23. November 1963, 8:24 Hotel ›Texas‹, Fort Worth

Das Hotel TEXAS gehörte nicht zur obersten Preisklasse, rangierte aber in einer Kategorie, in der Leute wie Kim und ich normalerweise nicht abstiegen. Die Wagen, die vor der Tür parkten, waren groß und schwarz und schienen zum überwiegenden Teil aus Chrom und überdimensionalen Weißwandreifen zu bestehen, und vor der vierflügeligen Glastür stand ein Portier in einer pedantisch gebügelten Livree, der jeden, der an dem Hotel vorbeiging, misstrauisch beäugte. Offensichtlich hatte man den Mann hauptsächlich nach seiner Statur ausgewählt. Er war ungefähr so groß wie das Hotel und seine Schultern waren breit genug, um einen Schlachtkreuzer dahinter zu verstecken.

»Gib dir keine Mühe«, sagte Kim spöttisch. »Den schaffst du nicht.«

Ich sah sie einen Moment lang verständnislos an. Wir hatten in einem kleinen Café gegenüber dem Hotel Platz genommen; zwei der insgesamt nur fünf Tische standen vor dem Fenster, so dass wir das TEXAS im Auge behalten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. »Wie?«

»Du siehst ihn an wie ein Profiboxer, der seinen Gegner mustert und nach einer schwachen Stelle sucht«, antwortete Kim. Mit einem angedeuteten Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Das ist nicht deine Gewichtsklasse, weißt du?«

»Das ist nicht komisch«, antwortete ich.

»Ich habe ja auch nicht gelacht, oder?« Kimberley nippte an ihrem Kaffee und wurde plötzlich sehr ernst. »Ich kann so nicht leben, John. Nicht auf Dauer.«

»Das müssen wir auch nicht«, log ich. »Kennedy hat uns bestimmt nicht aus Langeweile hierher bestellt. Wir werden Bach das Handwerk legen.«

»Falls Steel uns nicht vorher erwischt.«

Ich sagte nichts dazu. Kim hatte Recht, aber ich hatte in der zurückliegenden Nacht einfach ein paarmal zu oft an Steel gedacht - um genau zu sein, es war keine Sekunde vergangen, in der ich nicht an Steel gedacht hatte. Kim und ich hatten abwechselnd jeweils ein paar Stunden geschlafen, doch in der Zeit, in der ich wach gewesen war, hatte ich jeden Wagen misstrauisch beäugt, der den Bus überholt hatte. Keiner davon hatte versucht, den Bus abzudrängen oder sich quer auf den Highway zu stellen, um ihn zum Anhalten zu zwingen, und es waren auch keine Schüsse durch das Fenster gedrungen. Aber ich war dabei, mich selbst in eine gehörige Paranoia hineinzusteigern. Es gelang mir nicht, Steel ganz aus meinen Gedanken zu verbannen, aber immerhin konnte ich ihn in eine Ecke drängen, in der er mein Bewusstsein nicht zur Gänze beherrschte.

»Ich hoffe, er lässt mich durch«, sagte ich mit einer entsprechenden Kopfbewegung hin zum Portier. »Ich bin nicht gerade stadtfein.«

Das war noch geschmeichelt. Mein Anzug sah aus, als hätte ich darin geschlafen; und streng genommen hatte ich das ja auch.

Statt auf meine Worte zu reagieren, sah Kim auf die Armbanduhr und sagte dann: »Es wird Zeit.«

Ich trank den letzten Schluck Kaffee aus meiner Tasse, beugte mich unter den Tisch und drehte den Koffer, den ich darunter geschoben hatte, so herum, dass sein Inhalt allen neugierigen Blicken verborgen blieb, als ich ihn aufklappte. Meine Hände zitterten leicht, als ich die Waffe herausnahm und in die Zeitung schob, die wir vor einer halben Stunde gekauft hatten. Ich hatte sie nicht gelesen und ich würde es wahrscheinlich auch nicht tun. Ich wusste, was darin stand, und Kim und ich waren wahrscheinlich zwei von sehr wenigen Menschen auf der ganzen Welt, die wussten, dass es nicht die Wahrheit war.

Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, unter der Last dieses Geheimnisses zusammenbrechen zu müssen. Ich wollte aufspringen, losschreien, jedem hier im Café und jedem draußen auf der Straße die Wahrheit ins Gesicht schreien. Stattdessen klappte ich den Koffer mit einer schon übertrieben pedantischen Bewegung wieder zu, klemmte die Zeitung mit der darin verborgenen Waffe unter den linken Arm und stand auf.

»Behalt das Hotel im Auge«, sagte ich. »Zimmer 422. Wenn irgendetwas Auffälliges passiert, ruf an.«

»Und du spiel bitte nicht den Helden«, sagte Kim ernst. »Ich brauche dich noch.«

Ich verließ das Café, überquerte mit schnellen Schritten die Straße und betrat das Hotel. Der Portier machte keinen Versuch, mich aufzuhalten oder auch nur anzusprechen, aber ich konnte seine missbilligenden Blicke mit fast körperlicher Intensität spüren. Hätte mein Anzug nur zwei oder drei Falten mehr gehabt, hätte er mich wahrscheinlich nicht hereingelassen.

Das TEXAS empfing mich mit vornehmer Stille. Das Foyer war größer, als ich erwartet hatte, aber nicht besonders gut beleuchtet; gut zwei Dutzend kleiner Tischlampen erzeugten mehr Schatten als Helligkeit, aber für meinen Geschmack waren einfach zu viele Leute hier: zwei oder drei Paare unterschiedlichen Alters, ein paar junge Männer, die miteinander redeten oder Zeitung lasen... Ich schüttelte den Gedanken mit aller Kraft ab. Möglicherweise lief ich in eine Falle. Wenn Bach oder gar Steel mein Gespräch vergangene Nacht belauscht hatten, erwarteten sie mich sogar mit Sicherheit. Aber ich hatte keine Wahl. Wenn Bachs Leute tatsächlich hier irgendwo auf mich warteten, dann würde ich sie erst dann bemerken, wenn es sowieso zu spät war. Die Majestic-Agenten verstanden ihr Handwerk, das wusste ich. Schließlich hatte ich vor drei Tagen noch zu ihnen gehört.

Aber ich erreichte den Lift unbehelligt. Als die Türen aufglitten, warteten weder Steel noch ein anderer Killer auf mich. Ich drückte den Knopf für die fünfte Etage, wich bis an die verspiegelte Rückwand zurück und schob die rechte Hand in die zusammengelegte Zeitung. Der Stahl der Waffe, die darin verborgen war, fühlte sich eiskalt an, und er erfüllte mich weder mit Sicherheit, noch gab er mir irgendein Gefühl der Stärke. Ich war kein Kämpfer. Einem Mann wie Steel war ich nicht gewachsen, ob mit oder ohne Ganglion im Hirn.

Der Aufzug hielt an. Ich verließ die Kabine, sah sichernd nach rechts und links und wandte mich dann der Tür am Ende des langen, mit teuren Teppichen ausgelegten Flurs zu. Bevor ich sie öffnete, blieb ich eine Sekunde mit angehaltenem Atem stehen und lauschte, ohne allerdings auch nur den mindesten Laut zu hören. Rings um mich herum herrschte eine Stille, die schon fast zu tief war. Aber dies war ein teures Hotel. Die Zimmer würden schallisolierte Türen haben und die dicken Teppiche auf dem Boden mussten zusätzlich jeden Laut verschlucken. Es war alles in Ordnung. Der Einzige, mit dem hier etwas nicht stimmte, war ich selbst.

Ich betrat das Treppenhaus, lauschte noch einmal eine Sekunde und ging dann mit schnellen Schritten eine Etage nach unten. Nichts von alledem, was ich hier tat, hatte wahrscheinlich irgendeinen Sinn. Schließlich hatte ich genau die Techniken, mit denen ich seit zwei Tagen versuchte, meine Verfolger abzuschütteln, von genau diesen Verfolgern gelernt. Aber ich fühlte mich einfach besser, wenn ich es wenigstens versuchte.

Auch in der vierten Etage wartete niemand auf mich. Ich ging bis zum Zimmer 422 und daran vorbei, lauschte erneut, ohne irgendetwas zu hören, machte auf dem Absatz kehrt und klopfte. Eine halbe Sekunde lang war ich hundertprozentig sicher, dass die Antwort aus einem dumpfen Knall und einem zersplitterten Loch in der Tür und einem sehr viel größeren Loch in meiner Brust bestehen würde.

Statt dessen herrschte eine Sekunde Schweigen. Dann hörte ich Schritte, die sich der Tür näherten, und eine gedämpfte Stimme fragte: »Ja?«

»Dark Skies«, antwortete ich. Gleichzeitig zog ich die Hand mit der Pistole aus der Zeitung. Ich konnte hören, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür einen Spalt breit und ein halbes Gesicht und die Mündung einer großkalibrigen Pistole lugten zu mir heraus.

»Eigentlich ist es ein sehr schöner Tag«, sagte mein Gegenüber. »Es ist kühl, aber der Himmel ist nicht dunkel.«

Mir war wirklich nicht nach Scherzen zumute. »Mister Robert schickt mich«, antwortete ich ungeduldig. »Wollen wir uns hier draußen auf dem Flur unterhalten?«

»Mister Robert, so? Verkauft er immer noch alte Autos zu Wucherpreisen?« Die Tür wurde vollends geöffnet und ich konnte auch den Rest des Gesichtes erkennen. Mein Gegenüber war ein schmaler, kleinwüchsiger Mann Ende fünfzig, dessen Gesicht wahrscheinlich sehr gutmütig gewirkt hätte, hätte es nicht einen vollkommen verstörten Eindruck gemacht.

»Kommen Sie rein«, sagte er überflüssigerweise. »Und nehmen Sie die Waffe runter. Meine ist sowieso größer... Und nebenbei auch entsichert.«

Er hatte mit beidem Recht. Die Magnum, mit der er auf mich zielte, wirkte in seinen schmalen Händen noch größer, als sie sowieso schon war, und ich hatte meine Pistole tatsächlich nicht entsichert. Mit einem verlegenen Grinsen ließ ich sie in der Manteltasche verschwinden, trat vollends an ihm vorbei und wartete, bis er die Tür wieder zugeschoben und sorgsam abgeschlossen hatte. Im Gegensatz zu mir steckte er seine Waffe nicht ein, sondern ging an mir vorbei, nahm Platz und legte sie griffbereit vor sich auf den Tisch. Allein die Art, mit der er sich bewegte, machte mir klar, dass meine erste Einschätzung vielleicht nicht richtig gewesen war. Der Mann sah aus wie ein Handelsvertreter für Staubsauger oder Toaster, aber das war er ganz bestimmt nicht.

Ich setzte mich, deutete mit einer Kopfbewegung auf die Waffe und sagte: »Robert Kennedy hat Sie also bereits unterrichtet.«

»Ich weiß, was ich wissen muss«, antwortete er. »Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Sind Sie John?«

»John Loengard«, bestätigte ich.

»John reicht«, sagte er ohne jede Spur einer Zurechtweisung in der Stimme. »Manchmal ist es nicht gut, mehr zu wissen, als man unbedingt wissen muss.«

»Und ich dachte, ich wäre der Einzige hier, der paranoid ist«, antwortete ich lächelnd.

Mein Gegenüber blieb vollkommen ruhig, griff aber in die Jackentasche und zog eine schwere Hornbrille heraus, wodurch er sich zumindest äußerlich nun vollends in einen Handlungsreisenden für Haushaltswaren verwandelte. Vielleicht auch in einen Bibelverkäufer.

»Wenn Sie es Paranoia nennen, müssen Sie noch eine Menge lernen, mein Junge«, sagte er. »Ich nenne es Überleben. Mein Name ist Marcel. Warum hat Kennedy Sie geschickt?«

»Marcel?«, fragte ich überrascht. »Jesse Marcel? Der Öffentlichkeitsbeauftragte von Roswell?«

»Ist Ihnen jemand gefolgt?«, fragte Marcel, ohne meine Frage zu beantworten.

»Nein«, antwortete ich. Sein Blick blieb durchdringend und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich genötigt, mich selbst zu verbessern: »Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich niemanden bemerkt. Mister Kennedy sagte, Sie hätten etwas für mich.«

Marcel griff in die gleiche Tasche, aus der er gerade seine Brille gezogen hatte, nahm ein schweres, vergoldetes Feuerzeug heraus und legte es vor sich auf den Tisch. Ich wollte danach greifen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende; vielleicht, weil er das Feuerzeug unmittelbar neben seine Waffe gelegt hatte. Marcel verzog flüchtig - geringschätzig? - die Lippen und versetzte dem Feuerzeug einen Stoß, der es über die Glasscheibe schlittern ließ, so dass ich mich hastig vorbeugen musste, um es aufzufangen.

»Ich will es aufgeben«, sagte er ironisch.

Hilflos drehte ich das Feuerzeug in den Händen, klappte es auf und drehte am Zündrad. Die Flamme brannte ruhig und gleichmäßig und verbreitete den charakteristischen Benzingeruch.

»Es funktioniert«, sagte Marcel. »Sie wissen doch, John: Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wenigstens, was die Technik angeht. Nur die Wahrheit zählt hier leider nicht allzu viel. Sie kann sogar gefährlich werden. Aber das«, fügte er mit einer Geste auf die Jackentasche hinzu, in die ich die Pistole gesteckt hatte, »haben Sie ja wohl schon selbst gemerkt. Wer ist die Blondine, die drüben im Café sitzt und das Hotel beobachtet?«

»Meine Freundin«, antwortete ich überrascht. »Das haben Sie gemerkt?«

Marcel lächelte. Er sagte nichts.

»Sie... haben den Präsidenten noch gesprochen, bevor...«

»Ja«, antwortete Marcel, ehe mein Schweigen lange genug anhalten konnte, um peinlich zu sein. Ich fragte mich, ob er wusste, wie groß meine Rolle in dieser Geschichte war. Wahrscheinlich ziemlich genau. Wenn er mit Kennedy gesprochen hatte, dann wusste er wahrscheinlich alles. »Aber ich wünschte mir fast, ich hätte es nicht. Er hat mich am Abend zu sich gerufen. In der Nacht, bevor er ermordet wurde.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte ich.

»Nicht viel«, antwortete Marcel. »Wir hatten nur eine Stunde. Und er hat mich mit Fragen durchlöchert. Wir wollten uns noch einmal treffen. Gestern. Aber es kam nicht mehr dazu.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich sollte bei diesem Treffen dabei sein.«

»Sie, ich und eine Menge anderer Leute«, bestätigte Marcel. »Kennedy hatte vor, eine ganze Gruppe von Spezialisten zusammenzustellen. Männer von der NASA, dem Geheimdienst, ein paar Eierköpfe von der Universität...« Marcel ließ den Satz unbeendet verklingen und weidete sich an meinem fragenden Gesichtsausdruck, dann zog er eine einzelne Zigarette aus der Hemdtasche, steckte sie sich zwischen die Lippen und beugte sich vor, um mir das Feuerzeug aus der Hand zu nehmen. Er zündete umständlich die Zigarette an, klappte das Feuerzeug zu und schraubte mit einer raschen Bewegung den Boden ab. Aus dem vergoldeten Gehäuse glitt ein silbrig funkelndes Päckchen, das sich lautlos und elegant vor unseren Augen zu einem doppelt handtellergroßen, dreieckigen Metallstück auseinander faltete.

Es war das drittemal, dass ich diesen unheimlichen Effekt beobachtete, aber der Vorgang hatte dadurch nichts von seiner Faszination verloren. Das Metall - wenn es Metall war - war dünner als das dünnste Papier, das ich jemals gesehen hatte, und offenbar vollkommen schwerelos, denn es sank nicht auf den Tisch herab, sondern blieb ganz sacht zitternd in der Luft darüber hängen. Marcel beugte sich vor und blies eine Rauchwolke gegen eine der drei Ecken. Die Metallplatte begann sich langsam im Uhrzeigersinn zu drehen. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinströmte, brach sich auf den feinen Linien und Rillen auf seiner Oberfläche und ließ ein Feuerwerk von Regenbogenfarben entstehen, die ein verwirrendes, sich ständig veränderndes Muster bildeten.

»Faszinierend, nicht?«, fragte Marcel, während die Folie schließlich doch langsam auf den Tisch sank, nicht der Schwerkraft folgend, sondern wie aus eigenem Antrieb. Seine Stimme nahm einen sonderbaren Klang an: eine kaum einzuordnende Mischung aus Faszination, Ehrfurcht und... Angst? »Haben die Schlaumeier in Washington herausbekommen, was das eigentlich ist?«, fragte er.

»Wenn ja, dann hat es mir niemand gesagt«, antwortete ich. Ich streckte die Finger aus und berührte die Folie. Für einen Moment sah es so aus, als würde sich ein Ring darauf bilden, so als hätte jemand einen Stein in einen Teich geworfen, und das grelle Licht der Sommersonne brach sich in der kreisförmigen Welle. Aus irgendeinem Grund erinnerte mich das an die Farm meiner Eltern, an die unbeschwerten Tage, die ich mit meinen Geschwistern an dem kleinen Weiher hinter dem Haus verbracht hatte. »Sie sagten, es sei aus dem Wrack des UFOs.«

Marcel schnaubte verächtlich. »Ich war da, als sie die Reste aufsammelten, mein Freund. Ich habe eine Menge seltsames Zeug gesehen, aber das hier war nicht dabei. Ich habe noch nie zuvor etwas Ähnliches gesehen. Wo haben Sie es her, von Bach? Hat er Ihnen erzählt, es wäre aus Roswell?«

»Bach«, wiederholte ich. Ich behielt Marcel aufmerksam im Auge. Der Name schien keine guten Erinnerungen in ihm zu wecken. »Sie kennen ihn?«

Marcel starrte mich unfreundlich an. »Packen Sie es weg, in Ordnung?«

Ich gehorchte. Ich berührte es in der Mitte und es faltete sich gehorsam wieder zusammen. Während ich es wieder in das Feuerzeug steckte, erhob sich Marcel. »Nun«, sagte er gedehnt, »damit trennen sich unsere Wege. Ich habe Frau und Kinder, ich muss mich nicht zur Zielscheibe machen für eine verlorene Sache.«

Ich blieb sitzen. »Was ist in Roswell wirklich passiert?«, fragte ich ihn.

Marcels Brillengläser blitzten auf, als er sich mir wieder zuwandte. »Sie haben bekommen, weswegen Sie hergekommen sind, also hauen Sie besser wieder ab.«

Ich steckte das Feuerzeug ein, ohne den Blick abzuwenden. »Ich habe Anweisung, den Beweis zu holen und in Erfahrung zu bringen, was Sie dem Präsidenten erzählt haben. Ich will die ganze Geschichte hören.«

Der ehemalige Pressesprecher von Roswell betrachtete mich gelassen. Ich vermutete, dass er derartige Aufforderungen in den vergangenen Jahren schon oft gehört hatte. »Ich weiß nicht, ob ich wütend auf Sie sein soll oder dankbar«, sagte er schließlich.

»Warum?«, fragte ich überrascht.

»Weil Sie etwas geschafft haben, was ich fünfzehn Jahre lang vergeblich versucht habe.« Er grinste, eine freudlose Grimasse. »Sagen Sie mir, was damals passiert ist.«

»Ein Wetterballon ist abgestürzt«, antwortete ich. »Jedenfalls ist das die offizielle Version. In Wahrheit war es ein UFO. Ein Raumschiff von einem anderen Planeten, das Schiffbruch erlitten hat.«

»Ganz so war es nicht«, erwiderte Marcel. Zwei, drei Sekunden lang saß er einfach nur da. Das unmerkliche Zögern in seinen Worten entging mir nicht. Ich war sicher, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen, verzichtete aber darauf, nachzuhaken. Ich spürte instinktiv, dass ich am meisten erfahren würde, wenn ich ihn einfach reden ließ.

»Ich weiß nur, was ich gesehen habe«, sagte er dann. »Wir hatten einen improvisierten Landeplatz vorbereitet, mitten in der Wüste. Keine Ahnung, wer sich für diesen Ort entschieden hatte. Wir haben drei Lastwagen verloren, weil die verdammte Straße im Frühling unterspült worden war, und den Mistkerlen von der Navy war das vollkommen egal. Befehle, haben sie gesagt.« Marcel verzog das Gesicht. »Nun, es war ihre Show. Roswell war ein Luftwaffenstützpunkt der Armee, damals und in diesen Monaten zufälligerweise auch vorübergehend Depot für die wenigen Bomben, die wir zu diesem Zeitpunkt hatten. Ich war bei der Armee, als der Marinegeheimdienst erschien mit einer Anweisung des Nationalen Sicherheitsrates, und am nächsten Tag standen wir alle mit einem Spaten in der Hand irgendwo in den Hügeln - buchstäblich.« Er lachte. Sein Gesicht hatte sich entspannt, so als habe er sich in vielen Jahren eine verächtliche Distanz antrainieren können, zu der er nun wieder Zuflucht nahm. »Ich war Verbindungsoffizier zu Bach und den anderen Einsatzleitern; und die Army-Truppe aus Roswell bediente die Radargeräte... nicht dass viel dabei herausgekommen wäre.« Er lachte. »Was immer es war, es schlug Haken um unsere Scheinwerfer und verschwand von den Bildschirmen, als hätte man sie abgeschaltet. Am Ende fiel auch noch der Strom aus, aber zu dem Zeitpunkt war es sowieso nicht mehr wichtig. Wir konnten es mit bloßem Auge sehen, über uns, ein dunkler, annähernd dreieckiger Umriss, mit umlaufenden Lichtern. Es hing einfach da, wie um uns zu verspotten.«

Er unterbrach sich und sah zum Fenster. »Ich war jünger damals... offensichtlich.« Er lachte wieder. »Optimistisch. Roswell war ein anderer Ort geworden, nachdem sie uns die Bomben gebracht hatten, aber es hieß, dass sie bald wieder abtransportiert werden sollten - vielleicht auch wegen der Ereignisse, die uns da wohl schon angekündigt gewesen waren - und ich glaubte an das, was ich tat... was immer es eigentlich war. Manchmal kann ich mich kaum noch daran erinnern, was mir... vorher... so wichtig erschienen ist.«

Marcel atmete tief ein und sein Blick fokussierte sich wieder auf mich, auf die Gegenwart. »Truman war dort«, fuhr er fort. »Ich sah ihn erst in dieser Nacht, aber wir alle wussten es. Er kam erst aus dem Zelt, als das UFO schon über dem Landeplatz hing. Was immer man von ihm halten mochte, er war ein mutiger Bastard oder dümmer, als ich es mir vorstellen kann.«

»Was geschah dann?«

»Ich weiß es nicht. Was immer es war, es leuchtete den Boden wie mit einem großen Scheinwerfer aus, ein Schlauch aus Licht, der uns blendete, und als wir wieder sehen konnten, stand dort im Lichtkreis etwas... Jemand.«

»Ein Grauer.«

»Ja, so nennt man sie jetzt wohl.« Marcel bewegte die Schultern, wie um sich zu entkrampfen. »Aus der Nähe wirkte die Kreatur fast Furcht einflößend, mit ihren großen, dunklen Augen und der lederartigen, harten Haut, aber damals empfand ich etwas, das so klein und zerbrechlich wirkte, nicht als Bedrohung. Im Gegenteil, wie es so zwischen all den Soldaten im Licht stand, wirkte es fast wie ein vom Himmel herabgestiegener Engel. Ich bin sicher, die anderen empfanden es genauso. Die Soldaten machten den Weg frei, ohne dass jemand einen Befehl dazu gegeben hätte. Es ging direkt auf Truman zu.«

Ich schüttelte stumm den Kopf. Bach hatte nicht viel über den Roswell-Zwischenfall verlauten lassen. Streng genommen hatte er nie viel mehr getan, als meinen Worten nicht zu widersprechen, und ich hatte meine Erkenntnisse größtenteils aus dem Umfeld von Blue Book gezogen. Majestic war wie eine Zwiebel und ich war nie über die ersten beiden Schalen hinaus vorgedrungen.

»Truman und das ganze Lametta sind dann zusammen mit dem Abgesandten im Zelt verschwunden«, fuhr Marcel fort. »Keiner von der Army wurde dazu eingeladen. Wie ich sagte, es war eine Veranstaltung der Navy und wir stellten die Kofferträger. Nun, auf jeden Fall war ich dabei, als das Feuerwerk begann...« Er verstummte. »Es muss wohl fast eine Stunde gedauert haben. Wir standen an unseren Posten und warteten und jeder hing so seinen Gedanken nach. Ich dachte damals, sie seien nach Roswell gekommen, um uns davor zu warnen, jemals wieder Atombomben einzusetzen. Ich meine, es konnte kein Zufall sein, dass sie ausgerechnet dort Kontakt herstellten, und niemand von uns hätte sie dorthin eingeladen.« Er schüttelte den Kopf. »Einige Jahre lang habe ich mich allerdings gefragt, ob eine der Bomben aus unseren Bunkern in dieser Nacht nicht auf einem der Lastwagen war oder vielleicht sogar im Boden vergraben lag, genau dort, wo sich die Scheinwerfer kreuzten.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Mein Sohn, nach all diesen Jahren weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Alles, was ich weiß, ist, dass sie zu uns kamen und Kontakt herstellten. Dann kam dieser Admiral und wies uns an, das Areal zu evakuieren. Direkter Befehl des Präsidenten, hieß es. Wir gehorchten. Wir waren noch keine hundert Schritt weit gekommen, als das Geräusch des UFOs über uns plötzlich wieder lauter wurde und sich auch das Licht veränderte. Wir blieben stehen. Ich habe den Abgesandten nicht mehr gesehen, aber ob er nun das Zelt jemals verlassen hat oder nicht, das Raumschiff setzte sich plötzlich in Bewegung. Es beschleunigte verdammt schnell, aber die Geschütze waren schneller. Sie haben es erwischt, während es noch über den Hügeln war, und der dritte oder vierte Treffer schickte es auf eine Bahn nach unten.«

Mir stockte der Atem. »Sie haben es abgeschossen?«, flüsterte ich ungläubig.

»Es ist in den Hügeln heruntergekommen. Es gab einen hellen Blitz, aber die direkte Sicht war uns versperrt.« Seine Stimme war jetzt ohne Betonung. Marcel hatte ein paar Illusionen verloren in dieser Nacht, soviel war offensichtlich, und vielleicht sogar die eine oder andere aufrichtige Hoffnung. »In den nächsten Tagen waren wir wieder in Navy-Diensten, nur dass wir diesmal aufräumten und Spuren verwischten. Da habe ich auch das Wrack gesehen oder besser gesagt das, was davon noch herumlag, nachdem die Navy ihr Team wieder abgezogen hatte.«

»So hat es also angefangen«, stellte ich beklommen fest.

»Wir haben es abgeschossen, Sohn«, sagte Marcel. »Sie kamen in Frieden, um zu reden, und wir haben das Feuer eröffnet. Bach und seine Leute haben keine Schiffbrüchigen aufgesammelt, sondern Kriegsgefangene. Oder Tote. Ich habe nie herausbekommen können, ob noch einer der anderen... der Grauen am Leben war.«

»Nun«, sagte ich, »einer ist definitiv tot. Ich habe ihn in einer Kühlkammer bei Majestic gesehen.«

Bevor Marcel etwas sagen konnte, klingelte das Telefon. Marcel runzelte überrascht die Stirn. Ich war mit einem einzigen Schritt beim Telefon und hob ab, bevor er Einwände erheben konnte. »Ja?«

»Ich habe einen von Bachs Männern gesehen«, sagte Kim übergangslos.

»Wann sind sie angekommen?«

»Keine Ahnung«, sagte sie drängend. »John, er kam aus dem Hotel, um zu rauchen. Sie müssen durch einen anderen Eingang rein sein. Ich weiß nicht, wie lange sie schon hier sind.«

»Wer war es?«

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Kurze, helle Haare. Verschwindet, so schnell ihr könnt.« Sie hängte einfach ein.

Ich wandte mich wieder zu Marcel um. Auch er war mittlerweile aufgestanden und ich bemerkte ohne besondere Überraschung, dass er wieder so angespannt und sprungbereit war wie vorhin, als er mir die Tür aufgemacht hatte. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Anscheinend ist mir doch jemand gefolgt«, antwortete ich. »Wir bekommen gleich Besuch.«

Marcel nahm seine Pistole vom Tisch, schob sie unter den Gürtel und schlüpfte in der gleichen Bewegung in sein Jackett. »Wir reden später weiter«, sagte er. »Raus jetzt. Schnell.« Er ging zur Tür, öffnete sie ohne das mindeste Zögern und winkte mir, ihm zu folgen.

»Wir nehmen die Treppe«, sagte er. Es war kein Vorschlag. Aus dem Bibelverkäufer war endgültig ein Soldat geworden, der ohne das leiseste Zögern das Kommando übernommen hatte, und ich gehorchte ihm ebenso automatisch. Gleichzeitig warf ich einen nervösen Blick zum Lift. Der grüne Leuchtpfeil über der Tür war noch dunkel, aber das würde bestimmt nicht mehr lange so bleiben. Seit Kims Anruf war eine knappe halbe Minute vergangen. Zeit genug für Bach und seine Begleiter, den Lift zu erreichen. Und wahrscheinlich auch das Treppenhaus.

Marcel blieb nach einem Schritt wieder stehen. »Mein Ticket.«

»Wie?«

»Ich habe mein Flugticket im Zimmer liegen gelassen«, antwortete er. »Wenn Bach es findet, weiß er Bescheid. Mein Name steht darauf.«

»Wenn er Sie dort drinnen erwischt, weiß er auch Bescheid«, sagte ich, aber Marcel wischte meinen Einwand mit einer Handbewegung zur Seite.

»Er wird mich nicht erwischen«, behauptete er. »Jetzt verschwinden Sie endlich. Wir bleiben über Kennedy in Kontakt.«

Offensichtlich zögerte ich immer noch zu lange, seiner Anweisung nachzukommen, denn Marcel ergriff mich kurzerhand bei den Schultern, drehte mich herum und versetzte mir einen Stoß, der mich auf die Tür zum Treppenhaus zustolpern ließ. Als ich sie öffnete, erscholl hinter mir ein heller Glockenton, der die Ankunft des Liftes verkündete. Ich widerstand der Versuchung, mich noch einmal herumzudrehen, zog die Tür stattdessen lautlos hinter mir zu, lief die Treppe hinunter und blieb auf dem nächsten Absatz wieder stehen.

Unter mir hörte ich Schritte die Treppe heraufkommen.

Für einen Moment drohte ich in Panik zu geraten. Ich saß in der Falle. Ich konnte weder zurück, noch die Treppe weiter hinuntergehen, und ich hatte eine Fifty-fifty-Chance, dass es Steel war, der mir da entgegenkam; im Klartext: eine immerhin fünfzigprozentige Chance, mir eine Kugel einzufangen. Mein erster Impuls war, die Treppe wieder hinaufzustürmen, aber dann öffnete ich die Tür neben mir so leise wie möglich, schlüpfte hindurch und lehnte mich mit klopfendem Herzen dagegen. Mein Puls raste. Ich presste die Hände mit aller Kraft gegen die Tür, um ihr Zittern zu unterdrücken, und für ein paar Sekunden war ich einfach nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war in Panik, ob ich es nun zugeben wollte oder nicht, und der Grund dafür war nicht einmal die unmittelbare Gefahr, in der ich mich zweifellos befand. Es war die vollkommene Ausweglosigkeit der Situation, in die Bach und seine perfide Organisation Kim und mich hineingezwungen hatten.

Doch mein Zorn auf Bach würde mich nicht hier herausbringen. Der Aufzug musste die vierte Etage mittlerweile fast erreicht haben und wer immer hinter mir die Treppe herauf kam, konnte auch nicht mehr allzu weit entfernt sein. Ich hatte weiß Gott dringendere Probleme, als mit dem Schicksal zu hadern.

Ich verschwendete noch eine weitere Sekunde, in der ich vergeblich nach irgendeiner Möglichkeit suchte, die Tür hinter mir abzuschließen, dann gab ich es endgültig auf und lief mit raschen Schritten den Flur hinunter. Es gab nur ein einziges Fenster, das sich noch dazu am anderen Ende des langen Ganges befand, aber ich widerstand der Versuchung zu rennen. Sollte irgendeiner der anderen Gäste zufällig aus seinem Zimmer kommen, würde er sich vielleicht an mich erinnern, wenn ich an ihm vorbeiging und man ihn später danach fragte; aber ganz bestimmt, wenn ich an ihm vorbeirannte.

Es trat niemand aus seinem Zimmer und auch die Aufzugtüren bewegten sich nicht, bis ich das Fenster erreichte. Und ich hatte abermals Glück: Offenbar nahm man es in Fort Worth mit den Bauvorschriften genauer als in den meisten anderen amerikanischen Städten, denn das Fenster führte direkt auf eine Feuertreppe hinaus. Rasch öffnete ich es, kletterte ins Freie und zog das Fenster sorgfältig hinter mir wieder zu, ehe ich den Abstieg begann. Drei Minuten später trat ich auf den Bürgersteig vor dem TEXAS hinaus, überquerte mit schnellen, aber nicht hastigen Schritten die Straße und betrat das Café. Kim saß am gleichen Tisch wie vorhin, trank einen Kaffee und sah so perfekt gelangweilt aus, dass ich mich für einen Moment lang ernsthaft fragte, ob ich mir ihren Anruf vielleicht nur eingebildet hatte.

Sie war nicht mehr allein. An dem zweiten Tisch am Fenster, der vorhin noch leer gewesen war, saß jetzt ein junges Paar, das sich angeregt unterhielt. Die beiden beachteten weder Kim noch mich, sondern schienen ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein. Sie wirkten vollkommen harmlos.

Ungefähr so unverdächtig wie Kimberley.

Ich setzte mich zu ihr, gab dem Kellner mit einem Wink zu verstehen, dass er mir noch einen Kaffee bringen sollte, und sah aus dem Fenster. Vor dem Hotel blieb alles ruhig. Wahrscheinlich waren Bach und seine Leute noch damit beschäftigt, nach Marcel und mir zu suchen.

»Nun, Liebling«, fragte Kimberley, eine Spur lauter, als vielleicht notwendig war, »wie ist es gelaufen?«

»Gut«, antwortete ich. »Ich glaube, dieser Marcel ist genau der Mann, den wir brauchen. Wir werden wohl ins Geschäft kommen. Aber die Konkurrenz ist auch hinter ihm her.« Ich sah an Kimberley vorbei zum Nachbartisch. Die beiden dort drüben nahmen noch immer keinerlei Notiz von uns. Wenn sie Schauspieler waren, dann die besten, die ich jemals gesehen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie harmlos.

Trotzdem senkte ich meine Stimme fast zu einem Flüstern, als ich weitersprach. »Wie viele sind es?«

»Bach, Steel und ein dritter Mann«, antwortete Kim.

»Nicht mehr?«

»Keine, die ich gesehen habe«, sagte sie. Lauter fügte sie hinzu: »Hat er dir ein Muster gezeigt? Ich meine: sensationelle Angebote haben viele, aber...«

»Keine Sorge. Sein Angebot ist seriös. Hier - sieh selbst.« Ich zog das Feuerzeug aus der Tasche, das mir Marcel gegeben hatte, reichte es ihr und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, wie sie es öffnen konnte. Kimberley warf einen raschen Blick in das Geheimfach, drehte ein paar Mal am Zündrad und wollte mir das Feuerzeug zurückgeben, aber ich schüttelte den Kopf.

»Behalt es. Wenn wir ins Geschäft kommen, bekommen wir hunderte davon... falls uns die Konkurrenz nicht dazwischenfunkt, heißt das.«

Das junge Paar am Nachbartisch stand auf und ging.

Wahrscheinlich waren sie nicht in der Stimmung, einem Handlungsreisenden zu lauschen, der seiner Freundin von einem großen Geschäft vorschwärmte, das er in Kürze abzuschließen hoffte.

Nachdem wir endlich alleine waren, atmete Kim hörbar auf. »Ich dachte schon, sie gehen nie«, seufzte sie. »Wie ist es gelaufen?«

»Nicht sehr gut«, antwortete ich. »Ich hoffe, Marcel ist ihnen entwischt. Der Mann weiß eine Menge. Wäre Bach eine halbe Stunde später gekommen...«

»Ich habe noch eine schlechte Nachricht«, sagte Kimberley mit einer Kopfbewegung auf das Radio, das in der Wand über der Theke angebracht war. Ich hatte dem Programm bisher keine Beachtung geschenkt, aber es schien sich nicht von dem zu unterscheiden, das alle Radiosender des Landes an diesem Tag ausstrahlten: klassische Musik und wenn überhaupt, dann nur melancholische, traurige Schlager.

»Sie haben es gerade in den Nachrichten gebracht. Es hat einen Mord gegeben. In dem Motel, in dem wir übernachtet haben.«

»Steel.« Ich hatte mich nicht getäuscht. Es war ein Schalldämpfer gewesen.

»Zwei Tote«, fuhr Kim fort. »Ein junges Ehepaar. Ich glaube, sie hatten das Apartment neben uns...«

»Dann hat er sich offenbar in der Tür geirrt. Oder wusste nicht genau, in welchem Apartment er uns findet. Er scheint sehr gründlich vorzugehen.«

»Aber das... das ist Wahnsinn«, murmelte Kim. Ihr Gesicht blieb unbewegt, aber in ihrer Stimme war ein Ton, der mich schaudern ließ. »Welcher normale Mensch würde so etwas tun?«

»Keiner«, antwortete ich. »Aber Steel ist kein normaler Mensch mehr.«

»So wie ich, wolltest du sagen.« Kims Augen wurden um einen Ton dunkler.

»Unsinn! Er ist...«

»Übernommen«, unterbrach mich Kim. Ihre Stimme war ganz ruhig. Kalt. »Besessen. Von einem Ganglion befallen... Nenn es, wie du willst, aber es läuft immer auf das Gleiche raus. Ihm ist dasselbe passiert wie mir.«

»Aber das ist doch nicht wahr!«, protestierte ich. Die unheimliche Dunkelheit in ihren Augen war noch immer da und in ihrer Stimme war etwas, das mich fast in Panik versetzte. »Steel und du, das... das sind zwei grundverschiedene Dinge! Dieses... Ding ist nicht mehr in dir! Es hat niemals Gewalt über dich erlangt. Ganz davon abgesehen, dass Steel wahrscheinlich schon vorher ein Psychopath war.«

Ich streckte die Hand über den Tisch, um nach ihren Fingern zu greifen, aber Kim zog den Arm zurück und deutete ein Kopfschütteln an. »Und meine Träume?«, fragte sie. »Und das andere? Wieso kann ich sie spüren? Wieso weiß ich Dinge, die ich eigentlich gar nicht wissen kann?«

»Hör endlich auf damit!«, unterbrach ich sie; anscheinend eine Spur zu laut, denn ich sah aus den Augenwinkeln, wie der Mann hinter der Theke für einen Augenblick in seiner Tätigkeit innehielt und stirnrunzelnd in unsere Richtung blickte. Ich rettete mich in ein verlegenes Lächeln und ein Achselzucken, ehe ich mich wieder an Kimberley wandte und erneut - allerdings viel leiser - sagte: »Hör auf damit, Schatz. Das ist nicht wahr und du weißt es. Sie haben dich nicht gekriegt. Wir haben das Ding früh genug aus dir herausgeholt. Du bist immer noch du!«

»Bin ich das?« Kim schluckte ein paarmal. Ihr Gesicht wirkte weiter unbewegt, aber ich spürte, dass sie nur noch mühsam die Tränen unterdrückte. »Weißt du, John, genau das ist es, was ich mich frage. Bin ich wirklich noch ich? Oder bin ich nur noch ein... ein Ding, das aussieht wie ich, denkt wie ich und sich einbildet, es wäre ich?«

»Hör auf damit«, sagte ich leise. »Bitte! Es ist alles in Ordnung. Warum quälst du dich so?«

Weil eben nicht alles in Ordnung war. Kim sagte nichts mehr, aber ich kannte die Antwort auf meine eigene Frage nur zu gut. Nichts war mehr so, wie es gewesen war, seit ich das Ding in der Kühlkammer im unterirdischen Labor von Majestic gesehen hatte. Selbst im Tode hatte mich der Anblick dieser Kreatur noch bis ins Innerste erschüttert. Und Kim hatte einen Teil dieses Wesens in sich gehabt. Wie konnte ich mir auch nur für eine Sekunde einbilden, dass sie dieses schreckliche Erlebnis mit einem Achselzucken abtun und anschließend zur Tagesordnung übergehen konnte, als wäre nichts geschehen?

»Sie kommen«, sagte Kimberley.

Ich sah zum Hotel hinüber. Bach, Steel und Phil Albano - der Mann, dessen Namen Kim nicht gekannt hatte - traten hintereinander aus dem Hotel. Sie waren nicht allein. Jesse Marcel ging mit steinernem Gesicht zwischen ihnen. Er hatte es nicht geschafft.

»Ist er das?«, fragte Kim.

»Marcel.« Ich nickte. »Verdammt!«

»Wer ist dieser Mann?«, fragte Kim in nachdenklichem Ton. »Er kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Vermutlich hast du sein Bild in der Zeitung gesehen«, antwortete ich, ohne Bach und seine Begleiter aus den Augen zu lassen. »Er war der offizielle Pressesprecher der Army damals beim Roswell-Zwischenfall.«

»Der Mann, der den Zeitungen erzählt hat, sie hätten Trümmerstücke eines UFOs gefunden?«

Ich nickte. »Und der am nächsten Tag in aller Öffentlichkeit zugeben musste, dass er dumm genug war, die Fetzen eines Wetterballons mit den Trümmern eines außerirdischen Raumschiffes verwechselt zu haben, ja.«

»Wozu sie ihn vermutlich gezwungen haben.«

»Nicht sie«, korrigierte ich. »Bach.«

»Dann dürfte er nicht besonders gut auf ihn zu sprechen sein«, vermutete Kim. Sie schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, wie viele Leben Frank Bach noch zerstört hat.«

»Unseres wird er jedenfalls nicht zerstören«, versprach ich. Bach und die anderen traten an den Straßenrand. Ich sah ohne eine Spur von Überraschung, wie eine große Limousine mit getönten Scheiben aus einer Parklücke nur ein paar Wagen entfernt ausscherte und vor ihnen wieder anhielt.

»Wie lange steht dieser Wagen schon da?«, fragte ich.

»Bach ist damit gekommen«, antwortete Kim. »Warum?«

Ich antwortete nicht, aber ich gestand mir ein, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte. Ich hätte einfach wissen müssen, dass Bach nicht mit einem Taxi gekommen war oder gar zu Fuß. Hätte in diesem Wagen dort drüben jemand gesessen, der mein Gesicht kannte, dann hätte Bach jetzt nicht einen, sondern drei unfreiwillige Begleiter. Ich hatte geglaubt, mich an das Leben auf der Flucht bereits gewöhnt zu haben. Aber die Wahrheit war wohl, dass ich noch eine Menge darüber lernen musste.

Falls mir genug Zeit dafür blieb.

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