Zweites Buch. Trajektoren

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 003/09:23:02

York driftete im Schlafsack. Sie war hundemüde, aber der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Ihr Steiß war wund, und sie verspürte einen dumpfen Kopfschmerz, als ob eine Erkältung im Anzug wäre. Plötzlich bekam sie Herzrasen, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie vermißte den Druck eines Kissens unter dem Kopf, die Sicherheit einer Decke, in die sie sich kuscheln konnte. Zudem war der Schlafsack zu groß: sie stieß laufend gegen die Innenseite. Und bei jeder Bewegung preßte sie das warme Luftpolster, das sich um den Körper gebildet hatte, aus dem Schlafsack und fröstelte infolgedessen.

Nachdem es ihr endlich gelungen war, sich zu entspannen, überkam sie das Gefühl des Falls. Einmal wäre sie fast im Schlafsack verschwunden, doch dann drifteten die Arme nach oben, und eine Hand berührte ihr Gesicht.

Sie schlug die Augen auf.

Sie steckte in der Schlafkabine an der Grundfläche des Missionsmoduls. Die Kabine war etwas größer als ein Schrank und wurde von einem Schirm abgeteilt. An der Fläche über ihr waren eine Lampe, ein Interkom und ein Ventilator. Dann gab es noch Schubladen für persönliche Dinge wie Unterwäsche. Die Laden waren mit Kunststoffnetzen bespannt, um zu verhindern, daß der Inhalt sich überall verteilte.

Licht und Lärm drangen durch den Schirm. Sie hörte das Summen und Surren der Ausrüstung des Missionsmoduls und das gelegentliche Feuern der Lage- und Bahnregelungs-Düsen, welche die Ares auf die Sonne ausrichteten. Bei dem hellen, anti septischen Licht der Messe hinter dem Schirm und dem Geruch nach neuem Metall und Kunststoff kam es ihr so vor, als ob sie versuchte, in einem großen Kühlschrank einzuschlafen.

Anscheinend hatte man ursprünglich geplant, die Schlafkabinen durch massive Türen abzuteilen. Sie erinnerte sich sogar an ein Memo, in dem zu lesen war, die Notwendigkeit der Schaffung einer Intimsphäre für die Astronauten sei >signifikant< - die für die NASA typische, ebenso vage wie euphemistische Ausdrucksweise, wenn es um die Funktion der warmen Körper ging, die zu solchen Kosten in den Weltraum befördert wurden. Doch die Türen waren zugunsten einer Gewichtsersparnis weggelassen worden. Soviel also zur Signifikanz.

Und nun - zu allem Übel - mußte sie auch noch pinkeln.

Sie versuchte den Druck auf die Blase zu ignorieren, doch er stieg weiter an. Mein Gott. Es war aber ihre eigene Schuld; die Fäkalienröhre - die Toilette des Missionsmoduls, die Abfallbeseitigungs-Station - war nämlich so umständlich zu bedienen, daß sie auf ihre Benutzung verzichtete. Zumal der Harndrang sich seit dem Eintreten in die Mikrogravitation verstärkt zu haben schien.

Sie fügte sich ins Unvermeidliche. Sie schälte sich aus dem Schlafsack, schaltete das Licht an und schob den Schirm zurück. Bei jeder Bewegung schmerzte ihr der Rücken wie die Hölle.

Nach dem TOI hatten die Ares-Module den ersten der >Tänze< aufgeführt, welche die Besatzung bis zum Abschluß der Mission würde ertragen müssen. Unter dem Kommando von Stone hatte Apollo mitsamt der Besatzung sich vom Trägersystem getrennt, gedreht und mit der Spitze voran am Missionsmodul angedockt.

Bei der Einweisung ins Missions-Profil hatte man ihnen gesagt, mit der Trennung und dem Andocken zu warten, bis das TOI erfolgt war. Darüber hatte York sich gewundert. Weshalb sollten sie warten, bis sie schon unterwegs zum Mars waren, ehe sie sich vom Mutterschiff lösten? Doch in Anbetracht der Katastrophenszenarien, welche die Planer der Mission zugrundelegten, ergab es in gewisser Weise doch einen Sinn. Falls die MS-II bei der TOI-Zündung explodiert wäre, hätte die Besatzung aus der Apollo aussteigen und mit dem Reserveantrieb zurückkehren können. Und falls die Zündung erfolgreich verlief, das Andocken aber nicht, wäre die Besatzung in der Lage, mit Hilfe des leistungsstarken Triebwerks der Betriebs- und Versorgungseinheit zur Erde zurückzukehren.

Jedenfalls war es der Besatzung nach dem erfolgreichen Andocken gelungen, durch den Kopplungstunnel zu kriechen und das Missionsmodul - ihr interplanetares Zuhause - zu beziehen.

York verdrängte die Frage, ob es überhaupt sinnvoll war, das Raumschiff im interplanetaren Raum zu demontieren.

Sie driftete in die Messe. Sie war leicht wie eine Feder und unverwundbar; sie befand sich geradezu in einem Zustand der Trance. Das Missionsmodul war natürlich viel größer als die Apollo-Kommandokapsel. Doch sie lernte, sich in dieser Umgebung zu bewegen und zu agieren. Bald merkte sie, daß sie keine hastigen Bewegungen ausführen durfte. Sonst stieß sie vielleicht mit der Ausrüstung zusammen, legte aus Versehen einen Schalter um oder beschädigte die Ausrüstung sogar. Überhaupt war Hektik unprofessionell. Sie lernte, sich mit der Grazie eines Tauchers zu bewegen.

Das war nicht schwer. Mikrogravitation war nur eine andere Umgebung, und sie würde sich ihren Bedingungen anpassen.

Die Messe mit dem kleinen Kunststofftisch und den drei mit Gurten versehenen Stühlen war sauber und leer. Die Kabine lag im hellen Schein der Deckenlampen. Wände und Böden waren nicht massiv, sondern bildeten ein Mosaik aus beschrifteten Schubladen und Fußhalterungen - Schlaufen aus Kunststoff -, und überall waren Klettverschlüsse. Es gab Richtungsanzeiger für >oben< und >unten<, Leitsysteme und Farbcodes. Alles war den Bedingungen in der Schwerelosigkeit angepaßt.

Das Ding sah aus wie eine Flugzeugkabine, sagte sie sich; überall Kunststoff, kompakt und durchdacht, alles an seinem Platz. Wie ein Wohnmobil für den Weltraum. Jetzt war die Einrichtung noch neu, und die Oberflächen hatten keinen Kratzer - doch nach ein paar Monaten würde das schon anders aussehen. Ein Großteil der Ausrüstung des Missionsmoduls war noch verstaut. Die Besatzung würde das Modul während der nächsten Tage einrichten und für den langen Flug konfigurieren müssen.

Die Entsorgungs-Station war eine kleine Kabine mit einer stählernen, verschraubten Toilettenschüssel, deren rustikale Ausführung an eine Latrine in einem militärischen Biwak erinnerte. Sie zog den Schirm zur Seite und drehte sich in der Luft. Dann ließ sie die Hose herunter und setzte sich auf die Schüssel. Gepolsterte Stangen klappten über die Schenkel, um sie auf dem Sitz festzuhalten.

Sie zog einen Schlauch aus der Vorderseite des Behälters. Dieser Schlauch würde den Urin in einen Tank leiten, dessen Inhalt dann im Weltraum entsorgt wurde. Der Schlauch rechtfertigte die aus der Apollo-Ära stammende Bezeichnung >Pissoir<, welche die Astronauten noch immer für die Entsorgungs-Station verwendeten. In einem Schrank neben ihr befand sich eine Reihe von farblich markierten Adaptern, um eine Verwechslung durch die Benutzer auszuschließen. Das war im Grunde unnötig, weil die Adapter ohnehin für die männliche beziehungsweise weibliche Anatomie konzipiert und somit unverwechselbar waren. Im Schrank roch es bereits, und der transparente Kunststoff der Aufsätze färbte sich gelb. Achtzehn Monate.

Sie verband den Adapter mit dem Schlauch, stülpte ihn über die intimen Teile und öffnete das Ventil zum Urinsammelbehälter.

Die Benutzung dieser Vorrichtung erforderte eine bestimmte Strategie - mit dem Zweck der Schmerzminimierung. Öffnete sie das Ventil zu früh, dann würde der Unterdruck auf sie wirken. Und wenn das Ventil sich wieder schloß, bestand die Gefahr, daß ein Teil von ihr darin verschwand. Um das zu vermeiden, mußte sie einen Sekundenbruchteil vor dem Öffnen des Ventils urinieren. Und dann mußte sie immer noch damit rechnen, daß der Adapter abrutschte und der Urin in goldenen Kügelchen durch die Gegend driftete.

Es kostete sie ein paar Sekunden der Überwindung.

Wo sie nun hier saß, erwog sie, auch den Darm zu entleeren. Rein mechanisch war das leichter als Urinieren. Dazu mußte sie die Schleuder aktivieren, eine rotierende Trommel unter der Schüssel. Der Kot würde an der Trommelwand abgelagert, und nachdem sie das Geschäft erledigt hatte, würde sie einen Schalter betätigen und die Trommel evakuieren. Der Kot würde dann gefriergetrocknet werden.

Obwohl sie einen Druck im Unterleib verspürte, war im Moment nichts zu machen. Es würde wohl ein paar Tage dauern, bis sie sich soweit entspannt hatte, um es zu schaffen. Außerdem fehlte hier die Unterstützung durch die Schwerkraft, wie die Kameraden ihr schadenfroh versichert hatten; sie sah der Verrichtung mit gemischten Gefühlen entgegen.

Sie nahm ein paar Naßtücher und säuberte das Innere des Adapters. Die Tücher hätten aus jeder Drogerie stammen können, wäre da nicht der strenge desinfizierende Geruch gewesen.

Sie entriegelte die Halterungen und stand auf. Dann hielt sie die Hände ins Waschbecken; hierbei handelte es sich um eine Kunststoffkugel, die ihre Hände mit Wasser besprühte, das anschließend in einen Sammelbehälter abfloß. Ein paar Tröpfchen entwichen aus dem Becken und kreisten ums Klo, doch sie holte sie mit Leichtigkeit aus der Luft. An der Wand hing eine Reihe Handtuchhalter in Gestalt kleiner, farblich markierter Gummi-Membranen: die Handtücher, deren Zipfel in die Halter gedrückt waren, hingen wie Flaggen in der Luft. Sie trocknete sich die Hände.

Plötzlich vernahm sie ein Geräusch und drehte sich um.

Ralph Gershon hatte die Messe betreten. Er war mit einem TShirt und einer kurzen Hose bekleidet. Er schwebte nur in der Kabine, eine Plastikdose Cola in der einen und einen silbergrauen Lithiumhydroxid-Kanister in der anderen Hand. Die Lithium-Kanister hatten den Zweck, der Luft Kohlendioxid zu entziehen, und die Behälter mußten regelmäßig überprüft und erneuert werden. Die Cola-Dose wies das bekannte rotweiße Design auf und hatte auch die übliche Größe und Form; die einzige Unregelmäßigkeit war der kleine Ausguß an der Oberseite.

Gershon führte einen Finger zum Mund - offensichtlich schlief Stone noch - und hielt ihr die Dose hin.

Sie schüttelte den Kopf. »Zuviel Kohlensäure.«

»Ja«, flüsterte er. »Coke hat eine Million Dollar berappt, um diese Dosen ins Missionsmodul zu schaffen, aber sie kriegen die Mischung einfach nicht richtig hin.« Nun jonglierte er mit den Lithium-Kanistern und Cola-Dosen, so daß sie mit Schwung von einer Hand zur anderen wirbelten. York hatte schon gemerkt, daß die Mikrogravitation wie ein dreidimensionaler Spielplatz für die Jungs war; Stone und

Gershon hatten den großen Werkstattbereich des Missionsmoduls kaum betreten, als sie auch schon Kapriolen machten, Purzelbäume schlugen und sich Ausrüstungsgegenstände wie Frisbees zuwarfen.

Gershons Blick schweifte immer wieder zu ihrer Brust.

Sie widerstand der Versuchung, die Arme vor dem Oberkörper zu verschränken. So ist das eben. Sie hatte einen Bestand an Büstenhaltern, und in Zukunft würde sie immer einen tragen, wenn sie die Schlafkabine verließ. Keine signifikante Beziehung auf dieser verdammten Mission.

Gershon schaute weg und nippte an der Cola.

»Was ist mit den Lithium-Zylindern?«

Er zuckte die Achseln. »Du kennst mich doch. Ich mache ab und zu ein Nickerchen. Im Moment bin ich nicht müde und sagte mir, daß ich nun meinen Kram erledigen könnte.« Er stieß ein keckerndes Lachen aus. »Ich habe sogar während des Andockmanövers ein Auge zugetan, mußt du wissen.«

Das entsprach der Wahrheit. Und nun war er hier bei York, die noch immer keine Ruhe fand, süffelte Cola, beäugte ihre Brust und erledigte seinen Kram.

»Du bist ein Arschloch, Ralph«, sagte sie mit Nachdruck.

Er grinste sie an. »Ich weiß übrigens, wie du dich fühlst.«

»Echt?«

»Sicher. Schweren Kopf, stimmt’s?«

»Ich weiß, woran das liegt. An der Schwerelosigkeit. Das Blut staut sich im Oberkörper und im Kopf.«

»Schau, wenn es zu schlimm wird, solltest du eine Pille nehmen.«

»Es geht schon.«

»Wie du meinst. Du hast einen wunden Rücken, nicht?«

»Ja.« Sie rieb sich den Steiß. »Woher weißt du das?«

»Du willst wissen, woher das kommt? Ich sag’s dir. Im Schlafsack bist du nie ganz stabilisiert. Du bist ständig in

Bewegung. Du driftest hierhin und dorthin. Und weißt du, wie der Körper darauf reagiert?«

»Sag’s mir.«

»Die Zehen verkrampfen sich. Wie kleine Kugeln.«

»Wieso?«

»Weil wir zwar zum Mars fliegen, aber immer noch gottverdammte Affen sind, die befürchten, jeden Moment vom Baum zu fallen. Und daher kommen auch die Rückenschmerzen.«

»Und was soll ich dagegen tun?«

»Entspann dich.« Er grinste. »Halt dich warm und entspann dich. Und, Natalie. Nimm eine Augenmaske und Ohrenstopfen, wenn es dir hilft. Ich werd’s schon nicht weitersagen.«

Sie zog sich in ihre Kabine zurück. Ich werde eh nicht mehr einschlafen. Ich sollte Gershons Beispiel folgen und mein Tagewerk verrichten. Doch sie schlüpfte wieder in den warmen Schlafsack, schaltete das Licht aus und streckte sich.

In einer bewußten Anstrengung streckte sie die Zehen aus. Sofort wichen die Rückenschmerzen. He, was sagt man dazu? Das Arschloch hatte recht.

Sie schloß die Augen.

Mittwoch, 24. Mai 1972 Moskau

Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken:

Die Betrachtung der Rolle, welche die USA und die UdSSR bei der Erforschung und Nutzung des Weltalls für friedliche Zwecke spielen;

Das Streben nach einem weiteren Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den USA und der UdSSR bei der Erforschung und Nutzung des Weltalls für friedliche Zwecke;

Eine Bilanz der positiven Kooperation, welche die Parteien bisher in diesem Bereich vereinbart haben;

Das Bestreben, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche aus der Erforschung und Nutzung des Weltalls für friedliche Zwecke resultieren, den Völkern der beiden Länder und allen Völkern der Erde zugänglich zu machen;

Die Berücksichtigung der Klauseln des Vertrags über die Grundsätze in bezug auf die Aktivitäten bei der Erforschung und Nutzung des Weltalls, einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper, ebenso wie das Abkommen zur Rettung von Astronauten, der Rückkehr von Astronauten und der Rückkehr von ins Weltall geschossenen Objekten;

Gemäß dem am 11. April 1972 unterzeichneten Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über den Austausch und die Zusammenarbeit auf den Feldern der Wissenschaft, Technik, Bildung, Kultur und anderen sowie zur Portentwicklung des Grundsatzes der zum beiderseitigen Vorteil gereichenden Kooperation zwischen den beiden Ländern;

haben folgende Vereinbarung getroffen.

ARTIKEL 3 (von 6)

Die Parteien sind übereingekommen, Projekte für die Entwicklung kompatibler Rendezvous- und Andocksysteme für amerikanische und sowjetische bemannte Raumschiffe und -stationen durchzuführen, um die Sicherheit bemannter Flüge ins All zu erhöhen und den Boden für die gemeinschaftliche Durchführung von Experimenten in der Zukunft zu bereiten. Der erste Experimentalflug zur Erprobung dieser Systeme ist für die zweite Hälfte der Dekade geplant und sieht das Andocken eines amerikanischen Raumschiffs vom Typ >Apollo< an einer sowjetischen Raumstation vom Typ >Saljut< und/oder einem sowjetischen Raumschiff vom Typ >Sojus< an einer amerikanischen Raumstation vom Typ >Skylab< vor, mit Besuchen von Astronauten im Raumschiff und in der Raumstation der jeweils anderen Seite. Die Umsetzung dieser Projekte erfolgt auf der Basis der Prinzipien und Prozeduren, die gemäß der Zusammenfassung der Ergebnisse der Konferenz der Repräsentanten der Nationalen Luft- und Raumfahrtbehörde der USA und der Akademie der Wissenschaften der UdSSR hinsichtlich der Entwicklung kompatibler Systeme für Rendezvous und Andockmanöver von bemannten Raumschiffen und Raumstationen der USA und der UdSSR vom 6. April 1972 entwickelt werden...

Auszug aus der Absichtserklärung, unterzeichnet von Präsident Richard M. Nixon und dem Vorsitzenden des Ministerrats der Sowjetunion, A. N. Kossygin. Veröffentlichte Dokumente des Präsidenten der Vereinigten Staaten: Richard M. Nixon, 1972 (Washington, DC: Presseamt der Regierung, 1972)

Samstag, 28. Oktober 1972 University of California, Berkeley

Ben Priest rief sie nach Mitternacht an.

»Es ist vorbei, Natalie. Ich sagte mir, das würde dich vielleicht interessieren. Wir haben Mariner verloren.« Sie setzte sich im Bett auf. »Oh! Wie kommt’s?«

»Die Sonde hatte weitere Aufnahmen von Tharsis und Syrtis Major gemacht, und die Bilder waren auch schon auf Band. Doch dann mußte Mariner sich neu positionieren, um für die

Übertragung der Bilder die Hochleistungsantenne zur Erde auszurichten, und - futsch. Nichts. Der Brennstoff für die Steuertriebwerke war verbraucht. Dadurch haben wir fünfzehn Bilder verloren.

Aber was mich wirklich fuchst«, knurrte er ins Telefon, »ist, daß Mariner noch Brennstoff an Bord hat; nur eben am falschen Ort - in den Tanks für die Bremsraketen und nicht in den Tanks für die Steuertriebwerke. Wir hätten jedoch Leitungen legen können, um den Sprit von den Bremsraketen zu den Steuertriebwerken zu leiten. Damit hätten wir die Lebensdauer von Mariner um ein Jahr verlängert.«

»Aber.«

»Aber es hätte noch mal dreißigtausend Klicker gekostet. Bei einer Hundert-Millionen-Dollar-Mission. Die paar Piepen waren ihnen anscheinend zuviel.«

»Ach, Ben. Es hat wohl niemand damit gerechnet, daß Mariner überhaupt so lange durchhalten würde. Die Planung hatte gerade einmal neunzig Tage vorgesehen.«

»Vielleicht. Aber wenn ich das geahnt hätte, hätte ich die dreißig Riesen aus eigener Tasche bezahlt. Und dann haben die Wichser auch noch Viking plattgemacht!«

Sie mußte lachen. »Komm schon, Ben. Das klingt gar nicht nach dir. Du bist doch der große >Mann-auf-dem-Mond<-Held. Mit den dreißigtausend Mäusen ist wahrscheinlich dein Gehalt gezahlt worden.« Das war grundsätzlich richtig; die unbemannte Erforschung des Mars war eingeschränkt worden, wobei die eingesparten Mittel in die bemannte Raumfahrt flossen.

»Es ist eine Frage der Prioritäten, Natalie. Es ist nicht das verlorene Jahr, das mich fuchst; es sind diese fünfzehn gottverdammten Bilder. Da sind sie nun dort oben auf dem gottverdammten Band gespeichert.

Wir mußten einen letzten Befehl ‘raufschicken, damit Mariner den Sender abstellt.«

O Gott. Die arme, tapfere kleine Sonde. Sie drückte das Kissen gegen das Gesicht, um nicht ein brüllendes Gelächter auszustoßen. Schließlich war es gerade ein paar Tage her, seit sie Ben in einer ähnlichen Stimmung angerufen hatte, nachdem sie den Abend über den aktuellen Umfrageergebnissen gebrütet hatte, die Nixon einen erdrutschartigen Sieg über McGovern verhießen. »Wie lang wird Mariner noch im Orbit bleiben?«

»Fünfzig Jahre.«

»Nun, vielleicht haben wir bis dahin ein bemanntes Raumschiff zum Mars geschickt. Du wirst selbst hinfliegen, Ben. Vielleicht wirst du dir auch die Bilder holen. Und vielleicht wirst du sogar die alte Sonde selbst bergen. Wer weiß?«

Sie hörte sein Lachen. »Sicher. Wir bergen sie und hängen sie ins Museum, wo sie hingehört.«

»Was steht nun für dich an, Ben?«

Sie hörte ihn seufzen. »Apollo-N. Die Testflüge für NERVA. Irgendwann in Wolkenkuckucksheim.«

»Wenigstens werdet ihr, du und Mike, euch vielleicht jetzt öfter sehen. Und vielleicht werde ich euch beide auch öfter sehen.«

»Vielleicht. Aber bis zu den Flügen ist es noch lang hin, Natalie.«

»Ich sollte noch etwas schlafen, Ben.«

»In Ordnung. Gute Nacht, Natalie.«

»Ja. Dir auch, Ben.«

Sie lag hellwach in der Dunkelheit.

Mike war tausend Kilometer von ihr entfernt. Er ging in der Entwicklung von NERVA auf. Wie Ben bereits angedeutet hatte, geriet das verdammte Projekt schon wieder ins Rutschen.

Überhaupt, so wurde ihr bewußt, war es zwischen ihnen nie mehr so gewesen wie an jenem Tag des Jahres 1969, als sie mit Mike und Ben nach Jackass Flats hinausgefahren war.

Sie hatte versucht, mit Mike darüber zu sprechen. Für sie war es mehr gewesen als eine schlichte Diskussion, war über die leidenschaftlichen Debatten hinausgegangen, die ihr in der Vergangenheit ein solches Vergnügen bereitet hatten. NERVA war symbolisch für das Unbehagen, das sie angesichts der Art und Weise empfand, wie ihr Land geführt wurde. Schließlich schien Mike das auch erkannt zu haben. Widerwillig hatte er ihr Pläne für die Rückhaltung des radioaktiven Wasserstoffs und für eine sicherere Endlagerung der ausgebrannten Kernbrennstäbe gezeigt.

Nur daß das auch nichts geholfen hatte. Mike war wohl so intelligent, daß er erkannte, was sie störte, doch es war auch klar, daß es ihm nicht wichtig war; nicht so wichtig jedenfalls wie der erfolgreiche Abschluß des Projekts.

Sie liebte Mike. Glaubte sie zumindest. Und er liebte sie. Doch sie wußte auch, daß ihre ständige Trennung und die unterschiedliche Bewertung solcher Projekte wie NERVA einen Keil zwischen sie trieb.

Sie erinnerte sich, daß sie ein halbes Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten, nach Jackass Flats gefahren waren. Und das war mittlerweile drei Jahre her. Vielleicht sollte sie dieses glückliche halbe Jahr als Ausnahme und nicht als Regel betrachten.

Inzwischen hatten die Geologen in Flagstaff die ersten detaillierten Karten vom Mars erstellt - vier Monate, nachdem

Mariner in den Orbit um den Mars gegangen war. York hatte sich Exemplare dieser Karten besorgt und brütete nun darüber.

Der Mars warf alle bisherigen Vorstellungen über den Haufen.

Der Mars war asymmetrisch. Die südliche Hemisphäre war angeschwollen, und das mit Kratern förmlich perforierte Land erhob sich deutlich über Normalnull. Die nördliche Hemisphäre lag größtenteils unter Normalnull und war viel glatter als der Süden. doch im Norden lag Tharsis.

Tharsis war eine Beule im Planeten, deren Größe und Form der Fläche von Südafrika entsprach. Es war, als ob ein Viertel der gesamten Marsoberfläche durch titanische Kräfte angehoben worden wäre. Die Beule befand sich in einem >Spinnennetz< aus Rissen und Spalten: östlich von Tharsis, in der Coprates-Region, zog sich ein Schluchtensystem fast um ein Viertel des Planetenumfangs.

Das alte, kraterübersäte Gelände im Süden wurde von Rinnen und Kanälen durchzogen, die möglicherweise von fließendem Wasser in die Oberfläche gefräst worden waren. Doch heute war kein Wasser auf der Oberfläche zu erkennen, das zur Schaffung solcher Gräben imstande gewesen wäre. Vielleicht war das Wasser verdunstet oder befand sich in unterirdischen Reservoirs.

Das war es, was für sie den Reiz des Mars ausmachte, diese Mischung aus Mondlandschaft und erdähnlichen Witterungsverhältnissen, eine Kombination, die eine außergewöhnliche Welt ergab: sie glich weder der Erde noch dem Mond, sondern hatte eben die charakteristischen Eigenschaften des Mars.

Doch sie hatte damit nichts zu tun.

Sie hatte schon lange erkannt, daß die Arbeit, die sie verrichtete, keine glanzvolle, aber wenigstens eine solide Karriere begründete. Ihre Zukunft lag wahrscheinlich in der kommerziellen Geologie, und sie würde ihr Leben auf Ölfeldern oder in Bergwerken verbringen. Sie konnte sich schon einmal auf Hitze und Kälte, Klapperschlangen, Kuhmist und giftige Pflanzen einstellen.

Kurzum: ihr Berufsleben würde todlangweilig werden.

Sie würde Mike nie sehen. Sie interessierte sich nicht einmal für ihre Arbeit. Und inzwischen verbrachte sie ihre Freizeit damit, in der Phantasie geologische Erkundungen auf der pockennarbigen Oberfläche des alten Mars durchzuführen.

Es lief darauf hinaus, sagte sie sich mit vorbehaltloser Offenheit, daß ihr Privatleben seit Jahren stagnierte. Wie ihr Berufsleben.

Irgendwo im Innern spürte sie den Keim einer neuerlichen Entschlossenheit, wie ein Staubkorn, um das eine neue Zukunft sich kristallisiert.

Ich muß näher an diese Mars-Sache ran. Nicht für Mike, nicht einmal für Ben Priest. Für mich.

Vielleicht gab es eine Möglichkeit. Vielleicht erhielt sie im Raumfahrtwissenschaftlichen Laboratorium hier in Berkeley eine Anstellung, in diesem großen weißen Gebäude auf dem Gipfel des Grizzly Peak.

Sie stieg aus dem Bett, grub den Schnellhefter mit Fotos vom Mars aus und widmete sich wieder dem Studium der erodierten Krater.

Donnerstag, 7. Juni 1973

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston (das ehemalige Zentrum für Bemannte Raumfahrt)

Phil Stone war der erste, der die Weiterungen von Segers Aussage begriff.

»Mein Gott«, sagte er. »Sie wollen uns zum Mond schicken. Richtig?«

»Ja. Ja, das ist richtig. Das habe ich vor. Ich will Ihnen eine Saturn V geben und Sie in einen Orbit um den Mond schicken.«

Chuck Jones starrte Seger an, wobei sein breites Gesicht sich vor Erstaunen in Falten legte. »Natürlich wollen Sie das.«

Für lange Sekunden saßen die drei schweigend da.

Stone war wie betäubt; in diesem sterilen, nüchternen Büro, noch dazu am frühen Morgen, vermochte er eine solche Neuigkeit nicht zu verarbeiten.

Skylab B, die zweite Saturnmission im Erdorbit mit der Arbeitsbezeichnung >Nasse Werkstatt< sollte Stones erster Flug ins All werden. Er hatte sich schon seit Monaten auf die wissenschaftlichen und praktischen Anforderungen der Mission vorbereitet. Und nun wollte Seger alles über den Haufen werfen und ihn zum Mond schicken? Mein Gott.

Seger befingerte die Spange am Revers. »Sie müssen das größere Bild im Auge haben. NERVA steht wieder auf der Kippe. Das Testprogramm wurde eingestellt, wodurch wiederum Mittel für eine Saturn V frei wurden. Und wir müssen sie nutzen, denn sonst verlieren wir sie. Also will ich sie nutzen, um euch Jungs damit auf eine Mondumlaufbahn zu schicken.«

Stone runzelte die Stirn. »Die Saturn V ist doch gerade für den bemannten Raumflug bestimmt. Wie sollen wir sie dann verlieren?«

Seger zuckte die Achseln. »Wir haben die Kiste zwar gebaut, aber wir haben noch nicht das Geld, um sie auch fliegen zu lassen.«

»Wir können nicht zum Mond fliegen«, knurrte Chuck Jones. »Wir warten noch immer auf das J-2S.« Stationen für den Mondorbit waren zwar geplant, doch die Umsetzung würde noch ein paar Jahre auf sich warten lassen. Zuvor mußte die S-IVB umfassenden Modifikationen unterzogen werden: das modernisierte J-2S-Haupttriebwerk, die Erhöhung der Nutzlastkapazität, eine automatische Trimmung für den Schwund in den Brennstofftanks, elektrische Heizdecken und Mylar-Isolierung, zusätzliche Batterien, eine modernisierte Elektronik. »Die beschissene S-IVB hat nicht mal genug Leistung, um aus eigener Kraft auf eine Mondumlaufbahn zu gelangen.«

»Nein, hat sie nicht. Aber die Leistung reicht trotzdem aus. Sehen Sie.« Seger hatte ein paar Hochglanzbroschüren auf dem Schreibtisch liegen, die er nun verteilte.

Stone überflog sein Exemplar. Es handelte sich um eine Zusammenfassung einer alten McDonnell-Douglas-Studie mit der Bezeichnung LASSO. Aus ihr ging hervor, wie man unter Zuhilfenahme von Saturn-Komponenten im Mondorbit Stationen unterschiedlicher Komplexität und Masse einrichten konnte. Die Broschüre bestand durchweg aus isometrischen Graphiken, farbigen Darstellungen und fettgedruckten Textabschnitten. Und natürlich war das Elaborat - schließlich war es vom Hersteller der S-IVB erstellt worden - über die Maßen optimistisch: ein paar der projektierten Daten gehörten bereits der Vergangenheit an.

»Sehen Sie Abschnitt 1.« Seger wies auf die entsprechende Stelle in der Präsentation. »Hieraus ist ersichtlich, daß wir in der Lage sind, auch ohne das modernisierte J-2S eine Station in die Mondumlaufbahn zu bringen.«

Auf den ersten Blick verlief der Start einer Saturn V wie bei einer Apollo. Doch anstelle einer Mondlandekapsel würde das Zusatztriebwerk ein Luftschleusen-Modul befördern, das an der Vorderseite der dritten Stufe angebracht war.

Die S-IVB würde das Raumschiff zum Mond schicken. Wie bei den Mondlandungen. Doch wenn die dritte Stufe ausgebrannt war, würde sie nicht abgestoßen werden. Die Apollo würde abkoppeln und über die Kopplungsöffnung an der leeren Stufe andocken. Dann würde die Mehrstufenrakete einer langen Raumflugbahn mit geringem Energiebedarf zum Mond folgen: anderthalb Tage länger als die dreitägigen der Landemanöver. Schließlich würde das Haupttriebwerk der Betriebs- und Versorgungseinheit von Apollo die Rakete abbremsen und auf eine Umlaufbahn um den Mond bringen.

Die leere Stufe würde in etwa das gleiche Gewicht und die gleichen dynamischen Eigenschaften haben wie eine beladene Mondlandekapsel. Also wäre eine Apollo durchaus in der Lage, sie auf eine Mondumlaufbahn zu bringen. Die einzigen Modifikationen, die noch an der S-IVB vorgenommen werden müßten, würden sich auf die übliche Passivierungs- und Neutralisierungs-Ausrüstung beschränken - Ausrüstung, um die Stufe von einem trockenen Brennstofftank zu einer ArbeitsStation umzurüsten - sowie Träger und Gestelle für die Ausrüstung. Man würde Vorräte für einen vierwöchigen Aufenthalt auf der Mondumlaufbahn hinaufschicken und die Station anschließend für spätere Besatzungen modifizieren.

Je eingehender Stone sich mit der Materie befaßte, desto mehr war er von der Durchführbarkeit überzeugt. Es wäre, so wurde ihm bewußt, zu schaffen. Aber...

»Wieso?«

Jones schaute von seiner Lektüre auf; Seger musterte Stone mit durchdringendem Blick.

»Wieso was?«

»Wieso tun wir das überhaupt, Bert? Im Grunde ist das nur eine Spritztour in den Weltraum. Wir müssen wegen der Gewichtseinsparung so viele Geräte weglassen, daß Skylab B bei den wissenschaftlichen Projekten deutliche Abstriche machen muß.«

»Ich kenne die Problematik, Phil. Aber wir können den ganzen Kram doch auch mit dem zweiten Flug hochschicken, oder? Dann wird bei Ihrem Flug der Schwerpunkt eben eher auf der Flugerprobung als auf der Wissenschaft liegen.« Seger war ein dünner Mann mit einer intensiven Aura. Er hatte schwarzes, zurückgekämmtes Haar und einen dunklen Teint; Stone ging er jedenfalls auf die Nerven. »Wenn Sie einmal auf meinem Stuhl sitzen, Phil, müssen Sie den Nutzen für das Programm als Ganzes im Auge haben. Sie dürfen den Blickwinkel nicht nur auf Ihre Mission verengen. Ja, es ist eine Spritztour. Aber was für eine. Sie wird uns wieder an die Spitze katapultieren.«

Jones kam nun auf das Training für die Erdorbit-Missionen zu sprechen, das sie inzwischen abgeschlossen hatten. »Und was ist mit den Russen?« Die Sowjets hatten den Vorschlag unterbreitet, im Erdorbit mit einem Sojus-Raumschiff an Skylab-B anzudocken. »Es würde schon an ein Wunder grenzen, diese Spritztour in eine Rendezvous-Mission im Mondorbit zu verwandeln«, sagte Jones. »Ich meine, die Russkis haben bisher noch keinen einzigen Kosmonauten über den Erdorbit hinausbefördert.«

»Die Sowjets behaupten noch immer, daß sie in ein paar Jahren zumindest in der Lage wären, ein Schiff auf eine Mondumlaufbahn zu schicken - innerhalb der Lebensdauer der Station«, sagte Seger. »Dann wäre das also zu schaffen. Und selbst wenn es nicht zu schaffen ist, könnten wir die Sache mit den Russen vielleicht zu einem schlichten Andockmanöver mit einer Apollo im Erdorbit reduzieren. Davon abgesehen, vergessen Sie die Russen einmal. Chuck, Sie werden Neuland betreten und eine Raumstation im Mondorbit ausrüsten. Niemand hat bisher auch nur etwas annähernd Vergleichbares unternommen. Ich sagte mir, daß diese Herausforderung Sie vielleicht reizen würde.«

Jones machte einen nachdenklichen Eindruck.

Stone wußte, daß Seger die richtigen Knöpfe drückte, was Jones betraf. Die Vorstellung deprimierte ihn.

Bis zu einem gewissen Punkt vermochte Stone sich sogar in Seger hineinzuversetzen. Paradoxerweise war die Moral der NASA seit der Mars-Entscheidung gesunken. Viele Mitarbeiter hatten an dem eingestellten Raumfähren-Programm gearbeitet, das sie als technische Herausforderung begriffen hatten. Im Vergleich hierzu basierten die Skylabs auf dem Stand der Technik der frühen Sechziger. Außerdem hatten die ständigen Etatkürzungen den Elan der NASA ohnehin gebremst.

Wenn man die Raumfahrtindustrie betrachtete, arbeiteten gerade einmal hunderttausend Leute an den verschiedenen Raumfahrtprogrammen, verglichen mit dem Spitzenwert von einer halben Million während der Apollo-Phase. In Houston, Marshall und den anderen Zentren wurden sogar Entlassungen geplant.

Inzwischen war die NASA wegen der ersten orbitalen Raumstation, Skylab 1, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Pete Conrad hatte die erste Mission zur Inbetriebnahme von Skylab geleitet. Die zweite Mission hatte militärischen Charakter gehabt, um das Verteidigungsministerium nach der Streichung der Raumfähre zu besänftigen. Ken Mattingly, ein ApolloVeteran, hatte eine Mannschaft aus militärischen Astronauten geführt - >Raumfahrt-Pioniere< - und im Rahmen eines Geheimprogramms Spionagesatelliten, Strahlungsmeßgeräte und verschlüsselte Nachrichtenstrahlen getestet. Die bisherigen NASA-Flüge hatten bewußt vor den Augen der Öffentlichkeit stattgefunden - eine Politik, die auf Kennedy zurückging.

Der US-Nachrichtendienst hatte inzwischen erfahren, daß sowjetische Kosmonauten in Saljut-Schiffen als Beobachter bei Manövern in Sibirien fungiert und den Kommandeuren auf dem Schlachtfeld in Echtzeit taktische Informationen übermittelt hatten.

Viele Leute waren über die Militarisierung des Weltalls unglücklich und betrachteten diese Entwicklung als Verrat an den hehren Prinzipien von Apollo. Und Jack Kennedy hatte öffentlich dagegen protestiert.

Also hatte Seger vielleicht recht damit, daß ein Flug ins All die Moral der Nation heben würde. Dennoch blieb es eine Spritztour.

Stone hatte selbst eine militärische Ausbildung. Doch hatte er sich nicht aus dem Grund am Raumfahrtprogramm beteiligt, um Spione im All zu plazieren oder waghalsige Einsätze zu fliegen. Für ihn stellte dieses Vorhaben einen faulen Kompromiß dar. Die Wissenschaft wurde auf dem Altar der Politik geopfert. Wie in den alten Zeiten.

Und in seinen Augen sprach das nicht gerade für Segers Urteilsvermögen.

Nun beendete Seger die Diskussion. »Chuck, Phil, eine solche Gelegenheit müssen Sie beim Schopf packen. Ein Flug zum Mond ist jetzt genau das Richtige. Die Nation braucht dringend ein Erfolgserlebnis: in dieser Minute sagen zwei Mitarbeiter des Weißen Hauses vor dem Senat gegen den Präsidenten aus. Und was die Risiken betrifft - erinnern Sie sich, daß Apollo 8 schon bei der zweiten bemannten Apollo-Mission zum Mond geflogen ist, mit der ersten bemannten Saturn V und der ersten V, die nach der unbemannten Apollo 6 geflogen ist, die immerhin ein Fehlschlag war.«

Nun verstand Stone. Seger hatte seine Biographie gelesen. Hier ist Berts Apollo 8. Zurück zum Mond! Ein grandioser Flug: er würde Geschichte schreiben. Und Skylab B soll dafür geopfert werden.

»Bedenken Sie nur«, sagte Seger, »welchen Auftrieb uns das geben wird, wenn Sie Erfolg haben.«

»Wenn, Bert«, sagte Jones. »Wenn.«

Nachdem er noch einmal darüber nachgedacht hatte, war Stone auch nicht glücklicher.

Aber er wollte ins All fliegen. Wenn er diese Kröte schlucken mußte, um das zu erreichen, dann würde er sie eben hinunterwürgen.

Zumal - wie Stone mitten in der hektischen Trainingsphase erkannte - ihm die Vorstellung gefiel, zum Mond zu fliegen.

Freitag, 20. Juli 1973 Mason City, Iowa

Der Artikel ging über die ganze Breite der gestrigen Ausgabe der Washington Post. Ralph Gershon saß in der öffentlichen Bibliothek seiner Heimatstadt und las den Artikel immer wieder durch.

...Amerikanische B-52-Bomber haben in den Jahren 1969 und 1970 während einer Reihe von Einsätzen etwa 104000 Tonnen Bomben über kommunistischen Stützpunkten im neutralen Kambodscha abgeworfen... Das Pentagon hatte die geheime Bombardierung am Montag bestätigt, nachdem ein ehemaliger Major der Luftwaffe berichtet hatte, daß er Berichte über Lufteinsätze über Kambodscha gefälscht und Unterlagen über die tatsächliche Anzahl der Bombenangriffe vernichtet hatte...

Ralph Gershon fühlte eine tiefe Befriedigung. Endlich kam es ans Licht.

Er war davon überzeugt, daß dieser subversive Kram in den letzten Jahren seine Karriere behindert hatte. Vielleicht hatte das auch seine zaghaften Bemühungen zunichte gemacht, ins Raumfahrtprogramm aufgenommen zu werden. Das - und seine Hautfarbe. Vielleicht hatten manche Leute auch Angst, daß er auspacken würde, wenn er ins Rampenlicht der Öffentlichkeit trat. Wenigstens wurde nun alles publik, und niemand vermochte das zu verhindern.

Er traf eine Entscheidung, während er im stickigen Lesesaal der Bibliothek saß. Ihm gegenüber saß ein alter Mann, der schlief und dem Speichel aus dem Mundwinkel rann. Sobald er wieder bei seinem Geschwader war, würde er sich erneut bei der NASA bewerben.

Bevor er ging, las er noch, daß Ehrlichman und Haldeman vor dem Senat würden aussagen müssen. Endlich, sagte er sich: endlich bekam dieses Arschloch Nixon die Quittung.

Erosion durch Sintfluten auf dem Mars und auf der Erde

Ronald R. Victor (Fachbereich für Geologie, University of Texas, Austin), Natalie B. York (Raumfahrtwissenschaftliches Laboratorium, University of California, Berkeley)

Erschienen: 18. März 1974; überarbeitet: 6. Oktober 1974.

INHALTSANGABE:

Die großen Mars-Kanäle, insbesondere Kasei, Ares, Tiu, Simud und Mangala Valles, verfügen über morphologische Merkmale, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Rinnen des Kanalisierten Scablands< aufweisen. Merkmale des vorherrschenden Musters sind die beachtliche Größe,

regionale Querverbindungen und ein gerader Verlauf der Kanäle. Erosionsmerkmale sind stromlinienförmige Hügel, längliche Rinnen, innere Kanal-Katarakte, in Fließrichtung abgeschliffene Hindernisse und vielleicht marginale Katarakte sowie Restberg- und Becken-Topographie. Ablagerungen in Form von Säulenkomplexen in ausgedehnten Gebieten und vielleicht Hängesäulen beziehungsweise Nischensäulen. >Scabland<-Erosion findet statt bei tiefen Gewässern mit hoher Fließgeschwindigkeit, die auf massiven Gesteinsuntergrund wirken, als eine hydrodynamische Folge sekundärer Fließphänomene, einschließlich verschiedener Formen makroturbulenter Strudel und Fließtrennungen. Falls die Analogie zu den >kanalisierten Scablands< korrekt ist, sind auf dem Mars Fluten mit einem Wasserdurchsatz von Millionen Kubikmetern pro Sekunde und einer maximalen Fließgeschwindigkeit von mehreren Dutzend Metern pro Sekunde aufgetreten, deren Dauer jedoch vielleicht nur ein paar Tage betragen hat...

Aus Das Bulletin der Geophysikalischen Forschung, Band 23, pp. 27-41 (1974). Copyright 1974 Academia Press, Inc.; alle Rechte vorbehalten.

Juli 1976

Jet Propulsion Laboratory, Pasadena

Später würde York sich sagen, daß ein paar Tage im Sommer 1976 einen Scheideweg in ihrem Leben markiert hatten.

Im folgenden wurde sie von der Entwicklung förmlich überrollt, als ob ein neues Schicksal ihrer harrte.

York lechzte nach Wasser. Obwohl sie sämtliche Scheiben heruntergekurbelt hatte, war es im Auto so heiß wie in der

Hölle. Die Sonnenbrille rutschte, und wenn sie den Ellbogen zum Wagenfenster hinaussteckte, bekam sie gleich einen Sonnenbrand.

Sie fummelte am Lenkrad herum und wartete auf Ben Priest.

In ihrem ziellosen, chaotischen Leben war er eine Art ruhender Pol.

Sie hatte ein Riesenposter vom Mars an die Wand ihres Schlafzimmers geheftet, ein Schwarzweiß-Mosaik, das aus fünfzehnhundert Fotos von Mariner 9 zusammengesetzt war. Die Erhebung des Olympus Mons befand sich mitten auf dem Bild. Zumindest hatte das Poster dort gehängt, bis Mike sie aufgefordert hatte, es abzunehmen. Er sagte, Olympus Mons sähe aus wie eine riesige Brustwarze.

Und nun stand sie vor den Toren des JPL und durfte nicht hinein, weil sie keinen Sicherheitsausweis hatte - sie kam sich vor wie ein Groupie, das sich einen Blick auf die neuen sowjetischen Bilder von der Marsoberfläche erhoffte.

Wenigstens erschien nun Ben Priest. Mit dem ergrauenden Bürstenhaarschnitt war er jeder Zoll ein Soldat. Er hatte einen dicken Aktenordner dabei, auf dessen Deckel ein blaues NASA-Logo geprägt war. Obwohl er sich in der Hitze im Trott bewegte, schwitzte er nicht. Das gestärkte kurzärmlige Hemd strahlte blütenweiß im Sonnenlicht.

Diesmal war es ihm nicht gelungen, ihr Zutritt zum Labor zu verschaffen. Die Bilder, welche die Sowjets vom Mars sendeten, waren Verschlußsache.

Ben setzte sich auf den Beifahrersitz. »Ich hab’s.«

Sie griff nach dem Ordner. »Gib her.«

»Teufel, nein. Ist das vielleicht eine Art, einen alten Freund zu begrüßen? Gehen wir erst einmal irgendwohin, wo es kühler ist. Solange hat der Mars auch noch Zeit.«

Sie unterdrückte ihre Neugier. Das wäre unhöflich, Natalie. Und schließlich war das Ben. Sie startete den Wagen. »Wo ist die nächste Bar?«

»Nur die Wasserlöcher, wo die Jungs vom JPL ‘rumhängen. Ich möchte mal meine Ruhe vor ihnen haben.«

»Ich bin im Holiday Inn abgestiegen. Es ist nur ein paar Minuten von hier.«

»Nix wie hin.«

Sie fuhr los.

»Mike wollte doch auch mitkommen«, sagte Ben.

»Ja, aber er hat es dann doch nicht geschafft. Er ist zu tief in den Auspuff einer NERVA 2 ‘reingekrochen.« Oder vielleicht auch in seinen eigenen Arsch, sagte sie sich düster.

»Du weißt, daß das NERVA-Projekt noch immer nicht richtig auf Touren kommt. Mein Flug mit Apollo-N ist wieder einmal aufgeschoben worden, und.«

»Mike erzählt mir überhaupt nichts. Zumal die Hälfte sowieso geheim ist.«

»So läuft’s eben in der NASA. Und wie geht’s meiner allerliebsten Geologin so?«

Sie grunzte und korrigierte den Sitz der Sonnenbrille. »Beschissen, wenn du die Wahrheit hören willst. Mein Professor in Berkeley - Cattermole - ist ein widerlicher Furzer.«

Priest lachte. »Kannst du nicht etwas deutlicher werden?«

»Cattermole setzt sich zwar innerhalb des Fachbereichs durch und beschafft Fördermittel. Aber das war’s dann auch schon. Er ist so dumm wie Bohnenstroh. Seine Projekte sind ebenso lausig wie seine Methodik. Er betrachtet das Raumfahrtwissenschaftliche Labor von Berkeley bloß als Meißel, mit dem er Geld aus der NASA ‘rausklopft. Wenn ich das vorher gewußt hätte, dann hätte ich einen großen Bogen um den Mann gemacht.«

»Aber du hast doch sowieso nur einen Zeitvertrag.«

»Ja, und dann muß ich mich um einen neuen bemühen.«

»Du schaffst das schon. Wenn du es denn willst. Du bist ein kluges Mädchen, Natalie.«

»Komm mir nicht so von oben herab, du Arschloch.«

Er lachte wieder.

»Ja, ich werde schon etwas finden. Vielleicht bekomme ich sogar irgendwo eine Assistentenstelle. Aber.«

»Aber du glaubst nicht, daß die Geologie die Erfüllung für dich ist.«

»Ich weiß nicht, Ben. Vielleicht nicht.« Nicht einmal die Bearbeitung der Mars-Daten befriedigte sie.

»Was wäre die Alternative?«

»Nun, die Ölgesellschaften haben viele Stellenangebote für Geologen. Das Gehalt ist ordentlich, und man ist viel unterwegs.«

Ben sagte nichts. Als sie ihm einen Blick zuwarf, verzog er das Gesicht.

Das brachte sie auf. »Was soll ich denn sonst tun, du Klugscheißer?«

Er grinste und klopfte auf den Ordner auf seinem Schoß. »Das ist doch offensichtlich. Dein Problem ist, daß vor dir schon Tausende von Geologen in Alaska waren.«

»Also?«

»Ich kenne einen Ort, an dem bisher noch kein einziger Geologe war. Dein Problem ist, daß du auf dem falschen Planeten arbeitest.«

Die Bar im Holiday Inn war ziemlich voll. Es war der fünfte Juli, der Tag nach der Zweihundertjahrfeier. Wimpel hingen an den Wänden, und aus gegebenem Anlaß gab es noch andere Dekorationsgegenstände: ein paar Zeitungsfotos von der >Operation Sail<, der großen Regatta im Hafen von New York und vergilbte Handzettel für diverse Veranstaltungen.

York erspähte einen Tisch in der Ecke. Als Ben ging, um die Getränke zu holen, schnappte sie sich den Ordner und breitete die sowjetischen Bilder auf dem Tisch aus.

Bei den ersten Bildern handelte es sich um Fotomontagen für PR-Z wecke: das Modell einer Mars 9-Landekapsel auf einer Nachbildung der Marsoberfläche. Die Kapsel schlug auf die Oberfläche auf, nahm die Form einer Kugel an und fuhr dann vier Träger mit Instrumenten und Antennen aus. In der Endphase glich die Kapsel einer geöffneten Blüte mit einem Durchmesser von etwa einem Meter.

Ben kam mit den Getränken zurück: Bierflaschen, die noch mit einer glitzernden Reifschicht überzogen waren.

Sie schob die PR-Fotos über den Tisch. »Sieh dir nur diesen Mist an. Roter Sand und blauer Himmel.«

Er lachte. »Das kannst du den Sowjets nicht anlasten. Wir hatten doch selbst mit einem solchen Anblick gerechnet. Das Problem ist nämlich, daß wir uns den Mars als Ebenbild der Erde wünschen.« Er nahm eins der Bilder. »Ist ihre Marslandekapsel nicht trotzdem schön?«

»Ja, sicher«, knurrte York. »Aber Viking wäre noch viel schöner gewesen. Viking hätte stereoskopische Kameras, eine vollwertige meteorologische Station und vier biologische Experimentalträger gehabt. Und Voyager wäre ein richtiges Fahrzeug gewesen.« Voyager, eine schwere Marssonde, die von einer Saturn V ins All geschossen werden sollte, war den Etatkürzungen von 1967 zum Opfer gefallen, und die Viking-Landekapseln waren 1972 gestrichen worden. »Stell dir das mal vor. Wenn wir diese sowjetische Sonde nach einem Flug von ein paar hundert Millionen Kilometern sehen wollen, ist sie nicht da. Traurig.«

Er hob die Hände. »Was soll ich dazu sagen. Wie dem auch sei, so schlechte Arbeit haben die Sowjets nun auch wieder nicht geleistet.«

»Wir hätten es besser gemacht, Ben. Das weißt du auch.«

Um diesen Effekt zu erzielen, hätte die NASA nur eine weitere Mariner-Sonde einsetzen müssen, die hochauflösende Aufnahmen von der Landezone hätte machen und eine Gesteinsprobe mit Atmosphäreneinschluß nehmen können. Es war wie das Mondprogramm der sechziger Jahre; das unbemannte wissenschaftliche Programm war den operativen Erfordernissen der anstehenden bemannten Mission völlig untergeordnet worden. Die mit hochwertigen Kameras bestückte neue Mariner war keine wissenschaftliche Sonde, sondern ein >Fernspäher< für die bemannten Missionen. Und wir hätten wenigstens zwei Vikings hochschicken können.

Inzwischen schickten auch die Sowjets ihre primitiven Sonden zum Mars, jedoch mit einer rein wissenschaftlichen Ausrichtung. Eigentlich hatten die Sowjets schon seit 1960 alljährlich Sonden zum Mars geschickt. Von den diesjährigen Sonden hatte Mars 8 versagt, doch Mars 9 hatte am Vortag die ersten Aufnahmen von der Oberfläche zur Erde gefunkt - am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Die erste Marslandekapsel der Menschheit hatte den Sowjets einen gewaltigen Propagandaerfolg beschert.

Priest holte noch mehr Bilder aus dem Ordner. »Hier. Das wolltest du doch sehen.«

Sie griff sich die Aufnahmen und sichtete sie begierig. Die Bilder waren aufgrund der geringen Auflösung körnig. Aber sie waren in Farbe. Bald war der Tisch mit Bildern von verkrustetem, rostbraunem Mars-Regolith, einem felsigen Horizont und einem rosafarbenen Himmel bedeckt.

»Diese Bilder sind nur für den Dienstgebrauch am JPL bestimmt«, sagte Ben. »Die Sowjets haben sie uns zukommen lassen, weil wir ihnen Mariner-Aufnahmen ihrer Landezone in Hellas zur Verfügung gestellt hatten. Du hast sie also nie gesehen. In Ordnung?«

»Sicher.« Ihr Herz schlug höher. »Meine Güte, Ben, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darüber freue. Ich hätte sonst Monate gebraucht, um an diese Aufnahmen zu kommen.«

Er berührte flüchtig ihre Hand; seine Hand war kühl und trocken, und die Berührung erschreckte sie irgendwie. »Es bedeutet mir viel, dich so zu sehen, mußt du wissen.«

Sie schaute auf ihre Hand, die von der seinen umschlossen wurde. Sie war verwirrt und spürte einen Widerstreit der Gefühle. Dann war ihre komische Beziehung mit Ben Priest also immer noch komisch.

Sie zog die Hand zurück. Sie wollte nicht mehr daran denken. Nicht, wenn sie den Mars vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

Die sowjetische Landekapsel saß inmitten einer weiten, gewellten Landschaft aus einem ockerfarbenem Material. Felsbrocken waren zwischen flachen Dünen verstreut. In ihren Augen bestand eine Ähnlichkeit mit den Steinwüsten Nordafrikas, Nordamerikas und Asiens. Ein paar Aufnahmen zeigten Ausrüstungsgegenstände der Landekapsel selbst: einen geöffneten Instrumententräger, der auf dem Boden ruhte, ein paar Geräte rustikaler sowjetischer Machart und ein paar weißlackierte Kästen, die mit dem rosigen Himmel kontrastierten. Ein anderes Foto zeigte einen Greifarm für die Entnahme von Proben, der gleichsam im Triumph gen Himmel gereckt war. Sie erkannte Gräben, die der Arm aus dem sandigen Regolith gebaggert hatte.

Es wirkte höchst real, und die Steine waren so plastisch abgebildet, daß sie versucht war, in die Bilder zu greifen und die Steine aufzuheben.

»Natalie? Ist alles in Ordnung?«

Sie schaute zu ihm auf. Er verschwamm vor ihren Augen, und sie spürte, daß eine warme Flüssigkeit ihr die Wange hinunterlief.

»Natalie?«

»Ja.« Mit einer Serviette wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Entschuldigung.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

»Ich hatte eben das Gefühl, dort zu sein. In dieser Landekapsel, auf dem Mars.«

Ich weiß genau, wo ich bin.

Ich bin in Hellas. Einem der tiefsten Einschlagbecken auf dem Planeten.

Es ist kurz vor der Sonnenwende: im tiefsten Winter, hier in der südlichen Hemisphäre des Mars.

Die rötliche Oberfläche ist mit Felsbrocken übersät. Dort drüben zwischen den Dünen erkenne ich etwas, das nach Einschlagkratern aussieht. Diese Dünen bestehen offenbar aus Flugsand. Und ich erkenne noch weitere Windeffekte, zum Beispiel diese Spuren aus feinkörnigem Sand, die sich zwischen den Felsen hinziehen. Das sagt mir, daß der Wind hier konstant aus einer Richtung weht.

Doch es ist auch offensichtlich, daß die Morphologie der Landschaft nicht allein auf Erosion und Windablagerungen beruht. Dort drüben erkenne ich Abschnitte einer harten, gefritteten Oberfläche. Gefrittet bedeutet eine Kruste aus Mineralsalzen, ein Endprodukt der Verdampfung.

Es hat hier Wasser gegeben, das die Oberfläche geformt hat...

Er bestellte noch ein paar Biere, und sie trank, bis sie beschwipst war.

»Und nun schau dir das mal an.« Ben legte ihr eine Fotokopie vor. »Das ist der Hit.«

Sie überflog den Text. Es handelte sich um ein Manuskript von Boris N. Petrow, Biowissenschaftler und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Der Bericht war zurückhaltend formuliert und in der Fachsprache einer Disziplin abgefaßt, die ihr nur ansatzweise vertraut war. Obendrein wies der Text noch die offizielle sowjetische Sprachregelung auf.

Sie legte das Papier aus der Hand. »Es ist so verdammt vage. Ich werde kaum schlau daraus.«

»Ja.« Er schwenkte das Glas. »Allerdings sind die Resultate genauso vage. Beim biowissenschaftlichen Experiment wird ein Gaschromatograph-Massenspektrometer verwendet.«

»Wir hätten das besser gemacht. Viking wäre mit.«

»Ja, ich weiß. Wie dem auch sei, der GCMS hat nach organischen Molekülen im Regolith gesucht.«

»Und?«

»Der GCMS hat nichts gefunden, Natalie.«

»Nichts? Aber das ist unmöglich.«

Organische Moleküle waren nicht notwendigerweise ein Nachweis für Leben. >Organisch< bedeutete lediglich >auf Kohlenstoffbasis<. Trotzdem waren organische Moleküle eine notwendige Vorstufe für erdähnliches Leben, und man hatte erwartet, daß sie auch auf dem Mars vorkamen; organische Substanzen waren sogar in Meteoriten von der Peripherie des Sonnensystems gefunden worden.

»Die Jungs am JPL vermuten, daß auf dem Mars ein Prozeß abläuft, der organische Verbindungen zerstört«, sagte Ben. »Ultraviolette Strahlen von der Sonne vielleicht.«

»Dann ist die Oberfläche also sterilisiert.« Sie war am Boden zerstört. Ihr wurde bewußt, daß sie wider alle Vernunft gehofft hatte, auf die eine oder andere Lebensform zu stoßen. Vielleicht eine robuste Flechte, die sich in den Windschatten eines Felsens krallte. »Der Mars ist tot.«

»Sollte ein renommierter Wissenschaftler wie du wirklich solche voreiligen Schlüsse ziehen?« Er brachte ein weiteres Papier zum Vorschein. »He, hör dir das mal an. Es stammt von ihrem Meteorologen-Team. Die Winde am späten Nachmittag wehten wieder vorwiegend aus östlichen Richtungen. Erneut drehten die Winde nach Mitternacht auf Südwest und wehten für einen Zeitraum, der zwei Zyklen zu entsprechen scheint, mit geringen Abweichungen aus dieser Richtung. Die maximale Windgeschwindigkeit betrug sieben Meter pro Sekunde, doch es wurden auch Böen mit Spitzengeschwindigkeiten von etwa dreizehn Metern pro Sekunde registriert. Das TemperaturMinimum, gemessen bei Einbruch der Dämmerung, entsprach fast dem Wert vom Vortag: minus sechsundneunzig Grad Celsius. Das Maximum, gemessen um vierzehn Uhr sechzehn Ortszeit, betrug minus dreiundvierzig Grad - zwei Grad kälter als zur gleichen Zeit am Vortag. Der mittlere Druck. Mein Gott, Natalie, das ist ein Wetterbericht vom Mars.«

Sie schaute zu ihm hoch. Er hatte einen sanften Ausdruck auf dem Gesicht, und die blauen Augen schienen geradewegs in sie hineinzublicken.

Seit Jahren, so sagte sie sich, hatte sie Kurs auf Ben Priest genommen - vielleicht auf diesen Moment -, wie ein steuerloses Raumschiff auf der Flugbahn zum Zielplaneten.

Sie rückte an ihn heran und beugte sich über die Fotos vom Mars. Ihre Lippen berührten sich sanft, fast furchtsam. Seine Haut war kühl und etwas rauh. Sie drückte sich wieder an ihn, und diesmal wurde es ein richtiger Kuß.

Das hat verdammt lang gedauert. Ben Priest und der Mars. Es war eine passende Kombination.

Schließlich lösten sie sich wieder voneinander.

Er tätschelte ihr die Wange. »Wie, zum Teufel, komme ich denn dazu?«

»Die Sowjets senden Bilder von der Marsoberfläche«, sagte sie. »Das ist ein großer Tag für uns und die Menschheit. Vielleicht sogar ein Schritt in der Evolution. Wie sollte man das sonst feiern?« Sie holte den Zimmerschlüssel aus der Tasche ihrer Bluse. »Komm.«

Ben war schon lang eingeschlafen, und York war immer noch wach. Es war eine höllische Nacht gewesen; die Dunkelheit war mit Wärme und Feuchtigkeit gesättigt. Die Laken lagen lose auf ihr und hinterließen ein klammes Gefühl auf der Haut. Sie hörte das Ticken des Weckers neben dem Bett und das Knarren der sich abkühlenden Rolläden. Aufnahmen der Mars 9 und Computerausdrucke waren am Fußende des Betts auf dem Boden verstreut, und obendrauf lagen die Kleider.

Sie spürte die Wärme von Ben neben sich. Ben war um den Mond geflogen, und nun lag er hier, in ihrem Bett.

Sie erinnerte sich an Bens Frage. Woher, zum Teufel, kommt das denn? Genau das war die Frage. Und wohin gingen sie nun?

Sie fragte sich, ob sie ihn auf Karen und die Kinder ansprechen sollte.

Er hatte sie nicht erwähnt; York wußte nicht einmal, wo Karen sich im Moment aufhielt. Er hatte ihr nur gesagt, daß sie Probleme mit ihrem Sohn hatten: der junge, enthusiastische Petey hatte sich zu einem Peter gewandelt, einem schwierigen Siebzehnjährigen, der die Wände seines Zimmers schwarz gestrichen - und die Bilder von den Sternen und Astronauten überpinselt hatte. Er verbrachte nun mehr Zeit damit, Alice Cooper zu hören als sein Vater.

Ben sprach zwar kaum darüber, aber sie sah ihm an, daß es ihm Kummer bereitete. Ben sprach überhaupt kaum von seiner Familie.

Und York war ein heuchlerisches Arschloch. Vor ein paar Stunden war Karen ihr noch scheißegal gewesen.

Würde Ben Karen jemals verlassen? Offensichtlich waren sie schon lang zusammen. Und sie war eine Seemannsbraut gewesen. Karen hatte Ben geheiratet, obwohl sie wußte, daß sie oft allein sein und sich um ihn Sorgen machen würde. Vielleicht glaubte Ben, ihr Loyalität zu schulden.

Und wenn er sie verließ - was dann? Würde York ihn überhaupt wollen?

Und was war mit Mike?

Es war, so sagte sie sich, ein einziges Chaos. Es war schwer zu verstehen, daß eine Person mit einer derart ausgeprägten Rationalität und Logik nicht imstande war, ihre Beziehungen zu einer Handvoll Leute zu regeln.

Sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern hob den Ordner vom Boden auf und vertiefte sich in den Inhalt der sowjetischen Akte.

Sie stieß auf RSF-Ergebnisse. Das RöntgenstrahlenFluoreszenz-Gerät hatte eine Analyse der Zusammensetzung des Mars-Regolith zur Erde übermittelt. Sie überflog die Analyse. Siliziumdioxid: fünfundvierzig Prozent; Eisenoxid: achtzehn Prozent. Es gab reichlich Silizium, Eisen, Magnesium, Aluminium, Kalzium und Natrium. Allerdings wichen die prozentualen Anteile von irdischem Gestein ab. Eisen überwog. Kalium hingegen kam kaum vor. Das war wohl signifikant; es bedeutete nämlich, daß das Marsgestein homogener war als das irdische Gestein, das durch die Erdwärme getrennt wurde. Vielleicht hatte der Mars gar keinen Nickel- und Eisenkern wie die Erde.

Sie fluchte stumm und erging sich dann in Spekulationen. Diese Daten waren nicht repräsentativ. Die sowjetische Landekapsel war nämlich nur an einem Punkt des Planeten heruntergegangen, dessen gesamte Oberfläche der Fläche der irdischen Landmasse entsprach. Und sie mußte sich nur das Foto des Greifarms ansehen, um seinen begrenzten Nutzwert zu erkennen. Er vermochte nur loses, bröckliges Material einzusammeln, das die Geologen als fines bezeichneten. Das genügte aber nicht für ein vollständiges Bild.

Wir brauchen jemanden, der mit Spaten und Hammer aus der Landekapsel steigt.

Nachdem sie die anfängliche Enttäuschung nun überwunden hatte, waren die biowissenschaftlichen Ergebnisse ihr egal. Es war die Geologie, die sie faszinierte; das Leben war schließlich nur die >erste Ableitung< der Geologie. Dennoch wäre gegen ein positives biowissenschaftliches Ergebnis auch nichts einzuwenden gewesen. Wenn irgendein Vieh auf Siliziumbasis vor der verdammten russischen Kamera herumgehopst wäre, würden wir schon morgen zum Mars fliegen. Ein fossiler Trilobit hätte aber auch schon genügt.

Sie erinnerte sich an die unscharfen Bilder von Mariner 4. Und an die erstaunlichen Bilder von Phobos und Olympus Mons, die von Mariner 9 stammten. Durch diese Sonden hatte die Menschheit in den letzten zehn Jahren mehr über den Mars gelernt als im Verlauf der bisherigen Geschichte. Sie war froh, in einer solchen Zeit zu leben, wo so viele alte Geheimnisse gelüftet wurden.

Glücklich. Vielleicht.

Doch es war, als ob sie den Lockruf des Mars hörte.

Sie legte die Berichte aus der Hand. Sie mußte aufhören, sich selbst etwas vorzumachen. Dieses Tröpfeln von Daten war nicht genug. Sie wollte die nächsten dreißig Jahre nicht so verbringen, wie sie die letzten drei verbracht hatte: über körnigen Mariner-Bildern brüten und Hypothesen aufstellen, die zu beweisen sie nie imstande sein würde. Ich will zum Mars fliegen, verdammt. Ich will mich mit allen vieren auf den steinigen Boden niederlassen, einen Graben ausheben und die behandschuhten Finger in die Erde graben. Ich will den rosigen Himmel und die Zwillingsmonde sehen, den Gipfel von Olympus Mons besteigen und an der Kante des Volles Marineris stehen...

Der Mars, der Zug um Zug seine Geheimnisse preisgab, übte einen verführerischen Reiz auf sie aus. Ihr wurde nun bewußt, daß Ben das schon früher erkannt hatte als sie selbst. Ganz zu schweigen von Mike, der ohnehin kaum über seinen eigenen Tellerrand hinausblickte.

Doch der Traum, die Ambitionen an sich, waren nicht das Problem. Das Problem war, daß sie als >Seiteneinsteiger< eine Chance hatte, zum Mars zu fliegen. Ben wurde nicht müde, ihr zu erzählen, daß sie das richtige Alter und die richtige Qualifikation hätte, um sich bei der NASA zu bewerben.

Das Problem war, daß sie es vielleicht wirklich versuchen würde. Doch in dem Moment, wo sie in die NASA eintrat und zum Mars zu fliegen versuchte, würde sie ihr ganzes Leben wegwerfen. Sie würde wieder zur Schule gehen und ein ebenso endloses wie sinnloses Training mit diesen Arschlöchern von der NASA absolvieren müssen, und sie würde vielleicht ein paar Jahre im Erdorbit verbringen und Arbeiten verrichten müssen, die mit ihrer eigentlichen Ausbildung nichts zu tun hatten.

Und es würde wahrscheinlich auch bedeuten, daß sie nie Kinder haben würde.

Wollte sie das alles wirklich opfern und sich einer solchen Strapaze unterziehen, nur für die vage Chance, auf den Hängen von Tharsis umherzuspazieren?

Doch es juckte sie in den Fingern, im Dreck zu wühlen und die lockere Kruste der Marsoberfläche abzutragen.

Am nächsten Tag wollte sie sich mit Mike treffen. Sie hatte in Los Angeles ein Hotelzimmer reserviert, das ihnen für einige Zeit als Liebesnest dienen sollte.

Nach der letzten Nacht hatte sie jedoch ein schlechtes Gefühl wegen der Besprechung oder Verabredung oder wie auch immer sie es in diesem Stadium der Beziehung zu Mike nennen sollte. Aber dann entschied sie sich doch, ihn zu besuchen; sie glaubte, keine andere Wahl zu haben.

Vor dem Abschied kramte Ben einen Zettel aus der Jackentasche. »Hier«, sagte er. »Für dich.«

Achtzehn Stunden später, im Hotelzimmer in LA, massierte York die Spannung aus Mikes Schultern, und schließlich schlief er ein.

York hingegen lag hellwach da.

Sie war steif und fror ein wenig, und die zerknitterten Laken drückten im Rücken. Die wohltuende Wirkung der Schnäpse aus der Mini-Bar war verflogen, und nur ein schaler Nachgeschmack geblieben.

Über eins mußte sie mit Mike noch reden.

Sie öffnete die Nachttischschublade und holte Bens Zettel heraus.

Im weichen Glühen der Lichtsplitter an der Decke vermochte sie den Text nicht zu lesen, erkannte aber ein paar Bilder: das berühmte Foto von Joe Muldoon auf dem Mond, die behandschuhte Hand auf der Brust, und kleine schematische Grafiken von Raumschiffen, die im Sonnensystem umherflogen. An der Rückseite war ein Bewerbungsbogen zum Abtrennen; sie fuhr mit dem Finger über die Perforation.

Der Handzettel war im Auftrag der NASA von der Nationalen Akademie der Wissenschaften herausgegeben worden und hatte den Titel Verwendungsmöglichkeiten für Wissenschaftler als Astronauten« Er malte die Zukunft im All in leuchtenden Farben: erweiterte Laboratorien im Erd- und

Mondorbit, permanente wissenschaftliche Stationen auf der Oberfläche, als Fortsetzung der ersten zaghaften Schritte von Apollo. Und dann wurden die Ziele der NASA über den Mond hinaus dargelegt: die erste bemannte Mars-Mission,

Umkreisungen der Venus - und bemannte Flüge zu den

Asteroiden und den Jupiter-Monden.

Es war ein Bewerbungsbogen für einen Astronauten.

Erst hatte sie den Zettel schon wegwerfen wollen. Sie war zutiefst enttäuscht von diesem Müll: typische NASA-

Träumereien, die ein unbegrenztes Budget und politische Unterstützung voraussetzten. Und dafür sollte sie ihre Karriere opfern und ein Jahrzehnt ihres Lebens wegwerfen? Schließlich war nichts an diesem erstaunlichen Programm real.

Nichts davon. Außer vielleicht dem Mars.

Die Probleme waren hinlänglich bekannt: Mikes NERVA-Programm lag Jahre hinter dem Zeitplan zurück, es waren Verzögerungen in der Entwicklung des neuen Saturn

Zusatztriebwerks eingetreten, und das Projekt der Marslandekapsel war unterfinanziert und hatte immer noch keine klare Zielsetzung. und so weiter. Am Ende, falls der NASA überhaupt ein Erfolg beschieden war, würde der Flug zum Mars wahrscheinlich so ablaufen wie der Flug zum Mond: nicht im Rahmen einer langfristigen, integrierten Strategie der Erforschung des Sonnensystems, wie dieses Flugblatt suggerierte, sondern als riskante, singuläre Aktion. Eine andere Arbeitsweise schien angesichts der Organisationsstruktur der NASA auch nicht möglich.

Dennoch waren Fortschritte zu verzeichnen, und die Finanzierung schien zumindest mittelfristig gesichert. Jimmy Carters Einstellung zur Raumfahrt mußte sich erst noch erweisen, aber Ben hatte ihr gesagt, Fred Michaels, der NASA-Direktor, hätte sein Gewicht hinter Ted Kennedy als Vizepräsident in die Waagschale geworfen und ihm geholfen, die Nominierung gegen Walter Mondale zu sichern - der sich schon seit den sechziger Jahren als Kritiker des Raumfahrtprogramms profiliert hatte. Carter und Kennedy galten nun als klare Favoriten für die Wahlen im November. Und dann würden die Dinge besser stehen für Michaels, mit seinen Verbindungen zu den Demokraten und den Verbündeten unter den Kennedys inner- und außerhalb des Weißen Hauses.

Die NASA, so schien es, war noch immer auf Kurs zum Mars.

Sie hatte am Abend mit Mike darüber reden wollen.

Irgendwie war das Thema aber nicht zur Sprache gekommen.

Sie legte den Handzettel wieder in die Schublade.

Mike neben ihr bewegte sich, wachte aber nicht auf. Er war ihr zugewandt; dunkles Haar rahmte sein Gesicht. Er schlief wie ein Kind, sagte sie sich: auf dem Bauch, die Arme um den Kopf und das Gesicht auf der Seite. Im Schlaf war die Anspannung aus dem Gesicht gewichen, und er sah nun etliche Jahre jünger aus als vierunddreißig.

Sie hatte Mike in den letzten Monaten kaum gesehen. Er erstickte förmlich in Arbeit. In ein paar Monaten würde NERVA 2 die Phase A-Entwicklung abgeschlossen haben und sich einer Projektprüfung unterziehen müssen. Dann würde Phase B - Produktion und Operation - anlaufen. Die ersten unbemannten Probeflüge waren für 1978 vorgesehen, und die vorläufige Musterzulassung - die nach dem ersten bemannten Flug erteilt wurde - sollte bis Mitte 1979 vorliegen.

Doch Mikes Leuten war es noch immer nicht gelungen, dem neuen Triebwerk eine dokumentierte Brenndauer von mehr als ein paar Sekunden zu entlocken.

Mike machte das sehr zu schaffen. Er hatte nun schon seit Wochen fünfzehn bis achtzehn Stunden am Tag gearbeitet. Er war hager geworden, die Augen lagen tief in den Höhlen und waren dunkel gerändert; seine Kleidung und seine Frisur waren unordentlich. Sie wußte nicht, ob das seine persönliche Befindlichkeit widerspiegelte oder den Umstand, daß viele der Probleme bei den Kühlsystemen auftraten, für die er verantwortlich war.

Weil sie noch immer keinen Schlaf fand, schaltete sie das Fernsehgerät ein.

Eine Folge von Star Trek flimmerte über den Bildschirm. Die Warp-Triebwerke hatten mal wieder einen Defekt, und Mr. Scott kroch mit einem Schraubenschlüssel durch eine Art Glasröhre.

»Wenn es so einfach wäre«, nuschelte Mike. Er hatte den Kopf gehoben und schielte verschlafen auf das Fernsehgerät.

»Ich wollte dich nicht aufwecken, Scotty.«

Er griff nach einer Zigarette. »Möchtest du etwas zu trinken?«

»Nein. Ich glaube, der Brandy hält mich wach.« Der Geruch von kaltem Rauch stieg ihr in die Nase; er erinnerte sie an ihre Mutter. »Es gibt Zeiten wie diese, da wünschte ich mir, ich würde rauchen.«

»Denk nicht mal dran«, grunzte er.

Sie fragte sich, ob sie ihm vom Bewerbungsformular in der Schublade erzählen sollte.

Doch er schaute auf die Uhr. »Ich wäre eh aufgewacht. Sie müßten nun wieder einen Probelauf machen. Ich scheine eine Art inneren Wecker zu haben, der mich in solchen Momenten weckt, selbst wenn ich dreißig Kilometer vom Testgelände entfernt bin.«

»Die Zündungen. Die Probeläufe. Immer diese abgefuckten Tests. Mike, wenn du dich nicht irgendwie entspannst, wirst du noch verrückt.«

Er stieß den Rauch aus. »Ich glaube, wir sind jetzt schon ein bißchen verrückt.«

Das Problem war, daß es Teil der >Unternehmenskultur< der NASA geworden war, die Leute so anzutreiben. Wir alle haben acht Jahre lang achtzehn Stunden pro Tag gearbeitet, um einen Menschen mit Apollo zum Mond zu schicken, und wenn wir das wieder tun müssen, um zum Mars zu kommen, dann werden wir es, verdammt noch mal, eben wieder tun. Doch es waren Fehler bei Apollo gemacht worden, und diese Fehler hatten Menschenleben gekostet.

Sie legte die Hand auf seine. Sie war verkrampft, fast zur Faust geballt. Sie streichelte seine Knöchel.

»Hör mal. Ich habe nachgedacht. Wir sollten uns öfter sehen.«

»Teufel, das weiß ich auch. Aber was sollen wir dagegen tun? Wir haben von Anfang an gewußt, was auf uns zukommt.«

Sie suchte nach Worten. »Aber ich glaube, daß unser Leben irgendwie leer ist, Mike; wir vernachlässigen uns zu sehr. Es gibt zu viele Dinge, die uns ablenken.« Sie deutete ins Hotelzimmer. »Wir brauchen mehr als neutrales Territorium wie das hier. Wir brauchen etwas Dauerhaftes. Ich glaube, wir sollten uns einen Ort suchen, an dem wir leben.«

Er stieß eine Rauchwolke aus. »Wo denn? Wir können doch schon froh sein, wenn wir für mehr als vierundzwanzig Stunden im selben Staat sind.«

Es ärgerte sie, wie er ihre Initiative abwürgte. »Ich weiß. Auf das >wo< kommt es nicht an. Überall. Hier oder vielleicht in Berkeley. Und es käme nicht einmal darauf an, ob das verdammte Haus für Dreiviertel des Jahrs leersteht. Es wäre unser Haus, Mike; darum geht es. Es wäre eine Art Basis für uns. Im Moment haben wir nur das Holiday Inn. Ich glaube nicht, daß das genug ist.« Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, um Gottes willen.

Er drückte die Zigarette aus und beobachtete sie; derweil wurde Captain Kirk, von beiden unbemerkt, mit einer neuen

Krise konfrontiert. »Du bist eine verrückte Frau, Natalie York.«

»Vielleicht. Was willst du damit sagen?«

»Wieso jetzt? Ich meine, es kommt überhaupt nicht darauf an, wie wir unser Leben leben und wie oft wir uns sehen. Du wirst deine Karriere doch sowieso nicht aufgeben.«

»Natürlich nicht, und du doch auch nicht.« Sie zupfte an seinen Fingern. »Aber darum geht es gar nicht.«

Worum geht es dann, Natalie? Welcher Urinstinkt hat das an die Oberfläche gebracht, nach dieser langen Zeit?

Und ausgerechnet in dem Moment, wo du einen Weg einschlagen willst, der dich vielleicht für immer von der Erde wegführt...

Sie hatte gewiß noch nicht verarbeitet, was vergangene Nacht geschehen war.

Vielleicht war das - die Nacht mit Mike - nur eine Art, Ben zu bewältigen, sagte sie sich düster.

Und wenn das stimmte, was bedeutete das dann für sie und Mike?.

Mein Gott. Was für ein Chaos.

Das Telefon klingelte. Bei dem schrillen Geräusch zuckte sie zusammen.

»Meine Güte.« Er streckte den Arm aus und nahm den Hörer ab. »Hallo?. In Ordnung, ich komme.« Er legte auf.

»Mike.«

Er war schon halb aus dem Bett und suchte die Unterhose. »Der Probelauf hat schon wieder nicht geklappt. Die Brenndauer hat nicht einmal eine halbe Sekunde betragen, verdammt.« Er strich ihr übers Haar. »Ich muß hin, Natalie. Schlaf du nur weiter.«

»Ich habe überhaupt nicht geschlafen.« Sie strampelte sich frei und stand auf. Es war kalt im Zimmer. »Ich komme mit.«

»Das mußt du nicht.«

»Ich möchte aber. Zumal wir noch eine Unterhaltung beenden müssen.« Mike hatte sich schon das Hemd angezogen und murmelte etwas vor sich hin, während seine Gedanken längst um die Triebwerksprobleme kreisten.

Er hat wahrscheinlich schon vergessen, worüber wir uns unterhalten haben.

Sie brachen kurz nach drei Uhr morgens zum Testgelände auf. Die Fahrt von der Innenstadt von LA nach Santa Susana würde eine halbe Stunde dauern.

Mike verließ das San Fernando-Tal, und York sah die dort unten glühende Straßenbeleuchtung, ordentliche rechteckige Blöcke aus Lichtern, mit denen der Boden und die Wände des Tals gepflastert waren.

Mike fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit und sprach kein Wort mit ihr.

Das Testgelände befand sich in einer geröllübersäten Senke in den Santa Susana-Bergen. Als Mike das Fahrzeug zum Stehen brachte, spürte York einen kalten Lufthauch.

Sie ging mit Mike zum Zentrum der Anlage.

Es stand kein Stern am Himmel, obwohl der Mond längst untergegangen war.

Santa Susana wurde im Auftrag der NASA von Rockwell International betrieben. Die Anlage war im Rahmen des Entwicklungsprogramms für die alte S-II, die zweite Stufe der Saturn V, errichtet worden. Dennoch wurden die Arbeiten an der S-II fortgeführt. Die Anlage wimmelte von Technikern -manche in Asbest- oder Strahlenschutz-Anzügen -, die auf dem Meßplatz umherliefen. Sie wirkten wie plumpe Insekten.

Das NERVA 2-Triebwerk stand kopfüber im Herzen der Anlage und war mit einem Maschendrahtzaun gesichert. Im

Schein starker Flutlichter ragte der Triebwerkstrichter gen Himmel.

Als sie sich der Umzäunung näherten, kamen Techniker auf Conlig zu. Mike rang sich einen letzten, um Entschuldigung heischenden Blick auf York ab und verschwand.

Sie schritt die Umzäunung ab.

»Hallo. Sie sehen so aus, als ob Sie das brauchen würden.«

Sie drehte sich um. Ein Mann befand sich neben ihr und grinste sie an. Er war groß, hatte einen blassen Teint und blondes Haar. Bekleidet war er mit einem schmutzigen Overall. Er hatte zwei Plastiktassen mit einer bräunlichen Flüssigkeit in den Händen. »Das soll Kaffee sein«, sagte er, »aber ohne vorherige Analyse möchte ich mich da nicht festlegen.«

»Kennen wir uns?«

»Denk schon. Adam Bleeker. Vor ein paar Jahren haben wir eine Exkursion in die San Gabriel-Berge unternommen.«

»Oh.« Der Kalte Krieger-Astronaut. »Mit Ben und Charles Jones. Das war vielleicht ein Reinfall.«

»Ach, das würde ich nicht sagen. Sie haben gute Arbeit geleistet. Übrigens nennt jeder ihn Chuck.«

»Wie auch immer.«

Dankbar nahm sie den Kaffee und nippte daran. Er war warm, hatte aber fast kein Aroma.

Bleeker erzählte ihr, er sei der NASA-Repräsentant bei diesem Projekt. Den gleichen Posten hatte Ben Priest vor ein paar Jahren innegehabt.

»Das ist aber eine ungewöhnliche Tageszeit für einen Triebwerkstest«, bemerkte York.

»Schon, aber wir sind so weit hinter dem Zeitplan zurück. Jede Stunde zählt.«

»Erzählen Sie mir davon. Ich bin mit Mike hergekommen. Kennen Sie ihn?. Mike Conlig.«

»Sicher.«

»Nachdem der Anruf gekommen war, hat ihn nichts mehr gehalten.«

Langsam gingen sie das Testgelände ab. Überall standen Techniker, in Fachgespräche vertieft. Die in der Luft liegende Spannung und Niedergeschlagenheit war fast mit Händen zu greifen - Mikes Stimmung potenziert.

Der Kontrast zu Jackass Flats - zur Begeisterung, die Mike dort an den Tag gelegt hatte - war frappierend.

Inmitten des ganzen Szenarios stand das NERVA 2-Triebwerk aufrecht und stumm hinter der Sicherheitsabsperrung. Dieses Triebwerk, so hatte Mike ihr gesagt, war das >integrierte Subsystem-Testbett-Triebwerk<; es handelte sich um einen kompletten, mehr oder weniger einsatzbereiten Motor, aber er war in diesem Gerüst gefangen. Und wenn er gezündet wurde, würde er sich höchstens in die Erde bohren.

Ein Blick auf das Gerüst sagte York, daß es noch Jahre dauern würde, bis NERVA einsatzbereit und in der Lage war, die versprochenen hundert Tonnen interplanetare Schubkraft zu entwickeln.

Die nach oben weisende Düse saß auf einem kurzen, dicken Zylinder, und die beiden kleineren Trichter wuchsen aus den Seiten des Zylinders. Der Zylinder war der Druckmantel, der den radioaktiven Kern enthielt, und die kleinen, kardanisch aufgehängten Düsen dienten der Lage- und Bahnregelung. Sie sah die ringförmig angeordneten, konischen Servomotoren an der Grundfläche des Triebwerks. Die Servomotoren betätigten die Steuertrommel, die wiederum den Reaktor moderierte. Ein großer, sphärischer Wasserstofftank war in der Nähe des Triebwerks angebracht. Von ihm gingen Röhren aus, die sich um Druckhülle und Düse wanden. Dampfschwaden entwichen aus dem Tank, und die Metallwandung war mit einer Eisschicht überzogen.

Adam Bleeker skizzierte die Funktionsweise des Antriebs.

»Flüssigwasserstoff dient sowohl als Brennstoff als auch als Kühlmittel - das wird auch als regenerative Kühlung bezeichnet. Eine Pumpe drückt den Wasserstoff durch den Kühlmantel, der den Druckmantel und den Trichter umgibt. Dann wird der Wasserstoff durch den radioaktiven Kern gepumpt, wo er verdampft und aus dem Trichter austritt.«

Es gab also noch immer kein Rückhaltesystem für den ausgetretenen Wasserstoff, stellte York abwesend fest.

Bleeker zeigte ihr, wie ein Überströmrohr vom Reaktor einen Teil des heißen Wasserstoffgases auf eine Turbine leitete, welche die Pumpen des Triebwerks während des Flugs antrieb. Das Abgas der Turbopumpe trat durch die kleinen Zusatzdüsen aus und diente als Brennstoff für die Lage- und Bahnregelung.

»Und wo liegt nun das Problem?«

»Kavitation. Gasblasen im Flüssigwasserstoff. Wir haben den Kern auf Betriebstemperatur gebracht und den Wasserstofffluß ausgelöst. Für etwa eine halbe Sekunde hat der Schub den Sollwert erreicht. Doch dann stieg die Kerntemperatur an. Irgendwo hinter der Pumpe ist Kavitation aufgetreten: Wasserstoffblasen haben die Zirkulation des Kühlmittels unterbunden. Deshalb ist die Kerntemperatur weiter angestiegen. Wir mußten den Reaktor ‘runterfahren«, sagte er mit müder Stimme. »Sie können sich vorstellen, welchen Sicherheitsbestimmungen wir hier unterliegen. Wenn der Druckkörper geborsten wäre, hätten die radioaktiven Bestandteile sich in die Atmosphäre verflüchtigt, und es wären immense Schadenersatzforderungen auf uns zugekommen. Als wir das Problem erkannten, traten also die Vorschriften in Kraft. Wir stellten die Wasserstoffzufuhr ab und fluteten den verdammten Kern mit Wasser, um die Temperatur zu senken. Nun müssen wir das radioaktive Wasser abpumpen und den Kern per Fernsteuerung zerlegen, um zu überprüfen, ob die

Brennstoff-Durchlaufzylinder nicht durch die Hitze beschädigt wurden. Es wird Tage dauern, bis wir für den nächsten Test bereit sind.«

»Mein Gott. Was für eine Bescherung.«

York musterte sein Profil; im hellen Schein der Strahler wirkte Bleekers Haut dünn, fast durchscheinend. Es fiel ihr schwer, Bleekers Reaktion auf diese Vorfälle zu ergründen. Waren die strengen Sicherheitsvorschriften ihm ein Dorn im Auge? Hatte er Probleme damit, in einer solch instabilen und unerprobten Versuchsanordnung mit tödlichen Substanzen zu hantieren? Sie vermochte es nicht zu sagen. Genauso wie bei der ersten Begegnung vermittelte Bleeker den Eindruck, als würde nichts ihn aus der Ruhe bringen. Er wirkte fast seelenlos.

»Sie müssen alle unter starkem Druck stehen«, sagte sie. »Ich weiß, daß die Fähigkeit der NASA, NERVA 2 zu starten, weithin bezweifelt wird.«

»Von wem denn?«

Sie zuckte die Achseln. »Von der Presse. Vom Kongreß.«

»Ja«, sagte er gleichmütig. »Vielleicht haben sie auch Grund dazu. Wissen Sie, das Programm wird von den Deutschen in Huntsville geleitet. Und sie haben das konstruktive Ziel -hundert Tonnen Schub für dreißig Minuten - nicht deshalb vorgegeben, weil sie wußten, daß es möglich ist; sie haben diesen Wert deshalb definiert, weil wir ihn für das Profil der Mars-Mission benötigen. Sie haben keine ausgefeilten Analysen erstellt, sondern einfach drauflosgebaut. So haben sie immer schon gearbeitet. Und in Anbetracht ihrer Erfolgsbilanz läßt sich auch kaum etwas dagegen sagen. Aber.«

»Aber Sie sind sich nicht so sicher.«

Er zögerte. »Der Entwicklungsplan, nach dem wir vorgehen, basiert auf den Erfahrungen mit der chemischen Antriebstechnik. Der Nuklearkram ist eben etwas anderes. Ich glaube, es dämmert ihnen eben erst, wie anders. Und das, obwohl wir schon vieles vom Wunschzettel gestrichen haben, wie zum Beispiel eine Drosselung. ich glaube, wir haben uns übernommen.«

Nun rückte eine Gruppe in weißer Schutzkleidung in die Sperrzone ein und näherte sich der NERVA.

York fragte sich, ob einer von ihnen Mike war. Es gab keine Möglichkeit, das festzustellen.

Grimmig starrte sie auf die reglose NERVA. Wegen dieses Schrottgeräts werde ich Mike in den nächsten Wochen nicht zu Gesicht bekommen.

Bleeker verabschiedete sich von ihr, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen.

Für ein paar Minuten verfolgte sie die langsam ablaufende und riskante Demontage. Dann ging sie zum Auto zurück und schlief auf der Rückbank ein.

Als sie aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Horizont, und im Auto war es stickig und heiß. Von Mike war nichts zu sehen. Sie suchte einen Waschraum auf und hinterließ eine Nachricht für Mike. Dann fuhr sie nach LA zurück.

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 004/21:38:11

Das tägliche Arbeitspensum wurde vom Kontrollzentrum über Nacht nach oben übermittelt, in Form eines sechs Meter langen Computerausdrucks. Die Daten enthielten Zeitvorgaben und kurze persönliche Mitteilungen. York trennte ihren Teil der Liste ab. Den Teil vom Vortag warf sie weg und fügte die aktuelle Ausgabe in den Ordner ein. Dann machte sie sich Gedanken über den Tagesablauf.

Sie ging die Liste durch, wobei sie zuerst nach Punkten mit Zeitvorgabe suchte.

Dann suchte sie nach Aufgaben, die einer Vorbereitung bedurften, und nach solchen, die sie gemeinschaftlich mit den anderen durchführen mußte.

Im Gegensatz zu den Aufgaben, die den ersten Astronauten oblagen, war das Arbeitspensum weniger an starre Fristen gebunden, sondern stellte eher einen >Einkaufszettel< mit Zielvorgaben dar. Anders als in den Tagen, als die MondSpaziergänge bis auf die Minute genau choreographiert waren, war die Missions-Planung nun entzerrt. Die >Einkaufszettel<-Methode war während der langen Skylab-Flüge der siebziger Jahre aufgekommen. York war erleichtert; schließlich hatte sie

- wie ihre Kollegen - langjährige Berufserfahrung und mußte nicht von einem Haufen Experten unten in Houston >an der langen Leine geführt< werden.

Um sie bei der Zeiteinteilung zu unterstützen, hatte sie einen kleinen Wecker in der Tasche stecken, den sie für wenig Geld in einem Laden in Nassau Bay erstanden hatte. Sein primitives Aussehen und die Gangungenauigkeit hatten inmitten dieser HighTech-Umgebung einen besonderen Reiz.

Ihre Hauptaufgabe für den Tag bestand darin, die Wissenschaftliche Plattform hochzufahren. Sie schwebte entlang der Längsachse des zylindrischen Missionsmoduls nach oben.

Das Missionsmodul beruhte auf der Konstruktion der Skylabs, die mittlerweile seit über einem Jahrzehnt im Dienst waren. Wegen der begrenzten Tragfähigkeit der Saturn VB war das Missionsmodul >trocken< in den Erdorbit gebracht worden

- ohne Brennstoff, aber schon eingerichtet und mit kompletter Ausrüstung. Die Besatzung bezog im vierzehn Meter langen

Brennstofftank Quartier. Unter dem Boden befand sich der wesentlich kleinere Kugeltank für den Flüssigsauerstoff. Dieser war als Lager vorgesehen und sollte mit seinen dickeren Wänden als Notunterkunft für die Besatzung dienen - sie vor Sonnenstürmen schützen, falls im Verlauf der Mission welche auftraten.

Der Wasserstofftank war durch dreieckige Gitterroste in drei Ebenen unterteilt. York trug Spezialschuhe mit V-Profil, womit sie auf beiden Seiten der Gitter Halt fand. Mitten durch die Werkstatt verlief eine Rutschstange, und überall waren Gurte, Sicherungsleinen und Halteschlaufen angebracht.

Die unterste Ebene des Tanks war die >Unterkunft< - die Messe, Schlafkabinen und Toiletten. Die mittlere Ebene diente als Kommando- und Leitzentrale, von der aus alle Subsysteme des Raumschiffs, Umweltprozesse und Flugoperationen überwacht wurden. Außerdem waren hier eine Experimentalstation und eine Fitnessabteilung eingerichtet. Am kreisförmigen Umfang des Tanks verlief ein Parcours fürs Lauftraining. Die Trainingsgeräte, die sich noch immer in Startkonfiguration befanden, waren am Druckmantel verlascht. Und auf der obersten Ebene, in der Spitze der AresMehrstufenrakete, befand sich die Wissenschaftliche Plattform.

Das Modul hatte Ähnlichkeit mit einem Maschinenraum, sagte York sich. Tanks und Vorratskisten waren an den gekrümmten Wänden befestigt, und überall verliefen Kabel und Rohre unter einer gelben Kunststoffverkleidung.

Als sie zur Wissenschaftlichen Plattform hinaufschwebte, hatte sie den Eindruck, eine achteckige Höhle zu betreten. Regale für die Ausrüstung und Stauräume waren an den Wänden montiert. Eine Seite des Oktagons diente als Decke, die für wissenschaftlich-experimentelle Zwecke über Sichtfenster und Luftschleusen verfügte, deren mit massiven

Handrädern versehene Luken wie Safetüren aussahen. Alles war noch an seinem Platz, ordentlich verstaut und verpackt.

Sie schwebte zur rechten Wand und verankerte die Füße in zwei Halterungen vor der Instrumenten- und Steuerkonsole: einem breiten Pult mit Schaltern, Bildschirmen und Tastaturen. Sie betätigte ein paar Schalter und bootete die Computer der Wissenschaftlichen Plattform. Anschließend fuhr sie die restliche Ausrüstung hoch und überprüfte sie.

Während die wissenschaftliche Station zum Leben erwachte, glaubte York eine Ähnlichkeit mit einem Labor zu erkennen, das ein Streber in seinem Kinderzimmer eingerichtet hatte. Es war kompakt, klein und irgendwie putzig.

Ein paar Experimente, die Ares durchführen sollte, waren Teil langfristiger Mikrogravitations-Forschungsprogramme. Es gab Versuche zur Züchtung von Protein-Kristallen und der Diffusion von Bakterien unter den Bedingungen der Mikrogravitation sowie ein klobiges Arrangement mit der Bezeichnung >Wärmerohr-Leistungs-Experiment<, ein Versuch zur Diffusion der Wärme an überhitzten Stellen in Röhren und Leitungen in der Mikrogravitation.

Doch Ares bot noch ein paar spezielle Möglichkeiten. Es war geplant, von den beiden weit entfernten Bezugspunkten Ares und Erde spektakuläre Vorgänge auf der Sonne zu beobachten, zum Beispiel Sonnenflecken und Protuberanzen. Zu diesem Zweck stand eine ganze Palette von Instrumenten bereit: ein Coronagraph, ein Spektroheliograph und ein spektrographisches Teleskop. Weil die Ares-Mehrstufenrakete sich zur Sonne ausrichten würde, um den Verdampfungsverlust zu minimieren, war die ganze Ausrüstung auf einem Gestell montiert, das wie ein Rückspiegel aus dem Missionsmodul ausgeklappt und ausgerichtet werden würde.

Die Einstellungen dauerten länger als erwartet. Die Computer waren ziemlich langsam. Die Modelle, mit denen Ares ausgerüstet war, waren bereits veraltet: die schon zehn Jahre alte Konstruktion der Plattform war sozusagen um diese leistungsschwachen Maschinen herumgebaut worden. Die Computerfirmen hatten sich gegenüber der NASA verpflichtet, die Ersatzteilversorgung mittelfristig zu gewährleisten. Doch es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, daß York - im tiefen Weltraum, auf dem Weg zum Mars - sich mit einer Technik behelfen mußte, die heute kein Schüler, der etwas auf sich hielt, mehr benutzen würde.

Zumal die Arbeit in der Mikrogravitation sich als schwierig erwies. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, entschwebte. Auf die größeren Ausrüstungsgegenstände hatte sie wenigstens ein Auge, aber ihr Notebook, Stifte und Taschentücher unterlagen ebenfalls diesem Phänomen. Sie vergeudete viel Zeit damit, die Gegenstände wieder einzufangen. Und sie mußte sich in einer bewußten Anstrengung verankern - in Fußhalterungen, indem sie sich an einem Regal festhielt oder die Beine um eine Strebe schlang -, bevor sie eine Bewegung ausführte. Sonst machte sie jedesmal, wenn sie einen Schalter betätigte, die Bewegung des Schalters mit.

Es war, als ob sie sich auf einer Eisfläche befände: einer großen, unsichtbaren dreidimensionalen Eisfläche, auf deren Oberfläche Gegenstände in gerader Linie herumrutschten und wo sie ständig das Gleichgewicht verlor.

Als York in die Messe zurückdriftete, war Phil Stone schon in der kleinen Bordküche mit der Zubereitung des Essens beschäftigt. Essenspäckchen und Tabletts schwebten neben ihm in der Luft.

Eine an der Wand der Messe montierte Kamera war auf ihn gerichtet; York erinnerte sich, daß für diese Zeit wieder eine

Übertragung vorgesehen war. Sie fragte sich, wie viele Leute wohl noch zuschauten.

Stone schaute zu York hoch. »Du siehst jetzt wirklich wie ein Astronaut aus, Natalie.«

»Wieso?«

»Schau mal in den Spiegel.«

Der nächste Spiegel hing über dem Waschbecken. York trieb hinüber und unterzog sich einer Musterung. Das Haar stand in Strähnen vom Kopf ab, wie ein Heiligenschein, und sie schien Tränensäcke bekommen zu haben. Dies war auch ein Effekt der Mikrogravitation: die Ansammlung von Flüssigkeit unter der Gesichtshaut. Bei der Berührung der Zone unter den Augen fühlte die Haut sich zart an, als ob sie gespannt wäre.

Gershon rutschte kopfüber die Stange herunter. »Hallo, japanisches Fräulein«, sagte er und verzog die Lider so, daß er Schlitzaugen bekam.

Statisches Rauschen drang aus den an der Wand befestigten Lautsprechern. »Ares, Houston. Wir sehen hier eine Wundertüte, Phil.« Capcom war heute Bob Crippen.

York spürte, wie die anderen sich versteiften. Crippens gezwungene Witzigkeit signalisierte ihnen, daß sie gleich an die Öffentlichkeit treten würden. Wir stehen wieder auf der Bühne, Jungs.

Stone hielt einen unbeschrifteten braunen Beutel hoch. »Guten Tag, Bob. Würden Sie es für möglich halten, daß hier Hühnerklein drin ist? Ich muß diesen Beutel nur in diese kleine Schublade stecken, sehen Sie, wo hundert Milliliter heißes Wasser in den Beutel gespritzt werden. Dann hole ich ihn wieder raus und schüttele den Inhalt ein wenig. Und hier ist es schon, leckeres Hühnerklein.« Er legte das Gericht auf ein neben ihm schwebendes Tablett. Nun befanden sich vier Beutel auf dem Tablett, eine Dose Nüsse und ein Beutel mit Fruchtsaft. Alles war mit Klettverschlüssen fixiert. Stone bugsierte das Tablett zu Gershon. »Komm und hol dir dein Essen ab.«

»Happi-happi.« Gershon schnippte den Verschluß der Futtertüte weg und spritzte sich den Inhalt in den Mund. Dann winkte er grinsend in die Kamera; er verzehrte das Mahl kopfüber, relativ zu Stone.

»Wir fliegen nun schon seit über zwanzig Jahren ins AU«, sagte Stone gemütlich, »und ich schätze, daß unsere Küche inzwischen ganz ordentlich ist. Bei uns gibt es im Grunde das gleiche zu essen, das die Besatzungen der Stationen im Mond-und Erdorbit auch vorgesetzt bekommen. Der Speiseplan hat einen Turnus von sechs Tagen. Die Nahrung ist zum größten Teil rehydrierbar. Wie die Nudeln und das Hühnerfleisch.« Er wies auf sein Tablett. »Rehydrierbare Nahrung hat nämlich den höchsten Nährwert. Wir haben aber auch Nahrungsmittel, die thermostabilisiert sind - vor dem Start gekocht und in einer Kühlbox gelagert. Ich habe hier zum Beispiel gedünstete Tomaten und Hackfleisch mit Zwiebelsauce. Und ein paar Lebensmittel haben sogar ihre ursprüngliche Form, wie diese Mandeln hier. Und dann gibt es noch gefriergetrocknete Birnen und Erdbeersaft. Wir haben zwar keinen Kühl- oder Gefrierschrank wie die Skylabs, aber wir haben etwas Neues: einen Backofen. Er hat natürlich Umluftschaltung und keine Konvektion. Heiße Luft steigt in der Schwerelosigkeit nämlich nicht auf. Und in der kleinen Küche haben wir sogar fließend warmes und kaltes Wasser.«

»Erzähl ihnen von den Fürzen, Phil«, sagte Gershon sotto voce.

Ja, sicher. Heißes Mikro, du Arschloch.

Dennoch stellten die Winde ein echtes Problem dar. Im Wasserhahn befand sich eine Vorrichtung, die dem Wasser überschüssigen Wasserstoff entziehen sollte, der ein Nebenprodukt der Batterien des Missionsmoduls war. Leider funktionierte das Ding nicht richtig, und so gelangte reichlich Gas in die Mägen der Besatzung.

»Ares, Houston.« Ares war schon so weit von der Erde entfernt, daß das Signal nach Houston und Crippens Antwort eine Laufzeit von sechs Sekunden hatten. »Phil, es heißt, wir hätten ein ziemlich großes Publikum hier unten.«

»Freut uns zu hören.«

»Phil, schmeckt die Bordverpflegung wirklich?«

Stone zögerte. »Das ist schwer zu sagen. Sogar Nahrung in ihrer natürlichen Form schmeckt hier oben manchmal anders; ich nehme an, das beruht auf gewissen physiologischen Veränderungen - einer Reaktion auf die Mikrogravitation -, die wir noch nicht untersucht haben. Und dann wäre da noch die Verpackung. Ich weiß wohl, daß diese Darreichungsform viele Vorteile hat. So gelangen keine Nahrungspartikel in die Umwelt. Aber die Russen schicken ihren Kosmonauten schon seit 1965 Kuchen und Brot rauf.«

Sechs Sekunden.

»Bestätigt das alles, Phil«, sagte Crippen, »auch wenn das nicht gerade die Antwort auf meine Frage war.«

»Eine andere Antwort bekommen Sie nicht, Bob«, sagte Stone dezidiert.

Nach der Verzögerung hörte York Gelächter im Hintergrund des MOCR.

»Ares, Houston, danke. Ach, Ralph, Phil und Natalie, würdet ihr euch bitte zu einem Gruppenfoto versammeln?«

Stone wirkte verwirrt. »Wiederholen Sie, Houston.«

»Wenn ihr euch für ein paar Minuten im Erfassungsbereich der Kamera versammeln würdet.«

Stone schwebte zu York hinüber, die beim Tisch blieb, und Gershon baute sich hinter ihnen auf und blickte in die Kamera.

»Ares, Houston«, sagte Crippen. »Gleich. äh. um fünf plus eins plus zweiundvierzig.« - die erste Stunde des fünften

Tags der Mission - ».werdet ihr eine wichtige Grenze überschreiten. Auch wenn ihr es nicht spürt. Darüber solltet ihr vielleicht nachdenken, wenn ihr heute eure Mahlzeit einnehmt.«

»Wir sind schon ganz gespannt, Bob.«

»Vielleicht möchte einer von euch uns sagen, was er beim Blick aus dem Fenster sieht.«

York drehte sich um. Beim >Panorama-Fenster< handelte es sich um ein sechzig Zentimeter breites Sichtfenster, das in die Wand der Messe eingelassen und so groß war, daß es die Krümmung des Druckmantels aufgriff. Es hatte eine DreifachVerglasung und fühlte sich an wie ein Flugzeugfenster.

»Ich sehe die Erde und den Mond«, meldete sie. »Sie sind beide ziemlich voll. Dann sehe ich noch einen sichelartigen schattigen Ausschnitt an der rechten Seite der beiden Körper.« Aufgrund der großen Entfernung hatte die Erde ihre kugelförmige Erscheinung verloren und war zu einer flachen Schale aus blauem Licht reduziert worden, den fahlen, geschrumpften Satelliten an ihrer Seite. »Das Licht der Erde ist noch immer hell«, sagte sie. »Hell genug, um ein Buch zu lesen, würde ich sagen. Aber.«

»Sprechen Sie weiter, Natalie.«

»Etwas ist anders.« Sie schaute genauer hin. »Der Himmel ist wie in einer klaren Nacht auf der Erde. Und - mein Gott - er ist voller Sterne. Bisher hat die Helligkeit der Erde alles andere überstrahlt. Nun sehe ich die Sterne. Zum erstenmal auf dem Flug sehe ich wieder die Sternbilder.«

»Ares, ihr seid nun in die Nacht hinausgegangen.«

»Ja, das stimmt. Und eine große, leere und kalte Nacht dazu.«

»Ares, Houston. Danke, Natalie. Ares, das ist das Besondere: ihr seid nun fast neunhunderttausend Kilometer von der Erde entfernt. Das ist die doppelte Strecke, die bisher ein Mensch bewältigt hat. Und ihr verlaßt nun die Einflußsphäre der Erde.«

Einflußsphäre - eine imaginäre, um die Erde zentrierte Blase im Raum, eine fast vollkommene Kugel, wo die Anziehungskraft der Erde und der Sonne sich im Gleichgewicht befinden. Innerhalb dieser Sphäre hatte Ares sich in einem von der Erde dominierten Orbit befunden; jenseits dieses Punkts hatte das Schiff den Einflußbereich der Erde verlassen und war in einen Orbit um die Sonne gegangen.

»Danke, Bob«, sagte Stone. »Wir haben verstanden und sind beeindruckt. Fast überkommt uns eine gewisse Demut bei diesem Gedanken.« Stone schien selbst unzufrieden mit diesen banalen Worten. Er schaute York nachdenklich an. »Natalie, möchtest du noch etwas dazu sagen?«

Stumm erwiderte sie seinen Blick. Plötzlich fühlte sie eine innere Leere. Du hast dich doch so oft über den Schwachsinn aufgeregt, den sie verzapfen. Nun hast du die Gelegenheit, es besser zu machen.

Aus irgendeinem Grund dachte sie an Ben Priest. Was würde er ihr wohl raten?

Sag einfach, was du fühlst, Natalie. Versteck dich nicht hinter technischen Floskeln. Und es darf dir nicht peinlich sein.

»Houston, Ares. Ich habe den Eindruck, daß wir Menschen auf dem Boden eines Lochs leben. Eines tiefen GravitationsLochs, das die Masse der Erde in die Raumzeit gegraben hat. Und von den Milliarden Menschen, die jemals gelebt haben, sind nur wir drei - Phil, Ralph und ich - bis zum Rand dieses Lochs aufgestiegen.«

Sie bemerkte, daß Gershon und Stone sich fragend ansahen. Stone bedeutete Gershon mit einer Geste, still zu sein.

York betrachtete die schrumpfende Erde. Sie hob die Hand und blendete das Erde-Mond-System aus. »Ich halte nun die Hand hoch, und sie blendet die ganze menschliche Geschichte - sogar die Flüge zum Mond - aus. Wir werden ein Jahr im All verbringen, bis wir den Mars so groß vor uns sehen, wie die zurückfallende Erde nun ist. Ein Jahr in dieser Sammlung von Blechbüchsen, mit nichts als den Sternen und der Sonne vor dem Fenster. Wir wissen, daß es schwer werden wird, trotz des Trainings und der Vorbereitung. Doch wichtig ist nur, daß wir über den Rand des Gravitations-Lochs geklettert sind und nun sehen, was dahinter liegt. Wir sind wirklich in die Nacht hinausgegangen, Houston.«

Stone nickte. Er blickte sie noch immer nachdenklich an.

York schauderte. Plötzlich erschien das Missionsmodul - das tickend, surrend, mit Essensgerüchen und dem Gestank von Fürzen - ihr wie ein kleines, zerbrechliches Heim, die einzige Insel der Wärme und des Lichts in dieser dunklen Nacht.

Sonntag, 15: August 1976 Zwischen Erde und Mond

Nachdem sie für ein paar Tage in langen Unterhosen und Springerkombis in der Kommandokapsel herumgeturnt waren, halfen Jones, Dana und Stone sich gegenseitig beim Anlegen der Druckanzüge. Während des Einschusses in den Mondorbit würden sie auf den Liegen Platz nehmen und sich angurten müssen.

Sie beendeten das Mahl: Suppe und Käse-Sandwiches. Zu trinken gab es Grapefruitsaft. Dana hatte einen Plastikbeutel mit Erbsensuppe. Er nahm einen Löffel Suppe und tippte dann auf den Löffelstiel, wobei der Suppenklumpen unter Beibehaltung der Form, die er auf dem Löffel gehabt hatte, abdriftete. Doch wenn er die Flüssigkeit dann mit der Fingerspitze berührte, formte sie sich durch die Oberflächenspannung zu einer oszillierenden Kugel. Dana beugte sich vor und sog die Erbsensuppen-Perle in den Mund.

Jim Dana war vom Leben in der Mikrogravitation begeistert und erfreute sich an der Fülle der unerwarteten Details.

Jedenfalls an den meisten.

Vor dem Ankleiden wollte Chuck Jones noch aufs Klo.

Zu diesem Zweck mußte er sich entkleiden und in die orangefarbene Nische unter den drei Liegen steigen. Die sanitäre Einrichtung der Apollo bestand aus Plastiktüten mit Klebestreifen an der Öffnung und seitlich angebrachten fingerförmigen Röhren. Jones mußte mit dem Finger in die Tüte greifen - schließlich würde nichts fallen - und den Kot abstreifen und eintüten. Anschließend mußte er eine Kapsel mit Desinfektionsmittel knacken, in den Beutel stecken und diesen dann zukleben.

Bald wurde die Kabine von den Geräuschen und Gerüchen des Vorgangs erfüllt.

Dana ließ es einfach über sich ergehen. Die primitive Konstruktion des Systems war schließlich nicht Jones’ Schuld.

Die Ironie war nur, daß das Apollo-System in den letzten Jahren deutlich modernisiert worden war. Rockwell hatte die ursprüngliche Konstruktion gestreckt, die Zuverlässigkeit erhöht und die Nutzlastkapazität gesteigert. Apollo wurde nun überwiegend als Orbital-Fähre eingesetzt, welche die Besatzungen der Skylabs ablöste. Apollo bot Platz für vier Personen und hatte Ressourcen für einen achttägigen Aufenthalt im Orbit. Rockwell führte sogar Versuche mit einer wiederverwendbaren Kommandokapsel durch. Hierzu wurde ein Korrosionsschutz gegen das Meerwasser aufgetragen, und die Komponenten wurden nach dem Baukastenprinzip montiert - so war es möglich, eine Kommandokapsel nach der Landung im Meer als Teileträger zu verwenden, auch wenn die Kapsel an sich nicht mehr flugfähig war.

Doch manche Dinge hatten sie noch immer nicht in den Griff bekommen; zum Beispiel die Installationen.

Für Dana war der erste Raumflug mit einer langen Kette von Problemen und Komforteinbußen eine ausgesprochen deprimierende Erfahrung. Der Kontrast zwischen der Zenartigen Leere des Weltraums jenseits des Monds und den unbeholfenen Versuchen der Menschen, in dieser Leere zu überleben, sprang ihn förmlich an. Und vor dem Hintergrund als Pilot empfand er diese Technik als erschreckend primitiv.

Wir bewegen uns hier wirklich im Grenzbereich unserer Möglichkeiten. Paps hatte recht. Im Grunde sind wir noch nicht soweit. Noch nicht. Wir sind noch nicht intelligent genug. Schlaue Affen, die improvisieren und auf das Glück vertrauen.

Dennoch war es ein tolles Abenteuer, von dem er seinem Sohn Jake erzählen konnte.

Dana widmete sich nun der Abfallbeseitigung. Er sammelte die Lebensmitteltüten ein und füllte sie mit Pillen, um die Rückstände aufzulösen. Dann faltete er sie zusammen und stopfte sie in einen Müllbeutel. Der Abfall wurde in einem Stauraum deponiert. Schon wenige Stunden nach dem Start von der Erde waren die Sammelbehälter voll, und deshalb wurde der Müll im Weltall entsorgt. Die den Mond anfliegende Enterprise wurde von einer Wolke aus Fäkalienbeuteln und anderem Abfall eingehüllt.

Die Besatzung ging die MOI-Checklisten durch. Das alles fand in einer ungewöhnlichen Stille statt, stellte Dana fest. Der Grund dafür war indes nicht schwer zu erraten. Der Einschuß in eine Mondumlaufbahn galt als kritischer Moment der Mission; davon hing das Gelingen des ganzen Flugs ab - und, auch wenn das für die Astronauten-Karriere weniger wichtig war, der Erfolg des Mondlabors selbst.

Obendrein mußte die Zündung während der Phase erfolgen, wo das Raumschiff sich hinter dem Mond befand und der

Funkverkehr zur Erde unterbrochen war. Das Kontrollzentrum war also nicht imstande, ihnen zu helfen.

Nachdem er den Entschluß zur Durchführung dieser Mission erst einmal gefaßt hatte, hatte Bert Seger eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Apollo/Moonlab wurde als ein Unternehmen mit hohem Erlebniswert verkauft - die Rückkehr zum Mond, ein Beweis technischer Kompetenz. Außerdem wurde die Nation dadurch vom Fall von Saigon abgelenkt, den explodierenden Spritpreisen, der stagnierenden Wirtschaft, der Inflation. Er hatte sogar die Wünsche der Star Trek-Fans berücksichtigt, die auf Enterprise als Namen für das Schiff bestanden - die erste Apollo, die seit vier Jahren wieder zum Mond flog. Da verhallten die Proteste des Astronauten-Büros, daß man keinen Schiffsnamen für diese Mission brauchte, ungehört.

Es war eine ausgefeilte PR-Aktion. Doch diese pompöse Inszenierung bedeutete, daß ein Mißerfolg - und sei er nur auf einen dummen Programmierfehler zurückzuführen - um so schwerer wiegen würde.

Apollo schüttelte sich leicht, und Elektromagneten klackten. Die Düsen für die Lage- und Bahnregelung feuerten, um das Rollen des Raumschiffs zu neutralisieren. Die Mehrstufenrakete hatte seit dem Start von der Erde rotiert, damit die Sonnenwärme gleichmäßig auf die Oberfläche der Kapsel einwirkte. Die Besatzung bezeichnete das als >Grill-Modus<.

Stone, der sich im Mittelpunkt der drei Liegen befand, sagte plötzlich: »He. Ich sehe den Mond. Direkt unter uns.«

Dana schaute von der Prüfliste auf.

Es hatte den Anschein, als ob Ströme von Öl am Fenster zu Danas Rechten hinabliefen. Dana fühlte einen Anflug von Panik; er hatte keine Ahnung, durch welche Fehlfunktion das verursacht worden war. Dann akkomodierten die Augen sich, und ihm wurde bewußt, daß er auf Berge schaute, die langsam am Fenster vorbei glitten. Die von den schräg einfallenden Sonnenstrahlen beschienenen Erhebungen zogen lange Schatten hinter sich her.

Die Berge des Mondes. »Mein Gott. Seht mal nach draußen.«

»Das ist nur der abgefuckte Mond«, sagte Jones. »Ihr werdet ihn noch lang genug sehen. Kommt schon, kümmert euch wieder um die Listen. Entfernung sechzehnhundert Kilometer. Zweitausend Meter pro Sekunde. Noch fünfzehn Minuten bis zum Abbruch der Sichtverbindung und dreiundzwanzig Minuten bis zur MOI-Zündung.«

Dana sah, wie die Sonne hinter dem Mondhorizont verschwand und der Mond von der Corona, der äußeren Atmosphäre der Sonne, indirekt angestrahlt wurde. Der Mond war hell beleuchtet, und es hatte den Anschein, als ob die Rückseite in Flammen stünde. Doch Dana erkannte auch die im Schatten liegende Seite, die hinter dem Fenster vorbeizog. Die Erde tauchte sie in ein gespenstisch fahles Licht.

Der Mond sah aus wie eine Glaskugel mit gesprungener Oberfläche; als ob er mit Schrot gespickt wäre. Das weiße Zentrum des Monds, das sich vom Schattenwurf des irdischen Lichts abhob, stach Dana ins Auge: der Mond hatte nun ein erstaunlich räumliches Aussehen und erschien nicht mehr als die gelbe Scheibe, wie von der Erde aus.

Dana machte einen großen, tiefen Krater aus, bei dem es sich vielleicht um Tycho handelte. Die Topographie des Mondes wirkte verschwommen - ein Eindruck, der durch die Schatten noch verstärkt wurde. Manchmal erschienen die Krater wie Kuppeln und die Berge wie Täler. Die Oberfläche des Monds glich einer Maske, deren Negativabdruck er nun vor Augen hatte.

Im Erdorbit hatte Dana die Krümmung des Horizonts gesehen, doch wegen des Umfangs der Erde hatte der größte Teil sich seinem Blick entzogen. Der Mond indes war eine kleine Welt. Die Krümmung war so stark, daß er die ganze Kugel vor dem geistigen Auge sah; er sah, daß er um eine Felskugel flog, die im dunklen All hing, das sich in alle Richtungen in die Unendlichkeit erstreckte.

Es wirkt so fremdartig. Das ist nicht unsere Welt. Und dennoch befanden sich drei Sternenbanner und drei leere Landegestelle auf diesen stummen Hügeln.

»Dreißig Sekunden bis zum Abbruch der Sichtverbindung«, sagte Jones.

»Enterprise, Houston.« Ralph Gershon war der neue Astronaut, der heute als Capcom fungierte. »Die Sichtverbindung bricht gleich ab. Ihr verschwindet hinter dem Mond. Eure Systeme sehen gut aus. Wir sehen euch auf der anderen Seite.«

»Roger, Ralph. Danke. Hier oben ist alles in Ordnung.« Das statische Rauschen aus den Lautsprechern wich plötzlich einem niederfrequenten Brummen.

»Wir verschwinden hinter dem Mond«, sagte Phil Stone leise. »Verlust des Signals.«

Dana starrte auf das Gitter des Lautsprechers. Seine Reaktion machte ihm Angst: er war verwirrt und hatte das Gefühl, verloren zu sein. Zum erstenmal seit dem Start bestand keine Sichtverbindung mehr zwischen Apollo und der Erde. Das Kontrollzentrum war nicht imstande, Kontakt zur Besatzung aufzunehmen - als ob ein Seil gekappt worden wäre.

Dana war der Ansicht, daß im Lauf der Jahre ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Astronauten entstanden war. Ob es nun gesund war oder nicht; das Wissen, daß das Kontrollzentrum immer da war, immer mit den klügsten Köpfen besetzt war, nahm den Piloten einen großen Teil der

Verantwortung ab. Es war, als ob Houston das Schiff für einen flöge. Auf der anderen Seite waren die wenigen Momente, wo Besatzung und Schiff autonom funktionieren mußten, Momente der Angst. Keine Angst vor der Gefahr, die ohnehin ein ständiger Begleiter war, sondern Angst vor dem Versagen. Hoffentlich bin nicht ich derjenige, der es verbockt.

Nun befand sich die Mehrstufenrakete im Anflug auf den Mond. Sie tauchten immer tiefer in die Gravitationsquelle des Satelliten ein, und der Mond wurde immer größer - er schwoll von Minute zu Minute weiter an, und die Landschaft zog an den Fenstern vorbei.

»Seht euch den alten Mond an«, sagte Jones. »Rauher als mein Hintern. Ich werde wohl nie dort unten landen, aber ich bin froh, daß ich überhaupt so weit gekommen bin. Dieser Draufgänger Gershon müßte nun hier sein. Würde sich gewiß wie zuhause fühlen. Ist wie in Kambodscha.« Er stieß ein keckerndes Lachen aus.

Dana versuchte, über den Scherz seines Kommandanten zu grinsen, was ihm aber mißlang. Phil Stone zu seiner Linken schien auch Unbehagen zu verspüren.

Solche Sprüche waren nicht mehr angebracht, sagte Dana sich. Waren sie vielleicht nie gewesen.

Das Raumschiff tauchte in den Mondschatten ein, in totale Dunkelheit: das Licht der Erde fiel nie auf diese verborgene Landschaft, die unter ihnen dahinraste.

Das Funkgerät blieb stumm.

Wir sind allein, wir drei. Die auf der Erde inhaftierte Menschheit versteckt sich hinter dem Mond.

Plötzlich war Dana in bisher nicht gekannter Intensität von der Richtigkeit der Sache überzeugt. Wie auch immer es dazu gekommen ist, die Entscheidung, das Raumfahrtprogramm fortzuführen, war richtig. Was für ein Abenteuer wäre uns sonst entgangen. Wir müssen weitermachen. Erfahrungen wie diese werden uns verändern. Wir werden unseren Horizont erweitern.

Die zerklüftete Landschaft zog unter dem Fenster vorbei.

»In Ordnung, ihr Scheißer, genug gegafft. Bereiten wir uns auf die Zündung vor.«

Die Enterprise umkreiste den Mond.

Mittwoch, 25. Mai 1977 NASA-Hauptquartier, Washington

Mike Conlig haßte Washington. Er hatte das Flugzeug kaum verlassen, als die schwüle, drückende Hitze über ihm zusammenschlug. Er spürte eine Art von psychischem Druck, den die Leute auf ihn ausübten, die sich in diesem schäbigen Winkel der Erde zusammengerottet hatten.

Nun saß er zusammen mit Hans Udet und Bert Seger in Tim Josephsons geräumigem, luxuriösem Büro. Conlig fühlte sich fehl am Platz, verloren in dem großen Raum und in diesem großen, weichen Sessel. Und im Anzug fühlte er sich auch unwohl; die Krawatte schien ihn zu strangulieren.

Dann stürmte Tim Josephson mit einem Aktenordner unter dem Arm in den Raum und setzte sich an den schlichten, polierten Schreibtisch. »Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte Josephson. »Ich habe Ihre Statusberichte gelesen. Sie wissen, worum es geht. NERVA ist verdammt weit hinter dem Zeitplan zurück. Die Projektprüfung soll in drei Monaten stattfinden. Und nach dem, was ich gehört habe, werden Sie das nicht schaffen.«

Seger zuckte die Achseln. »Da vermag ich Ihnen kaum zu widersprechen, Tim.«

Josephson legte die Hände aufeinander. »In Ordnung. Wir stehen in dieser Hinsicht unter starkem Druck; wir müssen Ihre Arbeit gegen Anfechtungen des Kongresses und anderer Stellen verteidigen. Man sagt, wir hätten hierbei aufs falsche Pferd gesetzt. Die Technik der Nuklearraketen steckt noch in den Kinderschuhen; vielleicht sollten wir lieber eine evolutionäre Politik betreiben und erst einmal die chemische Technik weiterentwickeln. Und zu allem Überfluß sind da noch die Atomkraftgegner, die nicht damit einverstanden sind, daß wir die Saturn-Raketen mit Tonnen von radioaktivem Brennstoff beladen.« Sein Blick schweifte von einem zum andern. »Sie haben sicher von den Protesten in Seebrook oben in New Hampshire gehört: zweitausend Leute haben gegen den Bau des Fissionsreaktors demonstriert. Mit der Nutzung von Nukleartechnik schwimmen wir gegen den Strom, meine Herren.

Aber ich weiß auch, daß die Probleme in diesem einen Bereich nicht das ganze beschissene Programm gefährden dürfen. Wie Sie wissen, hat Rockwell seit 1972 parallel zur nuklearen Option die Entwicklung der chemischen Technik betrieben - in Gestalt der Weiterentwicklung der S-II. Fred Michaels spielt mit dem Gedanken, den Kongreß zu bitten, die Finanzierung von NERVA einzustellen und die Mittel für diese Entwicklungslinie bereitzustellen.«

Hans Udet schüttelte den Kopf, wobei sein graublondes Haar im fluoreszierenden Licht schimmerte. »Nein. Begreifen Sie doch.«

Josephson beugte sich vor. »Nein. Jetzt müssen Sie zuhören und begreifen, Hans. Das ist kein Spiel, das wir hier spielen. Es bedarf ungeheurer Anstrengungen, für ein Programm wie das Ihre eine politische Koalition zu bilden und aufrechtzuerhalten. Jim Webb hat das in den Sechzigern für die NASA geleistet; und wir können froh sein, daß Fred Michaels heute diese Rolle übernimmt. Aber Wunder vermag auch er nicht zu vollbringen.«

Dies war das erstemal, daß Conlig Josephson persönlich begegnete. Der aalglatte Inspektor der NASA verströmte eine Aura bürokratischer Kompetenz, die ziemlich telegen war. Jeder Zoll ein Organisator. Anfang Vierzig, mit dem kleinen Kopf auf einem langen Hals, der hohen Stirn, den dicken Brillengläsern und dieser schnellen, zielstrebigen Motorik wirkte Josephson wie ein großer Laufvogel.

Doch seine trockenen Worte verfehlten ihre Wirkung bei Conlig nicht; plötzlich war er wie elektrisiert. Mein Gott. Er hat recht. Wir haben echte Probleme; es wäre durchaus möglich, daß diese Bastarde uns den Hahn zudrehen. Und wenn das passiert, kannst du drauf wetten, daß keiner von uns, der an NERVA arbeitet, auch nur im Ansatz am neuen Programm teilnehmen darf, worum auch immer es sich handelt. Conligs ganze Karriere - alles, sein ganzes Selbstwertgefühl - hing von dieser Entscheidung ab. Ein falsches Wort, und meine Laufbahn ist beendet. Weil es nämlich kein weiteres NERVA-Projekt mehr geben wird; jedenfalls nicht für mich.

»Also.« Josephson hatte seine Vorrede abgeschlossen. Er schwenkte den Kopf und schaute in die Runde. »Ein Resümee. Sie sollen mir sagen, wo Sie stehen und wie Sie die Erfolgsaussichten beurteilen. Ich möchte die ungeschminkte Wahrheit hören; jetzt ist nicht der richtige Moment für falschen Stolz. Das ganze Programm hängt davon ab, daß wir die richtigen Entscheidungen treffen.« Er nahm Udet ins Visier. »Wollen Sie anfangen, Hans?«

Der alte Deutsche setzte sich kerzengerade hin. »Die Wahrheit, Tim? Die Wahrheit, so wie es aus den Berichten hervorgeht, sieht so aus, daß NERVA in Schwierigkeiten steckt. Es ist uns bisher nicht gelungen, eine nennenswerte

Brenndauer zu erreichen.« In seinem abgehackten, mit einem Akzent behafteten und nicht ganz fehlerfreien Englisch, das von einem bizarren Alabama-Nölen unterlegt wurde, erläuterte Udet die unzähligen Probleme von NERVA - zu geringe Leistung der Pumpen, Schwachstellen an den Düsen - und die Maßnahmen, welche das Personal zu ihrer Behebung ergriff.

»Wie Sie sehen«, schloß Udet seine Ausführungen, »ist die NERVA keinen Blumentopf wert - im Moment jedenfalls. Aber.« Und nun beugte er sich vor und musterte Josephson durchdringend. »Aber das galt auch für die F-1, die erste Stufe der Saturn, in einer vergleichbaren Entwicklungsphase Anfang der sechziger Jahre. Falls die Aussichten nicht noch schlechter waren. Damals hatten wir schon Probleme mit einer instabilen Verbrennung; damals flogen die verdammten Dinger uns schon um die Ohren. Aber wir durften dranbleiben, Tim. Wir haben die Arbeit fortgeführt. Und wir haben die Probleme so gründlich gelöst, daß die Saturn V nie einen signifikanten Triebwerksschaden erlitten hat.

Und nun ist es das gleiche. Wir brauchen kein AlternativProgramm. Mit NERVA gibt es Probleme: keine Frage. Aber es handelt sich nur um konstruktive Aspekte. Wir haben uns bisher nicht von solchen Dingen aus dem Konzept bringen lassen und jetzt auch nicht.« Während er sprach, hatte Conlig das Gefühl, daß Udet eine sublime Botschaft an Josephson ausstrahlte. Wenn Sie mich sehen, sehen Sie von Braun höchstselbst. Meine Triebwerke sind Helden. Wir haben euch zum Mond gebracht, und wir sind auch in der Lage, euch zum Mars zu bringen. Vertrauen Sie meinem Urteil und lassen Sie mich die Arbeit fortführen .

Conlig wünschte, er wäre in Santa Susana - oder noch besser, in Nevada, in Jackass Flats, in der stillen Leere der Wüste. Er wollte von diesem politischen Hickhack weg und sich wieder als Ingenieur betätigen.

Er dachte an Natalie.

Seine Beziehung zu Natalie war eine Art von Schmerz, der an der Peripherie seines Bewußtseins nagte. Er wußte, daß sie nicht glücklich war. Verdammt, genauso wenig wie er. Doch nun war in seinem Kopf kein Raum für solche Gedanken. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn NERVA sich aus dem Sumpf gezogen hatte, würde er.

Josephson schaute ihn an. Die stumme Aufforderung, seinen Vortrag zu halten.

Langsam und stockend, ohne Udets preußischaristokratischen Redefluß, hob Conlig an zu sprechen.

Er beschrieb die Maßnahmen, die zur Lösung der Probleme bezüglich der Kavitation und der Wasserstoff-GraphitKorrosion getroffen worden waren. Dann kam er auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die sich daraus ergaben, daß die starke Strahlung zu Fehlanzeigen beim Inhalt des Wasserstofftanks führte. Und so weiter. Dennoch, so sagte er Josephson, war die Arbeitsgruppe zuversichtlich, bald einen vernünftigen Probelauf und Systemtest zu erzielen. Immerhin hätte die Ausrüstung schon bewiesen, daß die Konstruktion die Vibrationen und Belastung während eines Flugs aushielt.

Er bemühte sich, die Situation in möglichst rosigen Farben zu schildern.

Josephson hörte kommentarlos zu. Dann wandte er sich an Bert Seger.

Der Programmdirektor hatte seit einer Woche mit den Leuten von NERVA zusammengesessen, in Santa Susana und den anderen Versuchsanlagen herumgeschnüffelt, wobei er sich offensichtlich selbst über den Stand der Dinge informieren wollte. Nun saß er dem spindeldürren Josephson gegenüber. Die obligatorische Nelke steckte im Knopfloch, direkt unter dem Anstecker mit dem Kruzifix.

Kurz und bündig schilderte Seger die Probleme aus seiner Sicht. »Tim, ich befürchte, daß wir den Zeitplan für NERVA vergessen können, nachdem wir die aktuellen Änderungen vorgenommen haben. Das eigentliche Problem sind die Sicherheitsmaßnahmen; wir müssen die Gerüste nach dem kleinsten Problem dekontaminieren und demontieren. Ich will damit nicht sagen, daß überhaupt keine Sicherheitsmaßnahmen mehr getroffen werden sollen; natürlich nicht. Aber wir müssen die jeweiligen Abschnitte des Programms von nun an realistisch planen. Realistischer jedenfalls, als wir es bisher getan haben. Aber.« Er verstummte.

»Ja, Bert?«

»Sie haben ein paar gute Leute dort draußen, Tim. Sowohl bei uns als auch bei den Auftragnehmern. Sie gehören zu den Besten. Und sie tun alles, um dieses Ding flügge zu machen. Ich empfehle, daß wir diesen Weg weiter beschreiten, Tim; Sie sollten keinen Richtungswechsel vollziehen.«

Josephson hörte stumm zu. »In Ordnung. Danke, Bert, meine Herren. Sie haben im wesentlichen das gesagt, was ich von Ihnen hören wollte. Ich glaube, ich muß Ihr Vertrauen in diese störrische Maschine, die NERVA, teilen. Ich werde Ihnen auch weiterhin Rückendeckung geben. Aber ich hoffe, Sie merken sich, was ich Ihnen heute gesagt habe. Bert, ich möchte, daß Sie mir einen aussagefähigen Statusbericht vorlegen, den ich oben präsentieren kann. Und ich möchte, daß Sie mir einen neuen Zeitplan vorlegen, Hans: einen realistischen Zeitplan. Und ich möchte, daß Sie sich daran halten - ab sofort.«

Diese deutlichen Worte, die er monoton heruntergeleiert hatte, paßten irgendwie nicht zu Josephsons trockenem Sachbearbeiter-Habitus. Conlig fühlte sich unbehaglich und wollte hier raus.

Als sie durch die Tür gingen, rief Josephson Bert Seger noch einmal zurück. »Ich möchte, daß Sie diese Arschgeigen härter rannehmen, Bert«, hörte Conlig Josephson sagen. »Tolerieren Sie keinen Scheiß mehr. Machen Sie Druck, damit diese nukleare Rakete endlich fertig wird.«

Das muß man uns nicht erst sagen, sagte Conlig sich, während er den anderen durch die tapezierten Korridore folgte.

Als er das Gebäude verließ, fühlte Conlig trotz der drückenden Hitze eine enorme Erleichterung. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Es war, als ob der Lehrer ihn nach Hause geschickt hätte. Abgefuckte Bürokraten.

Jedenfalls würde er nun wieder an die Arbeit gehen: Energie einsetzen und die Angst abbauen, die sich in ihm angestaut hatte.

Januar 1977 — Januar 1978

Es dauerte ein ganzes Jahr, bis sie von der NASA einen Bescheid auf ihre Bewerbung bekam. Und doch, nachdem sie den ersten Schritt getan hatte, entwickelte sich eine Eigendynamik von zwingender Logik.

Ein paar Wochen, nachdem sie die Bewerbung abgeschickt hatte, erhielt sie ein Telegramm von der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Sie verlangte weitere Informationen: einen ausführlicheren Lebenslauf, Kopien von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und ein fünfhundert Worte umfassendes Expose zu den Experimenten, die sie auf dem Mars durchführen wollte.

Also legte sie ihre Ideen über Abflußkanäle dar, daß sie unter dem Mars-Regolith nach Wasser suchen wollte und was das für die Kolonisierung des Planeten bedeuten würde.

Sie redigierte das Expose so, daß es exakt fünfhundert Worte umfaßte. Sie hatte zuvor schon mit Regierungsbehörden zu tun gehabt und wußte, daß die geringste Regelwidrigkeit all ihre Aussichten zunichte machen würde.

Im Grunde nahm sie die Bewerbung nicht allzu ernst. Aber sie wollte dennoch so weit kommen wie möglich: vielleicht erreichte sie eine Position, wo sie die Wahl hatte, ob sie diese verrückte Option - eine Karriere im Raumfahrtprogramm -weiterverfolgte oder nicht.

York las in einer Fachzeitschrift, daß nicht einmal tausend Wissenschaftler sich auf die Stellenausschreibung der Nationalen Akademie der Wissenschaften beworben hatten: viel weniger - laut Aussage der Presse -, als die NASA sich erhofft hatte.

York verstand das. Die Karriere eines Wissenschaftlers war kurz, wenn man die Produktivität als Maßstab nahm: der Höhepunkt der Schaffenskraft lag bei Ende Zwanzig/Anfang Dreißig. In diesem Alter war York nun. Eine Ausfallzeit war einer langfristigen Karriere unter Umständen abträglich.

Zumal die NASA die Nachwuchswissenschaftler in der Vergangenheit nicht gerade gefördert hatte. Kein einziger der ersten wissenschaftlichen Astronauten, die sich 1965 gemeldet hatten, waren mit Apollo zum Mond geflogen.

Man mußte schon verrückt sein, um die Karriere und das wissenschaftliche Ansehen für die geringe Aussicht aufs Spiel zu setzen, eines fernen Tages ins All zu fliegen; noch dazu bei einer Organisation wie der NASA, die fast nur aus Ingenieuren und Piloten bestand.

Völlig verrückt.

Ein paar Wochen, nachdem sie das Expose eingereicht hatte, erhielt sie einen Brief von der Akademie. Immerhin war es noch kein Ablehnungsbescheid.

Sie hatte bei den Kriterien Alter, Körpergröße und

Gesundheitszustand den Anforderungen genügt und war auch in wissenschaftlicher Hinsicht für das Programm qualifiziert, mit nachgewiesener Expertise in einem relevanten Fachgebiet. Man schickte ihr weitere Formulare zu: einen

Bewerbungsbogen für den Öffentlichen Dienst, ein Formular für die Flugtauglichkeits-Untersuchung, wie es auch die Luftwaffen-Piloten ausfüllen mußten und noch ein paar andere.

Und sie sollte sich auf dem Brooks-Luftwaffenstützpunkt in Texas melden, um sich einer Musterung zu unterziehen.

In den Hort der heldenhaften Testpiloten! Mein Gott. Ich bin dicht dran.

Als sie in die texanische Ebene hinabstieg, drängte ihr sich das Bild eines Pfannkuchens auf. Es war ein heißer Junitag; nachdem sie das Flugzeug verlassen hatte und die paar Meter zur Abfertigungshalle ging, fühlte sie sich wie in einem Backofen.

Sie traf sich mit den anderen Kandidaten im Hotel, wo sie untergebracht waren. Angesichts der versammelten Koryphäen wollte sie schier verzagen. Ein Abteilungsleiter Chemie der Firma Caltech hatte sich eingefunden, ein Dr. med. aus Princeton, der gleichzeitig in Physiologie promovierte; ein Physik-Professor von Cornell, ein promovierter Physiologe, der gleichzeitig Jet-Pilot war und ein Dr. med. der auch Jet-Pilot war. Und so weiter. Es war offensichtlich, daß die >Wissenschaftler<, die der NASA vorschwebten, auch eine >operative< Qualifikation besaßen; mehrheitlich handelte es sich um Leute mit einer Doppelqualifikation als Pilot und Wissenschaftler.

York war die einzige Frau.

Mein Gott. Weiße männliche Piloten mit Habilitation. Da kann ich gleich einpacken.

Die Kandidaten nahmen gemeinsam das Mittag- und Abendessen ein. Dann organisierten die Männer Ausflüge zum Alamo, der in der Innenstadt von San Antonio gelegen war. York hatte mit diesen Macho-Veranstaltungen nichts am Hut und bemühte sich, nicht in eine Depression zu verfallen.

Am nächsten Morgen mußte sie um sechs Uhr Texas-Zeit aufstehen, was vier Uhr Berkeley-Zeit entsprach. Das war schon einmal das erste Handicap. Sie durfte nicht einmal einen Kaffee trinken; sie mußte die Tests mit nüchternem Magen durchführen und bis zum Mittagessen warten.

Die Tests würden die ganze Woche dauern.

Zuerst wurde sie auf Glukose-Verträglichkeit untersucht. Den Armen wurde Blut entnommen, derweil sie eine ekelhaft süße Glukose-Flüssigkeit schlucken mußte.

Dann erfolgten Sehtests: sie wurde auf Farbenblindheit untersucht, und die Netzhaut wurde photographiert, wobei sie von einem Blitz geblendet wurde. Sie mußte einen Liter lauwarmes Wasser trinken, woraufhin ein Gewicht auf den Augapfel gestellt wurde, um den Flüssigkeitsaustritt zu messen.

Anschließend erfolgten medizinische Untersuchungen. Sie mußte vier Stunden lang in einem Faraday’schen Käfig liegen, einer Metallhülle, die sie vor elektrischen Feldern abschirmte, während ein Kardiogramm erstellt wurde. York kam sich vor wie ein Schimpanse im Zoo. Dann wurde sie in einer Art Fallschirmgurt aufgehängt, während das Blut in die Füße floß. Sie mußte hyperventilieren, bis die ersten Ausfallerscheinungen auftraten und das Blickfeld verschwamm.

Dann - brutal schnell - wurde sie einem EKG unterzogen. Sie ging treppauf und treppab, wobei sie Elektroden an die

Brust halten mußte. Am Ende des Tests mußte sie in ein Mundstück blasen, zwecks Messung des Volumens des ausgeatmeten Kohlendioxids.

Es erfolgten Untersuchungen des Innenohrvorhofs, des Gleichgewichtsapparats des Mittelohrs. Abwechselnd warmes und kaltes Wasser wurde ihr ins Ohr gespritzt, um die Kanäle des Vestibulums zu irritieren und sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ärzte schauten ihr in die Augen, um die Zeitdauer zu ermitteln, bis die Augenlider aufhörten zu flattern.

Später sollte sie auf einer geraden Linie durch einen verdunkelten Raum gehen. Damit sollten eventuelle Störungen des Gleichgewichtssinns festgestellt werden. Als das Licht wieder anging, sah sie, daß sie vielleicht einen Meter von der Mittellinie nach links abgewichen war.

Beim Kippstuhl handelte es sich um ein weiteres Gerät zur Untersuchung des Gleichgewichtsapparats. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem elektrischen Stuhl, der sich auf einer rotierenden Plattform in der Mitte eines stockdunklen Raums befand. Sie wurde auf dem Stuhl angeschnallt, und Elektroden wurden an ihr befestigt, um die Augenbewegung zu verfolgen. Dann wurde der Stuhl mit einer Drehzahl von zwanzig Umdrehungen pro Minute gedreht und gleichzeitig nach vorn und hinten geneigt. Kipp- und Drehrichtung wurden ständig umgekehrt. Es war wie eine Fahrt in einem Karussell, das von einem Irren betrieben wurde; bei jedem Kippen überkam York ein Brechreiz, doch die Genugtuung des Erbrechens gönnte sie diesen Arschlöchern nicht.

In halbstündigen Intervallen mußte sie Urinproben abliefern; zu diesem Zweck mußte sie reichlich Wasser trinken. Sechsmal wurde ihr eine Blutprobe entnommen. Schließlich kollabierten die Venen in beiden Armen wegen der wiederholten Einstiche.

Die körperlichen Eignungstests wurden durch psychologische Tests aufgelockert: sie mußte mit Bauklötzen spielen,

Selbstportraits zeichnen und einen fünfhundert Fragen umfassenden Persönlichkeitstest absolvieren. Des weiteren standen Intelligenztests, Rorschach-Tintenklecks-Tests, Gedächtnis-Tests, Wortschatztests sowie Mathematik-Tests und Tests zum Leseverständnis auf dem Programm.

Sie arbeitete ein Blatt mit persönlichen Werten< durch, um Aufschluß über die Motive zu geben, aus denen sie zur Raumfahrt neigte. Sie brütete über den fünfzig Fragen, die mögliche Motive beinhalteten wie Geld und Ruhm, das Wohl der Menschheit, Abenteuerlust und Forschungsdrang.

Zunächst wollte York ehrlich antworten. Natürlich sind es die wissenschaftlichen Entdeckungen. Schließlich wählen sie hier Missions-Spezialisten aus! Was, zum Teufel, erwarten sie sonst? Doch dann kamen ihr Zweifel. Einseitigkeit, die Fixierung auf die Wissenschaft würde keinen guten Eindruck machen. Jeder Astronaut, sogar ein Spezialist, würde sich auch an Routinearbeiten beteiligen müssen. Zumal ein Mitglied der Mars-Expedition auch in der Öffentlichkeit eine gute Figur machen und in der NASA-Tradition den guten Amerikaner, das Abbild von John Glenn verkörpern mußte.

Also ging sie die Punkte nochmals durch und fragte sich, welche Kriterien in den Augen der Prüfer wohl relevant wären.

Dann wurde ihr bewußt, daß die anderen Kandidaten das gewiß auch schon erkannt und die Antworten in ähnlicher Weise frisieren würden.

Sie ging die Liste ein drittesmal durch und versuchte das zu berücksichtigen.

Ein ernster junger Mann erörterte mit ihr ein von einem Computer erstelltes Streuungsbild. Die Ergebnisse schienen ihn zu verwirren: hier war sie nur befähigt, ein Ziel auf einmal zu verfolgen, dort erwies sie sich als flexibel und war imstande, mehrere Ziele gleichzeitig und gar in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander zu verfolgen; hier drüben deutete das Resultat auf eine hohe Eigenmotivation hin, doch dort drüben arbeitete sie am liebsten im Team. und so weiter. Die Ergebnisse waren völlig widersprüchlich und degradierten den Test zur Farce.

Sie knirschte mit den Zähnen und schwieg, um es nicht noch schlimmer zu machen. Sie fragte sich, was das alles wohl kostete.

Eines Morgens bekam sie Bariumsulfat zum Frühstück, als Kontrastmittel für eine Röntgenuntersuchung der Gallenblase. Ein andermal wurde ihr eine Tritiumlösung verabreicht, um den prozentualen Anteil an Körperfett zu bestimmen. Sie schluckte Pillen, die Durchfall verursachten und die den Urin grün färbten. Beim EEG wurden ihr elf Nadeln in einen halben Quadratzoll Kopfhaut gepiekst.

Sogar die Zähne wurden kontrolliert. Ein Dentist ließ sich ebenso fröhlich wie dümmlich über den ruinösen Zustand ihres Gebisses aus. Es schien ihm viel Freude zu bereiten, ihr detailliert zu schildern, welche Reparaturarbeiten an ihren Zähnen auszuführen seien. Sie wollen doch nicht mitten im leeren Raum zwischen Erde und Mars Zahnschmerzen oder gar einen Abszeß bekommen, ho ho!

Bei ihrer gesunden Lebensweise hatte York bisher kaum ein Krankenhaus von innen gesehen. Die hiesigen Ärzte waren von der Luftwaffe und Spezialisten in der Luft- und Raumfahrtmedizin. In ihrer Unwissenheit hatte sie erwartet, die Tests wären bloß hart. Die Wirklichkeit übertraf dann die schlimmsten Befürchtungen. Sie empfand die Untersuchungen als Qual: barbarisch, brutal, oftmals lächerlich, doch kaum wissenschaftlich.

Bei der letzten Untersuchung, die freitags stattfand, stand eine Sigmoidoskopie auf dem Programm. Sie mußte sich selbst ein Klistier einführen. Dann legte sie sich auf eine Liege, und eine Ärztin schob ihr eine Sonde in den Hintern und dehnte den Darm. Sie schob die Sonde immer weiter hinauf.

York war zu diesem Zeitpunkt ebenso erschöpft wie zornig, gleichermaßen erniedrigt und ängstlich. Es bedurfte einer enormen Willensanstrengung, diese letzte Zumutung über sich ergehen zu lassen.

Vor San Antonio hatte sie die Sache auf die leichte Schulter genommen. Vielleicht, um Ben zu gefallen. Sie hatte es als ein Abenteuer betrachtet. Als amüsantes Kräftemessen zwischen ihr und der NASA - sie wollte sehen, wie weit sie kam, bevor sie rausflog.

Nun war alles anders. Diese Investition in Schmerz und Erniedrigung sollte nicht umsonst gewesen sein.

Die Bewerbung zurückzuziehen kam nun nicht mehr in Frage.

Die medizinischen Untersuchungsergebnisse stellten eine Unbedenklichkeitsbescheinigung dar. Sie hatte >keine offenkundigen medizinischen und psychischen Probleme«

Beruhigend, sagte sie sich. Das war eine Woche in der medizinischen Hölle wert gewesen.

Dann wurde sie zum Vorstellungsgespräch nach Houston eingeladen.

Das Flugzeug landete auf dem Houston Intercontinental. York ging zum Terminal und zum dort befindlichen Continental Airline Presidents’ Club. Sie stand vor einer einseitig verspiegelten Glastür. Auf ihr Klopfen hin öffnete ein NASA-Angestellter, ein kleiner, properer Mann in einem Blazer. Sie wies sich aus, und er führte sie hinein - aus dem Blickfeld der Presse? - und bot ihr eine Diät-Limonade an.

Als die Kandidaten vollzählig waren - es war die Gruppe aus San Antonio -, wurden sie in einer Limousine zum Nassau Bay Hilton chauffiert.

Als sie das klimatisierte Flughafengebäude verließ, schlug die feuchte Augusthitze ihr förmlich ins Gesicht; als ob der Boden dampfen würde. Obwohl es schon später Nachmittag war, schien die Sonne noch im Zenit zu stehen.

Die Limousine fuhr zunächst auf der I-59 nach Süden, in Richtung Innenstadt, dann über eine Umgehungsstraße in südöstlicher Richtung auf der 610. Das Nassau Bay Hilton befand sich in der Nähe des JSC, über dreißig Kilometer außerhalb der Stadt an der I-45.

Houston war eine in einer Ebene gelegene, wuchernde Ansiedlung. Die Stadt wirkte neu. Die Straßen waren modern und in gutem Zustand. Große, bunte Reklametafeln, welche die Schnellstraße säumten, stachen ihr ins Auge. Viele waren in spanischer Sprache beschriftet; immerhin wäre Texas einmal fast an Mexiko gefallen.

Es gab nur wenige Anzeichen für das hier angesiedelte Raumfahrtprogramm: aufblasbare Raketen auf dem Gelände von Gebrauchtwagenhökern, eine Ladenzeile mit der Bezeichnung >Tranquility Plaza<5 und eine

Basketballmannschaft, die >Rockets<.

Jenseits des hitzeflimmernden Highways ragten die Wolkenkratzer wie Startrampen aus der Ebene. Die

Wassertürme, große ovale Tanks, glichen den marsianischen Kampfmaschinen aus Krieg der Welten. Entlang der Straße waren Neon-Thermometer aufgestellt, die selbst zu dieser Tageszeit noch etwa fünfunddreißig Grad anzeigten.

Houston würde einen deutlichen Kontrast zu den älteren Städten bilden, in denen sie bisher gelebt hatte. Möchte ich wirklich hier leben?

Die anderen Kandidaten unterhielten sich über Elvis’ Tod, der erst ein paar Tage zurücklag. Sie hatte nichts dazu zu sagen -vielmehr langweilte die endlose Berichterstattung sie -, und sie war froh, als sie das Hotel endlich erreichten.

Das Nassau Bay Hilton war ein Hochhauskomplex am Ufer des Clear Lake, ein paar Minuten vom JSC entfernt. Die Stimme des Manns an der Rezeption hatte einen starken texanischen Akzent, und in der Lobby gab es einen Andenkenladen mit Cowboyhüten und - stiefeln. Sie hatte ein komfortables Einzelzimmer, mit Aussicht auf einen Yachthafen und ein azurblaues Schwimmbecken, das zu benutzen sie aber keine Zeit haben würde.

Am nächsten Morgen stand sie um halb sechs auf. Halb vier Berkeley-Zeit. Die Sonne stand schon hoch am Himmel.

Das Vorstellungsgespräch fand gleich nach dem Frühstück statt. Also wurde sie - es war noch nicht einmal halb sieben -in einer Limousine auf der NASA-Straße Eins in westlicher Richtung chauffiert.

Zur Rechten, nördlich der Interstate, befand sich eine umzäunte Koppel. Quaderförmige schwarze und weiße Gebäude waren über die Ebene verstreut, wobei jeder Bau mit großen Zahlen markiert war.

Der Fahrer - ein massiger, schwitzender Mann namens Dave - bog nach rechts in eine breite Einfahrt ein. Zur Rechten stand ein Granitblock mit der Inschrift LYNDON B. JOHNSON SPACE CENTER. Und zur Linken lag eine Saturn V auf dem Boden. Die Triebwerksstufen waren demontiert und auf Lkw-Anhängern deponiert worden.

Dave grinste, als er sah, wie sie die Saturn mit offenem Mund anstarrte. »Das ist nur ein Testgerät«, sagte er. »Die erste, die jemals gebaut wurde. Als es so aussah, als ob wir Apollo einstellen würden, war die Rede davon, eins der Fluggeräte zu nehmen und hier oder vielleicht auf Cape Canaveral auszustellen. Eine Mondrakete im Vorgarten.« Er kicherte und schüttelte den Kopf. »Können Sie sich das vorstellen?«

Die Vorbeifahrt an der Saturn schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Das Raketentriebwerk alterte. York sah Korrosion an den großen Nieten und Spinnweben an den großen A-Trägern, an denen das Triebwerk angeflanscht war. Ein Teil der Textilbespannungen um die Triebwerkstrichter war mit Flechten bewachsen. Das Sternenbanner an der Flanke der zweiten Stufe war verblaßt, und die rote Farbe der Streifen lief an der Hülle hinunter.

Hinter der Saturn befand sich ein kleiner Raketen-Garten. York identifizierte eine Redstone, den schwarzweißen Bleistift, der den ersten Mercury-Kapseln ihre suborbitalen Hüpfer ermöglicht hatte. Die Redstone stand aufrecht, war aber durch Drahtseile am Boden fixiert; York verglich das Ensemble mit dem gefesselten Gulliver. Und sie sah die Raumfähre, ein Produkt des Windkanals, die Attrappe des Space Shuttles, das nie gebaut worden war. Das flugzeugartige Gerät stand senkrecht und wurde von einem großen weißen Außentank gestützt.

Der Rumpf der Raumfähre war ungeschlacht und plump. Die Wölbung der Flügel indes, die aus den Zylindern der Zusatzraketen wuchsen, verlieh ihr in Yorks Augen eine besondere Ästhetik; das Raumflugzeug wirkte elegant, wie ein gestrandetes Relikt aus einer Parallelwelt, einer Zukunft, die nicht Wirklichkeit geworden war.

In Gebäude 110 durchlief sie die Sicherheitskontrollen. Dann erhielt sie eine Mappe mit Fotokopien und wurde zu Gebäude 4 geschickt. Sie ging zu Fuß dorthin.

Bei den Gebäuden handelte es sich um schwarze und weiße Blöcke. Einige gruppierten sich um eine Art Hof, wo Gräser im Sonnenlicht hellgrün leuchteten. Es gab Kirschbäume und einen Ententeich mit einer kunstvollen Steineinfassung. Nur daß die Enten fehlten: Ben Priest hatte ihr gesagt, daß die Tiere zuviel Schmutz gemacht hätten und deshalb verscheucht worden wären. Wir sind schließlich nicht wegen der Enten hier. Es herrschte tropische Hitze, und es regte sich kein Lüftchen. Die Stille wurde nur vom Zirpen der Grillen gestört. Das Gehen fiel ihr schwer; sie spürte förmlich, wie die Hitze ihr Energie entzog.

Sie versuchte sich vorzustellen, hier zu arbeiten.

Fahrräder lehnten an jedem Gebäude, und vor den Eingängen standen große, mit Sand gefüllte Aschenbecher, aus denen Zigarettenstummel ragten.

Es herrschte eine ruhige Atmosphäre. Die quaderförmigen Gebäude Wirkten nicht wie eine Regierungseinrichtung. Es war eher wie eine Universität, sagte sie sich. Und wirklich hatte Dave, ihr Fahrer, es als >Campus< bezeichnet.

Das JSC hatte seine eigenen marsianischen Wassertürme. Es gab eine >Antennen-Farm<, ein eingezäuntes Feld mit großen weißen Schüsseln, die wie Blumen zur Sonne gerichtet waren. Und hier und da schimmerten große Tanks mit flüssigem Stickstoff.

Die Klimaanlage in Gebäude 4 arbeitete auf Hochtouren; es waren fünfzehn Grad Temperatur weniger als draußen. Das Gebäude war düster und verwinkelt. Decken und Böden waren gefliest, und die Wände wiesen den für Firmengebäude der sechziger Jahre charakteristischen gelb-braunen Anstrich auf. Sie spürte, wie der Mut sie verließ. Sie fühlte sich wie in einem trostlosen Sozialamt.

Sie nahm den Aufzug. Das Vorstellungsgespräch sollte in der >Astronauten-Bibliothek< stattfinden.

Auf ihr Klopfen hin wurde die Tür geöffnet, und ein Mann begrüßte sie: groß, spindeldürr, mit graublondem Haar und blauen Augen. Bekleidet war er mit Jeans und einem modischen Hemd. Er lächelte sie an und gab ihr die Hand.

Sie erkannte ihn. Es war Joe Muldoon. Ein MondSpaziergänger schüttelte ihr die Hand.

Der unvermittelte Wechsel der Perspektive traf sie mit Wucht. Dies war wirklich das Raumfahrtzentrum. Hier waren echte Astronauten, um Himmels willen. Veteranen.

Sie versuchte, Muldoon anzuschauen, doch es war ihr nicht möglich, ihm ins Gesicht zu sehen; sein Bild schien vor ihren Augen zu verschwimmen, und sie hatte den Eindruck, daß er glitzerte und leuchtete.

Und ich habe mich beworben, einer von ihnen zu werden. Mein Gott. Werden die Leute mich auch so ansehen? Wie, zum Teufel, werde ich damit umgehen?

Joe Muldoon führte sie zu ihrem Platz, einem mitten im Raum aufgestellten Sessel.

Es gab kaum Bücher in dieser >Bücherei<. An der Wand hinter ihr hing eine Reihe von Fotos: Portraits von toten Astronauten, Russen und Amerikanern. Mein Gott. Hilf mir, mich zu entspannen. Ein Großbild-Fernsehgerät lief in der Ecke, das die Aktivitäten der Skylab A-Besatzung im Orbit übertrug. Der Ton war leise gestellt. Der geteilte Bildschirm zeigte die Erde aus der Perspektive von Skylab sowie Flugbahndaten der Bodenstation. Gelegentlich hörte sie das Gemurmel der Luft-Boden-Schleife, über welche die Flugleitung mit der Raumschiff-Besatzung sprach.

Das Gremium bestand aus sieben Personen: sieben männliche Weiße an einem langen Tisch aus Eiche. Etliche Gesichter waren ihr aus den Presse- und Fernsehberichten über das Raumfahrtprogramm bekannt: Astronauten, ranghohe NASA-Mitarbeiter aus Wissenschaft und Verwaltung.

Und in der Mitte saß - Chuck Jones. Sie wollte schier verzagen. Der Vierschrötige mit dem dunklen Teint nickte ihr zu. Das früher schwarze, inzwischen graumelierte Haar war militärisch kurz gestutzt.

Mein Gott. Chuck Jones. Seit der Jahre zurückliegenden, bizarren Exkursion mit Jorge Romero in die San Gabriel-Berge hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Jones klopfte auf den Tisch und bat um Ruhe. »Danke, daß Sie gekommen sind, Natalie. Wir haben Ihre Bewerbung gelesen. Sie ist sehr beeindruckend.«

»Danke.«

»Dann können wir die Sache also abkürzen. Berichten Sie uns von Ihren wissenschaftlichen Studien und sagen Sie uns, in welcher Hinsicht sie uns beim Flug zum Mars unterstützen sollen.«

Plötzlich war ihr Mund so trocken wie der Sand von Jackass Flats. Was für eine Frage.

Zögerlich antwortete sie.

Sie skizzierte die Hauptrichtung ihrer Arbeit, die geologischen Untersuchungen auf der Grundlage der MarinerDaten und wie sie an der Formulierung einer Hypothese mitgewirkt hatte, daß es auf dem Mars vielleicht Wasser in flüssiger Form gegeben habe und daß es unter der oxidierten Oberfläche vielleicht immer noch welches gebe. Und daß,

wenn die Besatzung dieses Wasser eindeutig nachwies, die weitere Erforschung des Mars gewährleistet sei. Stoßt auf Wasser, und es wird noch viele Flüge geben, Jungs. Plätze für euch alle. Aber ihr braucht mich, um das Wasser zu finden.

Chuck Jones musterte sie. Sie war sicher, daß er sich von jener Exkursion an sie erinnerte.

Sie versuchte, locker zu wirken, zu lächeln und ihnen in die Augen zu sehen. Alles, was ihr entgegengebracht wurde, waren kalte Blicke. Doch während sie von ihrer Arbeit sprach, wuchs ihre Zuversicht, und ein Teil der Ehrfurcht fiel von ihr ab. Diese Männer kochten auch nur mit Wasser. Sogar Joe Muldoon. Und wo sie die Prüfer nun mit diesem Bewußtsein betrachtete, wurde ihr bewußt, daß mindestens drei von ihnen sie diskret musterten, ihr auf den Busen und die Beine schauten.

Nach diversen Fragen wollte Jones wissen, nach welchen Kriterien sie eine Landezone auf dem Mars auswählen würde. Wieder so eine heikle Frage, doch ihre Zuversicht war mittlerweile gestiegen. Sie schaute lächelnd in die Runde.

»Natürlich besteht mein Ziel in erster Linie darin, bei der ersten Mission ein erfolgreiches wissenschaftliches Programm durchzuführen«, sagte sie. »Deshalb ist der wissenschaftliche Wert der Landezone das ausschlaggebende Kriterium. Aber es ist auch offenkundig, daß die erste Landung extrem schwierig sein wird. Also müssen wir die Landezone primär nach dem Gesichtspunkt auswählen, eine sichere Landung für die Besatzung zu gewährleisten.« Sie leierte eine kurze Liste herunter: die Landezone müßte sich in einer weiten Ebene befinden, damit der Landeanflug nicht durch Berge beeinträchtigt würde. Die Windgeschwindigkeit müßte gering sein, man müßte eine Jahreszeit mit möglichst wenigen Staubstürmen wählen und so weiter.

»Wir müssen einen Wissenschaftler zum Mars schicken. Aber ein toter Wissenschaftler auf dem Mars würde uns nicht viel nützen.«

Das entlockte dem gestrengen Gremium zum erstenmal ein Lächeln. Schließlich war das eine Reprise von Deke Slaytons berühmter Begründung seiner Politik, keine Wissenschaftler auf die frühen Apollo-Missionen mitzunehmen. Es war alles Teil der Botschaft, die sie ihnen vermittelte, in Wort, Gestik und Subtext. Ich bin eine Wissenschaftlerin, eine gute dazu, mit dem passenden Profil. Aber ich bin bereit, euch Jungs bei der Verwirklichung eurer Träume zu helfen. Mehr noch - ihr braucht mich, um diese Träume zu verwirklichen.

Nun wurden substantiellere Fragen an sie gerichtet.

»Doktor York, wären Sie bereit für eine zweijährige Reise zum Mars?«

»Ich. sicher. Natürlich nur, wenn realistische Erfolgsaussichten bestehen. Hauptsächlich möchte ich aber aus wissenschaftlichen Gründen zum Mars fliegen. Und ich glaube, ich wäre vielleicht eher imstande, die Erfahrung zu artikulieren als.«

»Soll das nun >ja< oder >nein< heißen, Doktor?«

»Hä?«

»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Würden Sie zum Mars fliegen wollen?«

»Ich glaube schon. Ja.«

»Doktor York. Angenommen, ich sage Ihnen, die Chancen, diese Reise zu überleben, stehen bei eins zu zwei. Wollen Sie dann immer noch fliegen?«

»Das ist gar nicht gesagt. Die Statistiken sind ungenau, und die Analysen.«

»Angenommen, ich wüßte es. Würden Sie immer noch fliegen wollen?«

»Eins zu zwei?« Sei ehrlich, Natalie. »Auf keinen Fall. Ich würde, sagen wir, eins zu zwanzig akzeptieren, falls das gesichert wäre.«

»Eins zu zehn?«

»Wenn es gesichert wäre.«

»Und wie wollen Sie die Laufbahn als Astronautin und Wissenschaftlerin überhaupt miteinander vereinbaren? Besteht hier nicht die Gefahr einer Konkurrenz?«

»Sicher. Aber das Entwicklungspotential überwiegt diese Nachteile.« Auf dem Mars war die nächste Entdeckung schon in Sichtweite. Wie bei Darwin auf den Galapagos-Inseln... »Aber ich müßte meine Karriere schon weiterverfolgen. Ich würde versuchen, zweigleisig zu fahren.«

»Wie soll das aussehen?«

»Vielleicht ein Drittel bis die Hälfte der Zeit sollte ich meinen Forschungen widmen.«

Chuck Jones beugte sich vor. Seine schwarzen Augen schienen direkt in sie hineinzublicken. »Doktor York. Sie sind nicht verheiratet.«

Was, zum Teufel, soll das? »Nein, bin ich nicht.«

»Wie ist Ihre Meinung zur bevorstehenden Nationalen Frauen-Konferenz?«

».Was soll damit sein? Es tut mir leid, ich vermag nicht zu folgen.«

»Sie müssen wissen, daß sie im November hierher nach Houston kommt. Soweit ich weiß, wird ein Umzug durch Houston stattfinden - die First Lady, Billie Jean King. Wenn Sie dann hier sind und bei der NASA arbeiten, werden Sie dann an diesem Umzug teilnehmen?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Ich habe mit solchen Dingen nicht allzu viel am Hut.«

»Werden Sie diese Konferenz unterstützen - passiv oder nicht, Doktor York?«

Sind Sie auch eine von diesen Feministinnen, die sich in letzter Zeit mausig machen? Mein Gott. Muß ich darauf antworten? Dem Ärger, den sie verspürte, verlieh sie im Tonfall Ausdruck: »Ich befürworte das Gleichstellungsgesetz von 1974, und mir ist an seiner Durchsetzung gelegen. Ich unterstütze die volle Berufstätigkeit der Frau, flexible Kinderbetreuung und andere grundlegende Dinge. Zum Teufel, ja, ich werde die Konferenz unterstützen, wenn Sie es genau wissen wollen.« Sie sah sie herausfordernd an. Und wenn das gegen mich spricht, dann fahrt zur Hölle, ihr Arschlöcher.

»Möchten Sie uns etwas über Ihre Beziehung zu Michael Conlig erzählen?«

Sie spürte, wie die Handflächen sich mit kaltem Schweiß überzogen. Mein Gott. Das kommt ja immer besser. Das war geradezu empörend. Für einen Moment erwog sie, den Raum zu verlassen.

Dann erstattete sie ihnen einen knappen Bericht über die >nicht Fleisch, nicht Fisch<-Beziehung mit Mike.

»Und sind Sie im Moment zusammen?« fragte Jones.

Sie fragte sich, was die bessere Antwort wäre. Ja oder nein? Vielleicht gelang es ihr später, Mike zu überreden, ihre Version zu bestätigen.

Ach, zum Teufel damit. »Ich weiß nicht, Sir. Es ist ziemlich kompliziert.«

Jones erwiderte ihren Blick für ein paar Sekunden. Dann lehnte er sich im Sessel zurück. »Gut, Doktor. Michael Conlig arbeitet für einen unserer Hauptauftragsnehmer am NERVA 2-Projekt. Aber das wissen Sie bereits. Es wäre gut möglich, daß Sie mit ihm zusammenarbeiten.«

»Wäre möglich.«

»Sind Sie der Ansicht, Ihre komplizierte Beziehung würde irgendwelche Probleme aufwerfen?«

Diesmal machte sie kein Hehl aus ihrem Ärger. »Nein. Bin ich nicht. Ich muß diese Unterstellung in aller Form zurückweisen, Sir. Mike konzentriert sich auf seine Arbeit. Er geht geradezu darin auf. Das gilt auch für mich.«

Jones hob die Augenbrauen. »Ist das vielleicht der Grund für die Komplikationen?«

Fick dich. »Wir beide verfolgen ein Ziel. Wir beide würden unsere Arbeit nach besten Kräften verrichten, ob wir nun zusammenarbeiten oder nicht.« Sie schaute trotzig in die Runde, als ob sie das Gremium vor weiteren Fragen dieser Art abschrecken wollte.

Doch die Neugier auf ihr Privatleben schien nun ohnehin gestillt zu sein. Die nächste Frage bezog sich wieder auf die Wasservorkommen auf dem Mars.

Als das Vorstellungsgespräch beendet war, spürte sie eine kalte Befriedigung.

Sie hatte keine Ahnung, ob sie bestanden hatte oder nicht. Es gab zu viele Faktoren, die sich ihrer Kontrolle entzogen, einschließlich der Kultur und Politik der NASA - zu viele Dinge, auf die sie trotz ihrer Qualifikation, Erfahrung und Eloquenz nicht den geringsten Einfluß hatte. Doch wenigstens hatte sie den Eindruck, ihr Bestes gegeben zu haben.

Dennoch fühlte sie sich irgendwie besudelt. Diese verdammten Fragen über Mike. Sie wünschte, sie hätte eine Möglichkeit gefunden, der Antwort auszuweichen.

Doch die einzige Alternative hatte darin bestanden, zu antworten oder das Handtuch zu werfen. Sie hatte sich fürs Antworten entschieden. Als der Adrenalinstoß nun versiegte, hatte sie das Gefühl, sich selbst untreu geworden zu sein. Sie hatte den ersten Kompromiß von vielen gemacht, die sie wohl akzeptieren mußte, wenn sie in die NASA eintreten und dort überleben wollte.

Als sie sich erhob und zum Gehen wandte, verabschiedete der Mond-Spaziergänger sie mit einem langen und langsamen Winken.

Der Bescheid von der NASA kam - endlich - gleich nach Weihnachten.

Sie stand im Flur des Apartments in Berkeley und sah auf den Umschlag aus weißem Büttenpapier mit dem blauen NASA-Logo.

Dies war ein entscheidender Augenblick in ihrem Leben. Ein wirklicher Scheideweg, eine Gabelung im Schicksal. In einer Richtung lag das Raumfahrtprogramm. Vielleicht sogar der Mars. In der anderen.

Irgendwie war sie nicht imstande, sich vorzustellen, was in der anderen Richtung lag, was folgen würde, falls dieser dünne, edle weiße Briefumschlag eine Absage enthielt.

Sie legte ihn ungeöffnet auf den Schreibtisch.

Dann kochte sie Kaffee und öffnete die restliche Post. Irgendwie schien es nicht angemessen, Den Brief wie jeden anderen zu öffnen.

Mike war draußen in Santa Susana mit den Probeläufen beschäftigt. York hatte seit ein paar Wochen nichts mehr von ihm gehört.

Seine Abwesenheit tangierte sie immer weniger. Sie hatten das Gespräch nie beendet, das sie in jener Nacht im Hotel in LA begonnen hatten. Mein Gott, es war Januar. Fast ein Jahr her. Sie wußte nicht, welche Richtung ihr Leben nehmen würde. York hatte Mike nicht einmal von der Bewerbung fürs Astronauten-Korps, vom Besuch in Houston und der Quälerei auf dem Luftwaffenstützpunkt erzählt. Ben Priest wußte natürlich Bescheid, aber sie hatte ihn gebeten, Mike nichts davon zu erzählen. Ben hatte sich zwar gewundert - sie hatte sich sogar über sich selbst gewundert -, doch sie hatte darauf bestanden.

Sie rechnete nicht damit, daß ihrer Bewerbung Erfolg beschieden war. Eigentlich nicht. Aber sie wollte sehen, wie weit sie kam. Sie betrachtete es als etwas, das sie nur für sich tat, ohne die Billigung oder Mißbilligung von Mike oder sonst jemandem.

Sie würde Mike alles erzählen, wenn sie scheiterte.

Falls sie scheiterte.

Und wenn sie Erfolg hatte? Wie würde sie es ihm dann beibringen?

Oh, hallo, Schatz, ich bin’s. Ach, nichts Besonderes... Ähem. Ja. Ich vermisse dich auch. - Ach, übrigens. Ich habe meine Karriereplanung umgeworfen und werde zum Mars fliegen. Meine Eierstöcke werden von der kosmischen Strahlung verödet werden... Ach was,! Wieso ich dir nichts davon gesagt habe? Ach, du weißt doch, wie das ist. Wir beide haben so furchtbar viel um die Ohren!. Mike? Mike?...

Sie öffnete den Umschlag.

Der Bescheid war negativ. Die Bewerbung war abgelehnt worden. Sie erfüllte nicht die verdammten körperlichen Voraussetzungen für die NASA.

Sie wankte zum nächsten Stuhl und setzte sich hin. Etwas schmolz in ihrem Innern und floß wie durch einen Abfluß ab.

Es wird nicht geschehen. Vielleicht werde ich in einem sterilen Labor in Houston eine Gesteinsprobe unter Glas untersuchen. Und jemand anders wird auf dem Mars Spazierengehen und mit den Händen durch den rostfarbenen Dreck fahren. Aber nicht ich.

Wo es nun amtlich war, wurde ihr bewußt, wieviel ihr daran gelegen hatte. Im Rückblick sah sie den Traum vom Mars wie einen rubinroten Laserstrahl durch ihr Leben tanzen, nach dem all ihre Handlungen sich ausgerichtet hatten. Sie hatte das Raumfahrtprogramm mit Zynismus betrachtet: seine Kultur und die Auswirkungen auf die Gesellschaft ihres Landes. Zum Teufel, sie lehnte es wirklich ab. Die ganze Sache war grundfalsch und eine reine Geldverschwendung, und die wissenschaftlichen Ziele wären auch realisierbar gewesen, ohne schlecht ausgebildete menschliche Wesen in überladenen Raumschiffen mit Leckagen im Bordsystem ins All zu schicken.

Doch solange sie existierte, diese zerbrechliche Leiter von der Erde ins All, wollte sie sie besteigen. Ja! Ich gebe es zu. Ich wollte. Ich wollte es mehr als alles andere!

Sie zerknüllte den Brief und warf ihn auf den Boden.

Sie war froh, daß Mike nicht hier war.

Ben Priest rief ein paarmal an und hinterließ Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Er empfand Mitgefühl für sie.

Sie rief ihn nicht zurück.

Jorge Romero rief an. Er war förmlich am Durchdrehen.

»Weißt du, daß kein einziger Geologe den Eignungstest bestanden hat? Ist das zu fassen? Mein Gott. Wie kann man nur zum Mars fliegen und keinen Geologen mitnehmen? Ich sag dir, Natalie, ich werde darum kämpfen.«

York wollte das eigentlich gar nicht hören.

Es war nun eine Woche her, und sie hatte versucht, die ganze Sache abzuhaken. Die meiste Zeit genügte sie sich selbst, doch

nun hätte sie sich doch jemanden zum Reden gewünscht. Und wenn es ihre Mutter gewesen wäre.

Na ja, vielleicht auch nicht.

Sie befand sich in einem leichten Schockzustand: es war, als ob sie alles auf eine Karte gesetzt und ihre ganze Energie in eine Zukunft investiert hätte, die Mars hieß.

Doch nun sagte sie sich, daß der Traum vom Mars eine Art pubertäre Phantasievorstellung gewesen sei, von der sie sich endlich befreien müßte. Sie spürte einen Anflug von Scham, weil sie die üblen Spiele des Bewerbungsausschusses mitgemacht hatte. Und es entsprach sicher der Wahrheit, daß sie weit mehr - sogar in bezug auf die Mars-Studien - hier auf der Erde zu erreichen vermochte, als wenn sie ein Jahrzehnt ihres Lebens mit der vagen Hoffnung auf einen Raumflug vertan hätte.

Sie mußte endlich erwachsen werden.

Eine Sirenenstimme wie Romero hatte ihr nun gerade noch gefehlt.

Doch sein Redefluß hielt an. »Von den Geologen bist du am weitesten gekommen, Natalie. Du warst überhaupt die einzige Frau in der Endausscheidung. Mein Gott, wissen diese Kerle in Houston denn, was sie tun? Das ist doch kein Fliegerclub für Männer. Ich will diese Entscheidung anfechten und ihnen Kontra geben.«

»Ich weiß nicht, Jorge.«

Und so ging es weiter. Doch sie legte nicht auf.

Schließlich war sie damit einverstanden, daß Jorge ihren Namen wieder auf die Liste setzte.

Es gab viele Leute, die Romero einen Gefallen schuldeten. Sie vermutete sogar, daß er mit Ben Priest gesprochen hatte.

Sie mußte wieder nach San Antonio fliegen und sich erneut ein paar Tests unterziehen. Romero zog renommierte Ärzte der Luft- und Raumfahrtmedizin hinzu, die besten des Landes, damit sie sich des Falls annahmen. Diesmal waren die Untersuchungen noch schwerer zu ertragen, so groß war ihre Anspannung.

Sie unterzog sich dem Programm. Wie betäubt durchlief sie die verschiedenen Stationen; es kam ihr geradezu irreal vor.

In der Zwischenzeit versuchte sie, Pläne für den Rest ihres Lebens, hier auf der Erde, zu schmieden. Und sie versuchte, indes ohne Erfolg, einen Weg zu finden, Kontakt zu Mike aufzunehmen.

Einen Monat nach den medizinischen Untersuchungen läutete das Telefon. Als York abhob, hörte sie Chuck Jones’ Stimme.

»Natalie?«

Ihr stockte der Atem.

Es war ein ganz normaler Tag gewesen, einer von vielen, der bald aus dem Kurzzeitgedächtnis gelöscht und sich im Dunst der Vergangenheit verlieren würde; als sie jedoch vernahm, was Jones zu sagen hatte, wußte sie, daß sie sich für ihr ganzes Leben an diesen Tag erinnern würde.

»Ja. York.«

»Die neuen medizinischen Ergebnisse sehen gut aus«, sagte Jones direkt. »Wollen Sie zu uns rüberkommen?«

Mein Gott.

»Natalie? Sind Sie noch dran?«

»Äh. ja, ich bin noch dran.«

»Nehmen Sie an?«

. Soll ich es wirklich tun? Aber was war mit den Routineangelegenheiten, die sich aus einem Stellenangebot ergaben? Gehalt, Eintrittsdatum, Stellenbeschreibung? Was ist mit der Rente, um Gottes willen? Soll ich vor lauter Dankbarkeit die Katze im Sack kaufen?

»Ich werde mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit annehmen.«

Es trat ein längeres Schweigen ein. Als Jones wieder dran war, sagte er ohne Umschweife: »Wir brauchen ein >ja< oder >nein<, Natalie. Dazwischen gibt’s nichts.«

Sie atmete durch. Sei’s drum. Geronimo. »Sie bekommen ein >ja<.«

Zeitdauer der Mission [Tag] Plus 066 [Std:Min:Sek] 06:34:51

Phil Stone hatte nicht gut geschlafen. Es war fast eine Erleichterung, als Musik aus dem Lautsprecher drang, von Gitarren erzeugte Sphärenklänge.

Er schloß die Augen und vergrub den Kopf im Schlafsack; vielleicht konnte er noch ein paar Minuten herausschinden.

Er hörte ein dumpfes Klappern und unterdrückte Flüche aus der Schlafkabine neben sich. Eine Faust schlug auf die Schaltfläche eines Interkoms. Ruhe, verdammt!

Dann war Ralph also auch schon wach.

Er hörte Natalie niesen. Das lag am Staub. Er stellte ein Problem dar; Staub setzte sich unter den Bedingungen der Mikrogravitation nicht, und trotz der Luftumwälzung und Filter wies die Luft einen hohen Staubanteil auf: durch das Essen, durch Bartstoppeln und Hautabschuppungen.

Die Musik brach ab.

Fred Haise, der heute Capcom war, meldete sich über Funk. »Wenn ihr bereit seid, Ares, habe ich ein paar Aktualisierungen für den Flugplan, für den Speiseplan und die Morgennachrichten.«

»Gebt uns die Nachrichten, Houston«, knurrte Gershon.

»Sicher. Wir haben. Die Lakers haben die Boston Celtics im Spiel um den NBA-Titel vier zu zwei geschlagen. Natalie wird sich freuen, das zu hören. Oder auch nicht. Die Entführung der TWA-Maschine dauert an. Es sieht so aus, als ob die Passagiere von Bord gebracht und in den Slums von Beirut verteilt worden seien. Hier ist etwas für Sie, Ralph; ich weiß, daß Sie ein Faible für Science Fiction haben. Gene Roddenberry hat gesagt, er hätte die Vorbereitungen für eine neue Star Trek-Szene abgebrochen. Sie sollte wie die erste Folge sein, und der gewaltige Raum-Kreuzer Enterprise sollte mit noch stärkeren Phaser-Batterien bestückt werden, und überhaupt sollte das Schiff an Größe und Leistungsfähigkeit des Antriebs alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Doch dann hat er es sich anders überlegt; anscheinend hat er sich von euch inspirieren lassen. Roddenberry will nun eine neue Serie mit dem Titel Star Trek: Explorer kreieren. Sie handelt von einer Handvoll Menschen und Aliens, die mit einer Nußschale von Raumschiff tiefer ins All vorstoßen als je einer zuvor. Was sagt ihr dazu, Jungs. Die Wissenschaft wird zum Motor der Science Fiction. So heißt es hier.«

Gershon lachte. »Wer spielt mich? Und wer von uns ist das Alien?«

Haise, der zwar eine Frohnatur, aber kein Rhetoriker war, las weiter. Nach ein paar Minuten ging die monotone Stimme Stone zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.

Dennoch hielt er die Nachrichten von zu Hause für wichtig. Es erinnerte sie daran, daß es eine bewohnbare Welt gab, zu der sie nach dem Flug in dieser Blechbüchse zurückkehren würden.

Stone ging auf die Toilette, wusch sich und zog ein T-Shirt sowie eine kurze Hose an. Dann hängte er sich eine Lesebrille an einer Schnur um den Hals.

Heute müßte eigentlich ein guter Tag werden. Gemäß Missionsplan sollte Stone ein paar optische Beobachtungen vornehmen, um das TCM-2, das morgige KurskorrekturManöver vorzubereiten. Dies war ein Höhepunkt der Mission, auf den er sich schon seit der Erstellung des Flugplans gefreut hatte.

Doch zuvor mußte er noch viel Routinekram erledigen. [Std:Min:Sek] 08:15:31

Nach dem üblichen diffizilen Frühstück bestand für die Besatzung der erste Punkt der Tagesordnung darin, die Wände des Missionsmoduls mit Desinfektionstüchern abzuwischen.

Das mußte alle paar Wochen getan werden - und noch öfter, wenn die Eierköpfe auf der Erde ihnen sagten, daß die bakterielle Belastung im Missionsmodul den Grenzwert überschritten hatte. Das war auch ein Problem der Mikrogravitation. Mikroorganismen fanden auf den driftenden Wassertropfen ideale Lebensbedingungen vor und vermehrten sich in den Winkeln des Moduls rasant. Darüber hinaus beeinträchtigte die Mikrogravitation die Immunreaktion der Besatzung: das hatte etwas mit der verringerten Anzahl von Lymphozyten im Blut zu tun.

Anschließend schwebte die Besatzung zur Raum-Arche.

Bei der Arche handelte es sich um eine Reihe von Tierversuchen, von denen ein paar von Jugend forscht< entwickelt worden waren. Es gab Kunststoffbehälter in verschiedenen Größen, in denen Elritzen, sechs Mäuse, ein paar hundert Fliegenpuppen und eine Spinne namens Arabella enthalten waren. Es gab sogar einen Behälter mit Würmern. Stone tippte gegen einen der transparenten Behälter. Er sah, daß die Elritzen enge Kreise zogen; offensichtlich waren sie durch die fehlende Schwerkraft desorientiert.

Während der Planung der Mission hatte York ihre Skepsis in bezug auf den wissenschaftlichen Nutzen der Arche zum Ausdruck gebracht, und Gershon hatte es von vornherein abgelehnt, sich mit einem solchen Mist zu befassen. Doch nun waren beide, wie Stone feststellte, recht angetan von der Ausrüstung.

Stone fand die Würmer interessant. Sie stammten von Samoa und hießen Palolo. Sie lebten in Tunnels, die sie tief in Korallenbänke trieben und tauchten nur zur Paarung auf, im letzten Viertel des Oktobermonds. Alljährlich. Doch niemand wußte, wie die Würmer den richtigen Zeitpunkt feststellen konnten. In Samoa waren die durch den Mond verursachten Gezeiten zu schwach, um von den Würmern wahrgenommen zu werden. Zumal das Mondlicht höchstens ein paar Zentimeter in die felsigen Behausungen der Würmer vordrang.

Deshalb sollte durch dieses Experiment ermittelt werden, wie die Würmer sich verhielten, wenn sie nicht mehr dem irdischen Schwerefeld ausgesetzt waren.

Die Spinne befand sich in einem Behälter mit dem Etikett Araneus Diadematus. Ein solides Netz mit einem Durchmesser von mindestens dreißig Zentimetern war im Behälter aufgespannt. Die Spinne hockte im Mittelpunkt.

»Gut, Arabella«, murmelte Stone, »dann bist du nun ein Astronaut, was? Schau’n wir mal, was du so draufhast.« Er öffnete die Vorderseite des Behälters, und die Fäden des Netzes wurden in Schwingungen versetzt. Dann zerriß das Netz, und die Spinne driftete haltlos in der Luft. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Vernichtung des Netzes. Doch bei dem Experiment ging es gerade darum, daß die Spinne ein neues Netz spinnen sollte. Akustische Transducer erzeugten ein hochfrequentes Schallfeld im Behälter, das durch jede

Bewegung der Spinne gestört wurde. Außerdem gab es Lichtschranken und eine Kamera.

Die dreiköpfige Besatzung scharte sich um den Behälter, riß Witze über die Spinne und tippte an den Behälter und die Ausrüstung.

Nun schwebte Stone zu einem kleinen Experimental-Garten hinüber. Er hatte eher Ähnlichkeit mit einer Vitrine, in der sich ein Blech mit Erdreich von den Ausmaßen einer Aktentasche befand. Dort gediehen Erbsen, Weizen, Gurken, Petersilie, Zwiebeln, Dill, Fenchel und Knoblauch. Ein paar Pflanzen wuchsen in der Mikrogravitation, und andere in einer botanischen Zentrifuge, in der die Bedingungen auf dem Mond und dem Mars simuliert wurden.

Stone inspizierte die Reihen der Pflänzchen. Die Erbsen hatten sich in den ersten paar Wochen gut entwickelt, doch nun sah es so aus, als ob sie verdorren würden. Er gab ihnen Wasser und Nährstoffe. Die Pflanzen bildeten nur sporadisch Samen, doch aus Tests ging hervor, daß die Pflanzen einen hohen Nährwert hatten; die Mikrogravitation beeinträchtigte also nicht die Protein-Synthese. Die Wurzeln schlugen jedoch in alle Richtungen aus, weil sie in der Schwerelosigkeit nicht in der Lage waren, sich zu orientieren.

Stone wurde vom Kontrast der grünen, fruchtbaren Pflanzen und der kalten Schwärze hinter der wenige Zentimeter dicken Hülle des Missionsmoduls überwältigt. Er hauchte die Erbsenpflänzchen an, um mit konzentriertem Kohlendioxid ihr Wachstum zu stimulieren.

[Std:Min:Sek] 09:57:57

Stone zog am isokinetischen Trainingsgerät. Die Maschine war in der Mitte des Missionsmoduls an einem Ausleger verschraubt. Das Gerät hatte einen Hebel mit zwei Griffen, Schulterpolster und Handgriffe, die über eine Gelenkkette eine Luftturbine antrieben. Die Trainingsmaschine war eine Neuentwicklung, welche die Tretmühlen und Rudergeräte ersetzte, die bei früheren Flügen verwendet worden waren. Indem er die Füße auf einer Plattform abstützte, vermochte Stone eine Reihe von Übungen durchzuführen.

Er schaute ständig auf die in der Maschine integrierte Uhr und grämte sich jedesmal wegen der Zeit, die er noch trainieren mußte. Er fühlte sich unwohl; das Hemd war durchgeschwitzt, und Schweiß klebte an der Brust und zwischen den Schulterblättern. Als einzige Ablenkung diente ein kleines rundes Beobachtungsfenster, das neben ihm in die Druckhülle eingelassen war. Er starrte hinaus in die Dunkelheit.

Nach ein paar Monaten - so hatte Stone es jedenfalls verstanden - paßten die Körperfunktionen sich an die Mikrogravitation an und pendelten sich in einem neuen Gleichgewicht ein, das sich jedoch von dem auf der Erde unterschied. Das neurovestibuläre System, der AusgleichsMechanismus im Ohr, versagte zuerst - deshalb auch die Raumkrankheit -, doch erholte es sich nach ein paar Tagen wieder. Dann stellte der Flüssigkeitshaushalt des Körpers sich um, anschließend das kardiovaskuläre System, das Herz und die Blutgefäße.

Der irdische Normalzustand indes stellte sich nicht mehr ein.

Stones Gehirn, das nicht auf Mikrogravitation programmiert war, glaubte, das überschüssige Blut würde sich im Kopf ansammeln, weil zuviel Flüssigkeit im Körper war. Also befahl es den Nieren, mehr Urin auszuscheiden. Und das barg die Gefahr der Dehydrierung. Deshalb mußte Stone täglich über einen Liter Flüssigkeit mit einer Salzlösung trinken. Das hatte die NASA von den Russen abgeschaut.

Die übermäßige Urinausscheidung hatte jedoch zur Folge, daß Kalzium und Kalium aus den Knochen gezogen wurden. Wegen des Kalziummangels bestand nun das Risiko, daß die Knochen spröde wurden oder sich Nierensteine bildeten, und das fehlende Kalium verursachte womöglich Herzprobleme. Also mußte er Nahrungsmittelzusätze einnehmen, und für den Fall von gravierendem Knochenschwund waren anabolische Steroide verfügbar.

Die Muskeln wurden nur minimal belastet, so daß - falls er dem nicht entgegenwirkte - Muskelschwund eintreten würde. Deshalb mußte er an der Trainingsmaschine das volle Programm absolvieren. Dann gab es noch Hilfsmittel wie den Pinguin-Anzug - so genannt, weil man beim Training wie der besagte Vogel umherwatschelte. Dieser Anzug bestand aus elastischen Bändern, die den Träger in eine fötale Körperhaltung zwangen. Auf diese Art arbeiteten die Muskeln ständig, als ob sie sich gegen die Schwerkraft stemmten. Und dann gab es noch den chibis, die russische Bezeichnung für Kiebitz. Das hatte die NASA auch von den Sowjets abgekupfert: verstärkte Beinkleider, die den Luftdruck an den Beinen verringerten und das Herz zu größerer Aktivität anregten, um Blut aus dem Unterleib nach oben zu pumpen.

Die isokinetischen Übungen wirkten auch dem MineralienEntzug der Knochen entgegen. Die Knochen waren immer stark genug, um den von den Muskeln ausgeübten Belastungsspitzen standzuhalten.

Die Besatzung mußte sich alle paar Tage einem Elektrokardiogramm und Seismokardiogramm unterziehen sowie die Atemfrequenz und das Atemvolumen messen. Die Ergebnisse wurden an die Ärzte auf der Erde übermittelt. Insgesamt ging durch den biomedizinischen Krempel ein ganzer Tag pro Woche verloren.

Der Besatzung gefiel das gar nicht. Deshalb sagte Stone sich, daß er den anderen mit gutem Beispiel vorangehen müsse. Wenn er schluderte, würden sie das auch tun. Also achtete er darauf, daß er wenigstens das Trainings-Minimum von einer Stunde pro Tag einhielt.

Dennoch entwickelte Stone, allen Vorsorgemaßnahmen zum Trotz, einen klassischen Fall von Hühnerbeinen, wie die Astronauten es nannten. An den Beinen trat Muskelschwund ein. Die Fußsohlen waren so weich wie bei einem Kleinkind. Und die Körperteile, die am schnellsten ermüdeten, waren die Hände. Die Hände wurden ständig auf eine Art und Weise beansprucht, die auf der Erde unüblich war. Sie zogen ihn durchs Modul und bremsten seine Masse ab.

[Std:Min:Sek] 11:43:24

Heute war Stones Duschtag. Jeder durfte einmal pro Woche duschen.

Er zog Hemd und Hose aus und schwang die Beine in die labile Duschkabine. Hierbei handelte es sich um einen Zylinder aus weißem Gewebe, der an eine große Ziehharmonika erinnerte. Er zog den Vorhang zu und hakte ihn in eine an der Decke befestigte Metallscheibe ein. Dann seifte er sich ein und spülte mit klarem Wasser nach. In Ermangelung der Schwerkraft floß das Wasser durch den Luftstrom vom Körper ab.

Er hatte das Gefühl, daß ganze Hautschichten sich lösten; die Katzenwäsche, die zwischen den Duschbädern nur möglich war, genügte eben nicht. Eine angenehme Nebenwirkung war, daß die Dusche die Muskeln entkrampfte.

Durch das in der Luft hängende Wasser hatte die Sache sowieso mehr Ähnlichkeit mit einer Sauna als mit einer Dusche.

Er dachte über seine Leute nach.

Sie alle waren von NASA-Psychologen über das menschliche Verhalten während langer Phasen der Isolation aufgeklärt worden. Stone hielt sich mit seiner Flugerfahrung für abgeklärt und robust. Doch bei seinen Leuten erkannte er hin und wieder die typischen Anzeichen der Isolation: Schlafstörungen,

Langeweile, Unruhe, Ängstlichkeit, Zorn, Depressionen, Kopfschmerzen, Reizbarkeit, nachlassende Konzentration und ein Verlust des Raum- und Zeitgefühls.

Die Ares wurde täglich mit Botschaften von irgendwelchen wohlmeinenden Leuten, Familienangehörigen und Freunden bombardiert, doch die Zeitverzögerung war inzwischen so groß, daß eine vernünftige Konversation unmöglich war. Und irgendwie hatten diese vertrauten Stimmen von jenseits der relativistischen Barriere den Effekt, daß der Besatzung die Isolation um so deutlicher bewußt wurde.

All das machte der Mannschaft zu schaffen.

Gershon wirkte ziemlich souverän, zumindest an der Oberfläche. Er war noch immer der alte Scherzkeks. Doch es traten zunehmend Dissonanzen auf. Gershon war von Beruf Pilot und kurze, heftige Adrenalinstöße gewöhnt.

Dennoch bewährte Ralph sich in Stones Augen. Gershon wußte, daß er seine Chance bekommen würde, wenn er die Marsfähre auf die Oberfläche brachte. Stone betrachtete es als seine Aufgabe, den Mann zu motivieren, bis sie den Mars erreicht hatten.

York indes war ein anderer Fall.

York war zugeknöpft, penibel und ein wenig verschlossen. Und überaus arrogant und herablassend. Und noch dazu ein Zivilist. Gershons Witze und Späßchen brachten sie schier zur

Weißglut, doch sie sagte nie etwas; statt dessen fraß sie es in sich hinein und schmollte nur. Das vergiftete die ganze Atmosphäre.

York war wie viele der berufstätigen Frauen, mit denen Stone bisher zu tun gehabt hatte. Soll heißen, sie hatte eine schwere Profilneurose.

Aber er beneidete und bewunderte sie wegen ihrer inneren Stärke.

Was ihn selbst betraf, so gestand Stone sich ein, daß die Mission alles für ihn war: das Raumschiff fliegen, seinen Auftrag ausführen, nachdem sie auf dem Mars gelandet waren und wieder zurückfliegen.

York hatte, im Gegensatz zu ihm, einen Blick für die größeren Zusammenhänge: diese grandiose Erfahrung, den interplanetaren Flug. Das waren innere Reservoire, aus denen York Kraft schöpfte und an denen sie - in dem Maße, wie sie im Verlauf der Mission aus ihrem Schneckenhaus herauskam -die anderen teilhaben ließ.

Zuweilen wurde sie sogar richtig poetisch.

Stone wußte, wie wichtig das war. Er hoffte, daß sie es auf diese Art schaffen würden. Und laut Aussage von Houston stieg sogar die Zuschauerquote der wöchentlichen Fernsehberichte - die nach der anfänglichen Begeisterung durch den Start steil abgefallen war - wieder an. Das war hauptsächlich Yorks Verdienst.

Er trocknete sich mit einem Handtuch ab und saugte die Wassertropfen in der Dusche mit einem Unterdruckschlauch ab. Das war eine fummelige und zeitaufwendige Arbeit.

Nachdem er die Duschkabine endlich abgebaut und verstaut hatte, war er wieder so frustriert und angespannt wie zuvor. Die entspannende Wirkung der Dusche war bereits verflogen.

[Std:Min:Sek] 13:12:5

Stone setzte sich an die Kontrollen des Missionsmoduls und ging die Betriebs-Parameter der Mehrstufenrakete durch: Lebensmittelverbrauch, Brennstoffverbrauch für die Lage- und Bahnregelung, Verdunstungsfaktor des Flüssigbrennstoffs.

Die Werte lagen überwiegend im grünen Bereich.

Doch die Sonnensegel, die wie Flügel aus den Seiten des S-IVB-Zusatztriebwerks wuchsen, drohten zu überhitzen. Die Segel konnten um fünfundzwanzig Grad geschwenkt werden, so daß die Sonnenstrahlen im spitzen Winkel einfielen und die Segel nicht überhitzten. Stone formulierte eine Empfehlung an das Kontrollzentrum, den Schwenk schon ein paar Tage früher auszuführen; Minuten später erwiderte Houston, daß man den Vorschlag prüfte.

Dann traten Schwierigkeiten bei der Stromversorgung einer ferngesteuerten Antennenschüssel auf, die zur Erde gerichtet war. Die Stärke des Signals war um drei Dezibel gesunken: vielleicht war ein Teil des Systems unter der thermischen Belastung ausgefallen. Das würde sich unter Umständen zu einem ernsten Problem auswachsen, denn die Übertragungsgeschwindigkeit, mit der hochauflösende Bilder zur Erde gesendet wurden, verringerte sich durch diesen Defekt. Die Bodenstation sagte, man würde zunächst nichts unternehmen, sondern erst ein paar Simulationen laufen lassen und Analysen erstellen.

Und nun traten noch Probleme mit ein paar Reglern der siebzehn Akkus des Moduls auf. Ein Regler, Nummer Fünfzehn, war schon vor ein paar Tagen ausgefallen, und nun folgte Nummer Drei. Das reduzierte die Stromversorgung des Moduls um ungefähr zweihundert Watt. Houston vermutete irgendwo einen Niederspannungs-Erregerstrom, der die Regler zu oft abschaltete, und Stone mußte die Zündsysteme des

Moduls umgehen und die Daten für den Energieverbrauch für die Spezialisten in den Nebenräumen des MOCR auslesen.

Es war eine langwierige, beinahe stumpfsinnige Arbeit. Der Routinekram gab einem wirklich den Rest; das war eine der Widrigkeiten des Langstrecken-Raumflugs. Doch das mußte sein, um diesen in Handarbeit hergestellten Blecheimer in Betrieb zu halten.

[Std:Min:Sek] 15:40:01

Endlich kam er dazu, sich der Navigation zu widmen.

Er schwebte zum Panoramafenster in der Messe hinunter und packte das optische Besteck aus.

Das Besteck umfaßte ein Teleskop mit achtundzwanzigfacher Vergrößerung und einen Sextanten. Der Sextant war ein kompaktes Gerät mit einem Okular und einer kalibrierten halbrunden Skala, um die Winkel zwischen den Sternen zu messen. Stone hantierte gern mit diesen schönen, schweren Messinginstrumenten. Falls er von diesem Flug ein Andenken mitnehmen würde, dann keinen Marsstein, sondern dieses kleine Instrument.

Stone plazierte sich vor das Panoramafenster.

Zuerst bestimmte er den scheinbaren Durchmesser der Sonnenscheibe, wodurch er die Entfernung des Raumschiffs von der Sonne ermittelte. Dann bestimmte er die Winkel zwischen der Venus und einem Fixstern und zwischen der Erde und demselben Fixstern. Mit diesen drei Messungen hatte er die Position im Raum bestimmt. Zur Sicherheit würde er noch ein paar zusätzliche Messungen durchführen.

Er war nicht imstande, das optische Instrument in der Mikrogravitation ruhig zu halten. Doch er kompensierte dieses

Manko, indem er die Instrumente in der Luft driften ließ; dann hielt er das Auge ans Okular und bekam ein genaues Ergebnis.

Das erste TCM6 war zehn Tage nach dem Start von der Erde erfolgt. Schon zu diesem Zeitpunkt war das Schiff deutlich von der programmierten Flugbahn abgewichen. Die Verantwortlichen in Houston hatten der Ares Parameter für Kurskorrekturen übermittelt, und das Korrektursystem der MS-II-Stufe - zwei modifizierte Mondfähren-Triebwerke - hatte die Geschwindigkeit um mehr als sieben Meter pro Sekunde erhöht. Doch nach den aktuellen Daten wich das Raumschiff noch immer leicht vom Kurs ab. Heute würde Stone Position und Geschwindigkeit des Raumschiffs ermitteln und den Kurs neu bestimmen; und morgen, wenn sie es denn schafften, würde das zweite TCM das Schiff vollends auf den richtigen Kurs bringen.

Die Bodenstation verfügte über eine ganze Palette an Möglichkeiten, um die Position eines Raumschiffs zu bestimmen. Je schneller das Schiff sich von der Erde entfernte, desto stärker wurde die Trägerfrequenz des Funks verschoben, wie beim Pfeifen eines vorbeifahrenden Zugs. Zur Bestimmung der Entfernung wurde ein Modulationsmuster - ein kurzer digitaler Code - zum Raumschiff abgestrahlt und wieder aufgefangen. Anhand der Laufzeit des Signals sahen die Spezialisten auf der Erde, wie weit das Schiff von der Erde entfernt war. Darüber hinaus verwendete die Ares eine experimentelle Methode, wobei der Winkel zwischen der Ares und einem Quasar - einer weit entfernten Radioquelle -gemessen wurde.

Doch nicht einmal die Kombination dieser Techniken erlaubte eine hinreichend präzise Ortung der Ares; die Genauigkeit betrug nur etwa die Hälfte des erforderlichen Werts.

Die Ares verfügte selbst über automatische optische Sensoren. Zum einen gab es zwei Sonnensensoren -Cadmiumsulfid-Photowiderstände - auf dem Sonnensegel. Dann gab es noch ein sogenanntes Sternfolge-Gerät, eine Linse mit einer Sondenröhre. Doch das automatische System war nicht allzu effektiv. Alle paar Tage wurde das Sternfolge-Gerät durch helle Teilchen irritiert, Abfallpartikel, die zusammen mit dem Raumschiff die Sonne umkreisten.

Also mußte Phil Stone - wie die irdischen Seefahrer es seit Tausenden von Jahren getan hatten - das Schiff nach den Sternen navigieren.

Er summte bei der Arbeit. Er wußte, daß er sein Handwerk beherrschte. Er hatte in Planetarien auf der Erde und im Mondlabor geübt; er war in der Lage, Messungen mit einer Genauigkeit von ein paar Bogensekunden durchzuführen. Diese Befähigung verschaffte ihm eine große Befriedigung.

Als er fertig war, packte er die Instrumente zusammen und schwebte wieder zu seiner Steuerkonsole. Dann gab er die Zahlen in den Computer ein, um die Position zu ermitteln. Natürlich würde er die Rohdaten an Houston übermitteln, doch er wollte sich beweisen, daß er selbst auch dazu imstande war.

Stone fand Gefallen daran, die Flugbahn des Raumschiffs zu visualisieren und zu ermitteln, wo er sich gerade befand.

Die Energie, die zum Einschuß in die Transferbahn verbraucht wurde, war für menschliche Begriffe monumental. Schließlich hatte es fünf Jahre gedauert, den Treibstoff in den Orbit zu transportieren. Im kosmischen Maßstab indes war der Betrag so gering, daß die Flugbahn des Raumschiffs kaum von der Erdbahn abwich. Nachdem der Ares-Verbund sich von der Erde abgestoßen hatte, driftete er nun neben dem Heimatplaneten im Orbit, wie ein Hund neben seinem Herrchen.

Die ersten Ergebnisse sahen gut aus; das Raumschiff war dort, wo es sein sollte. Wenn durch die TCM-2-Zündung die Geschwindigkeit um einen Meter pro Sekunde erhöht würde, wäre das schon genug.

Nach getaner Arbeit gönnte er sich eine Pause. Er drehte die Beleuchtung der Messe herunter und saß in der warmen Kabine am Panoramafenster, umgeben vom Summen der Lüfter.

Die Ares war nun allein im Weltraum: Erde und Mond waren zu einem Paar sternenartiger Lichtpunkte geschrumpft. Im ganzen Universum erschien nur die Sonne als Scheibe.

Das Gefühl der Isolation war überwältigend: weitaus intensiver, als er es bei den bisherigen Raumflügen erlebt hatte. Nicht einmal in Moonlab hatte er sich so einsam gefühlt. Wenn man sich nicht gerade hinter dem Mond befand, hatte man die Erde immer im Blick. Und in Skylab A dominierte die Erde ohnehin jeden wachen Augenblick, und man fand Halt an dieser großen Decke aus Licht, an den Kontinenten und Ozeanen, die unter einem dahinzogen.

Hier draußen war das anders. Es gab kein >oben< und >unten<: es gab nur kleine Felseninseln, die im All umhertrieben. Für den interplanetaren Raumflug würden die Menschen eine neue Art der Wahrnehmung entwickeln müssen, sagte er sich, ein dreidimensionales Bewußtsein.

Während die Augen sich an die Dunkelheit anpaßten, kamen die Sterne zum Vorschein: Millionen - viel mehr, als durch die trübe Atmosphäre der Erde zu sehen waren. Er sah die Galaxis, einen großen Fluß aus Sternen. Er erkannte den Rand der Scheibe in Richtung des galaktischen Zentrums, im Sternbild des Schützen. Staubwolken zogen um die Peripherie der Galaxis und erweckten den Eindruck, als ob sie gezackt wäre. Die näheren Sterne funkelten in den dunklen Narben. Und er sah die Jupitermonde, vier an der Zahl, neben dem leuchtenden Planeten aufgereiht.

Ralph schwebte aus der Helligkeit der Messe herauf und brachte ihm das Essen, zwei Beutel mit warmgemachtem, rehydrierten Eintopf. Stone steckte sich einen Stift in den Mund und rührte das Wasser ein, bis die Pampe die richtige Konsistenz hatte.

[Std:Min:Sek] 19:37:20

Nach dreizehn Stunden hatte die Besatzung ihr Tagespensum erfüllt. York fühlte sich wieder kribbelig. Also schluckte sie eine Tablette und ging schlafen. Stone wollte noch aufbleiben und vielleicht einen Brief schreiben.

Doch Gershon, der auch noch voller nervöser Energie steckte, wollte Darts spielen.

Die Dartscheibe war neben dem magnetischen Kartenspiel die Freizeiteinrichtung des Missionsmoduls. Die Dartpfeile hatten Klettspitzen und waren gut ausbalanciert.

Mit einem Spiel in der Schwerkraft war es aber nicht zu vergleichen. Für einen zielgenauen Wurf empfahl es sich, den Dartpfeil nicht zu schnell, aber doch mit etwas Schwung durch die Luft zu bewegen, um ihn zu stabilisieren. War er nämlich zu langsam, geriet er durch die Luftströmungen ins Trudeln.

Gershon stellte die Scheibe auf der Wissenschaftlichen Plattform auf, und er und Stone warfen die Pfeile so, daß sie die Werkstatt in ihrer ganzen Länge durchflogen.

[Std:Min:Sek] 21:01:32

Gershon sagte ihm, er solle aufstehen und in die Raum-Arche kommen.

Arabellas Behälter war nicht richtig geschlossen gewesen, und die Spinne hatte sich selbständig gemacht. Gershon wies auf ein großes Netz, das sich auf einer Fläche von ein paar Quadratmetern von einer Seite des Missionsmoduls zur andern zog.

Stone hoffte, daß trotz der mehrfachen Sterilisierung des Moduls genug Insekten überlebt hatten, um Arabella als Nahrung zu dienen. Gershon schüttete die FruchtfliegenLarven aus.

Sie flogen zum Mars, eingehüllt in ein Spinnennetz. Stone fand, daß das ein schönes Bild war.

[Std:Min:Sek] 23:32:37

Stone hatte seinen üblichen Weltraum-Traum.

Eigenartigerweise war er sich der Gründe für den Traum bewußt, obwohl er schlief: die Brise vom Wandventilator, das Gefühl des Falls in der Mikrogravitation, vielleicht eine unterbewußte Erkenntnis der Geschwindigkeit, mit der er reiste.

All das verquickte sich zu einem Traum vom Fliegen.

Er war umgeben von Wäldern, Flüssen und einem blauen Himmel, und er flog in geringer Höhe, wie ein Raubvogel.

Juni 1978

University of California, Berkeley

Manchmal kam York die Aussicht, die Stelle in Houston anzutreten, geradezu attraktiv vor, verglichen mit der Kungelei in den Elfenbeintürmen der Universität. Sie würde dorthin gehen, wo große Dinge geschahen: die Leute dort befaßten sich mit wichtigeren Tätigkeiten als Anträgen für neue Finanzmittel, und die Leistung wurde nicht nur an der Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen pro Jahr gemessen.

Dann wiederum kam ihr das völlig irreal vor.

Viele Leute rieten ihr von einer Tätigkeit für die NASA ab, von den akademischen Führungskräften abwärts. So sagte man ihr zum Beispiel, daß der Schwerpunkt der Astronautik sich nicht in Houston befände, sondern an Universitäten wie Cornell, wo Carl Sagan lehrte. Hätte ihre Arbeit über Ablaufkanäle auf dem Mars denn davon profitiert, wenn sie ihr Bündel geschnürt hätte und nach Texas gegangen wäre?

Die NASA schien wirklich eine anti-wissenschaftliche Haltung einzunehmen. Nach der Landung von Apollo 11 hatte gleich eine ganze Gruppe von Wissenschaftlern gekündigt: Bill Hess, Chefwissenschaftler in Houston, Elbert King, Kurator der Mondproben, Eugene Shoemaker, Leitender Geologe von Apollo. Shoemaker hatte seiner Skepsis hinsichtlich der Ausrichtung des Raumfahrtprogramms Ausdruck verliehen und die mangelnde Eignung des Apollo-Systems für die Erkundung des Mondes kritisiert: so wurden Oberflächenproben zum Beispiel mit Flaschenzügen in die Landekapsel gehievt! Und es sah mitnichten so aus, als ob die Dinge sich gebessert hätten. Wäre es beim Mars-Programm etwa anders?

Es war deprimierend. Wenn diese bedeutenden Männer schon nicht imstande waren, in der NASA etwas zu bewirken, welche Möglichkeiten hatte sie dann?

Besorgte Freunde hielten ihr Zeitungsberichte unter die Nase. Der Fall Tennessee Valley gegen Hill war soeben abgeschlossen worden. Der Oberste Gerichtshof hatte gegen den Bau des neuen Tellico-Damms entschieden, weil er das einzige bekannte Habitat eines kleinen Fisches namens Schneckenfänger überfluten würde. Die Menschen waren heute nicht mehr für sinnlose technische Großprojekte zu gewinnen - galt das nicht auch für sie? -, und was war wohl größer und sinnloser als die NASA?

Andere Leute unkten, sie würde als billige Hilfskraft verschlissen und Butterbrote für die Astronauten schmieren. Und wenn sie dann in den akademischen Betrieb zurückkehren wollte, würde eine riesige Lücke im Lebenslauf klaffen. Sie würde eine vielversprechende Karriere aufs Spiel setzen.

Außerdem brauchst du dir nur Dallas anzugucken, um zu sehen, in welche kulturelle Wüste du dich begeben willst. Und das Klima dort unten in Texas, meine Liebe. O je!

Sie stellte sich stur, schwang sich sogar zur Anwältin des Raumfahrtprogramms auf. Als eine Anwendung der Regierungstechnik rangierte die Raumfahrt irgendwo zwischen echter Wissenschaft und dem Gegenteil. Zumindest trug sie nicht aktiv zur militärischen Vernichtung von Menschen bei. Sie zitierte Ben Priest als ein Beispiel eines intelligenten, besonnenen Erwachsenen, der - wenn vielleicht auch mit Mühe - in der Schlangengrube der NASA überlebte.

Wie dem auch sei, der einzige Weg zum Mars führte über Houston. Damit war die Sache erledigt, was sie betraf.

Sie sah Mike Conlig nicht mehr.

Als sie sich schließlich dazu durchrang, ihm von ihrer Bewerbung zu erzählen, schien er nicht überrascht. Sie hatte sogar den Eindruck, als ob er es gar nicht ernst nähme.

Er rief noch ein paarmal an, aus Marshall und Santa Susana. Doch er kam nicht nach Berkeley, um mit ihr zu reden oder ihr zu helfen, eine Entscheidung zu treffen.

Vielleicht hielt er das für eine Laune von ihr und glaubte, daß sie es sowieso nicht schaffen würde. Wenn das stimmte, dann kannte er sie aber schlecht.

Oder vielleicht glaubte er auch, daß sie ein Verhältnis mit Ben Priest hatte. Seit Pasadena, und das war nun schon zwei Jahre her, war sie nur noch einmal mit Ben ins Bett gegangen. Doch sie war keine Schauspielerin; das, was geschehen war, verrieten ihre Stimme, der Blick und die Körpersprache, falls Mike überhaupt so feinfühlig war, das zu erkennen.

Was er, wie sie traurig erkannte, nicht war.

Doch ihre Unterhaltung war zu steif, und es blieben zu viele Dinge unausgesprochen, um es mit Sicherheit zu sagen.

Es waren viele Details zu beachten.

Sie erhielt einen zweiten Brief. Aus ihm ging hervor, daß sie sich in sechs Wochen in Houston melden sollte, um mit der Grundausbildung zu beginnen. Das war eine lächerlich kurze Frist für einen engagierten Wissenschaftler, um sich von seinen Verpflichtungen zu lösen. Sie verordnete sich einen achtzehnstündigen Arbeitstag. Sie versuchte, ihre eigene Forschungsarbeit abzuschließen und einen Beitrag zu den Gruppenarbeiten zu leisten. Sie wies den Doktoranden, die mit ihr zusammenarbeiteten, neue Aufgaben zu und ließ die Lehraufträge auslaufen.

Ihr Gehalt bei der NASA entsprach dem, was sie auch an der Universität als Dozentin bekommen hätte. Sie hatte zwar nicht erwartet, als Astronautin Reichtümer anzuhäufen, doch die Bezahlung war erbärmlich; vor allem in Anbetracht der Umwälzungen in ihrem Leben, dem enormen Zeitaufwand und den Risiken, um Himmels willen.

Das machte ihr so zu schaffen, daß sie Ben Priest anrief.

»Hat man mich auf dem Kieker?«

»Das hat nichts mit dir zu tun. Du mußt bedenken, daß du in einer riesigen Hackordnung ganz unten stehst, Natalie. Du kannst nicht mehr erwarten als ein Militär-Astronaut im Rang eines Stabsoffiziers. Das wirst du wohl einsehen. Und ihr Gehalt ist gestaffelt, weil sie nach der militärischen Tabelle besoldet werden.«

»Ja, aber die Tarife für Zivilangestellte sind auch gestaffelt, wenn man erst mal drin ist. Es herrscht ein Beförderungsstau, und,«

Er unterbrach sie: »Das mußt du selbst wissen, Natalie. Ist das wirklich wichtig? Hängt es wirklich vom Gehalt ab, ob du zur NASA gehen willst? Wenn nicht, hör auf zu nörgeln und mach weiter.«

Sie ließ sich das durch den Kopf gehen.

Sie unterschrieb die Unterlagen.

Sie mußte sich um die Rentenversicherung kümmern. Sie verkaufte das Auto und kündigte die Mietwohnung. Dann setzte sie ein neues Testament auf: ihre Mutter war die Hauptbegünstigte, und - nach einiger Überlegung - setzte sie Ben Priest als Testamentsvollstrecker ein. Sie kaufte sich eine neue Garderobe: Sommerhosen und Blusen, die dem Klima in Houston angemessen waren. Sie sprach mit ihrer Bank und stellte einen Nachsendeantrag für die Post.

Sie wurde sogar Opfer von Nachstellungen der Presse und örtlichen Rundfunkstationen, die auf eine Geschichte über die Frau im Weltall erpicht waren. Nach dem Erscheinen der ersten gehässigen Story - Weltraum-Schönheit hinter dem Mond - jagte sie die Reporter weg, und damit schien die Sache erledigt.

Dann fanden Abschiedszeremonien statt. Sie haßte das.

Sie fuhr ein letztesmal durch Berkeley. Den Dwight Way entlang, über die Telegraph Street, an den Häuschen mit den Schindeldächern vorbei, und dann durch den Strawberry Canyon. Die Hügel waren mit üppigem sommerlichen Grün überzogen. In der Ferne, jenseits der Ebene von Berkeley, sah sie das Weichbild von San Francisco und Marin County, mit der rostfarbenen Golden Gate-Brücke als Bindeglied. Die Luft war klar und roch nach Eukalyptus.

Wie konnte sie all das gegen den feuchten Smog von Houston eintauschen?

Sie hatte nicht berücksichtigt, wie problematisch dieser Aspekt ihrer Odyssee werden würde. Ihr Arbeitsplatz, das Apartment, das sie seit Jahren bewohnt hatte, Berkeley an sich: all das, so wurde ihr nun - vielleicht zu spät - bewußt, machte ihr Leben aus. Die Areologie, die Erforschung der Geologie des Mars, und der Flug ins All waren eine Sache - doch sie hatte nicht geahnt, wie schwer es ihr fallen würde, die Wohnung zu räumen, die Karten und Abschiedsgeschenke entgegenzunehmen, Adressen auszutauschen und immer wieder Auf Wiedersehen zu sagen.

Mittwoch, 5. Juli 1978

Zentrale von Rockwell International, Los Angeles

Gershon ging um den Wagenpark, um sich nach der Fahrt von der Stadt hierher die Beine zu vertreten. Es war kälter, als er es von Kalifornien erwartet hätte.

Die Niederlassung von Rockwell zog sich an der südlichen Grenze des Internationalen Flughafens von Los Angeles hin. Auf der anderen Seite des Zauns befand sich die Betonfläche des Flughafens. Flugzeuge rollten wie Spielzeuge zwischen entfernten Gebäuden. Er hörte das leise Grollen startender Jets, und ein schwacher Geruch von Kerosin stieg ihm in die Nase. Wenn er die Augen zusammenkniff, erkannte er eine Anzahl großer Flugzeuge in einer Warteschleife am Himmel.

Das Gebäude des Rockwell-Hauptquartiers war ein trister, vierstöckiger Backsteinbunker ohne ein einziges Fenster. So etwas hatte Ralph Gershon noch nie gesehen; der Bau sah aus wie diese skurrilen modernen Skulpturen, mit denen die Künstler einen Reibach machten. Kein Tageslicht. Mein Gott. Er war zu einer Konferenz mit der Technischen Kontaktgruppe MEM hier, und solche Besprechungen waren ohnehin die Hölle. Die Vorstellung, den ganzen Tag in diesem Backsteinbau zu verbringen, war deprimierend.

Hinter der Ansammlung von Firmengebäuden überblickte er den Imperial Boulevard bis hinunter nach Santa Monica. Es war ein schönes Bild, wie das Licht der Morgensonne sich im stahlgrauen, stillen Meer spiegelte.

»Hier.«

Ein kleiner, drahtiger Mann stand neben ihm. Er hatte schütteres Haar, trug eine randlose Brille und wurde von Sommersprossen entstellt. Er hielt eine Packung Zigaretten in die Höhe.

»Danke«, sagte Gershon. »Ich rauche nicht.«

»Uh huh.« Der Typ nahm sich eine Zigarette, klopfte damit gegen die Packung und steckte sie an. Er hatte überproportional lange, knochige Arme, die aus den zu kurzen Hemdärmeln ragten. Auf dem Parkplatz, direkt hinter ihm, stand ein metallic-schwarzer Ford Thunderbird. »Sie sahen so aus, als ob Sie eine gebrauchen könnten.« Der Mann hatte einen breiten New Yorker Akzent. Er war vielleicht fünfzig und kam Gershon irgendwie bekannt vor.

»Sie sind wegen der MEM-Sache hier?« fragte Gershon.

»Ja. Und Sie? Sind Sie von der NASA? Ein Pilot vielleicht?«

»Woher wissen Sie das?«

Der Mann tippte sich gegen sein Bäuchlein. »Weil Sie so sportlich wirken.«

»Ich bin der Vertreter des Astronauten-Büros.« Gershon zögerte, bevor er das Wort >Astronaut< aussprach. Das tat er immer. Sehen Sie mich an, den großen Astronauten. Dabei habe ich gerade einmal ein Schulflugzeug für die NASA geflogen. Doch dieses Männchen hatte das Wort >Pilot< verwendet. Vielleicht wußte er Bescheid.

Der Fremde reichte ihm die Hand. »Mein Name ist Lee. John K. Meine Freunde nennen mich JK.«

Der Druck der schwieligen Hand war fest. Das war nicht der Händedruck eines Bürohengstes.

»Sind Sie einer von den MEM-Bewerbern?«

»Nee«, sagte Lee. »Ich bin von der CA. Columbia Aviation. Sagen Sie nur, Sie hätten noch nie von uns gehört.«

Gershon grinste.

Lee zuckte die Achseln. »Wir sind Zulieferer für Rockwell und andere Firmen und führen auch Versuche für die NASA durch. Wir entwickeln Lifting Bodies und so. Wir sind zwar klein, aber auf Expansionskurs, und wir sind besser als die anderen. Wenn die Konzepte präsentiert werden, treten wir gegen die Großen an und versuchen, uns auch ein Stück vom Kuchen abzuschneiden.« Er betrachtete das Hauptquartier, den großen Backsteinbau. »Ich habe für eine Weile hier gearbeitet, müssen Sie wissen. Unter Dutch Kindelberger.«

Gershon musterte Lee mit neuem Interesse. Natürlich war dieser Name ihm ein Begriff. Jedes Kind, das sich wie Gershon für Flugzeuge und seine Konstrukteure begeistert hatte, kannte Dutch Kindelberger. Dutch hatte Rockwell - die damals noch als North American Aviation firmierte - während der Kriegsjahre aufgebaut, indem er das vielleicht beste amerikanische Fluggerät jener Zeit produzierte, die P-51 Mustang.

»Dutch hat dieses Gebäude selbst entworfen«, sagte Lee. »Wir nannten es die >Ziegelei<.«

»Ich wußte gar nicht, daß Kindelberger auch ein Architekt war.«

»War er auch nicht.« Lee grinste. »Sie halten den Bau nicht für repräsentativ?« Er ließ den Blick schweifen, über den

Flughafen, den Boulevard, das Ensemble der Rockwell-Gebäude. »Auf dem Hauptgebäude befand sich ein Schild, dort drüben.« Er deutete in die entsprechende Richtung. »Es war meilenweit zu sehen. >Heimat der X-15<.«

Bei Gershon machte es >klick<. »Ihr Gesicht kam mir die ganze Zeit schon bekannt vor.« Er erinnerte sich vage an ein Foto, das er als Kind aus der Zeitung ausgeschnitten hatte: ein Experimentalflugzeug in Edwards, vor dem eine Reihe grinsender junger Ingenieure angetreten war; alle mit Brille, Biberzähnen und wuscheligem Haar. »Sie haben an der X-15 gearbeitet?«

»Nein«, sagte Lee. »Aber ich weiß, was Sie jetzt denken.«

»Die B-70. Sie haben an der B-70 gearbeitet, nicht wahr? Mit Harrison Storms.«

Harrison Storms war der Mann, der das Apollo-Raumschiff für Rockwell entworfen hatte. Und zuvor hatte er die B-70 konstruiert, einen Überschall-Bomber. Gershon erinnerte sich an die alten Fotos: der Edelstahlrumpf, der einen weißen Anstrich bekommen hatte, um die bei Mach 3 entstehende Hitze abzuleiten, die großen Deltatragflächen in fünf Metern Höhe.

»Der Kongreß hat das Projekt gestrichen«, sagte Lee. »Wir haben nur zwei dieser verdammten Dinger gebaut. Und von einer weiß ich, daß sie mit einer F-104 zusammengestoßen ist. Die andere wurde wohl verschrottet.«

»Nein. Sie existiert noch. In einem Museum.«

Lee beäugte Gershon und lächelte dann. »Wie ist das möglich? Davon wußte ich gar nichts.«

Gershon schaute auf die Uhr. »Kommen Sie. Es ist schon nach neun. Wir müssen gehen.«

»Sicher. Wir wollen schließlich nichts verpassen, nicht wahr?«

Nebeneinander betraten sie die >Ziegelei<.

Zwei korpulente Angestellte mühten sich mit einem sperrigen Overheadprojektor ab. »Weißt du auch wirklich, wie man dieses Ding fliegt, Al?« fragte einer.

Al lachte nur.

Gershon versuchte, es sich auf dem kleinen, harten Stuhl bequem zu machen. Die Aktentasche verstaute er unter dem Tisch. Es war jetzt schon heiß und stickig, und der Kragen scheuerte am Hals.

Das Wort >fliegen< brachte bei ihm eine Saite zum Klingen. Einen Projektor fliegen. Einen Tisch fliegen. Mein Gott. Worte, die von Leuten in den Mund genommen wurden, deren Verständnis vom Fliegen sich darauf beschränkte, bei der Flugbegleiterin einen Drink zu ordern.

Der Vorsitzende bat um Ruhe. Es handelte sich um Tim Josephson, den NASA-Inspektor - ein >langes Elend< mit dem Habitus eines Bücherwurms. Er nahm auf einem Drehstuhl an der Stirnseite des Tischs Platz und rasselte die Tagesordnungspunkte herunter.

Lee lehnte sich zu Gershon hinüber. »Was sagen Sie dazu? Das ist Dutchs altes Büro. Da steht sogar noch sein Stuhl, um Himmels willen. Rockwell muß wirklich scharf sein auf diesen Auftrag.«

Die Wand hinter Josephson zierte ein Gemälde. Es zeigte eine P-51 Mustang, die frontal auf den Betrachter zuflog.

Gershon wollte hier raus und etwas tun.

Doch so lief es im Astronauten-Büro nicht. Man mußte sich auch mit unangenehmen Dingen befassen.

»Höfen Sie«, hatte Chuck Jones in seiner Eigenschaft als Chef-Astronaut gesagt. »Wir müssen jemanden aus dem Büro für das MEM7 abstellen.«

Gershon glaubte, man hätte ihm einen Schlag mit dem Hammer versetzt. »Aber das gibt es doch noch gar nicht.«

»Um so besser.« Und dann hatte Jones Gershon erzählt, wie Pete Conrad sich an der Entwicklung der Steuerung und Instrumente für die Mondlandefähre beteiligt hatte. »Conrad hat Monate in Sperrholzmodellen des LEM8 verbracht, inmitten von bunten Schaltern und Skalen, und ist in seiner Phantasie auf dem Mond gelandet.« Jones hielt Daumen und Zeigefinger hoch, mit einer Haaresbreite Abstand zwischen beiden. »Und er war so dicht dran, als erster Mensch auf dem Mond zu landen. Und Sie wollen mir nun erzählen, Sie wüßten besser als der alte Pete Conrad, wie die Dinge hier laufen?«

Dann war der Auftrag vielleicht doch nicht so übel, hatte Gershon sich gesagt.

Das Problem war nur, daß es noch immer nicht so aussah, als ob das MEM jemals fliegen würde, außer in den Hochglanzbroschüren der Luft- und Raumfahrtindustrie.

Die Landung eines Raumschiffs auf dem Mars war kein Kinderspiel. Und das war auch schon das einzige, worüber Einigkeit herrschte. Selbst wenn man den Hintern erst einmal dorthin geschwungen hatte, wurde man mit einem Planeten konfrontiert, der einen Zwitter aus Erde und Mond darstellte: aber von beiden nur die schlechten Eigenschaften, wie Gershon befürchtete. Die schlierige Luft war zu dick, um mit einem Zinnblech-Vehikel auf dem Strahl einer Rakete zur Oberfläche zu fliegen, so wie das LEM gelandet war; man brauchte einen Hitzeschild. Andererseits war die Luft zu dünn, um auf einem Gleitpfad zu langen, so wie eine Raumfähre auf der Erde landete. Man mußte eine Lösung dazwischen finden, eine Kreuzung zwischen einem Flugzeug und einem Raumschiff.

Also waren Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Schließlich hatte noch nie jemand versucht, ein Gerät zu bauen, um Menschen auf dem Mars abzusetzen.

Weil es obendrein um viel Geld und große Politik ging, beschränkten die Auseinandersetzungen sich nicht nur auf die Technik.

Die Kontaktgruppe war erst vor kurzem gebildet worden und ging auf eine Initiative von Fred Michaels selbst zurück. Er wollte mit ihrer Hilfe versuchen, den Knoten des Disputs durchzuhauen, der den Bau des MEM verzögerte. Die Gruppe brachte sämtliche Fraktionen zusammen - die Luft- und Raumfahrtingenieure von Rockwell, McDonnell, Grumman und Boeing sowie die NASA-Sektionen aus Marshall, Arnes, Langley und Houston -, um die strittigen Punkte zu klären.

Nun legten die jeweiligen Gruppen ihren Standpunkt dar.

Zuerst präsentierte eine Delegation von Grumman ihre Sicht der Dinge.

Das Grumman-MEM würde als Halbkegel - wie eine senkrecht halbierte Apollo-Kommandokapsel - den Mars-Orbit verlassen und auf dem Planeten landen. Mit geballter elektronischer Unterstützung vermochte die Besatzung das Gerät sogar zu steuern. Nach dem Eintritt in die Atmosphäre würde das MEM kippen, so daß es mit der Spitze auf die Planetenoberfläche wies. Nach dem Abstoßen des Hitzeschilds würde etwas zum Vorschein kommen, das wie eine aufgeblasene Mondfähre mit Teleskop-Landebeinen aussah. Das Gerät würde auf dem Strahl der Düsen am Bug zur Oberfläche hinuntersinken. Auf dem Boden würde das MEM sich dann entfalten und die Unterkünfte für die Besatzung zur Oberfläche hinabschwenken.

Grumman hatte schon das Apollo-Mondmodul gebaut. Gershon wußte zufällig, daß Grumman sich der stillschweigenden Zustimmung aus Marshall erfreute, repräsentiert von Hans Udet und den anderen alten Deutschen. Im Grunde handelte es sich also nur um eine Weiterentwicklung des Mondmoduls, mit der für die Deutschen typischen brachialen Kraftentfaltung.

Die Leute von Grumman hatten ein Modell mitgebracht, einen Modellbausatz des Geräts: es bestand aus ausziehbaren Landebeinen, rotierenden Kabinen und einem Hitzeschild. Unter den Händen der nervösen Referenten brachen einzelne Teile des Modells ab. Das Ding wirkte völlig überzüchtet. Als der auf dem Kopf stehende Kegel sich teilte und das Innenleben des Geräts freilegte, drängte Gershon sich der Vergleich mit einer Eistüte auf, JK Lee beugte sich vor und lachte leise. »Mein Gott, ist das Ding häßlich. Und die Entwicklungsanstrengungen wären eh für die Katz’.«

»Wieso denn?«

»Das Ding ist ein Bastard. Zu viele Köche verderben den Brei. Man müßte einen neuen Werkstoff für den Hitzeschild entwickeln, um diese große Fläche abzudecken. Und man müßte einen Lifting Body konstruieren, der in der MarsAtmosphäre flugtauglich wäre. Und man müßte auch gleich eine neue Landekapsel entwickeln. Und wozu?«

»Was würden Sie also tun?«

»Ich? Wenn ich Grumman wäre? Ich würde den Konstrukteuren sagen, sie sollen den Nachtisch weglassen und sich nur aufs Hauptgericht konzentrieren. Man müßte einen Ansatz wählen und diesen konsequent verfolgen. Wenn man einen Lifting Body bauen will, na schön. Aber diese MondStelzen? Nein danke.«

Die Delegation von Boeing hielt sich mit Details zu ihrem Landefahrzeug zurück; statt dessen konzentrierten sie sich auf den Eintritt in die Atmosphäre. Ihr MEM würde aus dem Orbit absteigen, in die Atmosphäre eintreten und dann, in etwa zehn Kilometern Höhe, würde es einen Ballonschirm - eine Kombination aus Ballon und Fallschirm - entfalten. Das große, aufblasbare Segel würde in der dünnen Luft eine Bremswirkung erzielen. Dann würden Fallschirme, die sich in einer exakt berechneten Reihenfolge entfalteten, das Gerät so dicht zur Oberfläche hinunterbringen, daß BodeneffektRaketen schließlich eine sichere Landung gewährleisteten.

Das Problem war nur, daß noch niemand einen Ballonschirm hergestellt, geschweige denn im Windkanal getestet hatte. Zumal es ohnehin unmöglich war, ihn in der dichteren ErdAtmosphäre zu erproben.

Großen Raum in der Boeing-Präsentation nahmen die Techniken des Zusammenlegens von Fallschirmen ein. Es war sterbenslangweilig. Gershon zwang sich zwar, Notizen zu machen, doch wenn er dann auf den Notizblock schaute, war er nicht einmal imstande, das Gekrakel zu lesen.

Die dritte Präsentation erfolgte von Rockwell selbst; das Unternehmen wurde von Langley und vom JPL unterstützt. Und sie stellte auch die plausibelste Option vor. Basis war ebenfalls ein Lifting Body, der jedoch fortschrittlicher war als Grummans primitiver Halbkegel: es handelte sich um eine bikonische Konstruktion, einen Kegelstumpf, der von einer spitzen Nase gekrönt wurde. Das MEM war in der Lage, direkt von der Erde kommend in die Marsatmosphäre einzutreten, ohne daß es zuvor in einen Parkorbit um den Mars hätte gehen müssen. Mit dem Steuerknüppel und den Pedalen für die Steuerruder hatte der Pilot den Doppelkegel hundertprozentig unter Kontrolle. Das Raumschiff würde einem komplizierten Eintrittspfad folgen, wobei es durch wiederholte Luftbremsung die Geschwindigkeit aufzehrte und zwischendurch Wärme abführte. Der Doppelkegel würde mit der Grundfläche nach unten landen und wäre gleich wieder startbereit.

Doch es gab auch Schwachpunkte. Die Elektronik war derart komplex, daß die Astronauten nicht imstande waren, das Ding im Fall eines Computerabsturzes manuell zu landen. Zudem boten die vielen gekrümmten Flächen der Luft einen großen Widerstand, weshalb fast die ganze Fläche des Doppelkegels mit Hitzeschilden verkleidet werden müßte.

Der Doppelkegel erschien Gershon wie ein Hybride aus Langleys traditioneller Ausrichtung auf Flugzeuge und die Expertise von JPL in Cybernetik und Computertechnik, wobei diese Punkte mit Rockwells unersättlichem Appetit auf üppige und ehrgeizige Entwicklungs-Etats verquirlt worden waren.

Bei der Betrachtung der Präsentation spürte Gershon ein merkwürdiges Jucken in Händen und Füßen.

Lee grinste ihn an. »Ich sehe es an Ihrem Blick. Sie würden das Ding gern direkt zum Mars fliegen und vielleicht noch ein paar Kreise über Olympus Mons ziehen.«

»Ja, ja.«

Lee wedelte mit der Hand. »Ich will mich nicht über Sie lustig machen. Aber Sie müssen bedenken, daß wir hier über eine Entwicklungsdauer von mindestens zwanzig Jahren reden. Das nehme ich jedenfalls an. Mein Gott, bisher hat noch niemand einen Doppelkegel geflogen. Nicht einmal ein abgefucktes Sperrholzmodell. Es sei denn, die Russen hätten etwas am Kochen, was ich aber nicht glaube.

Und dann reden Sie davon, einen Doppelkegel zu bauen und damit zum Mars zu fliegen. Was wissen wir denn schon von der Atmosphäre des Mars? Junge, wenn Sie sehen wollen, wie Ihr Enkel im roten Staub landet, dann investieren Sie Ihr Geld in einen Doppelkegel. Aber Sie und ich, wir werden den Mars bestimmt nicht sehen.«

Die drei Präsentationen dauerten bis in die Abendstunden. Zum Schluß wurden in aller Ausführlichkeit die Vorzüge der jeweiligen Konzepte erörtert: Mannschaftsstärken, mögliche Aufenthaltsdauer auf dem Mars, Anfangsmasse im Erdorbit, Differenzgeschwindigkeit, aerodynamische Charakteristika wie das Auftriebs-Luftwiderstand-Verhältnis. Die Diskussion verlor sich in Details, und nach einer Weile wurde Gershon klar, daß es allen Beteiligten eher um ihre Profilierung als um eine Entscheidungsfindung ging.

Gershon betrachtete Dutch Kindelbergers Wandgemälde und fragte sich, wie die Mustang sich wohl geflogen hatte.

Als die Versammlung sich gegen einundzwanzig Uhr auflöste, verabredeten die Delegierten sich in diversen Bars.

JK Lee kam auf Gershon zu. »Sie wirken gestreßt.«

Gershon grinste ihn an. »Ich hätte nichts gegen ein paar kühle Bierchen einzuwenden. Aber nicht gerade in einer Bar mit diesen Vertretertypen.«

»Ja. Hören Sie. Sie wollen hier raus? Es ist eine klare Nacht. Wir könnten eine Spritztour machen, vielleicht rauf nach Edwards.«

Der Luftwaffenstützpunkt Edwards. In der Wüste des Hochlands. »Fahren wir.«

Sie verließen die >Ziegelei<. Lee steuerte den schwarzen Thunderbird aus der Parkbucht. Sie hielten noch einmal an und kauften ein paar Sechserpacks Bier, und dann verließ Lee die Stadt in nördlicher Richtung.

Die Nacht war frisch und wolkenlos, doch am Horizont war das schwefelgelbe Glühen der Stadt zu sehen. Gershon mußte den Kopf in den Nacken legen, um in einem kleinen runden Himmelsausschnitt überhaupt ein paar Sterne zu sehen. Er glaubte, er hätte dort oben das große Rechteck von Pegasus, dem geflügelten Pferd, gesehen.

Er kam sich irgendwie eingesperrt vor, als ob die Stadt mit dem Smog eine große Kiste wäre, in die man ihn gesteckt hatte.

Lee steuerte das Auto mit einem Finger am Lenkrad. »Ich weiß noch, wie ich hierher gekommen bin. Das war ‘55 oder noch früher. In den Tagen der B-70. Damals führte nur eine zweispurige Straße aus der Stadt über den Newhall-Paß und durch den Mint Canyon zur Wüste hinauf. Und Palmdale war nur eine Tankstelle inmitten einer Baumgruppe. Hat sich alles sehr verändert.«

»Schon möglich.«

»Und? Hatten Sie einen guten Tag?« Gershon grunzte. »Habe schon bessere erlebt.«

»Sie haben wohl nichts übrig für Fachgespräche.«

»Das waren gar keine Fachgespräche. Zumal die meisten Anwesenden wohl eh keine Ingenieure waren.«

Lee brach in schallendes Gelächter aus. »Da haben Sie recht. Aber hier geht es um Politik. Sie müssen es mal so sehen. Als Nixon 1972 das Space Shuttle auf Eis legte, waren die Bosse der Luft- und Raumfahrtindustrie stinksauer. Sie wollten das verdammte Ding, weil es neu gewesen wäre. Dann wären sie nämlich in der Lage gewesen, mit Hilfe massiver Subventionen die alten Saturn-Werkzeuge auf den Schrott zu werfen und die Ausrüstung zu modernisieren. Doch bei dem Stufenprogramm, nach dem wir nun arbeiten, greift alles ineinander. Und fast alles ist im Besitz der Firmen, die diese Komponenten gebaut haben.

Dann arbeitet also Boeing zum Beispiel an der neuen MS-IC, der modifizierten ersten Saturn-Stufe, die von dieser Firma selbst konzipiert wurde. Und McDonnell-Douglas, drüben in Huntington Beach, baut die Skylabs und Moonlabs - in

Raumstationen umgewandelte dritte Saturn-Stufen -, die McDonnell auch entwickelt hatte. Und so weiter.«

»Aber das >Filetstück< unter den Aufträgen - die fortschrittlichste Technik, die prestigeträchtigste Arbeit des nächsten Jahrzehnts - wird das MEM sein. Ein völlig neues Raumschiff, das ein paar Menschen zum Mars befördern und viele Menschen reich machen wird.«

»Die NASA hat noch keine Aufforderung zur Angebotsabgabe ausgesprochen?«

»Natürlich nicht. Wo denken Sie hin? Die NASA wird von ihren Auftragnehmern bedrängt. Obendrein bekämpfen die NASA-Zentren sich gegenseitig.«

»Schon möglich«, sagte Gershon düster. »Aber wir haben seit 1972 schon sechs Jahre vertan.«

»Sie wollen noch mal fliegen, bevor Sie in den Ruhestand gehen.«

»Sie haben’s erfaßt.«

»Teufel, ich verstehe das. Hören Sie, wollen Sie ein Bier?«

»Trinken Sie eins mit?«

»Klar.«

Die Bierdosen waren gerade erst aus dem Kühlschrank des Ladens gekommen und noch mit Reif überzogen. Gershon sprach dem Gebräu ordentlich zu, und er spürte, wie die Anspannung des Tages von ihm abfiel.

Die San Gabriel-Berge lagen nun hinter ihnen, und Lee steuerte den Thunderbird durch die Dunkelheit.

Die von den Scheinwerfern ausgeleuchtete Straße war schnurgerade und in beiden Richtungen leer.

Nun war der Himmel bis zum Horizont mit Sternen übersät. JK Lee arretierte das Lenkrad mit beiden Beinen. In der einen Hand hielt er ein Bier, zog mit derselben Hand eine Zigarette aus der Packung und zündete sie mit der anderen an. Die

Zigarettenglut und die Instrumentenbeleuchtung tauchten sein Gesicht in ein schwaches, diffuses Licht.

»Was würden Sie tun?« fragte Gershon.

»Hä?«

»Wenn Sie ein MEM bauen sollten.«

»Ich? - Ach, wir werden den Auftrag nicht bekommen. Damit würde die NASA zu vielen Leuten auf die Füße treten. Zumal die Großen uns sowieso ausstechen würden. Rockwell wird den Zuschlag bekommen. Das weiß doch jeder. Sie werden ein paar Fäden ziehen, wie sie es schon bei Apollo 11 getan haben. Dem Vernehmen nach dürfen sie als Ausgleich für das von Nixon gestrichene Space Shuttle das MEM bauen. Das und die umgerüstete zweite Saturn-Stufe für den Einschuß in die Transferbahn. Man darf schließlich seine Wähler nicht verärgern.« Durch den Bronx-Akzent wirkte diese Aussage irgendwie drollig.

Gershon grunzte und nahm einen ordentlichen Schluck Bier. »Aber wenn Sie es bauen würden«, hakte er nach.

»Wenn wir es bauen würden?« Lee dachte kurz nach, wobei er die Bierdose im Schoß balancierte. »Nun, man müßte den konkreten Anforderungen Rechnung tragen. Eine solche

Gelegenheit, ein Flug zum Mars, wird sich wohl nur einmal

bieten. Also wird man etwas bauen, das schnell und

kostengünstig herzustellen ist und das auf Anhieb funktioniert. Aber wir wissen eben nicht, ob Lifting Bodies und

Doppelkegel funktionieren, und wir müßten vielleicht viel Zeit und Geld investieren, nur um festzustellen, daß sie nicht funktionieren.«

»Also?«

»Also greift man auf Bewährtes zurück und fängt mit einem flachen A-durch-L-Profil an, sagen wir null komma fünf. A durch L: Auftrieb geteilt durch Luftwiderstand, das aerodynamische Grundmaß eines Körpers. Null komma fünf. Das ist die Form einer Apollo-Kommandokapsel.«

»Genau. Bauen Sie eine dicke, fette Kommandokapsel. Das einzige Problem würde darin bestehen, den Hitzeschild zu vergrößern. Von dieser Konstruktion wissen wir nämlich, daß sie funktioniert. Mit Apollo wurden acht bemannte Mondflüge durchgeführt, und seit 1975 drei Skylab-Missionen und eine Moonlab-Mission pro Jahr. wie viele Flüge sind das per Saldo, fünfundzwanzig? Und die Apollo 13 CM hat sogar die Explosion der Betriebs- und Versorgungseinheit überlebt.«

»Aber eine solche Konstruktion wäre in der Marsatmosphäre nicht manövrierfähig.«

»Einem Doppelkegel wäre sie wohl unterlegen, aber bis zu einem gewissen Grad wäre sie doch manövrierfähig. Es ist wie bei Apollo. Das Schiff wird durch die Verlagerung des Schwerpunkts gesteuert, und der Auftrieb resultiert aus der Form des Schiffs. Und das ist der eigentliche Vorteil. Die Flugeigenschaften wären so unkompliziert, daß man das verdammte Ding sogar manuell fliegen könnte, falls die Elektronik ausfiele. Mit einem Doppelkegel wäre das nicht möglich.«

»Wie soll der Eintritt in die Atmosphäre erfolgen? Mit Fallschirmen?«

»Nein«, sagte Lee nach einigem Überlegen. »Die Luft ist zu dünn. Man müßte den Hitzeschild abstoßen und mit einem Abstiegstriebwerk landen, wie bei der Mondfähre. Grumman hat das auch vorgeschlagen. Und dann brauchte man eine Wiederaufstiegsstufe, die obere Hälfte des Kegels, um in den Orbit zu gehen. Der Hitzeschild und die OberflächenAusrüstung würden zurückbleiben.«

Für Gershon klang das plausibel. Es wäre kostengünstig, es würden nur geringe Entwicklungskosten anfallen, und das System war ausgereift. Das würde schon genügen, um zum

Mars zu fliegen. Und das Ding könnte in ein paar Jahren fliegen.

»JK, Sie sollten ein Angebot abgeben. Das ist mein voller Ernst.«

Lee lachte nur.

Er fuchtelte mit der Hand, in der er die Bierdose hielt. »Sehen Sie.«

Gershon sah die Wüste als fahle Kruste im Sternenlicht. Salzflächen. Und am Horizont erschien wie aus dem Nichts eine Lichterkette, wie eine Stadt in der Wüste.

»Edwards«, sagte Lee. »Hierher bin ich mit Stormy Storms gekommen, um die X-15 fliegen zu sehen. Mein Gott, waren das noch Zeiten.« Er nahm noch einen Schluck aus der Dose und warf sie dann aus dem Auto.

Gershon gab ihm eine neue Dose, und der Thunderbird jagte auf die riesigen Hangars des Luftwaffenstützpunkts zu, die sich aus der Dunkelheit schälten.

Montag, 7. August 1978

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

Sie wurde eine Stunde lang in Gebäude 110 aufgehalten, dem Sicherheitsbüro des JSC.

Wie soll man auftreten, wenn man ein frischgebackener Astronaut ist, der gerade den Dienst antritt? Man hat keinen Sicherheitsausweis, denn den bekommt man erst auf dem Gelände des Raumfahrtzentrums ausgehändigt.

Streng genommen, sagte York sich, war das eine unendliche Regression, eine Paradoxie. Logisch betrachtet war es unmöglich, ins JSC zu gelangen. Sie versuchte, der Pförtnerin das zu erklären.

Die Pförtnerin, von deren breitem, teigigem Gesicht der Schweiß troff, sah sie nur kurz an und widmete sich wieder den Presseleuten, die sich hinter ihr drängelten. Nach einer Weile gab York es auf und nahm in dem Kabuff Platz. Hätte nur noch gefehlt, daß sie wie ein Schulmädchen die Hände im Schoß faltete.

Schließlich kam eine Sekretärin mit Pumps angetippelt und holte sie ab.

Die Sekretärin führte sie durch das stachelige Gras des Geländes. Die Frau war um die Dreißig. Sie zog eine so intensive Duftwolke hinter sich her - Parfüm, Gesichtspuder und Haarspray -, daß York fast die Augen tränten. Sie schaute York seltsam an, und York sah, daß sie sich fragte, ob sie ihr von Frau zu Frau den Tip geben sollte, etwas für ihre Frisur zu tun.

York packte die leere Aktentasche und fragte sich, was sie hier überhaupt wollte.

Die Sekretärin führte sie zu Gebäude 4 und sagte ihr, daß man von ihr erwartete, ab sofort an den regelmäßigen Pilotenbesprechungen teilzunehmen. Jeden zweiten Montag um acht Uhr: sie kam also schon zu spät.

Sie huschte durch die Hintertür in den Besprechungsraum.

Es saßen vielleicht fünfzig Leute im Raum: nur Männer, mit offenen, glattrasierten Gesichtern und kurzen Haaren. Bekleidet waren sie mit Polohemden und Sommerhosen. Es wurden Witze gerissen, und tiefes, kehliges Lachen hallte durch den Saal.

Chuck Jones, der Chefastronaut, stand an der Stirnseite des Raums. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und referierte über technische Daten des Schulflugzeugs T-38.

York erspähte einen freien Platz, nicht weit von der Tür, und mit gemurmelten Entschuldigungen zwängte sie sich an ein paar Beinpaaren vorbei. Die Astronauten ließen sie zwar anstandslos durch, doch sie spürte die neugierigen und fragenden Blicke auf sich, mit denen die Männer ihre Figur und das ungeschminkte Gesicht musterten. Was, zum Teufel, ist das? Ist das etwa eine Frau? Bist du hier, um Notizen zu machen, Baby? Ich trinke übrigens Koffeinfreien...

Sie erspähte Ben Priest, der mit verschränkten Armen in der ersten Reihe saß und völlig unbeteiligt wirkte.

»Mir wurde von Ellington gemeldet«, sagte Jones, »daß ein paar von euch Jungs nicht die Ausrüstung überprüfen, bevor sie die T-38 fliegen.«

Vereinzeltes Stöhnen war zu hören. »Mein Gott, Chuck, müssen wir das noch mal durchkauen?«

»Wir wollen uns das Privileg bewahren, die T-38 zu fliegen. Es ist jedoch ein Privileg, das uns jederzeit entzogen werden kann. Ihr seid vielleicht Astronauten, aber das befreit euch nicht von der Verantwortung für das Gerät, das ihr fliegt. Ich will nur vermeiden, daß ihr es euch mit den Kameraden in Elligton verderbt.«

Dann nahm Jones die Diensteinteilung für die nächsten zwei Wochen vor. »Bleeker, Dana und Stone gehen von Dienstag bis Freitag nach Cape Canaveral. Gershon für die ganze Woche nach Downey. Curval und Priest nach Los Angeles.«

»He, Chuck«, sagte jemand. »Ich dachte, Sie würden mit uns nach LA gehen.«

»Nein, ich habe es mir anders überlegt. Ich werde nach Cape Canaveral gehen. Ich will mir die neue Kommandokapsel ansehen, die dort gebaut wird.«

»Lieben Sie uns denn nicht mehr, Chuck?«

»Ihr geht nach Westen, und ich gehe nach Osten.« Die nächste halbe Stunde wurde mit einem solchen Quatsch vertrödelt. Schließlich wurde York unruhig; vom Fachjargon schwirrte ihr der Kopf, und sie wunderte sich über das gemächliche Tempo und die scheinbare Zeitverschwendung.

Sie fühlte sich wie in einem ungewöhnlich sauberen Umkleideraum für Männer.

Sie war verschüchtert und fühlte sich fehl am Platz. Wie soll ich mich in einer solchen Umgebung behaupten?

Sie traf mit den anderen Anfängern zusammen: acht Leute, alles Männer, die meisten mit Flugerfahrung. Sie machten einen intelligenten und dynamischen Eindruck. Meine Güte, drei von ihnen trugen bereits Polohemden mit dem NASA-Logo! Woher hatten sie das gewußt?

Chuck Jones unternahm mit den Neuen eine Besichtigung des Raumfahrtzentrums.

York lugte in die leeren Büros hochrangiger Astronauten. Die Räume sahen alle gleich aus, ordentlich, aufgeräumt und kaum bewohnt, mit Raumschiff- und Flugzeugbildern an den Wänden. Auf den Schreibtischen stand Spielzeug: Flugzeuge, Mondfähren und Modelle der neuen Saturn VB mit abnehmbaren Zusatztriebwerken.

Fast erwartete sie, Polohemden mit dem NASA-Logo an den Kleiderhaken zu sehen.

Überall, wo sie hinkamen, grüßten die Leute Jones wie einen König. Er schien gar keine Notiz davon zu nehmen. Mein Gott, sagte York sich. Hier muß es aber ein paar monumentale Egos geben.

Jones führte die neunköpfige Gruppe ins Gebäude 30 und versorgte sie mit Kaffee. Dann wies er sie ein. Im ersten Jahr hatte York den Status eines >Ascan< - eines AstronautenKandidaten. Sie würde für ein halbes Jahr Vorlesungen in Astronomie, Aerodynamik, Physiologie, RaumschiffsSystemen, interplanetarer Navigation, Physik der oberen Atmosphäre und so weiter besuchen. Sie mußte wieder die Schulbank drücken. Außerdem standen Besuche in Kennedy,

Marshall, Langley und anderen NASA-Zentren auf dem Programm.

Sie würden >geeicht< werden, wie Jones sich ausdrückte; die Ausbilder würden versuchen, sie mit einem bestimmten Grundwissen in allen Bereichen auszustatten, unabhängig vom jeweiligen Hintergrund. Das geschah zum Teil auch aus PR-Zwecken, vermutete York, damit sie imstande waren, zu jedem Aspekt ihrer zukünftigen Missionen einen intelligenten Kommentar abzugeben.

Sie würden auch körperlich trainieren, in Simulatoren, Zentrifugen etcetera. Außerdem würden sie Flugerfahrung erwerben, auf dem Rücksitz einer T-38; doch im Gegensatz zu früheren Nachwuchs-Astronauten würde diese Gruppe keine richtige Flugausbildung machen.

Das stellte einen Bruch mit der Tradition dar. Sie lassen Astronauten zu, die keine Piloten sind! Chuck Jones machte den Eindruck, als ob er Kreide fressen müßte, als er sich diese Mitteilung abrang, und ein paar der Jungs wirkten enttäuscht; einer fragte sogar, ob er die Flugausbildung freiwillig machen dürfe.

Nach dem Ascan-Jahr würden die Kandidaten in die Gruppe der Aktiven übernommen und hätten dann die Aussicht, für einen Raumflug ausgewählt zu werden. Zwei Jahre vor einem Flug würde dann das missionsspezifische Training beginnen.

»In der Theorie«, sagte Jones.

»In der Theorie, Sir?« fragte jemand.

»Ich rede jetzt Klartext«, sagte Jones. »Ihr werdet in absehbarer Zeit nicht in den Weltraum fliegen. Bei eurer Intelligenz wißt ihr, wie es um den Staatshaushalt bestellt ist.

Selbst wenn wir zum Mars fliegen, und selbst wenn - wenn! -ein Wissenschaftler ausgewählt wird« - Jones’ Tonfall machte deutlich, was er davon hielt -, »sind noch viele Leute vor euch. Einschließlich etlicher Wissenschaftler, die schon seit Jahren hier sind und noch nicht ein einziges Mal geflogen sind. Es ist noch schlimmer als bei Apollo. Bei Apollo waren wenigstens ein paar Mondflüge geplant. Zum Mars ist nur ein einziger Flug geplant, und die Konkurrenz um die Plätze für diesen Flug ist gnadenlos.«

Jones schaute mit seinen kalten schwarzen Augen in die Runde, und York hatte Mühe, dem Druck dieses Blicks zu widerstehen, als ob er eine Art feindlicher Radarenergie verströmt hätte. »Sie müssen mit langen Wartezeiten rechnen und mit der Möglichkeit, daß überhaupt keine Flüge mehr stattfinden. Wir brauchen Sie hier nicht. Ich sage das nur, damit Sie Bescheid wissen.«

Ben Priest führte sie zum Mittagessen ins Nassau Bay Hilton aus.

Sie inspizierte die Speisekarte. »Fleischgerichte. Meeresfrüchte. Salat. Kartoffeln. Mehr Fleischgerichte. Mein Gott, Ben.«

Er grinste und nippte an einer Cola. »Willkommen in Houston.«

»Wie hält ein zivilisierter Mensch wie du es hier nur aus, Ben?«

»Sei nicht so versnobt, Natalie.«

York bestellte sich ein Hähnchenschnitzel. Was ihr dann serviert wurde, war ein tellergroßes, dick paniertes Stück Fleisch. Die ersten Bissen schmeckten noch gut, doch das Fleisch war zäh, und bald bekam sie Zahnschmerzen.

Oh, wie ich Houston lieben werde. Ich fühle mich schon richtig heimisch.

»Sag mal«, sagte Priest. »Was hältst du denn von den Astronauten, die du eben en masse gesehen hast?«

»Kapitäne von Schulmannschaften und Klassensprecher. Hinterwäldler.«

Er lachte. »Schon möglich. Dann trifft das aber auch auf mich zu. Hier bin ich nur der >Ohi< aus Ohio.«

»Das ist mein Ernst, Ben. Vielleicht ist es das, was mit der NASA nicht stimmt. Diese Jungs haben es zu einfach.«

»Zu leicht?«

»Sicher. Trotz ihrer großen Leistungen. Tag für Tag erhalten die Astronauten einen klar umrissenen Auftrag, den sie bloß ausführen müssen. Der Rest der Menschheit hat es nicht so leicht.«

Er grunzte und tranchierte sein T-Bone-Steak. »Eins steht zumindest fest«, sagte er.

»Und was?«

»Ob du diese Pfadfinderkolonie nun richtig beurteilst oder ob es sich nur um einen subjektiven Eindruck handelt, von dem wir hier reden; es wird dir verdammt schwer fallen, hier eine Nische zu finden.«

Sie wußte, daß er recht hatte. Der Flug zum Mars wäre vielleicht noch die leichteste Übung.

Nach dem Essen machte Priest mit ihr eine Stadtrundfahrt und war ihr bei der Wohnungssuche behilflich.

Sie war erleichtert, als sie sich in Bens vertrauter Corvette vom JSC entfernte. Und es war eine Erleichterung, mit Ben zusammenzusein.

Sie drehte sich zu ihm um. Er sprach kein Wort beim Fahren. Wenn er nun die Hand zu ihr ausstreckte.

Aber er streckte sie nicht aus. Er saß so steif da, als ob er sie ganz vergessen hätte. Wahrscheinlich ist er in dieser Hinsicht genauso ratlos wie ich.

Ihre Beziehung zu Ben war schon komisch, sagte sie sich. Fast so komisch wie die lange Beziehung mit Mike Conlig. Sicher. Und was ist der gemeinsame Nenner, York?

Nachdem sie und Ben sich auch körperlich nähergekommen waren, hatten sie viel weniger miteinander geredet. Und wenn sie sich unterhielten, dann nur über Banalitäten. Ben schien nicht einmal in der Lage, eine Trennung von Karen auch nur in Erwägung zu ziehen, und was York betraf, so dümpelte die Beziehung mit Mike Conlig so vor sich hin. Je länger sie dauerte, desto größer würde die emotionale Last. Haben Ben und ich nur eine Affäre? Springen wir nur ab und zu in die Kiste?

Es war, als ob die bipolaren Beziehungen, die Ben und York hatten, sie immer auseinanderbrachten, wenn sie sich gerade näherkamen.

Doch eines wußte sie mit Bestimmtheit. Wenn sie den ersten Morgen am Johnson Space Center irgendwie überstehen wollte, dann war sie auf Bens Beistand angewiesen, um nicht den Verstand zu verlieren.

Houston deprimierte sie. Die Stadt schwitzte unter einer Käseglocke aus feuchtwarmer Luft. Die Luftverschmutzung war unerträglich. Das flache Land befand sich auf der Höhe des Meeresspiegels und wurde von lehmigen Flüssen und Sümpfen durchzogen. Im Umkreis von hundert Meilen gab es keinen einzigen Hügel. Der Boden außerhalb der Stadt war eine klebrige Substanz, die von den Einheimischen als >Gumbo< bezeichnet wurde, eine Masse aus Schlamm, Lehm und Muschelschalen; kümmerliche Kiefern und knorrige Eichen wuchsen auf Feldern mit hartem, stachligem Gras.

Ben fuhr mit ihr zum San Jacinto-Monument hinaus, einem wuchtigen Obelisken aus den dreißiger Jahren, der von einem texanischen Stern gekrönt wurde. Er diente als Denkmal für den Sieg von General Sam Houston über die Mexikaner. Sie fuhren zur Aussichtsplattform an der Spitze hinauf. Der Park mit dem Obelisken war in ein mehrere Quadratkilometer großes Gelände mit Raffinerien eingebettet. Aus dieser

Perspektive existierte das JSC überhaupt nicht; Houston hatte von der Ölkrise der frühen Siebziger profitiert, und als York das Gewirr aus Pipelines betrachtete, erkannte sie, daß Houston in der Hauptsache vom Erdöl lebte und daß das Raumfahrtprogramm nur ein Arbeitgeber von vielen war.

An der Basis des Monuments roch es nach Erdöl.

Zur Wohnungssuche fuhr Ben sie zurück zum NASA-Gelände am Clear Lake im Südosten der Stadt. Clear Lake war, wie Ben sich ausdrückte, weder klar noch ein See, sondern ein Seitenarm der Galveston Bay - das war offensichtlich ein Standard-Witz des JSC. Die NASA-Straße Eins, der Zubringer zum JSC, verlief parallel zur Küste, und zwischen Badeorten, die schon bessere Tage gesehen hatten, waren moderne Wohnsiedlungen errichtet worden - Nassau Bay und El Lago. Die Badeorte aus der Gründerzeit bildeten einen eigentümlichen Kontrast zum Raumfahrtzentrum: durch die salzhaltige Luft und die intensive Sonneneinstrahlung waren die Fassaden verblichen, und die Gebäude machten einen heruntergekommenen und geradezu unheimlichen Eindruck. York sagte sich, daß die Einheimischen es als Schock empfunden haben mußten, als die NASA per Dekret des Präsidenten vor zwanzig Jahren hier gelandet war.

Die Neubauten waren im Ranchhaus-Stil errichtet worden, hübsche kleine Bungalows mit winzigen Vorgärten. Die Siedlung war grün, gepflegt und vermittelte den Eindruck von Wohlstand.

»Mein Gott«, grunzte York. »Der amerikanische Traum von 1962. Das Häuschen im Grünen, Mum und zwei Kinder, Grillfeste und ein Segelboot. Wie bei den Waltons.«

»Nein.« Priest lächelte hinter der Sonnenbrille. »Dies ist Astronauten-Territorium. Dann wäre der Vergleich mit >bezaubernde Jeannie< schon zutreffender. Aber du gibst dem Ort überhaupt keine Chance, Natalie.«

»Nicht?«

»Nein. Clear Lake ist eine Art wissenschaftliche Gemeinde. Zum einen haben wir das JSC und dann noch die chemische Industrie im Umland. Hier gibt es mehr Doktoren pro Quadratmeter als in den meisten Orten außerhalb der Universitätsstädte. Du wirst dich hier sicher heimisch fühlen.«

»Hör auf, mich aufmuntern zu wollen, Ben.«

»Das will ich gar nicht. Glaub mir. Du hast es noch sehr gut angetroffen. Die >Sternen-Stadt< in Moskau, wo die Kosmonauten leben, hat mehr Ähnlichkeit mit einer Kaserne.«

Die Siedlungen, die Ben ihr zeigte, hießen The Cove, El Dorado, Lakeshire Place und The Leeward. Sie machten keinen schlechten Eindruck, und die besseren Wohngegenden hatten sogar einen Zugang zum Strand. Doch die Inneneinrichtung hatte ödes Einheitsformat: die Wohnungen waren die reinsten Kaninchenställe, mit schwächlichen Klimaanlagen, billiger Möblierung und geschmacklosen Bildern an den Wänden.

Sie entschied sich für ein Viertel namens Portofino. Die Architektur war zwar genauso langweilig wie überall sonst, doch es gab immerhin einen großen, sauberen Swimmingpool, den sie unbedingt bald ausprobieren wollte.

Nachdem sie die Formalitäten erledigt hatte, ließ die Vermieterin - eine kompakte Frau mit starkem texanischen Akzent und einem neckischen T-Shirt - die beiden in der Wohnung allein.

York spürte, daß Ben sich innerlich von ihr distanzierte.

Sie ging zum Fenster. Die Luft war so stickig, daß das Atmen schwerfiel. Der Himmel war dicht bewölkt, und der zu erwartende Regen würde die Hitze erst recht speichern.

Sie spürte, wie eine dumpfe Niedergeschlagenheit sie überkam, so drückend wie die Luft. Was will ich überhaupt hier in diesem lausigen Apartment und in dieser verdammten Männer-Stadt?

Nachdem sie das Gebäude wieder verlassen hatte, sah sie ein Auto, dessen Scheiben von der hohen Luftfeuchtigkeit beschlagen waren.

Freitag, 8. Dezember 1978 Wasatch, Utah

Beim Anflug auf Salt Lake City hatte Gregory Dana einen spektakulären Blick auf den See. Zuflüsse glitzerten wie Schneckenspuren, und menschliche Siedlungen zeichneten sich als verschwommene graue Flecken entlang der Straßen ab. Es war ein klarer Morgen, und der blaue Himmel schien bis auf die Wüste weit vor dem Flugzeug hinabzureichen.

Dana stellte sich vor, auf einem fremden Planeten zu landen, einer Welt mit sengend heißen Wüsten und vereinzelten Binnenmeeren.

Für die meisten Menschen, so sagte er sich, stellte die komplexe Welt der menschlichen Gesellschaft das gesamte Universum dar, losgelöst vom physikalischen Unterbau. Die meisten Menschen entwickelten nie eine Perspektive: das Bewußtsein, daß ihr Leben in einer dünnen Luftschicht auf einer kleinen, rotierenden Felskugel ablief, daß ihr Bewußtsein im Vergleich zu den geologischen Zeiträumen dem Flackern einer Glühlampe glich, daß sie ein Universum bewohnten, das sich aus Zuständen entwickelt hatte und unausweichlich in Zustände zurückfallen würde, die nicht die geringste Übereinstimmung mit den ihnen bekannten Verhältnissen aufwiesen.

Allein schon der Blick aus der Luft vermittelte dem Flugreisenden eine Perspektive, die früheren Generationen verwehrt gewesen war. Wenn der Raumflug uns ein Bewußtsein unserer wahren Natur vermittelt, dann wird das allein die Kosten schon rechtfertigen, sagte er sich.

Er ließ den Blick durch die Kabine schweifen. Die meisten Reisenden - selbst diejenigen, welche der NASA angehörten und wie er am Raumfahrtprogramm beteiligt waren - hatten sich hinter Unterlagen, Büchern oder Zeitungen verschanzt.

Morton Thiokol hatte einen Wagen geschickt, der ihn vom Flughafen abholte. Der Fahrer - ein junger, lebhafter Mann mit einer verspiegelten Sonnenbrille - stellte sich als Jack vor und verstaute Danas Gepäck im Kofferraum. Die Aktentasche wollte Dana aber nicht aus der Hand geben.

Jack fuhr auf der Schnellstraße nach Norden, in Richtung Brigham City. Der Fahrer sagte ihm, daß er ihn zur ersten Testzündung der SRB bringen würde, dem Feststoff-Booster der neuen Saturn VB-Klasse. Der Einsatz von Feststoffraketen als Zusatztriebwerke bei einer bemannten Stufenrakete war einer der strittigsten Punkte des Modernisierungsprogramms der Saturn, und die NASA unternahm auch keine Anstrengungen, diese Kontroverse beizulegen.

Dana hatte Zweifel hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit Udet gehegt und sich gefragt, ob er imstande wäre, den Leuten in Marshall seine Version plausibel zu machen. Zumal ein solcher Auftrag sich ohnehin außerhalb seines Kompetenzbereichs befand.

»Sie dürfen sich überall umsehen und Empfehlungen aussprechen«, hatte Seger gesagt, »und ich werde dafür sorgen, daß man Ihnen zuhört. Es darf uns bei diesem Projekt kein Fehler unterlaufen, Doktor Dana.«

Doch was sollte er aus einer Testzündung lernen? Hierbei handelte es sich offensichtlich um eine Vorführung, um ihn zu beeindrucken und zu überwältigen. Das war typisch für Hans Udet; Dana ärgerte sich über diese Zeitverschwendung.

Er ließ die Schlösser des Aktenkoffers aufspringen; als ob er sich rächen wollte, wandte er den Blick von der Landschaft, die vor den Wagenfenstern vorbeizog und widmete sich technischen Dokumentationen.

Der Fahrer setzte ihn bei der Wasatch-Abteilung von Morton Thiokol ab, ein paar Kilometer außerhalb von Brigham City. Jack berührte Dana leicht am Ellbogen und führte ihn zu einem Bürocontainer, der sich etwas abseits der staubigen Straße auf einem Gerüst befand.

Beim Testgelände handelte es sich um eine Ansammlung von Gebäuden, die sich um eine breite kraterartige Senke in der Wüste verteilten. Flache Hügel mit schwarzgrüner Vegetation säumten das Gelände. Im Osten ragten blaue Berge in den Himmel.

Jack wies auf einen ein paar Kilometer entfernten Meßplatz. Dana kniff die Augen zusammen, um in der gleißenden Helligkeit etwas zu sehen und erkannte einen dünnen weißen Zylinder, der flach auf dem Boden lag.

Der Bürocontainer verfügte erstaunlicherweise über eine Klimaanlage und war zudem mit einem Kühlschrank und einer Kaffeemaschine ausgestattet. Erleichtert sog Dana die warme, feuchte Luft ein. Hans Udet erwartete ihn schon.

»Doktor Dana. Ich freue mich, daß Sie hier sind.«

Wirklich? Was für ein Kontrast zu unserer letzten Begegnung, Hans, bei der Präsentation der Mars-Modi in Huntsville...

Skeptisch schüttelte Dana dem Deutschen die Hand und blickte sich in dem Bürocontainer um. Er sah ein Schnittmodell der SRB und künstlerische Impressionen in dem kraftvollen, visionären Stil, den die NASA, wie Dana sich sagte, in den letzten Jahren als Klischee kultiviert hatte. Aus einem Wandlautsprecher wurde in gedämpfter Lautstärke über den Fortschritt der Versuche berichtet.

Offensichtlich handelte es sich bei diesem Büro um eine Art potemkinsches Dorf, um zu Besuch weilende Entscheidungsträger zu beeindrucken. Wie mich. Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen.

»Sind wir allein?«

»Doktor Dana, dies ist ein großer Tag für uns - die erste integrierte Testzündung -, und mir war besonders daran gelegen, daß Sie sich das anschauen. Als mein Gast. Darf ich Ihnen den Aktenkoffer abnehmen? Möchten Sie einen Kaffee? Oder vielleicht ein Bier?«

Dana nahm lieber ein Glas Orangensaft - der fast auf den Gefrierpunkt heruntergekühlt zu sein schien - und setzte sich auf einen Stuhl.

Udet nahm die typische Pose eines Versicherungsvertreters ein. »Ich möchte Sie über den Hintergrund unseres SRB-Projekts aufklären«, sagte Udet und wies auf eine Grafik mit dem geplanten Startprofil. »Die Feststoff-Booster haben vom Triebwerkstrichter bis zur Nase eine Länge von fünfundvierzig Metern und einen Durchmesser von dreieinhalb Metern. In der Startkonfiguration der Saturn VB werden vier dieser Triebwerke mit der ersten Stufe MS-IC zu einer Mehrstufenrakete zusammengefaßt. Die Booster werden der MS-IC einen Gesamtschub von über zweieinhalbtausend Tonnen verleihen, wodurch die VB imstande ist, eine Nutzlast von mehr als zweihundert Tonnen in den LEO9 zu befördern: das ist doppelt soviel wie bei der Saturn V. Das MS-IC selbst ist deutlich verbessert worden und verfügt nun über die F-IA-Haupttriebwerke, die mit neuen Fertigungstechniken und Werkstoffen produziert wurden. Die SRBs sind weltweit die größten Feststoff-Booster - und um die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen, sind sie die ersten wiederverwendbaren Triebwerke dieser Art.«

»Und die ersten, die bei einer bemannten Rakete eingesetzt werden sollen.«

»Ja, das ist richtig.«

Dana öffnete den Aktenkoffer und legte ein Dokument auf den Schoß. »Doktor Udet, unsere Zeit ist begrenzt. Könnten wir nun zu den Spezifikationen kommen? Die Startsequenz interessiert mich dabei besonders.«

Udets Augen strahlten himmelblau hinter der Brille. Der Deutsche musterte Dana prüfend, als ob er den weiteren Verlauf berechnete. Dann nahm er mit choreographierten Bewegungen neben Dana Platz; er saß locker da, unverkrampft und mit freundlicher Körpersprache. »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Doktor Dana; ich habe das Memorandum gelesen, das Sie für Bert Seger verfaßt haben. Mein Anliegen ist nun, diese Besorgnis zu entkräften und Ihnen zu versichern, daß sie unbegründet ist.«

Wider Willen wurde Dana durch Udets Beherrschtheit und seine preußisch-aristokratische Haltung aus dem Konzept gebracht. Danas Brille war verrutscht; er rückte sie zurecht und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen: »Und mein Anliegen ist, daß keine Kompromisse bei der Sicherheit gemacht werden, zugunsten nachrangiger Ziele wie Wiederverwendbarkeit, Terminplanung und Kostenrechnung.«

»Natürlich. Und wenn ich.«

»Könnten wir auf die Frage des Starts zurückkommen?« Er kramte im Aktenkoffer und holte eine handschriftliche Notiz heraus. »Ich habe eine Vorab-Analyse einiger Ausfallmodi beim Start erstellt. Ich werde das natürlich noch formell dokumentieren.«

»Ich bin sicher, daß wir alle Ausfallmodi in Betracht gezogen haben, Doktor Dana.«

»Da bin ich mir sicher«, murmelte Dana. »Aber vielleicht sollten wir das doch noch einmal durchgehen. Nur ein Beispiel: es hat den Anschein, als ob unmittelbar vor dem Abheben die Booster und der Rest des Bündels einem Vorgang unterlägen, den mein Sohn als >Dehnung< bezeichnet - während der paar Sekunden zwischen der Zündung der Triebwerke der MS-IC und dem Bruch der Halterungen der Mehrstufenrakete.«

»Ich bin mit der Astronautenterminologie vertraut«, sagte Udet mit einem gezwungenen Lächeln.

»Die durch diese >Dehnung< verursachte strukturelle Belastung der Mehrstufenrakete führt dazu, daß das Bündel beim Start in Schwingungen versetzt wird und während der ersten paar Sekunden des Flugs mit einer Periode von drei bis vier Sekunden in Längsrichtung oszilliert.« Dana zeigte auf eine Textpassage, die er dick unterstrichen hatte. »Aus dieser Skizze ersehen Sie, daß die Stoßstellen der segmentierten Raketen während der >Dehnung< und der darauffolgenden Stauchung am stärksten belastet werden. Ich glaube, daß diese Belastungsspitzen den maximalen dynamischen Druck während des Flugs noch übertreffen.«

»Die Stoßstellen sind für solche Belastungen ausgelegt. Das ist alles schon berücksichtigt worden«, sagte Udet. Er schien etwas ungehalten.

»Gewiß. Aber ich möchte die dokumentierten Testergebnisse sehen, bevor ich in Erwägung ziehe, die Projektprüfung abzuzeichnen. Zudem möchte ich noch weitere Empfehlungen vorlegen.« Er brachte mehr Unterlagen zum Vorschein. »Ich möchte, daß das Gummi der Segmentdichtungen durch einen temperaturbeständigen Verbundwerkstoff ersetzt wird. Außerdem müßten die Stöße der Dichtungen anders konstruiert werden. Dadurch könnte man ein eventuelles Verformen der

Stoßstellen während der >Dehnung< um einige Größenordnungen reduzieren. Zusätzlich müßten Beobachtungsfenster bei den Brennversuchen und eine elektrische Heizung für die Stoßstellen installiert werden...«

Während er die Punkte durchging, hörte Udet höflich und mit unbewegter Miene zu.

Eine neue Durchsage, die Dana nicht verstand, drang aus dem Lautsprecher, und Udet drehte den Kopf, um die Nachricht zu verfolgen. Dann wandte er sich Dana wieder mit geschäftsmäßigem Lächeln zu und legte die pergamentartigen Wangen in Falten. »Wir werden das Gespräch fortsetzen«, versicherte Udet. »Aber der Brennversuch findet in ein paar Minuten statt. Wenn Sie mich begleiten wollen - nehmen Sie Ihr Getränk mit, wenn Sie möchten.«

Dana folgte ihm. Irgendwie hatte er das Gefühl, sich ungebührlich verhalten zu haben - als ob es unangebracht gewesen wäre, an einem Tag von solch visionärer Bedeutung mit kleinlichen Bedenken aufzuwarten.

In einem Gefährt, das an einen Golfkarren erinnerte, fuhr Udet mit Dana aufs Testgelände hinaus.

Sie hielten vielleicht anderthalb Kilometer vom Triebwerk entfernt an. Udet war Dana behilflich, aus dem Karren zu steigen und über eine kurze Metalleiter in einen Graben zu klettern. Der provisorisch ausgeschachtete und mit Spritzbeton ausgekleidete Graben war etwas über einen Meter tief. Ein Techniker reichte Dana eine Schutzbrille und einen weißen Helm.

Das Versuchstriebwerk war ein schlanker weißer Zylinder, der flach auf der Erde lag. Die Rakete wurde von großen rechteckigen Rahmen am Boden gehalten, und die Nase war mit einer großen Halbschale abgedeckt. Wie ein gefallener

Gott, der an den Boden gefesselt ist, damit er nicht entkommt. Die Montagestöße zwischen den Hüllsegmenten leuchteten golden in der Sonne, die sich dem Zenit näherte. Der große Triebwerkstrichter war auf einen Hügel gerichtet.

Leute gingen um das Triebwerk herum. Vor dem mächtigen weißen Körper wirkten sie wie Zwerge. Die Rampe war mit Instrumenten und Kameras auf zerbrechlich aussehenden Stativen bestückt, und in den schwarzen Schlund des Triebwerkstrichters waren Sonden eingeführt.

Udet tippte Dana auf die Schulter und beugte sich zu ihm herüber. »Wir haben noch ein paar Minuten. Reden wir offen, Sie und ich.«

Dana musterte ihn argwöhnisch.

»Ich möchte über das Risiko sprechen«, sagte Udet. »Ich glaube nämlich, das ist der Kern der Diskussion, die wir führen. Wir haben in diesem Land eine fast zwanzigjährige Erfahrung in den Bereichen Bau und Betrieb bemannter Raumflugsysteme gesammelt. Und während dieser Zeit hat das Konzept des Risikos sich.« Udet zögerte, was völlig untypisch für ihn war und suchte offensichtlich nach dem richtigen Wort.

»>Entwickelt

Udet wölbte eine Augenbraue. »Sehr gut. >Entwickelt<. Wir haben die Notwendigkeit erkannt, Prinzipien zu entwickeln, die komplexer sind als die schlichte Forderung, >die Besatzung um jeden Preis zu schützen< und so weiter.«

»Ja«, sagte Udet schroff. »Wir, die wir letztlich für die Sicherheit der jungen Männer verantwortlich sind, die wir in den Orbit schicken. Im Gegensatz zu denjenigen - bei allem Respekt -, die nur zuschauen. Wie Sie.

Die Bewertung des >Risikos< entwickelt sich im Verlauf einer Mission. Bedenken Sie das. Das Zusatztriebwerk der Apollo 12 wurde während des Starts vom Blitz getroffen. Das Raumschiff hat zwar sicher den Orbit erreicht, aber die elektrischen Systeme der Apollo waren schwer beschädigt, und es war unmöglich, die Fallschirme in der Kommandokapsel auf ihre Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Nach Abwägung aller Umstände beschloß man, die Mission fortzusetzen. Wenn wir nämlich einen Start überstanden haben, so problematisch er auch war, müssen wir weitermachen; sonst würden wir nämlich eine andere Besatzung dem größeren Risiko eines weiteren Starts aussetzen, um denselben Punkt zu erreichen. Und was die Fallschirme betrifft: falls Conrad und seine Leute bei der Rückkehr zur Erde umgekommen wären, hätte das ebensogut nach einer Mondlandung anstatt davor geschehen können.«

»Ich kenne die Geschichte, Doktor Udet. Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß dieses ganze Geschäft« - Udet machte eine ausladende Geste - »nur die Verwirklichung, die werkstofftechnische Umsetzung eines Traums darstellt. Eines Traums, den Sie und ich teilen. Doch dieser Traum ist ohne Risiken nicht zu verwirklichen. Deshalb geht es bei unserer Mission auch nicht darum, das Risiko auszuschließen, sondern es zu kalkulieren. Und aus dieser Perspektive müssen Sie eine Beurteilung des Projekts vornehmen.«

Erneut fühlte Dana angesichts von Udets Gelassenheit und Kompetenz Unbehagen. Vermochte er sich der Überzeugung dieses Mannes wirklich entgegenzustellen?

Über einen entfernten Lautsprecher erfolgte der Countdown. Udet stand aufrecht im Graben, wobei sein silbriges Haar im Sonnenlicht leuchtete. Für Momente wie diesen lebt Udet, sagte Dana sich.

»Später«, sagte Udet leise zu Dana, »möchte ich Ihnen die Brennstoffherstellung in Wasatch zeigen. Der Brennstoff wird in großen Behältern vermischt und direkt in die Hüllsegmente abgefüllt. Er hat die Konsistenz von Gummi.« Dreizehn.

Zwölf. Das Personal hatte sich von der Rakete zurückgezogen. Der leuchtende Körper lag verlassen auf dem Wüstenboden.

».Der Brennstoff entzündet sich nur bei extremer Hitze. Er reagiert weder auf statische Veränderungen noch auf Reibung oder Stöße. Wie Sie sehen, ist es eine sehr sichere Sache.«

Sechs. Fünf.

»Deshalb ist auch ein kleines Raketentriebwerk in der Hülle erforderlich, um den Brennstoff zu entzünden. Und wenn der erst einmal entflammt ist, braucht man auch keine Pumpen oder Tieftemperaturspeicher mehr. Eine ordentliche Rakete brennt einfach.«

Ja. Und wenn sie erst mal angezündet ist, geht sie nicht mehr aus.

Zwei. Eins.

Weiße Flammen stachen aus dem Triebwerkstrichter. Es herrschte eine gespenstische Stille. Die Flamme erreichte den Hügel hinter der vertäuten Rakete, und der geblendete Dana hatte den Eindruck, das Sonnenlicht über der Wüste sei abgedunkelt worden. Das Blau und Orange der Landschaft schien im Vergleich zu diesem Feuer - Raketenlicht, heißer als die Oberfläche eines Sterns -, das die Menschen auf die Erde gebracht hatten, zu Grautönen zu verblassen.

Und nun kam der Schall bei ihm an.

Zuerst vernahm er ein dumpfes Grollen, das direkt aus den Tiefen der Erde zu dringen schien. Und dann hörte er ein heftiges Prasseln, ein hochfrequentes Geräusch. Es klang, als würde eine riesige Leinwand zerrissen; das Geräusch bauschte seine Kleidung und zerzauste ihm das Haar. Er spürte, wie der Boden bebte, als ob er mit einem großen, unsichtbaren Hammer bearbeitet würde.

Udet beugte sich zu ihm herüber und rief: »Das ist der Traum, Doktor Dana.« Er sah Dana mit zerzaustem und von orangefarbenem Staub gepudertem Haar an. »Von null auf zwanzig Millionen Pferdestärken in weniger als einer Sekunde! Das ist es, was ich Ihnen zeigen wollte. Das ist es, wofür wir arbeiten, Sie und ich. Das ist es, was Sie immer bedenken müssen, wenn Sie Ihre Studien betreiben und Ihre Berichte abfassen.«

Dana wurde von der Intensität des Mannes überwältigt. Natürlich hatte Udet recht. Es war wirklich ein Traum, ein Traum aus Raketenlicht, der vor den Augen zweier alter Männer aus Europa in der Wüste der Vereinigten Staaten Wirklichkeit wurde. Der Traum des Mittelwerks.

Die Flammen schlugen noch immer aus der gefesselten Rakete, und Rauch, der vom Wüstenstaub orange und grau gefärbt wurde, waberte über dem Hügel.

Februar 1970

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

Der Raum war abgedunkelt und warm. Ein paar der Trainees hatten die Füße hochgelegt. Einer - Bob Gold, ein Texaner mit Segelohren, der ein paar Meter vor York saß, hatte den Kopf in den ausrasierten Stiernacken gelegt und gab ein leises Schnarchen von sich, das sich wie das Keckem eines Vogels anhörte.

Der Ausbilder legte eine neue Folie auf den Projektor. Weil die Fokussierung des Projektors nicht funktionierte, verschwamm die Darstellung zum Mittelpunkt hin. Der Ausbilder, ein Astronaut namens Ralph Gershon, griff zum teleskopartigen Zeigestock und tippte an die Leinwand, worauf das Bild zitterte und noch unschärfer wurde.

Gershon fummelte nicht etwa aus Nervosität so herum, wie York in ihrer Trägheit erkannte, sondern weil er keine rechte Lust auf die Vermittlung des Lehrstoffs hatte.

»Dies hier ist das ECLSS der MEM-Konfiguration«, sagte Gershon. »Passen Sie gut auf. Vielleicht wird eines Tages Ihr Leben davon abhängen, wie gut Sie dieses Baby kennen.«

Die neue Folie zeigte ein kompliziertes Blockdiagramm, das mit spinnenartigen Pfeilen und verwirrenden Abkürzungen versehen war. Diese Darstellung hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Bildern, die York bisher gesehen hatte.

Der Schnarcher vor York schluckte und kaute schmatzend auf einem Schleimbrocken herum.

»Dies«, sagte Gershon und tippte wieder auf das Diagramm, »ist das grundlegende ECLSS-Konzept, das unabhängig von der Konstruktion des restlichen MEM verwirklicht werden wird. Hier haben Sie das Molekular-Doppelsieb für die Ce-O-Zwei-Reinigung.

Und die Ha-Zwei-O-Klärung erfolgt mit dieser Mehrfachfilter-Einheit hier. Das hier steigert die Leistung der Brennstoffzellen. Und die atmosphärischen Gase werden natürlich tiefgekühlt gespeichert. Im Gegensatz zur Druckspeicherung.« Blinzelnd schaute Gershon in die Runde. »Weiß jemand, weshalb? Wegen des günstigeren GewichtsVolumen-Verhältnisses. Und wir haben hier kein O-Zwei-Aufbereitungssystem. Wir führen die gesamte Atemluft mit und blasen die Abluft aus. Will jemand mir sagen, weshalb? Weil das MEM ein Kurzstrecken-Raumschiff ist und das zusätzliche Gewicht des Aufbereitungssystems deshalb nicht gerechtfertigt wäre.«

York merkte, daß Gershons Trick - indem er dem Kurs eine Frage stellte und sie beiläufig selbst beantwortete, bevor jemand die Gelegenheit bekam, sich zu äußern - sie langsam verrückt machte.

Gershon sagte den Lehrgangsteilnehmern, sie sollten die Kopie des Diagramms in ihren Büchern vervollständigen; dann verließ er den Raum und steuerte die Kaffeemaschine an.

Obwohl Gershon sich durchaus mit MEM-Konstruktionen auskannte, war er kein ausgebildeter Ausbilder. Er war ein kleiner, drahtiger Mann Mitte Dreißig. Anscheinend stammte er aus Iowa, doch lebte er schon so lange in Houston, daß er einen texanischen Akzent angenommen hatte. Und nach all diesen Jahren war Gershon noch immer nur ein AstronautenAnwärter, der auf seinen ersten Flug wartete, irgendwelche Hilfsdienste verrichtete und hoffnungsvolle Nachwuchskräfte unterrichtete.

Für York war Gershon ein deprimierendes Vorbild.

Sie blätterte ihr >Malbuch< durch. So bezeichneten die Trainees die Werke, die vor jeder Vorlesung ausgegeben wurden; es handelte sich um Wälzer, die nur Grafiken und keinen Text enthielten. Die Diagramme auf dem Projektor sollten bis auf die Farben mit den Diagrammen in den Büchern identisch sein, und die Trainees - allesamt hochqualifizierte Spezialisten - mußten wie Schüler die Diagramme in den Büchern mit Buntstiften kolorieren. Sie mußten sich jeden Transistor, jedes Ventil, jede Röhre und jeden Schaltkreis jedes gottverdammten Raumschiffs merken, sei es nun geplant oder schon in Betrieb.

Malbücher waren wirklich die letzten Lehrmittel, sagte sie sich. Zumal alles Systemwissen dieser Welt Jim Lovells Apollo 13 nichts geholfen hätte, als der Sauerstofftank explodierte.

Außerdem bestand das Problem, daß das MEM als

bewegliches Ziel ausgelegt war. Das MEM unterschied sich insofern von früheren Raumschiffsgenerationen, als die grundlegenden Entwürfe - Doppelkegel, Ballonschirme, Steckdüsen-Raketentriebwerke - vor dem Bau der ersten

Schiffe bereits erprobt waren. Es stellte einen deutlichen Kontrast zu Apollo dar und schien in ihren Augen viel

logischer zu sein. Doch aus diesem Grund entsprach das

ECLSS-Diagramm in ihrem Buch nicht in allen Details dem Diagramm auf der Leinwand, und dieses entsprach wiederum nicht exakt der Realität des Raumschiffs, das irgendwann einmal gebaut werden würde. Weshalb sollte sie sich also mit dem ganzen Kram belasten?

Das war alles Teil ihres Ascan-Lehrplans, eines Dokuments, das tatsächlich wie ein Strömungsdiagramm konzipiert war. Man folgte dem Fluß, arbeitete hier ein einstündiges Modul über Subsysteme ab und besuchte dort eine mehrstündige Vorlesung über Raumfahrtmedizin, bis man Barrieren im Flußdiagramm überwand, die einen auf die nächsthöhere Leistungsstufe hoben. Es war ein starres Ausbildungssystem, das von einem Ingenieur und nicht von einem Pädagogen entwickelt worden war.

Das war typisch NASA. Nicht daß es ihr gelungen wäre, jemanden für diesen Schwachpunkt zu sensibilisieren.

Die Neuen mußten ihre eigenen Buntstifte mitbringen, und York verschaffte es eine Art Lustgewinn, Triebwerkstrichter in Signalorange auszumalen, Sauerstofftanks in Puterrot und Elektromagneten in Xenonblau.

Nachdem die Vorlesung beendet war, rannte sie zu Ben Priest. Ben steckte gerade im Training für seinen ersten Flug: ApolloN, die orbitale Erprobungsmission für NERVA 2, die für Ende nächsten Jahres geplant war.

Er war ebenfalls frustriert und gereizt, nachdem er den ganzen Tag in einer integrierten Simulation verbracht hatte.

Aus irgendeinem Grund stand die übliche Barriere heute nicht zwischen ihnen. Sie standen nur in Tuchfühlung auf dem Gang und schauten sich ins Gesicht. Vielleicht teilten sie nur ihre Frustration. Wie dem auch sei, sie wußte, daß es heute geschehen würde.

Sie setzten sich in Bens Auto und fuhren zu ihrem Apartment. Es war das dritte Mal in ebensovielen Jahren.

»Diese verdammten Malbücher. Als ob man das Autofahren in der theoretischen Ausbildung lernen sollte«, knurrte sie. Sie nahm einen Schluck Cola und hielt sich die kühle, mit Reif überzogene Dose an die Brust.

Ben, der in ihrem Bett lag, lachte nur und hob seine Bierbüchse zum Mund. »Wenn du von den Vorlesungen genug hast, dann setz dich doch mal in den Simulator.«

»Mein Gott, Ben, wir kommen gar nicht an die Simulatoren ran. Das ist noch ein Problem. Hier wimmelt es nur so von Astronauten. Ich meine von echten Astronauten«, sagte sie bitter. »Von blöden Kampfpiloten wie dir, die wirklich fliegen werden.«

»Das sollte dich nicht kümmern. Versuch es trotzdem.«

»Die Simulatoren sind bis drei Uhr morgens ausgebucht!«

Er wirkte ungeduldig und zog die Decke über den Bauch. »Dann komm halt um drei Uhr morgens. Was willst du überhaupt, Natalie? Niemand hat gesagt, daß es einfach werden würde. Du mußt den anderen immer um eine Länge voraus sein. Sorg dafür, daß man Notiz von dir nimmt. Klopf an Chuck Jones’ Tür und bitte um Aufträge.«

Sie grunzte. »Das ist eine saudumme Art, ein RaumfahrtProgramm voranzutreiben.«

»Vielleicht, aber so läuft das eben.«

Wie er so dalag, wirkte er irgendwie unruhig. Sie wußte, daß er diesen Abend noch zum JSC zurückfahren mußte. Doch sie verspürte das Bedürfnis, ihn hierzubehalten und mit ihm zu reden. Sie drängte sich ihm auf, aber Ben war der einzige Freund, den York hier hatte.

Seit dem Störfall in Three Mile Island vor ein paar Wochen war sogar der Kontakt zu etlichen Freunden in Berkeley abgebrochen. Die waren nämlich der Ansicht, daß es unmoralisch von ihr sei, an einem High-Tech-Programm mitzuarbeiten, das dazu diente, nukleares Material in den Orbit zu schicken, um Himmels willen.

Wenn sie nicht Ben gehabt hätte, um all die Probleme durchzukauen, mit denen sie im Rahmen des Programms konfrontiert wurde, wäre sie wohl bald verrückt geworden.

»Wie geht’s übrigens Mike?« fragte er.

Sie schaute weg. »Ich weiß nicht. Ist sehr beschäftigt. Gespannt wie eine Uhrfeder.« Sie zögerte. »Und wie geht’s Karen?«

Er zuckte zusammen. »Das habe ich nicht verdient.«

».Sicher nicht. Tut mir leid.«

»Mir auch«, grunzte er.

Sie packte die Coladose und versuchte, das Problem zu durchdringen. Wir können uns über den Mars unterhalten und über Kulturschocks bei der NASA, aber wenn es um uns geht, weichen wir immer aus. »Ich weiß gar nicht, ob Mike möchte, daß ich hier arbeite.«

»Würde es denn etwas ändern?«

Nein. Nicht mehr. Allerdings gelang es ihr nicht, das auch zu sagen.

Priest trank das Bier aus. »Ich glaube, du befindest dich gerade in einem Entscheidungsprozeß, Natalie. Und das gilt vielleicht auch für Mike. Das ist schade. Ich liebe euch beide. Aber ich glaube nicht, daß wir alle eine glückliche Familie sein werden.«

»Wahrscheinlich nicht. Du aber auch nicht.«

»Was, zum Teufel, soll das nun wieder heißen?« fragte er.

»Nichts. Es tut mir leid, Ben.«

Er schwenkte die Bierdose und wich ihrem Blick aus. »Ich habe schon erwogen, auszuziehen.«

»Und wieso?«

Er wirkte irritiert. »Was glaubst du denn? Um hierher zu kommen, meine Güte. Um bei dir zu sein.«

»Ach«, sagte sie erstaunt. »Und was hindert dich daran?« fragte sie sanft.

».Ich glaube nicht, daß ich Karen verlassen kann.«

»Wieso nicht? Liebst du sie denn noch?«

Er drehte sich zu ihr um und verwuschelte ihr das Haar. »Komm schon, Natalie, du bist doch Wissenschaftlerin. Was ist das denn für eine Frage? Was hat >Liebe< noch für eine Bedeutung, wenn man seit vielen Jahren mit jemandem verheiratet ist und wenn man einen Sohn aufgezogen hat. Man transzendiert die Liebe. Liebe ist etwas für Teenager.«

»Und weshalb verläßt du sie dann nicht?«

»Aus Loyalität.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Weil wir eine Art Abkommen getroffen hatten, ganz am Anfang. Karen hat in mich - investieren müssen. Immer wenn ich fliege.«

»Ach, nun verstehe ich«, sagte sie. »Karen ist eine Seemannsbraut.«

»Zieh es nicht ins Lächerliche, Natalie. Es mag dir komisch vorkommen, aber es ist ein stabiles System. Karen hat über die Jahre mein Risiko mitgetragen, und ich mute ihr noch mehr zu, wenn ich mit der Apollo-N ins All fliege. Vielleicht werden wir uns trennen; doch wenn wir es tun, soll es ihre Entscheidung sein.«

»Nun, das ist klar wie nur was«, seufzte sie.

Er lachte. »Was willst du mir sagen? Daß ich dein wäre, wenn ich mit einem Koffer hier aufkreuzen würde?«

Sie dachte darüber nach. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich könnte nie eine Seemannsbraut sein.«

»Das weiß ich.« Er nahm ihr Gesicht in die Hände. »Du bist etwas ganz Besonderes, Natalie.«

Sie nahm einen Schluck Cola. Ihre Gedanken schweiften wieder zur NASA ab. »Weißt du, die Alten Köpfe im Büro wollen uns überhaupt nicht dort haben.«

»Alte Köpfe?«

»Ben, nun tu nicht so, als ob du das noch nie gehört hättest. Die Alten. So nennen wir euch, die Dienstälteren.«

»Mich auch?«

»Dich auch, du Arsch. Und die ältesten der Alten Köpfe sind die schlimmsten. Chuck Jones und der Rest der Mercury-Generation.«

»Ach, komm schon«, sagte Ben. »Diese Jungs sind ganz in Ordnung. Ich meine, sie sind die guten Jungs. Sie treiben das Programm voran und versuchen, noch einen Flug zu ergattern. Sie sind wenigstens nicht in den Vorruhestand gegangen, um in Werbesendungen aufzutreten oder irgendwo als Frühstücksdirektor anzuheuern. Sie sind auch nicht in Talkshows aufgetreten oder haben ihre Raumanzüge verhökert. Männer wie Joe Muldoon und John Young, Fred Haise und Chuck Jones sind die alte Garde.«

»Vielleicht.« Im Rückblick wunderte sie sich über die Verehrung, die sie diesen Männern entgegengebracht hatte. Doch es war schon erstaunlich, wie die Einstellung einer Person gegenüber umzuschlagen vermochte, wenn man über einen längeren Zeitraum immer nur von ihr brüskiert wurde. »Sie reden nur vom Fliegen«, sagte sie verschnupft. »Und von der Gänsejagd und davon, wie sie schnell mit ihren Sportwagen von ihren gemütlichen Häuschen in El Lago zum JSC rasen.«

»Welches Verhalten hättest du denn von ihnen erwartet? Diese Jungs sind im Grunde Testpiloten.«

»Aber mir bringt man das Fliegen nicht bei! Aber das ist noch nicht alles. Selbst wegen der wissenschaftlichen Projekte, die wir durchführen wollen, rümpfen sie die Nase.«

»Chuck Jones auch?«

»Gerade Jones. Kennst du zum Beispiel Bob Gold aus meiner Gruppe?«

»Sicher.«

»Bob wollte sich im nächsten Jahr freistellen lassen, um einen Forschungsauftrag an der University of Texas anzunehmen. Bei der Einführungsveranstaltung hatte man uns diese Möglichkeit in Aussicht gestellt, um den Kontakt zu unseren alten Hochschulen aufrechtzuerhalten. Aber Jones hat es nicht erlaubt. Er sagte, er würde Bob hier brauchen! Wozu denn, um Gottes willen? Um als Staffage bei irgendwelchen Versuchen mitzuwirken? Ben, für ein paar dieser Versuche würde ein x-beliebiges Lebewesen genügen. Es müßte nicht einmal ein Bewußtsein haben. Bob spielt jedenfalls mit dem Gedanken, aufzuhören.«

»Dann soll er eben aufhören.« Die Unruhe, die sie schon an ihm wahrgenommen hatte, schien nun an die Oberfläche zu drängen, »Ich verstehe dich. Aber du mußt das mit dir selbst ausmachen, Natalie.«

Aber York war noch nicht fertig. »Noch etwas. Da sitzt du zum Beispiel im Büro und willst den Stoff nachbereiten. Dann kommt so ein grinsendes Arschloch rein und sagt: >He, Natalie, in Gebäude 4 findet eine Besprechung statt. Es geht um EVA-Überschuhe oder S-Band-Antennenhalterungen oder einen anderen Scheiß, den Sie sich anhören sollten« Was soll man da machen?«

»Hingehen«, sagte Priest dezidiert. Mit einer endgültig wirkenden Geste stellte er das Bier auf dem Nachttisch ab. »Hör mir wenigstens einmal zu, Natalie. Du mußt eine Entscheidung treffen. Dieses verdammte Gejammer. Wenn du ins akademische Leben zurückwillst, zurück zu deiner alten Arbeit, dann schnür dein Bündel und geh.«

»Das würde ich auch am liebsten tun.«

»Dann solltest du nicht nur reden, sondern handeln. Wenn du aber hierbleiben willst, dann mußt du mitspielen. Nach ihren Regeln, den Regeln der Alten Köpfe oder wie auch immer ihr sie nennt. Jack Schmitt war der erfolgreichste Wissenschaftsastronaut der Sechziger. Wie das wohl möglich war?«

»Weil er der beste Geologe war?«

»Er war ein guter Geologe. Doch es gab viele gute Geologen, die sich aus dem Programm verabschiedet und Schmitt zurückgelassen haben. Schmitt hat sich nützlich gemacht, und zwar so, daß er den anderen Leuten - den Entscheidungsträgern - aufgefallen ist. Man bestimmte ihn zum Repräsentanten der Astronauten für die Mondausrüstung der Apollo, und er führte den Auftrag aus. Und ohne daß man ihn dazu aufgefordert hätte, kümmerte er sich gleich auch um die Landestufe der Mondfähre. Er entwarf Strategien zur Erkundung des Mondes. Er bewirkte, daß die anderen Jungs die Geologie ernst nahmen.«

»Aber, Ben - Schmitt ist nie auf dem Mond gelandet.«

Priest schüttelte den Kopf. »Du hörst mir nicht zu. Wenn Schmitt nicht gewesen wäre, würden uns längst nicht so gute geologische Forschungsergebnisse vom Mond vorliegen. Daran solltest du einmal denken. Er hatte Pech - die späteren Mondlandungen, die in seine Dienstzeit gefallen wären, wurden gestrichen. Aber er hat sich selbst die bestmögliche Chance gegeben.« Er musterte sie. »Immerhin hat Schmitt in Moonlab gearbeitet und ist bis auf hundert Kilometer an den Mond herangekommen. Und du kennst doch auch Ralph Gershon, nicht wahr?«

»Sicher. Ein riesengroßes Arschloch.«

»Nein.« Nun wurde Ben ungehalten. »Du bist das Arschloch, Natalie. Es tut mir leid, aber es ist die Wahrheit. Hör zu: Gershon hat es genauso schwer wie du, nur in anderer Hinsicht. Er ist der beste Pilot der NASA, und die meisten von uns wissen das auch. Aber er paßt eben nicht rein. Er gehört zu einer anderen Generation als diese Jungs. Er hat in einem schmutzigen Krieg gekämpft, und vielleicht wird ihm unterstellt, etwas von diesem Schmutz sei an ihm kleben geblieben.

Aber«, fuhr Priest fort, »Ralph hat nicht aufgegeben. Er setzt alles daran, einen Platz in einer Rakete zu bekommen. So macht er sich zum Beispiel nützlich, indem er für euch das Kindermädchen spielt.«

»Aber er ist ein lausiger Ausbilder!«

Priest schüttelte den Kopf. »Moment! Das ist nicht der Maßstab. Daß er den Auftrag angenommen hat, ihn ausführt und ein >Mannschaftsspieler< ist: das ist es, was zählt. Und obendrein verbringt Ralph sein halbes Leben in Langley und bei Rockwell - wo auch immer Komponenten des MEM getestet werden. Und weißt du, weshalb? Er sagt sich nämlich, wenn es einmal soweit ist, will er niemanden um sich haben, der sich besser mit dem MEM auskennt als er. Genauso wie Schmitt spielt er mit vollem Einsatz.«

»Und das sollte ich auch tun?«

»Das solltest du auch tun. Und noch mehr. Hör auf mit diesem Gejammer, um Himmels willen. Du hast hier eine einmalige Gelegenheit. Setz dich in den Simulator. Nutze alle Ausbildungsmöglichkeiten, so sinnlos sie dir auch erscheinen mögen. Besuch die Vorträge über die verdammten EVA-Gamaschen oder was auch immer. Und such nach Möglichkeiten, deine Fähigkeiten zu entwickeln. Laß dich zum Beispiel auf die Bewerberliste für den Marsflug setzen.«

»Ich wußte gar nicht, daß es eine solche Liste gibt.«

»Jetzt weißt du es«, sagte er.

»Verdammt, Ben, ich hasse es, wenn du mir Ratschläge gibst.«

Er lachte. »Nur weil ich recht habe.« Er sah auf die Rolex, die er auf den Nachttisch gelegt hatte. »Verdammt. Ich muß los. Muß auch wieder die Schulbank drücken und die NERVA-Steuersysteme auf den neusten Stand bringen.«

»Also«, sagte sie und streichelte ihm den Rücken. »Dann müssen wir noch etwas erledigen, was?«

»Ja. Wir müssen noch etwas erledigen. Wir werden reden.«

Er schwang die Beine aus dem Bett.

Nach ein paar Wochen wurde das Leben interessanter.

Yorks Gruppe wurde nun an den Systemen ausgebildet. York arbeitete sich durch die Hierarchie der Ausbildungssysteme -zuerst anhand von schriftlichen Unterlagen, dann mit Computerunterstützung -, so daß sie eine ganzheitliche Vorstellung von dem Raumschiff bekam, das sie fliegen würde.

Die Räumlichkeiten von Gebäude 5 waren mit EinzelsystemTrainingsgeräten ausgestattet - Elementen von ApolloSteuerkonsolen -, wobei Computer einfache Simulationen laufen ließen. Und dann gab es noch für jede der drei Besatzungs-Stationen integrierte Trainingsgeräte in einer Apollo-Kommandokapsel.

Schließlich kam sie ins Gebäude 9, das Modell- und Integrations-Labor. Raumschiffmodelle im Maßstab eins zu eins waren in dem hangargroßen Gebäude verteilt. Die Ausrüstung diente der generischen Ausbildung, um die für jeden Flug erforderlichen Fertigkeiten zu vermitteln; die komplizierteren Simulatoren waren spezifischen Missionen vorbehalten.

Die Halle war kein Ort der modernsten HighTech. Das Material war abgenutzt und verschrammt. Graffiti waren an die Wände gesprüht, und die überall verstreuten Werkbänke waren mit Abfall übersät: Papierhandtücher, ein Eimer mit leeren Coladosen. Kein Astronaut im aktiven Dienst verirrte sich jemals hierher. Wenn sie am Wochenende hierher kam, war die Halle leer; nachdem die Raumflüge im Lauf der Jahre Routine geworden waren, hatte sich am JSC eine Beamtenmentalität breitgemacht.

Gebäude 9 führte ihr vor Augen, wo ihr Platz war; als eine Ascan stand sie weit unten in der Nahrungskette.

Sie versuchte sich an der Luftlager-Anlage, einem Bürostuhl, der auf einem Luftkissen schwebte, das von nach unten gerichteten Düsen erzeugt wurde. Sie driftete wie ein Eishockey-Puck über den mit Epoxidharz beschichteten Boden und umrundete eine Skylab-Station. Auf diese Art lernte sie, sich in einer simulierten Null-G-Umgebung zu bewegen, wenn auch nur in zwei Dimensionen.

Schließlich kletterte sie in die Kabine, ein Modell einer Apollo-Kommandokapsel, die wie ein Metallzelt in der Mitte von Gebäude 9 saß. Sie mußte mit den Füßen voran durch die winzige Luke einsteigen. Bei den drei Liegen handelte es sich um primitive Metallgestelle mit Textilgurten, die noch dazu schrecklich eng zusammengerückt waren. Unter den Liegen, in der Basis des Kegels, befand sich ein Stauraum, der als unterer Nutzlastraum bezeichnet wurde.

York setzte sich auf die mittlere Liege, die für den Piloten der Kommandokapsel bestimmt war. Sie schaute nach oben, zur Spitze des Kegels. Die Fenster wirkten klein und weit entfernt, und trotz der offenen Luke fühlte sie sich eingesperrt. Vor ihr befand sich eine große, halbrunde Instrumentenkonsole mit schlachtschiffgrauem Anstrich: Kippschalter, Rändelräder,

Drucktasten und Drehschalter mit Anschlägen. Die Maßeinheiten waren überwiegend metrisch, und die Leuchten und Sichtfenster hatten graue Marken beziehungsweise spiralig rot und weiß gestreifte Stäbe, die die Scheiben bedeckten, wenn die Einstellungen verändert wurden. Außerdem gab es eine Tastatur, einen Bildschirm und einen künstlichen Horizont sowie diverse Hebel und Drucktasten: Translationsregler, mit denen die Steuertriebwerke geschwenkt wurden.

Die Konsole wirkte komplex, fast schon überfrachtet. Wie, zum Teufel, sollte sie sich hier zurechtfinden?

Sie experimentierte mit den Schaltern. Zwei Ausführungen überwogen: kleine silberne Dreiwegschalter, oder - für komplexere Funktionen - zylindrische Zweiweghebel, die man erst herausziehen mußte, bevor man sie betätigen konnte. Das mußte eine schreckliche Fummelei sein mit den Handschuhen des Druckanzugs, sagte sie sich. Die Schalter wurden auf beiden Seiten von Metallrähmchen gesichert, damit sie im freien Fall nicht versehentlich betätigt wurden. Sie betätigte alle Schalter der Konsole und bekam so ein Gefühl für ihre Handhabung.

Dann sah sie, daß kleine Grafiken in die Konsole geätzt waren: Schaltkreise und Flußdiagramme. Sie befragte die Handbücher. Hier war zum Beispiel ein Diagramm, das eine Anordnung von Schaltern verband, die den Wasserzufluß von den Brennstoffzellen regulierten. Die grauen Linien bezeichneten den Fluß des Wassers, entweder zu den Reglern der Speichertanks oder zum Entsorgungssystem.

Alle Schalter waren in dem einen oder anderen Diagramm enthalten. Nachdem sie das System hinter den Diagrammen erst einmal durchschaut hatte, begriff sie auch die Logik der Konsole. Sie war nun in der Lage, die Schalter nach Funktionsgruppen zu unterscheiden und Bezüge zwischen den Schaltern herzustellen.

Sie saß allein in der Apollo, studierte ihre Handbücher und lernte, wie man das Raumschiff flog.

Montag, 11. Juni 1979 >Sternen-Stadt<, Moskau

Der Buskonvoi umfuhr Moskau auf der Stadtautobahn. Sie fuhren nach Nordosten, Richtung Kaliningrad. Es herrschte starker Verkehr - überwiegend Lkws -, und die Straße wurde von Wohngebäuden gesäumt, tristen, großen grauen Kästen. Joe Muldoon sah aus einem schmutzigen Fenster.

Ein derart deprimierender Anblick war ihm noch nicht untergekommen.

Sie fuhren auf direktem Weg von Flughafen zur >Sternen-Stadt<. Das war Muldoons zweiter Besuch hier. Der erste war schöner gewesen. Damals waren die Amerikaner - Muldoon, Bleeker und Stone sowie die NASA-Techniker und Manager -in einem Intourist-Hotel einquartiert worden. Es war zwar kein Palast gewesen, hatte sich aber in der Moskauer Innenstadt befunden, von wo aus man den Roten Platz und den Kreml zu Fuß erreicht hatte. Jeden Morgen hatten die Sowjets die Amerikaner mit Bussen zur >Sternen-Stadt< gefahren und abends wieder abgeholt.

Und im Keller hatte das Hotel sogar eine Bar gehabt.

Diese Bar war ein Anziehungspunkt für Ausländer gewesen, einer der wenigen internationalen Plätze der Stadt. Dort traf man Amerikaner an, Deutsche, Kubaner und Tschechen. Muldoon und die Jungs von der NASA hatten die Bar mit Beschlag belegt.

Es hatte keine Schwierigkeiten gegeben, nur daß es abends manchmal spät geworden war und sie morgens kaum aus dem Bett gekommen waren. Ganz zu schweigen von den Sowjets! In der Bar schlagen sie über die Stränge, diese Amerikanskis!

Deshalb wurde diesmal ein anderes Arrangement getroffen.

Vor Kaliningrad bog der Konvoi nach Osten ab und fuhr in Richtung Schtschelkowo. Die Architektur änderte sich. Bald wurde die Straße zu beiden Seiten von Holzhäusern gesäumt; im Gegensatz zu den grauen Blocks im sozialistischen Einheitsstil waren diese Häuser bunt gestrichen und mit Schnitzereien verziert. Muldoon stieg Rauch in die Nase. Und alle paar hundert Meter sah er öffentliche Wasserpumpen, die von Hand bedient werden mußten.

Die Szenerie wirkte zwar idyllisch, war aber erschreckend primitiv. Holzhäuser und Ziehbrunnen in unmittelbarer Nähe eines Ausbildungszentrums für Kosmonauten!

Auf einer nicht beschilderten Straße bog der Konvoi in einen Kiefernwald ein. Gleich hinter der Kurve befand sich ein Wachposten. Nachdem die Fahrer die Formalitäten geklärt hatten, fuhr der Konvoi auf eine große Lichtung im Wald. Dort standen ein paar große Wohnhäuser, ein paar flache Verwaltungsgebäude und ein paar Läden. Am einen Ende der Lichtung befanden sich kleine Seen, am anderen ein Dutzend großer, klobiger Bauwerke.

Mit Kopftüchern verhüllte Babuschkas schoben Kinderwagen auf den Gehwegen, untermalt von ständigem Fluglärm.

Dies war also die >Sternen-Stadt<, die eigens für die Ausbildung und Unterbringung des Kosmonauten-Korps aus dem Boden gestampft worden war. Muldoon erschien sie wie ein Zwitter aus einem Hochschul-Campus und einem militärischen Ausbildungslager.

Der Fahrer deutete auf das Hydro-Becken, die Anlage für das Training in der Schwerelosigkeit und das KosmonautenMuseum. Inmitten der Lichtung, mit dem Gesicht zum Konvoi, stand eine Statue von Gagarin: überlebensgroß, heroisch, ehrfurchtgebietend.

Muldoon schnitt eine Grimasse. Von ihm war nirgends eine Statue aufgestellt worden, obwohl er viel weiter gekommen war als Gagarin. Nun, dafür war er auch noch nicht tot.

Seine Unterkunft war sehr großzügig und glich schon fast einer Suite. Er durchstreifte die Räume. Sie waren mit wuchtigen, altmodischen Möbeln vollgestellt: Sofas,

Plüschsesseln, massiven Tischen. Der Boden war mit einem dicken Teppich belegt, und die Wände waren mit Velourtapeten tapeziert. Als er schließlich das Bad ausfindig machte, mußte er lachen. Es gab keine Seife, keine Stöpsel für Badewanne und Waschbecken und nur ein Handtuch.

Und wahrscheinlich eine Wanze in jeder verdammten Lampenfassung.

Er schaute aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf weiße Birken und Stacheldrahtzaun. Eine schwarze Limousine fuhr auf einer der Zufahrtsstraßen: wahrscheinlich KGB, sagte Muldoon sich. Ein zweites Zuhause. Wie ein beschissenes Straflager.

Er stopfte ein Kosmetiktuch in den Abfluß und ließ Badewasser ein.

Er zog sein Dinnerjackett an und ging in die Bar hinunter.

Sie war nicht mit der Bar im Moskauer Intourist zu vergleichen. Ein Barkeeper mit asiatischen Gesichtszügen trocknete Gläser ab. Muldoon bestellte ein Bier. Das tschechische Erzeugnis war kühl und wohlschmeckend. Außer ihm war niemand hier. Miserable Klaviermusik klimperte aus einem Lautsprecher.

Am Abend sollte ein Empfang mit anschließendem Dinner im Speisesaal des Wohngebäudes stattfinden, um die Fortschritte von Moonlab-Sojus zu feiern. Fred Michaels höchstpersönlich hatte sich angesagt, und Gott allein wußte, wie viele sowjetische Prominenz. Du mußt es locker nehmen, Muldoon. Paß auf, was du sagst. Verprell die Leute nicht. Er wußte, was beim Dinner auf ihn zukommen würde: Fleisch in rauhen

Mengen, mit Strömen von Soße und Butter. Ein Härtetest für Magen und Galle.

Jemand klopfte ihm auf den Rücken. »Mein Freund Joe. Ich wußte, daß ich Sie hier finden würde. Willkommen in Zwezdnoj Gorodok. Wie ich sehe, trinken Sie noch immer diese Plörre. He, Barmann!« Wladimir Wiktorenko schnippte mit den Fingern.

Der Barkeeper stellte eine Flasche Wodka auf den Tresen, zwei Gläser und einen Salzstreuer. »Hier. Trinken Sie. Muttermilch«, befahl Wiktorenko und schenkte Muldoon gleich ein Glas ein.

Muldoon leckte sich das Salz von der Hand und kippte die Flüssigkeit hinunter; sie hatte keinen Geschmack, verätzte ihm aber fast die Kehle. »Danke, mein Freund«, sagte er in holprigem Russisch. »Sie sehen gleich viel besser aus.« Im Mondorbit sollten die Amerikaner Russisch und die Russen Englisch sprechen. Die Sprachausbildung bereitete Muldoon bei dem ganzen verdammten Programm die größten Probleme.

Wiktorenko stieß ein bellendes Lachen aus und goß sich selbst einen hinter die Binde. »Heute abend werden wir fünf aus dieser Flasche trinken und den Pakt besiegeln. Nach der Rückkehr vom Mond werden wir uns wieder treffen und aus der nämlichen Flasche auf unseren Erfolg anstoßen.« Er schenkte Muldoon nach.

»Auf die Mission«, sagte Muldoon.

»O nein.« Wiktorenko warf in gespieltem Entsetzen die Hände in die Luft. »So etwas darf man nicht sagen. In Rußland beschwört man damit das Unglück herauf. Hat man Ihnen das nach siebenhundert Unterrichtsstunden noch immer nicht beigebracht? Tss. Wir sollten auf die Vorbereitungen anstoßen. Das ist genug.«

»Dann eben auf die Vorbereitungen.« Muldoon nahm einen vorsichtigen Schluck.

Wladimir Pawlowitsch Wiktorenko war eine Art Legende unter den Kosmonauten - und auch unter den Astronauten. Er war kräftig, jovial und vital; der massige Schädel mit dem graumelierten kurzen Haar schien ohne Halsansatz aus dem Rumpf zu wachsen. Die rosigen Pausbacken rührten wohl vom Borschtsch und den Kartoffeln her. Er hatte in etwa den gleichen Werdegang wie Muldoon: im Jahre 1960 hatte er sich bei der ersten Anwerbungswelle für das KosmonautenProgramm beworben. 1966 hatte er dann als Copilot an der Woschod 3-Mission teilgenommen, einem Flug, bei dem eine modifizierte Wostok-Kapsel in einem riskanten Einsatz zwei Leute in den Orbit befördert hatte, und Wiktorenko hatte zugesehen, wie sein Copilot aus der nicht gerade vertrauenerweckenden Luftschleuse ausstieg und einen Spaziergang im All unternahm.

Gerüchten zufolge hatten die Sowjets Wiktorenko als erste Wahl für das inzwischen eingestellte Mondlandeprogramm vorgesehen. Muldoon hatte versucht, Näheres darüber zu erfahren, doch Wiktorenko hatte sich in Schweigen gehüllt.

Und nun war Wiktorenko sozusagen Muldoons Kollege, der Kommandant der sowjetischen Besatzung für Moonlab-Sojus.

Wiktorenko erkundigte sich nach Jill, Muldoons Frau, die er in Houston getroffen und mit seinem überwältigenden Charme betört hatte.

Muldoon zuckte nur die Achseln.

Jill war nicht gerade begeistert gewesen von seiner Rückkehr in den aktiven Dienst, und schon gar nicht von der Rückkehr zum Mond, um Gottes willen. Um die Wahrheit zu sagen, er wußte nicht einmal, ob sie noch auf ihn warten würde, wenn er von diesem Flug zurückkehrte.

Er vermochte ohnehin nichts daran zu ändern. Er mußte einfach fliegen; für ihn war das ein Parameter, eine Tatsache, mit der er leben mußte. Auch wenn das letztlich die Trennung von Jill bedeutete. Er sprach das zwar nicht aus, doch er spürte, daß Wiktorenko ihn auch so verstand. Jedenfalls drang der Kosmonaut nicht in ihn.

Muldoon spürte, wie die entspannende Wirkung des Wodkas einsetzte und spülte mit Bier nach.

Nun füllte die Bar sich allmählich; NASA-Ingenieure und Techniker bildeten das Gros, flankiert von ein paar Sowjets. Dann kam Adam Bleeker hereinspaziert. Er nickte Muldoon zu und steuerte die Bar an.

Es freute Muldoon, daß Amerikaner und Russen reibungslos zusammenarbeiteten. Es hatte auch lang genug gedauert, das zu bewerkstelligen. Anfangs hatten die Sowjets sich der Idee gemeinsamer Raumflüge widersetzt, weil sie den Amerikanern nicht trauten - und in den USA hatte man den Verdacht gehegt, daß die wahren Motive der Sowjets darin bestanden, sich Zugang zu amerikanischer Technik zu verschaffen.

Doch das war Unsinn, sagte Muldoon sich. Schließlich war sowohl die Sojus- als auch die Moonlab/Apollo-Technik bereits zehn Jahre alt; was, zum Teufel, hätte man da noch ab kupfern sollen? Zumal Carter und Ted Kennedy sich für dieses Projekt engagierten; Carter betrachtete die Moonlab-Mission - die eigentlich auf Nixon zurückging - als Symbol für seine Leistung, die Sowjets zur Unterzeichnung des SALT II-Vertrags zu bewegen.

Manchmal kam Muldoon die Geschwindigkeit des Wandels geradezu unheimlich vor; sie schien sich zu erhöhen, je älter er wurde.

»Wissen Sie, Wladimir, wir arbeiten nun schon seit ein paar Jahren an diesem Programm, doch manchmal kommt es mir noch immer irreal vor, daß wir, Sie und ich, in einer Moskauer Bar Wodka trinken. Die noch dazu vom KGB getrieben wird.«

»Wie das?«

»Wenn die Dinge sich anders entwickelt hätten, wäre ich vielleicht mit zwei Atombomben unter den Tragflächen nach Moskau geflogen anstatt mit einer Zahnbürste.«

»Atombomben«, sagte Wiktorenko. »Wirklich. Und nun sind wir Kameraden. Aber das ist es gerade, was Männer wie Sie und mich auszeichnet, Joe. Wir sind Flieger. Wir steigen auf und führen unseren Auftrag aus, wie auch immer er lautet. Bis an den Rand des Abgrunds. Und darüber hinaus. Einst hatten wir den Auftrag, Atomwaffen zu transportieren. Und nun haben wir den Auftrag, uns im Weltraum die Hände zu schütteln. Und das werden wir nach besten Kräften durchführen. Die anderen - die Bürohengste und sogar die Ingenieure - werden das nie verstehen. Das ist immer schon so gewesen.

Ich erinnere mich noch an die Einführung ins WostokProgramm«, sagte er. »Ich wurde in eine Isolierkammer gesteckt. Eine Kiste. Für ein paar Wochen. Und dann in eine Wärmekammer und dann in eine Dekompressionskammer. Und dann wurde ich plötzlich zum Flughafen gebracht, in ein Flugzeug verfrachtet und erhielt den Befehl, mit dem Fallschirm abzuspringen. Die Ärzte, diese Quacksalber, begründeten diese Behandlung damit, daß sie herausfinden müßten, wie ich auf den abrupten Wechsel von einer abgeschlossenen Kabine in die Unendlichkeit des Alls reagieren würde. Ha.«

»Oberst Muldoon. Oberstleutnant Wiktorenko. Freut mich, Sie zu sehen.«

Das war Fred Michaels. Der NASA-Direktor stand etwa einen halben Meter von Muldoon entfernt. Ein paar Schweißperlen standen auf seinem Gesicht. Hinter ihm erkannte Muldoon den Inspektor, Josephson - ein Bürohengst par excellence.

Wiktorenko ließ Michaels eine überschwengliche Begrüßung zuteil werden und bestand darauf, daß er und Josephson einen doppelten Wodka zur Brust nahmen.

Tim Josephson nahm Muldoon beiseite. »Es tut mir leid, Sie damit zu behelligen, Joe. Aber wir brauchen noch heute abend eine Entscheidung von Ihrer Besatzung.«

»In welcher Hinsicht?«

Josephson schlug eine Mappe auf. »Das Rufzeichen für die Apollo beim Moonlab/Sojus-Flug. Wie Sie wissen, haben wir auf Initiative des Kongresses hin alle Schüler des Landes aufgefordert, sich im Rahmen eines Wettbewerbs einen passenden Namen auszudenken.« Er blätterte in der Mappe. »Wir haben siebentausend Vorschläge von insgesamt einundsiebzigtausend Schulkindern erhalten. Jeder Name ist das Ergebnis einer Projektarbeit. Die Beurteilungskriterien wurden folgendermaßen gewichtet: achtzig Prozent für die Qualität und Kreativität des Projekts und zwanzig Prozent für die Prägnanz des Namens und das Vermögen, den Geist Amerikas zu vermitteln. Und.«

»Halten Sie mal die Luft an, Josephson. Um Himmels willen.«

»Ich habe hier eine Liste der neunundzwanzig EndrundenTeilnehmer. Wir liegen jetzt schon hinter dem Zeitplan zurück. Ich habe mir gesagt, wenn Sie und die Besatzung sich heute abend damit befassen würden und.«

Muldoon kippte sich noch einen Wodka hinter die Binde. »Verpissen Sie sich.«

Josephson starrte ihn schockiert durch seine Brille an. Er sperrte den Mund auf und machte ihn wieder zu. Dann schaute er für eine Minute auf den Boden, als ob er sich sammeln würde.

Als er wieder aufsah, war sein Gesicht versteinert.

»Oberst Muldoon. Wir sollten das vielleicht woanders besprechen. Auf Ihrem Zimmer?«

Michaels war sichtlich empört. Wladimir Wiktorenko blinzelte ihm zu.

Ach, zum Teufel. »Klar. Gehen wir.«

Muldoon trank den Wodka aus.

»Hören Sie, Josephson. Ich.«

»Sie hören mir jetzt zu!«

Josephson stand wie ein Strich in der Landschaft. Er hatte sich völlig unter Kontrolle und wirkte in Muldoons engem Zimmer geradezu einschüchternd. »Ich habe genug von Ihrer Inkompetenz, Oberst, und der Art und Weise, wie Sie sich selbst, die NASA und die Regierung zum Gespött machen. Sie und Ihre Raumkadetten können froh sein, daß sie diesen Flug überhaupt bekommen haben. Wir haben Ihre Auftritte in der Öffentlichkeit verfolgt. Wir wissen, daß Sie sich über die Streichung der letzten Mondflüge ärgern. Wir wissen, daß Sie den gemeinsamen Flug lediglich für einen PR-Gag halten. Wir wissen, daß es Ihnen gegen den Strich geht, mit primitiver sowjetischer Technik zu arbeiten.«

Muldoon spürte, daß Gefahr im Verzug war. »Sehen Sie.«

»Ich mußte mich vor dem Kongreß rechtfertigen, weil Sie gegen die NASA vom Leder gezogen haben. Sie, Muldoon. Die Astronauten gehen dorthin und werden als Helden gefeiert. Ich bin hingegangen und wurde zur Sau gemacht. Das wird mir nie wieder passieren. Ist das klar? Und nun nehmen Sie diese Liste.«

Beim Blick in Josephsons schmale, berechnende Augen sah Muldoon, daß alles - sein ganzes Leben, seine Hoffnungen -von diesem Augenblick abhing. Die Straße zum Mars führt durch diesen Flaschenhals, vorbei an diesem Blatt Papier, an den einundsiebzigtausend Schulkindern und ihren lächerlichen siebentausend Namen, in diesem verschissenen Raum auf der falschen Seite des Planeten. Da muß ich wohl durch.

Und die Leichtigkeit des Monds war schon lange verflogen.

Er nahm die Liste von Josephson und warf einen Blick auf die Namen. Abenteuer. Blake. Adler. Ausdauer...

»Soll ich Phil suchen«, sagte Josephson, »und.«

»Nein. Ich bin der Kommandant. Hier.« Er tippte auf einen Namen. »Dieser hier.«

Josephson schaute auf das Papier. »Grissom.«

»Der Kommandant von Apollo 1.«

Josephson musterte Muldoon für einen Moment und nickte. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum.

Muldoon spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann ging er wieder in die Bar und betrank sich systematisch.

Donnerstag, 10. April 1980 Luftwaffenstützpunkt Ellington, Houston

Sie brauchte eine Stunde, um sich umzuziehen.

Die Sicherheitsbelehrung bot schon mal einen Vorgeschmack auf das, was sie noch erwarten würde. Sie wurde mit Fakten überhäuft, mit D-Ringen, Abzugsleinen, Sauerstoffflaschen, Sauerstoffmangel, Überlebenstechniken. Mein Gott. Dabei fliege ich in der verdammten Kiste nur als Passagier mit.

Und nun war sie in eine Fliegerkombi gezwängt und hatte eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. Sie war mit Gurten an den Sitz gefesselt, mit einem Fallschirm auf dem Rücken. Die Taschen der Fliegermontur waren mit Notsauerstoff, einem Funkgerät und Überlebensutensilien für alle möglichen Umgebungen vollgestopft. In einer Beintasche befand sich ein Verbandspäckchen. Sie hatte sogar einen Fliegerhelm, eine

Lederhaube im Stil des Ersten Weltkriegs. Seht mich an, mich, das neue Flieger-As.

Sie ging aufs Flugfeld hinaus! Dort wartete bereits Phil Stone, der Chef-Astronaut. Stone war groß, hatte eine Glatze und ging schon auf die Sechzig zu. Er grinste und schüttelte ihr mit einer behandschuhten Pranke die Hand. »Willkommen zum Jungfern-Flug«, sagte er.

Unsicher erwiderte sie das Lächeln.

Hinter ihm stand die T-38 wie ein glänzendes Spielzeug auf der Rollbahn. Das Schulflugzeug sah aus wie ein weißer Dartpfeil. Die Tragflächen wirkten wie gestutzte Schwingen, und der schlanke weiße Rumpf sah eher aus wie eine Rakete. Es schien völlig ausgeschlossen, daß eine derart kleine, kompakte Maschine sich in die Lüfte zu erheben vermöchte.

Das wird ein Drahtseilakt werden, Natalie. Du sagst, du willst Astronautin werden. Du machst dich über den Trend lustig, daß die Astronauten wie Helden verehrt werden. Damit hast du recht.

Aber es bedeutet auch, daß du dich Situationen wie dieser stellen mußt.

Zwei Mechaniker waren ihr behilflich, in die Maschine zu klettern. Die T-38 war so schmal, daß sie sich förmlich hineinquetschen mußte. Sie würde in einem separaten Cockpit hinter Stone sitzen, unter einer eigenen Glaskuppel.

Stone stieg vor ihr ins Flugzeug und fragte sie über Funk: »Natalie, hören Sie mich?«

»Sicher, Phil. Laut und deutlich. Und ich.«

Er unterbrach sie. »Letzte Sicherheitsinstruktionen«, sagte er. »Ich werde Ihnen sagen, wann Sie das Dach der Kanzel schließen sollen. Keine Hektik, Natalie. Ihr Fallschirm ist so eingestellt, daß er sich sofort öffnet, nachdem Sie mit dem Schleudersitz ausgestiegen sind. Das wird in geringer Höhe immer so gemacht. Später werde ich Ihnen dann sagen, wann

Sie ihn auf große Höhe umstellen sollen und wann eine Verzögerung zwischen Ausstieg und Öffnen des Fallschirms notwendig ist. Dazu befestigen Sie den Haken an diesem Ring am Fallschirm und.«

Das Geräusch der Triebwerke schwoll zu einem Brüllen an und übertönte seine Worte.

Das Flugzeug rollte auf die Piste.

Stone, der in der Kanzel vor ihr saß, steuerte die Maschine mit ruhigen und präzisen Bewegungen. Die Anzeigen vor ihr reagierten synchron mit Stones Instrumenten. Es sah aus wie ein mechanisches Klavier.

Sie spürte, wie ihr Pulsschlag sich erhöhte, die Atmung sich beschleunigte und der Gummigeruch hinter der Maske strenger wurde. Sie spürte, wie Schweiß von den Schläfen tropfte und sich in der Brille sammelte.

Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie einen Flug antreten würde, der nur wenigen Menschen vergönnt war: hoch, schnell, wahrscheinlich wunderschön. Selbst wenn sie das Korps morgen verließ, würde sie diese Erfahrung noch mitnehmen.

Ja, aber ich bin ziemlich sicher, daß ich es schaffen werde.

Unvermittelt schoß das Flugzeug die Rollbahn entlang. Sie wurde in den Sitz gepreßt. Nach ein paar Sekunden spürte sie, daß die Räder den Kontakt zum Boden verloren.

Das Flugzeug zog steil hoch, und sie sah den Boden nicht mehr.

Über sich sah sie eine Wolkendecke. Die Wolken schienen förmlich vor ihr zu explodieren, und sie schoß in weißen Nebel hinein. Nach einer Sekunde hatte sie die Wolkendecke durchstoßen und tauchte in hellen Sonnenschein hinaus.

Sie sah nach unten: das Land wirkte wie ein verblichener brauner Flickenteppich, über dem die grauen Schatten von Wolken hingen.

Die T-38 stieg fast senkrecht, wie eine Rakete. Binnen weniger Sekunden nahm der Himmel eine purpurne Färbung an.

Die Erdoberfläche lag nun tief unter ihr, und die Werke der Menschheit waren bereits zu zweidimensionalen Farbtupfern geschrumpft. Angesichts der Leichtigkeit, mit der sie sich in die Lüfte geschwungen hatte, erstaunte der Gedanke sie, daß noch vor einem Jahrhundert kein Mensch auf dieser Erde einer solchen Erfahrung teilhaftig geworden war.

Wissenschaftsastronauten mußten sich nicht mehr der Tortur einer Flugausbildung unterziehen. An flugdynamischen Situationen führte jedoch kein Weg vorbei, um sich an Mikrogravitation und hohe Beschleunigung zu gewöhnen und die Symptome von Luftkrankheit und Sauerstoffmangel zu erkennen. Also bestand der Preis, den sie zahlen mußten, in regelmäßigen Flugstunden auf dem Rücksitz einer Northrup T-38, dem modernsten Schulflugzeug.

Erfahrene Astronauten nahmen die Nachwuchs-Astronauten unter ihre Fittiche. Und wenn man erst einmal dort oben war, konnten sie alles mit einem machen, was sie wollten.

Doch sie vertraute Stone. Sie wußte es zu würdigen, daß er Zeit von seinem eigenen Training für Moonlab-Sojus erübrigte, um für sie das Kindermädchen zu spielen.

»Was sagen Sie dazu«, sagte Stone. »Achtundvierzigtausend Fuß. So hoch sind Sie noch nie geflogen, Natalie.«

Sie war schon so hoch in der Stratosphäre, höher als der höchste Berg, so hoch, daß sie ohne Sauerstoffgerät nicht mehr hätte atmen können. An der Grenze zum Weltraum, nicht wahr? Willkommen in deinem neuen Zuhause, WeltraumMädchen.

»Gut«, sagte Stone. »Lassen wir’s langsam angehen. Wir gehen runter mit der Geschwindigkeit. Sind Sie in der Lage, die Fluggeschwindigkeit abzulesen?«

»Sicher.«

»Dann tun Sie das, was ich tue.«

Als die Geschwindigkeit des Jets dreihundert Kilometer pro Stunde unterschritt, bockte und zitterte er, als ob die Luft sich in ein Medium aus unsichtbaren Klumpen verwandelt hätte.

»Die Maschine mag es nicht, wenn die Zügel angezogen werden«, sagte Stone. »Also.«

Er schob den Schubhebel nach vorn, und das Flugzeug schoß vorwärts. Sonnenlicht spiegelte sich in dem Panzer um York, und die angestrahlte Erde drehte sich unter ihr.

»Langsames Rollen«, sagte Stone.

Die Erde kippte seitlich weg. York hatte gar nicht den Eindruck, daß sie rollten; sie verspürte nur einen leichten Anstieg der Beschleunigung, die sie in den Sitz drückte.

Der Horizont krümmte sich, klappte sozusagen nach oben, und die purpurne Stratosphäre glitt unter den Bauch des Flugzeugs.

Abrupt ging das Flugzeug wieder in die Horizontale. Das Rollen hatte vielleicht fünfzehn Sekunden gedauert.

»Schnelles Rollen«, sagte Stone.

Diesmal drehte das Flugzeug sich in Sekundenschnelle; Erde, Himmel und Sonne drehten sich im Kreis, und das Licht zuckte stroboskopartig über Schoß und Hände. Der Magen widersetzte sich dem Rollen, als wäre er mit Quecksilber gefüllt.

Nach anderthalb Umdrehungen ging das Flugzeug in die Rückenlage. York schaute auf und sah den Golf von Mexiko, der wie eine große Landkarte an einer grauen Zimmerdecke wirkte. Die Schwerkraft zerrte an ihr - ein negatives Ge -; die

Schultern drückten gegen die Gurte, und der behelmte Kopf schlug gegen das Kanzeldach. Das Blut floß in den Kopf und verursachte ein dumpfes Gefühl, als ob sie eine Grippe bekäme.

»Genauso wie der Kipptisch, was, Natalie«, sagte Stone trocken.

Mit einer schnellen halben Rolle brachte er das Flugzeug wieder in die richtige Lage; die Maschine stabilisierte sich in diesem Zustand und schaukelte leicht in der Luft.

Für eine Sekunde schwiegen beide. Stones fliegerisches Können war bemerkenswert, sagte York sich.

Und dann drückte Stone das Flugzeug nach unten und hielt auf die entfernte Erdoberfläche zu; das Triebwerksgeräusch wurde lauter.

»Parabolische Kurve«, übertönte Stones Stimme den Lärm der Triebwerke.

Dann müßte ich nun schwerelos sein. Sie entspannte den Arm und sah, wie die Hand aufwärts driftete. »Mein Gott.« Sie spürte die Schwerelosigkeit im Magen; es war, als ob die inneren Organe nach oben in den Brustkorb wanderten.

»Ist Ihnen schlecht?«

»Etwas.« Sie überprüfte, ob sie an den Beutel in der Beintasche der Fliegerkombi herankam.

Stone traf keine Anstalten, den Sturzflug abzubrechen. »Ach, das macht nichts. Wenn es zu schlimm wird, betrachten Sie einfach die Instrumente und schauen Sie nicht aus dem Fenster.«

»Gut, aber.«

Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als Stone das Flugzeug in eine brutale S-Kurve zwang. Sie machte jede Bewegung mit, und die glühende Landschaft wirbelte um die Kanzel.

Und dann brachte er das Flugzeug wieder in den Sturzflug und beschleunigte in Richtung des Golfs von Mexiko. Der Ozean schimmerte wie eine Stahlplatte.

Bei zwanzigtausend Fuß riß Stone die Maschine hoch. Die Triebwerke heulten auf, und die Schwerkraft preßte sie in den Sitz; der Kopf wurde ihr förmlich zwischen die Schultern gerammt, und das Gesichtsfeld wurde durch einen schwarzen Tunnel begrenzt.

Die T-38 schoß wieder in den Himmel, und das Licht nahm erneut eine purpurne Färbung an.

Sie schmeckte Speichel am Gaumen, ätzend wie rostiges Eisen. »Phil, es geht mir nicht so gut.«

»Wenn Sie reihern müssen, nehmen Sie die Sauerstoffmaske ab.«

Ich wünschte, ich wüßte wie.

»Und stellen sie das Gemisch in der Maske auf hundert Prozent O-Zwei«, sagte er. »Stellen Sie das Kaltluftgebläse an.«

Nachdem sie das getan hatte und den Sauerstoff einsog, wurde der Druck auf der Kehle gelindert.

»Den nächsten Teil möchten Sie sicher nicht versäumen«, sagte er.

»Huh?«

Bei fünfundvierzigtausend Fuß zündete Stone den Nachbrenner. Beim Blick über die Schulter sah York weißes Kondensat aus den Düsen der T-38 quellen. Sie sah auf der Anzeige, wie die Geschwindigkeit auf tausend Kilometer pro Stunde stieg. Und sie stiegen weiter.

Schließlich wurde Mach 1 überschritten. Mein Gott.

Sie verspürte eine leichte Erschütterung, und dann verlief der Flug viel ruhiger. Der Lärm der Triebwerke wurde zu einem Flüstern; York begriff, daß das Flugzeug nun so schnell flog, daß es den eigenen Schall abhängte.

Das Cockpit war eine Insel der Ruhe, der Leichtigkeit des Fliegens. Sie wußte, daß der Überschallknall inzwischen die Erde erreicht hatte. Einen Meter vor ihr saß Stone in seiner eigenen Kanzel, das einzige Lebewesen im Umkreis von mehreren Kilometern, und das Flugzeug um sie herum war eine isolierte Insel der Realität, leuchtender Farben, warmer Luft und harter Oberflächen, hier oben in der Unendlichkeit des Himmels. Sie fühlte sich Stone irgendwie näher, als ob sie an ihn gebunden wäre.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Stone. Die aus dem Funkgerät dringende Stimme zerriß die Stille.

»Oh, gut, Phil«, sagte sie. »Es geht mir gut. Das ist.«

»Ich weiß.« Er sah sie über die Schulter an. Die Augen waren hinter der Sonnenbrille verborgen. »Und im Orbit fliegen Sie mit der zwanzigfachen Geschwindigkeit und in viel größerer Höhe. Vielleicht verstehen Sie nun, weshalb ein paar von uns so scharf sind aufs Fliegen.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Ist mein Widerwille denn so offensichtlich?«

»Für mich schon. Ich mache Ihnen deshalb keinen Vorwurf. Aber Sie müssen auch lernen, den Standpunkt der anderen Seite zu verstehen.«

»Was geht Sie das überhaupt an?« fragte sie in plötzlichem Trotz.

Er lachte ungerührt. »Vielleicht mehr als Sie glauben. Natalie, ich habe Sie im Büro beobachtet. Ich glaube, Sie haben ein großes Potential. Ich glaube, wir brauchen Leute wie Sie im Programm. Aber Sie müssen noch lernen, im Team zu arbeiten.«

Unvermittelt brachte er die Maschine wieder in den Sturzflug und vollführte ein paar wilde Rollen.

York zog den Beutel heraus. Wie ein Häufchen Elend saß sie da und starrte auf die Beine, während die Welt sich um sie drehte.

Die T-38 stürzte wie ein fallender Stein auf die Landebahn zu. Die Landung, als sie dann kam, erfolgte sanft und schnell.

Die Mechaniker halfen York aus dem Cockpit. Ihr war nicht mehr schlecht, aber sie fühlte sich desorientiert, als ob sie kleiner und leichter geworden wäre. Der bleierne Himmel über ihr und die feuchtwarme Luft setzten ihr zu.

Stone klopfte ihr auf die Schulter. »Sie haben sich gut gehalten«, sagte er.

»Ich hätte mich fast übergeben.«

»Aber sie haben es nicht getan. Ich sagte Ihnen doch, daß Sie Potential hätten, York.«

»Ja. Vielleicht.«

Sie stand dort auf dem Rollfeld von Ellington und sah zu den Wolken empor. Sie erinnerte sich an diese paar Sekunden der Schwerelosigkeit und schwenkte die Arme nach oben.

Stone beobachtete sie.

Verlegen klemmte sie sich den Helm unter den Arm, nickte Stone knapp zu und begab sich auf den Weg zum Umkleideraum.

Donnerstag, 27. November 1980 Tjuratam-Kosmodrom, Kasachstan

Der Himmel war wolkenlos und erstrahlte in einem satten Blau. Jenseits der Startanlagen peitschte der Wind Sand über die kahle, flache Steppe. Bert Seger war froh, daß er sich in der Sicherheit dieses Beobachtungsraums befand, fünf Kilometer von der Startzone entfernt.

Hinter sich hörte er das Gemurmel der anderen Gäste -Manager, Politiker, Akademiker und Prominenz -, die sich eher für das üppige Büffet zu interessieren schienen und für die Verfolgung politischer und diplomatischer Ziele, die mit dieser gemeinsamen Mission verbunden waren.

Seger hatte ein Fernglas umhängen; nun setzte er es an die Augen und betrachtete den Startkomplex.

Die große N-1-Rakete ragte in den Himmel. N für Nositel -der Träger. Die Rakete saß auf einer Art Bühne am Rand einer Flammgrube. Die mobile Versorgungseinheit war bereits herabgesenkt worden; eine Dreiviertelstunde vor dem Start waren die Türme um neunzig Grad gekippt worden, so daß die Rakete frei stand. Sie hob sich nun als vertikaler Strich von dieser weiten, horizontalen Landschaft ab.

Seger sah Brennstoffschwaden aus den Stufen der N-1 entweichen, und der Dunst führte in der unbewegten Luft zu Schlierenbildung. Die drei unteren Stufen bildeten einen Kegelstumpf, der sich an der Grundfläche verbreiterte, und die oberen Stufen sowie das Raumschiff selbst waren als Zylinder auf diese Baugruppe gesetzt. Die oberen Stufen glichen in Größe und Form einer Saturn IB. Und irgendwo in diesem Komplex, so wußte Seger, verbarg sich das Raumschiff Sojus T-3; und darin verbargen sich wiederum zwei Kosmonauten und saßen die letzten Minuten des Countdowns aus.

In seiner Gesamtheit wirkte das Gerät wie ein Kreml-Turm. Daß es sich bei der N-1 um keine amerikanische Konstruktion handelte, sah man auf den ersten Blick. Doch die N-1 war dennoch der Stiefbruder der Saturn. Sie war nach dem Krieg von einer Gruppe Deutscher entwickelt worden, die an denselben Nazi-Projekten gearbeitet hatten, die von Braun und seine Leute nach White Sands mitgenommen hatten. Noch ein Kind der V-2.

»Hier.« Fred Michaels trat an seine Seite und reichte ihm ein Glas Wodka. »Sie sehen so aus, als ob Sie das vertragen könnten.«

Seger beäugte den Hochprozentigen skeptisch. »Danke, aber ich trinke nicht an einem Starttag, Fred.«

»Trinken Sie. Das ist ein Befehl. Bert, das ist Ihr Start, nicht unserer.«

Seger rang sich ein Lachen ab und nahm den Drink. »Sie haben recht. Ich muß wohl immer alles unter Kontrolle haben.«

»Ich kenne das Gefühl. Aber Sie müssen lernen, sich zu entspannen, wenn Sie eh nicht imstande sind, in den Ablauf der Dinge einzugreifen.«

Michaels hatte natürlich recht. Die Sowjets und die Amerikaner hatten für diesen Flug Personal der jeweiligen Kontrollzentren ausgetauscht, so daß ein paar Amerikaner in Kalinin stationiert waren. Und im Kosmodrom von Tjuratam hatte man die Amerikaner bis zu diesem Beobachtungsbunker vorgelassen. Doch das war auch schon alles. Weder Seger noch sonst jemand von der amerikanischen Abordnung war in der Lage, die Abwicklung dieses Starts in irgendeiner Hinsicht zu beeinflussen. »Ich bin nur froh, daß nicht zwei von unseren Jungs da drinstecken«, sagte er. »Ich würde sie nicht mit dieser verdammten Kiste fliegen lassen. Fred, wir würden der N-1 nicht einmal die Zulassung für den bemannten Raumflug erteilen.«

Ungerührt zog Michaels seine antike Taschenuhr aus der Westentasche und las die Zeit ab. »Dann ist das sowjetische Raumfahrtprogramm also eine Luftnummer, was, Bert?«

Seger nippte am Wodka. Das war ein höllischer Stoff, doch der Alkohol schien wirkungslos zu verpuffen. »Das ist nicht mehr lustig, wenn man - wie wir nun - einen Einblick in die sowjetischen Startvorbereitungen bekommt. Die Überprüfung erfolgt überwiegend in der Bodenstation. In der Startzone selbst tun sie kaum noch etwas. Teufel, es gibt dort fast keine elektronischen Überwachungsgeräte und nur eine leistungsschwache Computerschnittstelle. Dadurch erfolgt der Start zwar schneller, doch die Zuverlässigkeit leidet darunter. Kein Wunder, daß bei diesem Triebwerk so viele Pannen aufgetreten sind.

Und wußten Sie schon, daß die Rollachse nur eine Nick- und Gierregelung hat? Das verdammte Ding vermag nicht mal den eigenen Azimuth zu kontrollieren, und man muß die ganze Tragstruktur schwenken, um diese Momente auszugleichen.«

»Noch mal von vorn; diesmal aber verständlich, Bert.«

»Die Saturn V ist imstande, mit Hilfe des Bordcomputers sich selbst in den Orbit zu steuern. Die N-1 nicht. Je nachdem, wo sie hinwollen, müssen sie das Ding ausrichten...«

Dies war das Haupt-Kosmodrom der Sowjets, ihr Gegenstück zu Kennedy. Es war mitten in Zentralasien gelegen, ein paar hundert Kilometer vom Aral-See entfernt: wo die Amerikaner den Atlantik als Schießplatz nutzten, bedienten die Sowjets sich ihres riesigen, menschenleeren Herzlands. Die nächste Stadt war Tjuratam, ein kleiner, fünfundzwanzig Kilometer entfernter Eisenbahnknotenpunkt. Der Ort hatte nicht von dem spektakulären Kosmonauten-Hotel profitiert, das man im Zentrum hochgezogen hatte und war so ärmlich und heruntergekommen wie eh und je.

Die Startzone war heute sogar vom Rest des Kosmodroms isoliert, der sich vielleicht dreißig Kilometer östlich befand. Sie gehen kein Risiko ein. Und ich kann es ihnen auch nicht verübeln.

Seger fühlte sich abgeschnitten, isoliert und hilflos. Ich bin hier näher an der chinesischen Grenze als an Moskau.

Nun, er hatte alles in seiner Macht Stehende unternommen, um zum Gelingen der gemeinsamen Mission beizutragen. Er hatte in mühevoller Arbeit dafür gesorgt, daß seine amerikanischen Mitarbeiter und ihre sowjetischen Kollegen effektiv und sicher zusammenarbeiteten. Zum Beispiel hatte er bald erkannt, daß die Sprachbarriere sich nicht nur auf die Lücke Russisch-Englisch beschränkte, und eine Art Sprachendienst eingerichtet, der die NASA-Fachsprache in allgemeinsprachliches Englisch übersetzte, das dann von den russischen Dolmetschern übertragen wurde. Hinzu kam die alltägliche Routine. Sein Planungschef war im letzten Jahr mit einem ganzen Stapel Unterlagen nach Rußland geflogen. Sein sowjetischer Kollege war sage und schreibe mit einem Bleistift bewehrt gewesen. Nicht nur, daß es kein Papier in den Büros gab; selbst jetzt existierte zum Beispiel nur eine Kopie des Sojus-Missionsplans für dieses gemeinsame Projekt, das auf lange Papierrollen geschrieben und an die Wände des sowjetischen Planungsstabs in Kaliningrad gepinnt war. Seger rätselte noch, ob die Sowjets das absichtlich machten, um ihnen Informationen vorzuenthalten, oder ob nur ein Mangel an Kopiergeräten herrschte.

Nun lief auf einem Monitor ein Film über die beiden Kosmonauten - Wladimir Wiktorenko und Aleksandr Solowjow - ab. Die in Druckanzüge gehüllten Männer verließen gerade ihre Unterkünfte und bestiegen einen Bus. Der Bus sah aus wie ein gewöhnlicher Reisebus.

Seger spürte eine Aufwallung, das Bedürfnis, die Kollegen zu beschützen. Er sprach ein Gebet für die Unversehrtheit der Kosmonauten und berührte dabei den Kruzifix-Anstecker.

Michaels bekam das mit und hob eine Augenbraue.

»Sie sollen das auch nicht auf die leichte Schulter nehmen, Bert. Ich glaube, Sie machen gerade einen - wie heißt das? -Kulturschock durch. Teufel, Bert, das sind nicht unsere Jungs. Wir müssen den Sowjets eben zubilligen, daß sie wissen, was sie tun. Auch wenn wir nicht so recht davon überzeugt sind. Immerhin scheint die N-1 die Funktion eines Trägersystems zu haben. Sie haben zweimal mit einer unbemannten Sojus den Mond umkreist und sie zur Erde zurückgebracht. Und wir haben Muldoon, Bleeker und Stone im Mondorbit, die schon auf ihren Vogel warten; den Sowjets ist auf jeden Fall an einem Erfolg gelegen.«

»Vielleicht. Ich wünschte nur, sie würden unseren Jungs gestatten, die Startanlagen etwas zu modifizieren.«

Michaels brach in Gelächter aus. »Das wäre wirklich eine tolle Maßnahme gewesen. Wir brauchen den Erfolg aber auch, Bert. Das wissen Sie selbst.«

Seger mußte ihm beipflichten.

Der Film wurde nun musikalisch unterlegt; es war eine getragene Weise, und ein Kommentator erklärte in holprigem Englisch, daß dieses Stück simultan in die Sojus übertragen wurde, um die Kosmonauten zu beruhigen. Meine Fresse, sagte Seger sich. Sie müssen sich Vorkommen, als ob sie in einem Aufzug steckengeblieben wären.

Beim Blick auf die Uhren sah Seger, daß es noch eine Minute bis zum Start war. Er hob das Fernglas.

Die Elektrokabel und Brennstoffleitungen fielen wie Nabelschnüre von der Wandung des Schiffs ab, und die N-1 stand nun frei da: groß, primitiv, zerbrechlich. Mein Gott. Das Ding sieht aus wie ein Tauchsieder.

Die Zündung würde in vier Sekunden erfolgen.

Rauch und Flammen schlugen aus der breiten Basis der N-1, wälzten sich über die Steppe, und Feuer füllte die um das Schiff gezogenen Gräben.

Seger sah, daß das flammende Inferno sich noch verstärkte. Die erste Stufe enthielt nicht weniger als dreißig Raketentriebwerke, verglichen mit fünf in einer Saturn.

Die ersten Momente des Starts waren die kritische Phase. Im Gegensatz zur Saturn wurde die N-1 nicht festgehalten, während der Schub sich aufbaute. Statt dessen stieg sie einfach auf, wenn der Schub das Gewicht überstieg. Und einen Unterbrecher für die Triebwerke gab es auch nicht.

Schließlich stieg die große Stufenrakete doch auf ihrer Flammensäule auf. Der Anblick war mit einer Kathedrale zu vergleichen, die sich in die Lüfte erhob.

Nachdem die Stufenrakete sich erst einmal um eine Länge vom Erdboden gelöst hatte, beschleunigte die N-1 schnell. Im weiteren Verlauf neigte sie sich, wobei an der Basis eine Explosion aus Licht aufloderte.

Nun erreichte der Schall den Beobachtungsbunker, und das Fenster vor Seger klirrte; das Licht flutete in den Raum, als ob eine kleine Sonne über der Steppe aufgegangen wäre. Die Druckwellen der Rakete pflanzten sich bis ins Innere seines Körpers fort.

Michaels beugte sich zu Seger herüber. »Es scheint zu funktionieren.«

»Qmax«, übertönte Seger das Getöse. »Sie muß noch Qmax durchlaufen.« Der Punkt des maximalen aerodynamischen Drucks war der Punkt, an dem bei früheren Flügen Probleme aufgetreten waren. Es war im Grunde das Versagen der N-1 gewesen, wodurch die Sowjets den Wettlauf zum Mond verloren hatten. So hatte zum Beispiel die N-1 bei der letzten Erprobung vor Apollo 11 im Jahre 1969 so heftig vibriert, daß eine interne Leitung gebrochen war. Die ganze Rakete war mit Flüssigsauerstoff besprüht worden. Triebwerke explodierten, Turbo-Pumpen platzten. Die Explosion hatte die Energie einer taktischen Atombombe und war sogar von amerikanischen Aufklärungssatelliten registriert worden.

Die Uhren sagten Sechsundsechzig Sekunden.

»Ich glaube, das war’s«, sagte Seger atemlos. »Die Triebwerke werden wieder hochgefahren.«

»Dann wäre das Schlimmste also überstanden?«

»Mitnichten. Nein, dieser Vogel hat es erst überstanden, wenn die fette Dame aus voller Kehle singt, Fred.«

Michaels klopfte ihm auf die Schulter und widmete sich den anderen Gästen.

Lange, nachdem die anderen gegangen waren und der Lärm des Starts sich gelegt hatte, stand Seger noch am Fenster. Er beobachtete den Sonnenuntergang und summierte im Kopf die Starts, die er bereits erlebt hatte.

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 121/12:23:34

Gershon stieg durch die Kopplungsöffnung in den Kopplungstunnel ein und schwebte in die Kommandokapsel. Mit dem Kopf voran erreichte er die Spitze der kegelförmigen Apollo-Kabine. Er schlug einen Salto, der ihn von >oben< aus dem Missionsmodul nach >unten< in die Apollo beförderte.

Für Gershon war dieses Manöver einer der merkwürdigsten Aspekte des ganzen Flugs.

Er schloß die Luke hinter sich und lehnte sie an.

Dann setzte er sich auf Stones Platz an der linken Seite der Kabine und befestigte die Checkliste an einem Klettverschluß an der Steuerkonsole. Er hatte eine Tube Orangensaft in der obersten Tasche seiner Kombi. Diese öffnete er nun und nahm einen Schluck. Er rückte das Kopfbügelmikrofon zurecht und vergewisserte sich, daß er Kontakt zum Rest der Ares hatte -sowohl York als auch Stone befanden sich im Missionsmodul -, und dann setzte er eine Nachricht an Fred Haise ab, der gerade als Capcom fungierte. Er wartete jedoch nicht, bis das Signal durchs Sonnensystem geschlichen war und die Antwort eintraf, sondern machte sich gleich an die Arbeit.

Er fuhr die Systeme der Apollo hoch.

Während des Transfers zum Mars und zurück waren nur die lebenswichtigen Systeme der Apollo aktiviert. Leitungen führten von den Sonnensegeln durch den Kopplungstunnel zu Apollo, so daß Apollo nicht die eigenen Energiereserven angreifen mußte. Etwa alle fünfzig Tage mußte Gershon die Systeme von Apollo überprüfen. Er würde dafür sorgen, daß sie auch dann noch funktionierten, wenn die Besatzung mit Apollo den Rückflug antrat und wieder in die Erdatmosphäre eintrat.

Diese Aufgabe machte vielleicht vierzig Prozent seines gesamten Auftrags aus.

Er kramte eine Musikkassette aus der Tasche und schob sie ins Abspielgerät von Stones Steuerkonsole. Violinenklänge -ein leichtes, beschwingtes Stück - durchfluteten die dünne Luft in der Kabine. Gershon schloß die Augen und ließ sich von der Musik verzaubern. Mozarts Vierzigste Symphonie. Exquisit. Die Anspannung fiel von ihm ab, und selbst die Kabine kam ihm nun großzügiger vor.

Vietnamveteranen sollten eigentlich dem Bild abgedrehter Jimi Hendrix-Fans entsprechen. Und Image wurde in Houston großgeschrieben: bei zehn Bewerbern mit gleicher

Qualifikation waren >weiche< Faktoren wie Image im Zweifelsfall ausschlaggebend.

Also hielt Gershon die Vorliebe für Mozart lieber geheim.

Er war allein in der Kabine, während er die Checkliste abarbeitete. Das Schließen der Luke war ein klarer Verstoß gegen die Vorschriften, und er mußte sich jedesmal Stones Genehmigung holen. Doch Apollo war einer der wenigen Orte der ganzen Mehrstufenrakete, in der man eine echte

Privatsphäre hatte. Stone verstand das. Man brauchte einen kleinen Raum, etwas Zeit für sich selbst.

Es war eine seltsame Vorstellung, daß es im Umkreis von Dutzenden von Millionen Kilometern nur drei Menschen gab und daß sie dennoch für mehrere Monate in dieser Kollektion von Blechbüchsen zusammengepfercht waren. Die einzigen massiven Trennwände im Missionsmodul umschlossen den Müllschlucker.

Obendrein kamen die drei nicht sonderlich gut miteinander aus. York war nicht sonderlich gesprächig, Stone war zu sehr der gottverdammte Luftwaffenoffizier, um für ein gutes Betriebsklima zu sorgen, und er, Gershon, redete zuviel.

Doch das focht Gershon nicht an. Und seine Kameraden wohl auch nicht, sagte er sich. In Gershons Augen war dieser ganze psychologische Teamgei st-Krempel eh nur Mist. Sie führten diese Mission nicht durch, um Freunde zu werden; sie wollten zum Mars fliegen. Und um das zu erreichen, würden sie die kleinen zwischenmenschlichen Reibereien wohl überwinden.

Solange ein Mensch etwas Zeit für sich hatte und ein bißchen Abgeschiedenheit, war das alles kein Problem.

Er kontrollierte die Anzeigen, Skalen und Monitore und verglich sie mit den Sollwerten auf der per Fernschreiber übermittelten Checkliste. Das Mikrofon hatte er so eingestellt, daß Mozart unterbrochen wurde, wenn er sprach.

Gershon arbeitete gern mit der Apollo-Technik.

Die Grundkonstruktion war zwar schon veraltet, doch seit dem letzten Störfall bei Apollo 13 vor fünfzehn Jahren war kein größerer Defekt mehr aufgetreten. Zumal >veraltet< nicht unbedingt etwas Negatives war. Für einen Piloten war es nämlich der Unterschied zwischen einer noch unbekannten Neuentwicklung und einer robusten Kiste; >veraltet< stand in diesem Fall für >erprobt<. In Gershons Augen wäre es eine Schande gewesen, wenn man die Apollo-Baureihe Anfang der

Siebziger eingestellt und statt dessen ein neumodisches Raumflugzeug konstruiert hätte. So schön das Space Shuttle auch zu fliegen gewesen wäre.

Durch die Verbesserungen, die Rockwell im Lauf der Jahre vorgenommen hatte, war aus der Grundkonfiguration ein ebenso vielseitiges wie robustes Weltraumfahrzeug geworden. Rein äußerlich unterschied sich das Schiff, das mit der Nase im Kopplungstunnel des Missionsmoduls steckte, kaum von den anderen Apollos, die bisher geflogen waren. Es wies die klassische Konfiguration auf: die zylindrische Betriebs- und Versorgungseinheit, unten der Triebwerkstrichter des großen Antriebssystems und oben der gedrungene Kegel der Kommandokapsel. Doch sonst unterschied diese Apollo - mit der Bezeichnung >Block V-Konstruktion< nach den Rockwell-Ingenieuren, die sie gebaut hatten - sich deutlich von den alten Block II-Versionen, die in den Sechzigern zum Mond geflogen waren. Auch die Unterschiede zu den Block III und IV-Erdorbit-Fähren waren noch ziemlich markant.

Die ersten Mondmissionen hatten lediglich zwei Wochen gedauert. Die Ares-Apollo indes sollte achtzehn Monate im Leerraum überstehen. Und die Temperaturunterschiede, denen Apollo ausgesetzt sein würde, während Ares im Sonnensystem kreuzte, wären viel stärker als bei einem Mondflug. Deshalb waren die meisten Hauptsysteme der Apollo neu konzipiert worden.

Die Betriebs- und Versorgungseinheit verfügte über mehr Treibstoff für die Steuertriebwerke und weniger Brennstoff für das Haupttriebwerk. Die herkömmlichen Betriebs- und Versorgungseinheiten hatten zuviel Wasser abgeblasen, das von den Bordbatterien produziert wurde; die Ares-Version speicherte das Wasser in Tanks, wodurch vermieden wurde, daß Eispartikel das Schiff umschwärmten. Die ganze Konfiguration war mit mehr Batterien bestückt, und die

Kommandokapsel verfügte über mehr Nutzlastraum. Die obere Kopplungseinheit verfügte über eine Luftaustauschleitung, um Luft vom Missionsmodul in die Kommandokapsel zu leiten. Und so weiter.

Zuverlässigkeit war bei Langstreckenflügen unverzichtbar. Viele Systeme der Apollo waren mehrfach gesichert - mit Geradeauskopien, die bei einem Defekt einsprangen -, aber das alte Dreifach-Redundanz-System, das bei den Mondflügen verwendet worden war, hatte sich für Langstreckenflüge als ungeeignet erwiesen. Redundanzen, die das Risiko über eine solche Flugdauer minimiert hätten, hätten ein Raumschiff mit einer gewaltigen Masse und höchstem Komplexitätsgrad erfordert.

Also hatten die Konstrukteure sich eine intelligentere Lösung ausgedacht. Zusätzlich zur bloßen Redundanz waren auch andere Systeme imstande, die Funktionen ausgefallener Komponenten zu übernehmen. Dadurch wurde das Risiko vermindert, daß durch den Ausfall eines Systems gleich mehrere Funktionen beeinträchtigt wurden - wie bei Apollo 13 geschehen. Und an die Besatzung hatte man auch gedacht. Das Schiff war in Modulbauweise errichtet worden, so daß die Baugruppen leicht zugänglich waren und relativ schnell repariert oder ausgetauscht werden konnten. Außerdem gab es Isolierventile, Not-Ausschalter, Prüfgeräte und Diagnosewerkzeuge. Ein paar Baugruppen verfügten sogar über integrierte mikroelektronische Selbsttest-Einheiten.

Außerdem umfaßte der Flug der Apollo zum Mars eine Reihe von Abbruchoptionen. Bei der Rückkehr zur Erde sollte die Apollo mit dem Missionsmodul in einen langgezogenen elliptischen Orbit um den Planeten gehen, wobei die lange Halbachse eine Länge von hundertsechzigtausend Kilometern hatte und die kurze Halbachse eine Länge von achtzigtausend Kilometern. Es handelte sich also um eine weite Kurve, auf der die Mehrstufenrakete sich dem Mond bis auf die halbe Distanz zwischen Erde und Mond nähern und danach wieder abdrehen würde - ein Orbit, den Ares mit einem relativ geringen Brennstoffverbrauch einzuschlagen vermochte. Die Kommandokapsel würde sie aus einer solchen Trajektorie sicher zur Erde zurückbringen, weil die Hitzeentwicklung beim Wiedereintritt geringer war als bei einer Rückkehr vom Mond. Und falls Apollo dennoch ausfallen sollte, würde die Besatzung im Orbit überleben, bis Rettung in Gestalt einer anderen Apollo kam.

Und falls sie es nicht einmal in den Erdorbit schafften - wenn zum Beispiel das J-2S, das einzige Triebwerk der letzten Stufe der MS-IVB-Zusatzrakete versagte -, waren sie immer noch in der Lage, aus dem freien Fall einen direkten Wiedereintritt zu versuchen. Der Hitzeschild an der Unterseite der Kommandokapsel war verstärkt und versteift worden, so daß sie eine reelle Chance hatten, den Eintritt in die Erdatmosphäre zu überstehen. Die Geschwindigkeit wäre nur um etwa fünfzehn Prozent höher als bei einer Rückkehr vom Mond.

Und wenn die Lebenserhaltungssysteme des Missionsmoduls während des Flugs ausfielen, hatte die Besatzung immer noch die Möglichkeit, sich in die Kommandokapsel zurückzuziehen und sie als Schutzraum beziehungsweise als >Rettungsboot< zu nutzen. Wo Gershon nun allein hier war, wirkte die Kommandokapsel recht geräumig; wenn sie sich jedoch zu dritt hier aufhalten müßten, würden es ein paar harte Wochen oder gar Monate werden.

Doch das wäre immer noch besser als der Tod.

Jeder Aspekt der Mission war unter Berücksichtigung eines möglichen Defekts geplant worden, um in jeder Phase eine Option bereitzustellen und keine >toten Zonen< zuzulassen, in denen es keine Abbruchmöglichkeit gab. Die Konstrukteure hatten an fast alles gedacht.

Gershon summte die Mozart-Melodie bei der Arbeit.

Diese Inspektion war lästige Routinearbeit für Gershon, doch andererseits war alles auf diesem Flug lästige Routinearbeit für Gershon. So war es nun mal auf jedem beschissenen Langstrecken-Raumflug.

Gershons Stunde würde kommen, wenn er das MEM durch die dünne Luft des Mars steuerte. Doch im Grunde hatte er bisher nur für - wie lange? - vierzig, fünfzig Minuten - eines Flugs mit voller Kraft gearbeitet, der anderthalb Jahre dauern würde. Kein sehr gutes Nutzlastverhältnis, Ralph. Aber das war schon in Ordnung. Das war ein Preis, den zu zahlen Gershon bereit war. Weil er sich nämlich auf einer Odyssee zum Mars befand.

Auf den Namen >Ares< war er zum erstenmal in einem zerfledderten alten Schmöker gestoßen, den er in einem Ramschladen in Mason gekauft hatte. Es handelte sich um eine Sammlung von Science Fiction-Geschichten, die jemand namens Stanley Weinbaum verfaßt hatte. Die Titelgeschichte lautete >Eine Mars-Odyssee<, bei der vier Männer in einem Schiff namens Ares zum Mars flogen und ihn erforschten. Auch nach all diesen Jahren waren Weinbaums magische Worte ihm noch in lebhafter Erinnerung. Er glaubte, wieder die vergilbten Seiten jenes alten, zerfledderten Taschenbuchs umzublättern.

Als Gershon erfahren hatte, daß man dieses Schiff auf Weinbaums Schiffsnamen taufen würde, war er begeistert.

In seiner Jugend hatte er den ganzen Science Fiction-Kanon abgearbeitet und war noch mit vielen anderen Schiffen zum Mars geflogen. Bradbury hatte ihn nicht sonderlich angesprochen, mit seinen vagen Beschreibungen von silbernen Krabben - feurig pulsierend und mit einer Invasionsarmee an Bord -, die auf die Oberfläche eines paradiesischen, bewohnten Planeten hinabsanken. Clarke hatte seine >Ares< hingegen in allen Einzelheiten beschrieben. Sie bestand aus zwei großen Kugeln, die in Form einer Hantel durch eine hundert Meter lange Röhre miteinander verbunden waren. Die hintere Kugel enthielt Atommotoren - die von AEC-Robotern gewartet wurden -, und in der vorderen Kugel befanden sich die Unterkünfte für die Besatzung, mit vielen Kabinen, einer großen Kantine und einer Beobachtungskuppel.

Der auf der Liege sitzende Gershon saugte noch etwas Saft aus der Tube und strich über die Oberfläche der schmutzigen Instrumentenkonsole. Er grinste. Kantine - uah.

Gershon war so vernarrt in die Apollo-Technik wie andere Männer vielleicht in klassische Automobile. Zum Beispiel in eine Corvette. Apollo war eine ebenso schöne wie funktionale Maschine, die schon große Dinge geleistet hatte. Und selbst nach all diesen Jahren war sie noch immer besser als alles, was die Russen auf die Beine stellten.

Und es schien ihm nur angemessen, daß der erste - reale -Flug zum Mars keine Verwirklichung eines Traums der Fünfziger war, wie von Braun ihn zum Beispiel geträumt hatte, sondern in einer Handvoll zusammengebauter ApolloBlechbüchsen Wirklichkeit wurde.

Er wußte aber auch, daß mit diesem Flug nicht nur sein Traum, sondern die Träume vieler Menschen wahr wurden. Während Ares seiner langen, spiralförmigen Trajektorie zum Mars folgte, spürte er, daß er nicht allein war: Ares wurde von einer Flotte von Geisterschiffen eskortiert, großen silbernen Gebilden, die den Werken von Clarke und Heinlein und Asimov und Bradbury und Burroughs entflogen waren.

Die Klänge von Mozart erfüllten die Kabine, und Gershon hakte geduldig die Checkliste ab.

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