gurgelnden Laut von sich, dann ein Zischen und etwas, das wie das Knurren einer gereizten Echse klang. Es war nichts Menschliches an diesen Lauten, noch nicht einmal etwas Tierisches. Es war ein instinktiver Aufschrei einer ganz anderen Spezies, etwas, das den weiten Weg von einem entfernten Sonnensystem zur Erde gefunden hatte. Es lag so viel Unmenschliches darin, dass die Majestic-Agenten gar nicht anders konnten, als ihn mit aller Kraft niederzuringen. Albano hatte Steels Kopf gepackt; sein rechter Arm umklammerte den Hals seines Opfers, mit der linken Hand hatte er sich in seine Haare verkrallt. Damit verschaffte er den beiden anderen einen Moment Luft, lang genug, um Steels Arme niederzudrücken und die Armfesseln zuschnappen zu lassen.

»Hööört auuuf!«, schrie Steel und diesmal war es offensichtlich der menschliche Teil in ihm, der aufbegehrte. Der Stuhl war am Boden festgeschraubt und doch ging ein Ruck durch die schweren Metallrohre, als Steel mit aller Kraft gegen seine Fesseln ankämpfte. Die zwei Männer in den weißen Kitteln hielten weiterhin seine Arme gepackt und drückten sie nach unten, während Albano Steels Hals von hinten umklammert hielt, als würde er ihn endgültig erbarmungslos erwürgen wollen. Es sah aus, als ob sie ein urzeitliches Ungeheuer festhalten mussten, wie in einem dieser unglaublich simpel produzierten und doch nicht minder faszinierenden Filme Jack Arnolds, der den Kampf der Menschheit gegen irgendwelche Albtraumkreaturen in schwarzweiße Kinofilme gebannt hatte.

Bach betrachtete ihn mit kühler Distanz wie ein Wissenschaftler, der ein seltenes Phänomen vor sich hat und es unter allen Umständen studieren will, ganz egal, welches Risiko es für ihn oder andere bedeutet. Doch der Kampf war noch nicht vorbei. Dr. Hertzog war nicht untätig geblieben; er hatte die bereits aufgezogene Spritze beiseite gelegt und eine Phiole mit der Substanz in die Hand genommen, deren Mischung nur ihm und einigen wenigen anderen Menschen bekannt war. Das, was er anwenden wollte, kursierte unter den wenigen Eingeweihten als ART, als Alien Rejection Technique; etwas, das verteufelt an die Austreibung von Dämonen erinnerte, wie die Kirche sie zu betreiben in der Lage zu sein behauptete. Doch es waren keine Dämonen, denen er mit der toxischen Substanz beikommen wollte, es war eine für Menschen zwar gefährliche, aber für Ganglien mit Sicherheit tödliche Substanz, die sie aus ihrem Wirt drängte - so wie Feuer eine ekelhafte Schlangenbrut aus ihrem Versteck zwang. Die Chancen standen allerdings fünfzig zu fünfzig, dass auch der Wirt bei der mehrstündigen Prozedur zu Schaden kam; je länger er bereits vom Ganglion besessen war, umso geringer waren die Aussichten für einen Befallenen, die grausige Prozedur zu überleben.

Dr. Hertzog war mit ein paar raschen Schritten am Stuhl und drückte Albano die Phiole in die Hand, in der sich das gräulichweiße, dampfende Gemisch befand, das dem Ganglion ein Ende bereiten sollte. Dann holte er einen metallenen Trichter aus den Tiefen seiner ausgebeulten Kitteltasche hervor, eine Spezialanfertigung aus absolut beiß- und säurefestem Edelstahl, mit einer konvex geformten Öffnung, die genau in die Mundöffnung eines Menschen passte. Der ART-Trichter war erst vor kurzem optimiert worden für die Alien Rejection Technique - angepasst an eine Prozedur, die so gewaltsam ablief wie die blutige Unterwerfung eines Dissidenten in den sibirischen Foltergefängnissen. Doch im Gegensatz zu den Folterärzten in Sibirien ging es Dr. Hertzog tatsächlich ums Heilen; wenn auch nach den Regeln Majestics und gemäß den Anordnungen Bachs, für den ein Menschenleben kaum mehr als taktische Bedeutung hatte.

Steel kämpfte ums Überleben. Sein Kopf zuckte hin und her, mit einer Kraft, die angesichts Albanos Würgegriff nichts Menschliches mehr an sich hatte. Niemand wusste, was in seinem Kopf wirklich vor sich ging, wieweit sich die unvorstellbar fremde Intelligenz mit der des eiskalten Killers verbunden hatte, der im Auftrag Bachs zahllose Menschen getötet hatte. Niemand wusste, wie lange Steel das Ganglion in sich trug und wieweit er vielleicht nur noch einem ausgehöhlten Baumstamm glich, der im Inneren bereits komplett von dem fremdartigen Etwas zerfressen war. Wenn der Prozess der Übernahme schon so weit fortgeschritten war, würde ein Rettungsversuch dieses nur noch scheinbar menschlichen Wesens unweigerlich zu spät kommen.

»Machen Sie schon, Albano«, rief Hertzog. »Halten Sie seinen Kopf still.«

Steel bäumte sich mit aller Kraft gegen seine Fesseln auf. Seine Arme ruckten ein, zwei Zentimeter hoch und der Stuhl vibrierte, als würde er jeden Moment aus der Verankerung gerissen. Albano, der in der Rechten das Gefäß mit der für Ganglien tödlichen Flüssigkeit hielt, drückte mit dem linken Arm Steels Hals so fest zu, dass einem normalen Menschen der Kehlkopf eingedrückt worden wäre. Es dauerte nur ein paar Sekunden, aber es kam Albano wie eine Ewigkeit vor: Er hatte alle Mühe, Steel im Würgegriff zu halten und die Phiole mit dem Ganglion-Gift so ruhig zu halten, dass nichts verschüttet werden konnte. Wenn er den Becher mit dem dampfenden Gift fallen ließ, hatten sie keine andere Wahl mehr; dann mussten sie Steel töten.

»Geben Sie auf, Jim«, sagte Bach ruhig. »Machen Sie es uns nicht unnötig schwer.«

In Steels verzerrtem Gesicht tauchte so etwas wie der Funken eines Verstehens auf, das in grenzenlosen Hass umschlug. Er riss den Mund auf und gurgelte ein paar unartikulierte Laute, die nichts Menschliches hatten, sondern etwas in einer unvorstellbar fremden Sprache bedeuten konnten, die zu verstehen dem menschlichen Verstand vielleicht für immer versagt blieb.

Diesen Moment nutzte Hertzog. Er schlug den ART-Trichter geradezu in Steels Mund, so, wie man mit voller Wucht auf eine Vogelspinne einschlagen würde, die gerade dazu ansetzte, sich auf ihr Opfer zu stürzen. Es lag das ganze Entsetzen eines Mannes in dieser Bewegung, der in den Strudel eines lebendig gewordenen Wahnsinns geraten war. Als der Trichter in Steels Schlund einschlug wie ein Zapfhahn in ein Bierfass, knirschte Metall auf Zahnschmelz und mit einem hässlichen Krachen brachen ein paar Zahnstücke weg. Steels Gurgeln erstickte. Eine Ader trat auf seiner Stirn hervor und seine Augen waren so schreckensgeweitet wie die eines Rehs, das wie hypnotisiert in die Scheinwerfer eines heranrasenden Trucks starrt.

Albanos Hand zuckte zielsicher vor und ein Schwall graudampfender Flüssigkeit ergoss sich in den Trichter. Aus Steels Gurgeln wurde ein erstickter Schrei, als sich die saure Flüssigkeit in seine Kehle brannte. Aber er war noch lange nicht bereit aufzugeben. Der Instinkt des in die Enge getriebenen Menschen verband sich mit der Todesfurcht des Ganglions, das außerhalb seines Wirtskörpers kaum mehr als eine Stunde lebensfähig war. Steels Kopf ruckte vor und trieb damit den Trichter noch tiefer in seinen Mund. Aber es gelang ihm damit, auch den Becher mit der todbringenden Flüssigkeit beiseite zu stoßen. Unwillkürlich lockerte Albano seinen Griff etwas und Steel heulte triumphierend auf, als er mit einer ruckhaften Kopfdrehung Albanos Griff die Kraft nahm.

Doch der Majestic-Agent mit der an diesem Ort grotesk wirkenden Sonnenbrille war zu sehr Profi, um sich dadurch von seiner Aufgabe ablenken zu lassen. Mit einer entschlossenen Bewegung schüttete er den kompletten Inhalt des Bechers in den Trichter, während sich seine Linke in Steels Haare krallte. Ein paar Tropfen spritzten hoch und benetzten Steels Jackett, hinterließen kleine schmutzige Flecke, die sich geradezu in den Stoff einzubrennen schienen. Doch der größte Teil der ätzenden Flüssigkeit traf mit ungemilderter Wucht in Steels Kehle und mit würgenden Lauten schluckte er einen Teil des widerlichen Gebräus hinunter.

Die Majestic-Agenten ließen ihm keine Verschnaufpause. Hertzog hatte die Gelegenheit genutzt, um mit raschen Bewegungen seine bereits aufgezogene Spritze vom Schreibtisch zu holen. Die anderen Männer wussten Bescheid und handelten, ohne ein Wort zu wechseln. Steel wurde nach dem Schlucken von Hertzogs Spezialmischung von einem heftig würgenden Hustenanfall geschüttelt; Albano stauchte seinen Kopf nun mit aller Kraft nach vorne und die beiden anderen unterstützten die Bewegung, indem sie seine Arme losließen, ihn an den Schultern packten und ebenfalls nach vorne drückten. Hertzog trat hinter ihn, die überdimensionierte Spritze mit dem Konzentrat in der Hand, das er in Steels Blutbahn spritzen musste, um die Wirkung der oral verabreichten ART-Spezialmischung zu optimieren. Der Arzt handelte mit der ihm eigenen unerschütterlichen Professionalität; wie ein Tierarzt, der sich unversehens mit einer bissigen Bestie konfrontiert sieht und sie dennoch behandeln will und muss.

Dabei war er nicht wählerisch. Es war nicht gerade üblich, einem Menschen eine Spritze in den Nacken zu verabreichen, aber in diesem Fall war es der schnellste und damit sicherste Weg. Hertzog setzte die Spritze zwei Zentimeter über dem Wirbelansatz mit einer Bewegung an, wie sie eher üblich war, um einen Dartpfeil sicher ins Ziel zu bringen, und stieß sie mit einer harten Bewegung in Steels Nacken. Dann drückte er mit der Rechten den Kolben nach unten.

Aber er kam nicht dazu, den gesamten Inhalt zu entleeren. Steel spannte sich mit einer verzweifelten Bewegung an, zerrte an den angeblich absolut sicheren Kunststoffgurten des Spezialstuhls, die sich im Einsatz vieler psychiatrischer Kliniken bewährt hatten, die Epilepsiepatienten genauso sicher gehalten hatten wie Tobsüchtige, die man mit der gerade nur allzu populären Elektroschockbehandlung mit Sicherheit gequält, aber kaum je geheilt hatte, und wie die Patienten Dr. Freedmans, denen man bei vollem Bewusstsein einen Eispickel durch die Nase ins Gehirn getrieben hatte, um die Verbindung von konfus zusammenarbeitenden Gehirnteilen unwiderruflich zu zerstören. Bei all diesen tausend Einsätzen hatten sich die Stahlrohrstühle mit den Kunststofffesseln bewährt; nie war es einem Patienten gelungen, sich aus einem von ihnen zu befreien. Aber es gibt bekanntlich immer ein erstes Mal.

Und es war ausgerechnet Steel, der bewies, dass es immer verkehrt ist, sich zu sicher zu fühlen. Mit einer letzten Anstrengung riss er die Arme nach oben und sprengte beide Kunststofffesseln. Ehe die anderen Männer reagieren konnten, war er bereits aufgesprungen. Durch den Schwung der Bewegung wurde Albano, der sich bis zuletzt in Steels Haare verkrallt hatte, zurückgeschleudert und schlug schwer auf dem Boden auf, die beiden anderen Männer taumelten ein paar Schritte zurück, bevor sie sich wieder fangen konnten. Steel griff mit einer blitzschnellen Bewegung nach hinten und riss sich die halb volle Spritze aus dem Nacken. Doch statt sie wegzuschleudern, hielt er sie wie ein Messer in der Hand und genauso setzte er sie auch ein. Der ART-Spezialist, der sich als Erster wieder gefangen hatte und nun mit geöffneten, zum Zupacken bereiten Armen auf ihn zustürmte, bemerkte die Gefahr zu spät. Steel stieß die Spritze mit aller Kraft in seinen Bauch und jagte ihren Inhalt in den Mann. Die Wirkung war genauso schnell wie drastisch: Der Angegriffene stieß einen gurgelnden Laut aus, ruderte hilflos mit den Armen. Sein Gesicht zuckte wie bei einem epileptischen Anfall, dann riss er noch einmal die Arme hoch, schlug gegen einen Schrank und brach wie vom Blitz gefällt zusammen.

Da war auch schon der andere ART-Spezialist heran. Er stürmte wie ein wütender Bulle auf Steel zu. Dieser wirbelte herum, packte den Mann, als sei er ein Kind, und schleuderte ihn mit einer unglaublich kräftigen Bewegung in Hertzogs Richtung. Die beiden Männer gingen krachend zu Boden. Da war Steel auch schon über ihnen, schlug den ART-Spezialisten mit einem einzigen seitlich geführten Fausthieb bewusstlos und riss ihm seine schussbereite Pistole aus dem Holster. Bach machte einen Schritt auf ihn zu; aber dabei blieb es. Steel handelte schnell und überlegt. Er schlug Bach mit der Waffenhand zur Seite und der Chef der mächtigen Majestic-Operation ging ohne einen Laut zu Boden. Dann wirbelte Steel mit der Waffe in der Hand in Richtung seines gefährlichsten Gegners: Albano, der bereits wieder auf die Füße gekommen war und gerade seine Waffe zog. Steel schoss; zweimal bellte die schwere Magnum in dem kleinen Raum auf und beide Kugeln zerschmetterten ein paar Glasgefäße in der Vitrine mit Hertzogs Utensilien, dann erwiderte Albano das Feuer. Es war nur ein Schuss, aber er traf. Steel wurde ein Stück zurückgeschleudert und ein roter Fleck zeichnete sich oberhalb des Gürtels auf seinem Hemd ab.

Es war ein Schuss, der einen anderen Gegner zweifelsohne zu Boden gestreckt hätte. Aber es schien, als könne Steel den Treffer ohne weiteres wegstecken. Als er sich umdrehte und aus dem Raum stürmte, taumelte er nicht einmal. Doch er kam nicht weit: Die Wirkung von Hertzogs ART-Mischung holte ihn schlagartig ein. Er schrie auf, stolperte in den Gang hinaus und die Magnum polterte zu Boden, als er die Hände in einer entsetzten Geste vors Gesicht schlug. Wimmernd ging er in die Knie und gab noch einmal einen unartikulierten, erschreckend fremdartigen Laut von sich. Als Albano mit gezogener Waffe hinter ihm auftauchte, brach er endgültig zusammen. Wimmernd wie ein kleines Kind, das einen schweren Schock erlitten hatte, krümmte er sich am Boden.

Mittlerweile war ein anderer bewaffneter Majestic-Agent im Korridor aufgetaucht und eilte auf den zusammengebrochenen Steel zu. Bach und Hertzog drängten sich an Albano vorbei, der die Waffe noch immer nicht hatte sinken lassen.

»Es ist aus, Jim«, sagte Bach so ungerührt zu seinem vor ihm liegenden und wimmernden Mitarbeiter, als würde er ein alltägliches Gespräch über einen Einsatz führen. »Das Zeug, das Sie in sich haben, wird dem Ganglion den Garaus machen. Wir müssen die Prozedur nur noch abschließen.«

»Ohhccch«, gurgelte Steel. Weißer Schaum trat vor seinen Mund, wie bei einem Tollwütigen im Endstadium. Seine linke Hand hatte sich an seinem Hemdkragen verkrallt und er zerrte daran, als würde er keine Luft mehr bekommen.

Bach beugte sich zu ihm herunter. »Aber es gibt da noch ein paar Dinge, die wir wissen müssen.«

»Nichts... müsst ihr wissen«, stieß Steel mühsam hervor.

»Oswald hat in Ihrem Auftrag gehandelt, nicht wahr?«, fragte Bach in beiläufigem Ton. »Die Ballistiker haben festgestellt, dass es drei Schützen waren. Wer war der Dritte?«

Steel schüttelte schwach den Kopf. »Das ist nur der Anfang«, keuchte er an Stelle einer direkten Antwort.

»Das Ganglion hat an Kraft verloren«, sagte Hertzog. Er warf einen Blick auf seine alte Armbanduhr mit dem abgewetzten braunen Lederarmband. »Die Wirkung hat jetzt ihr Maximum erreicht.«

»Okay«, sagte Bach ungerührt, während er sich erhob und zum Gehen wandte. »Bringt es zu Ende.«

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