Freitag, 28. November 1980
Apollo-N; Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Rolf Donnelly parkte den Wagen vor Gebäude 30, dem Kontrollzentrum. Pfeifend stieg er aus.
Auf einem Parkplatz in der Nähe des Gebäudes hatte man ein neues Schild aufgestellt: MCC M&O ANGESTELLTER DES MONATS. Donnelly lachte. Willkommen im Öffentlichen Dienst! Sie befinden sich nun im Kontrollzentrum, und gute Arbeit wird mit einem eigenen Parkplatz honoriert!
Er atmete die warme Herbstluft ein. Auf frische Luft würde er in der nächsten Zeit verzichten müssen; wenn ihm an der Arbeit in Gebäude 30 etwas nicht gefiel, dann der Umstand, daß es keine Fenster hatte. Langsam ging er an den Lüftungsgittern der Klimaanlage entlang, die in die Mauern des Gebäudes eingelassen waren. Im Frühling nisteten dort Vögel, doch nun waren keine Anzeichen von Besiedlung durch Federvieh zu erkennen.
Donnelly betrat das Gebäude. Er war Flugleiter, und nun würde er den Flug von Apollo-N leiten. Die großen Monitore an der Stirnseite des Raums zeigten spektakuläre Bilder von Kennedy: gen Himmel strebendes Metall, wabernder Rauch, sonnenhelle Flammen.
Die Saturn VN erhob sich von der Startplattform.
Die Apollo-N war nun seit ein paar Sekunden unterwegs, und im Kontrollzentrum wurde ruhig und konzentriert gearbeitet. Von seiner Position in der Befehlsund Kontrollreihe, dritte Reihe von vorn, hatte Donnelly alles im Blick: die Tischreihen, die Computerarbeitsplätze mit den klobigen alten Bildschirmen und Tastaturen, die an den Tischen verschraubt waren und von den Leuten seiner Gruppe bedient wurden. Indigo Team. Die
Arbeitsplätze waren mit Handbüchern, Kaffeetassen und Notizblöcken übersät.
»Roll- und Nick-Programm«, ertönte Chuck Jones’ Stimme über die Luft-Boden-Schleife. Die schwankende Stimme war für Donnelly kaum zu hören. »Alles in Ordnung. Der Himmel wird heller.«
An den braungetünchten Wänden hingen Flugpläne, die bis Gemini 4 zurückreichten, und Bilder ehemaliger Flugdirektoren, die in den jeweiligen Missionsfarben gerahmt waren. Die Monitore glühten im abgedunkelten Raum.
Die Rakete stand schon über dem Startturm. Im fließenden Übergang übernahm Indigo Team von der Kennedy-Leitstelle die Missionskontrolle.
Donnelly spürte einen Adrenalinstoß.
Die Saturn VN kippte vornüber und stieg in östlicher Richtung in einem Bogen über dem Atlantik auf. Die Rakete steuerte sich selbst und schwenkte die kardanisch aufgehängten Triebwerke, um der vorbestimmten Trajektorie zu folgen. Die Besatzung, bestehend aus Jones, Priest und Dana, hatte im Moment nur den Status von Passagieren, und die nukleare Rakete stellte vorerst lediglich eine Nutzlast dar.
Natalie York, die in dieser Schicht als Capcom fungierte, rief das Raumschiff: »Apollo, Houston. Ihr seid voll auf Kurs.«
»Roger, Houston. Dieses Baby läuft wirklich gut.«
Zahlenkolonnen scrollten über die Bildschirme, und Donnellys Controller berieten sich leise über die Kommunikationsverbindungen.
Es handelte sich um Yorks ersten Einsatz als Capcom. Sie wirkte ruhig und souverän, und Donnelly war vollauf zufrieden mit ihr.
Der Flug verlief gut. Rolf Donnelly spürte es. Im Moment konnte er die Hände in den Schoß legen.
Diese Mission war in vielerlei Hinsicht einmalig.
Zum ersten Mal hatten die USA versucht, gleich zwei ehrgeizige Flüge auf einmal durchzuführen und nicht weniger als sechs Astronauten ins All geschickt: Jones, Dana und Priest gingen im Rahmen des NERVA-Testflugs auf der Spitze der Saturn VN in den Orbit, und Muldoon, Bleeker und Stone befanden sich bereits im Moonlab im Mondorbit und warteten auf ihr Rendezvous mit den Russen. Es war auch das erstemal, daß die NASA beide Kontrollzentren gleichzeitig betrieb.
Und dies war natürlich auch der erste bemannte Flug der S-NB, der neuen dritten Saturn-Stufe mit dem NERVA 2-Nuklearantrieb.
Die Management-Reihe, die sich im MOCR hinter Donnelly befand, war voll besetzt. Zum Beispiel saß dort Bert Seger, direkt hinter Donnelly, diesmal mit einer weißen Nelke im Knopfloch. Und im Leitstand im hinteren Bereich des MOCR hatte Donnelly Fred Michaels höchstpersönlich ausgemacht, der an einer Zigarre zog und ebenso verwundert wie besorgt die Zahlenkolonnen beobachtete. Dies war ein überaus wichtiger Flug, der vor den Augen der gesamten Öffentlichkeit stattfand.
Doch Donnelly machte sich keine Sorgen; zumindest noch nicht. Die Controller in diesem Raum waren gleichzeitig auch Leiter von drei- bis fünfköpfigen Teams, die in den Nebenräumen des MOCR arbeiteten; um überhaupt ins MOCR kommen, hatten die Controller zuvor selbst bei zahlreichen Missionen in den Nebenräumen arbeiten müssen. So hatte auch Donnelly Karriere gemacht. Die Controller wurden oft von der Luft- und Raumfahrtindustrie abgeworben, wo höhere Gehälter winkten: der Dienst im Kontrollzentrum machte sich gut bei Bewerbungen. Doch das ging schon in Ordnung, weil dadurch nämlich der Altersdurchschnitt gedrückt wurde.
Donnelly hegte jedenfalls keine derartigen Ambitionen. Im MOCR befand man sich nämlich viel näher am Brennpunkt der
Entscheidungsfindung als die Kommandanten aller bisherigen Flüge; das galt sogar für die Kommandokapsel des aktuellen Raumschiffs. Hier liefen alle Fäden zusammen; in diesem Raum hatte Donnelly das Sagen. Was ihn betraf, so war das besser als Fliegen.
Die Flugdauer betrug nun eine Minute.
Die beim Start aufgetretenen Vibrationen klangen ab.
»Der verdammte Vogel gibt merkwürdige Geräusche von sich«, rief Jones.
Jim Dana vermochte Jones’ Gesicht hinter dem Helm nicht zu erkennen.
Er hatte auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Die Beschleunigung drückte Dana nieder, während die fünf starken Triebwerke der S-IC-Stufe feuerten. Zwei, drei, vier Ge... eine Klammer legte sich um seine Brust.
Damit war das Schlimmste aber schon überstanden. Merkwürdigerweise hatte die Belastung sogar etwas Tröstliches. Es lief alles nach Plan. Vielleicht irrte Jones sich. Bisher war es wie in den Simulationen. Fast...
Plötzlich wurde er nach vorn in die Gurte geschleudert. Was zum.? Der ruhige Flug war mit einemmal turbulent geworden. War ein Triebwerk ausgefallen? Nun wurde er zurückgerissen und auf die Liege gepreßt; und dann wurde er wieder nach vorn geschleudert. Der Ruck war so heftig, daß die Gurte durch die Gewebelagen des Anzugs hindurch Quetschungen an Brust und Bauch verursachten. Dann wurde er wieder zurückgerissen.
»Ein Tanz!« rief Jones. »Haltet die Hüte fest, Jungs.«
Nun erfolgten die Vibrationen fünf- bis sechsmal pro Sekunde, und zwar mit erstaunlicher Heftigkeit. Wie viele Ge das wohl waren? Und dann diese Oszillationen.
Dana sah nichts mehr; die Kabine verschwamm vor seinen Augen, und er hatte das Gefühl, als ob man ihm Oberkörper, Kopf und Beine traktierte. Wir müssen den Flug abbrechen. Wir werden das nicht überleben. Es wird uns zerreißen. Er versuchte, den Kopf zu drehen und zu sehen, ob Jones nach dem Not-Aus-Hebel griff.
Das MOCR bekam von diesem Höllenritt nichts mit.
Für die Controller im Kontrollzentrum der NASA verlief die Brennphase der ersten Stufe normal. Nur im Pendant der Marshall-Ingenieure, dem sogenannten Huntsville-Führungszentrum, wurde das Problem erkannt.
Über eine geschlossene Schleife informierte Marshall Mike Conlig in Houston. »Die S-IC taumelt. Die Beschleunigungsmesser zeigen plus beziehungsweise minus acht Ge an.«
Conlig saß auf der rechten Seite des >Schützengrabens< - in der ersten Reihe des MOCR in Houston - und fungierte als Triebwerks-Controller, wobei er insbesondere für die neue NERVA-Stufe verantwortlich war. Das Taumeln wurde dadurch verursacht, weil die Eigenfrequenz der Schubkammern der F-1-Triebwerke fast der strukturellen Frequenz der gesamten Mehrstufenrakete entsprach. Mein Gott, sagte er sich. Wir haben doch extra Schwingungsdämpfer eingebaut, um den Eintritt einer Resonanzkatastrophe zu verhindern. Offensichtlich hätten diese Arschlöcher in Marshall bei der neuen Saturn VN mit der nuklearen dritten Stufe mehr Resonanzversuche durchführen müssen. Die Mission wird vielleicht daran scheitern.
Er schickte sich an, dem Flugleiter Meldung zu machen.
Doch nun vernahm er wieder das Flüstern von Houston. »Die Amplitude flacht ab.«
Das Taumeln legte sich so schnell, wie es begonnen hatte.
Verglichen damit waren die drei oder vier Ge auf Danas Brust geradezu eine Erleichterung.
Er sah auf die vor ihm schwebende Missionsuhr. Zehn Sekunden. Länger hatte es nicht gedauert. Zehn Sekunden.
Er drehte den Kopf, um nach den anderen zu sehen und stellte dabei fest, daß er einen Tunnelblick hatte. Er konzentrierte sich auf Chuck Jones’ Gesicht. »Chuck? Ben? Seid ihr in Ordnung?«
Jones Hand umklammerte den Not-Aus-Hebel, und Dana fragte sich, welcher Willenskraft es wohl bedurft hatte, ihn nicht zu betätigen. »Houston, wir haben einen Tanz aufgeführt«, sagte Jones. »Wir sind durchgeschüttelt worden wie Erbsen in einer Dose.«
»Roger.« Natalie York klang verwirrt. Womöglich wußten die Leute in Houston noch gar nicht, was die Besatzung eben durchgemacht hatte. Sie hatten die Beschleunigungsmesser nicht im Blick gehabt. Dana hoffte nur, daß sie wenigstens die restliche Telemetrie überwachten.
Und nun stürzten die Ereignisse des Startvorgangs auf sie ein. »Drei Minuten«, rief Jones. »Macht euch bereit für das Absprengen der Stufe, Jungs.«
Dana schüttelte den Kopf, und die Dunkelheit am Rand des Gesichtsfelds verschwand. Mit Unbehagen dachte er an die zusätzliche Belastung, die das Absprengen der Stufe für die durchgeschüttelte S-NB bedeutete.
Rolf Donnelly hatte das Vergnügen des Tanzes nicht gehabt. Er hatte auch erst das Vergnügen, davon zu erfahren, als er den mündlichen Bericht der Besatzung erhielt.
In dieser Phase des Flugs hatten die Leute in Marshall mehr oder weniger die Leitung übernommen, weil sie ihren Vogel schließlich am besten kannten. Aber ich weiß nicht, wieso wir den Flug während dieses verdammten Taumelns nicht abgebrochen haben. Sie müssen wirklich scharf darauf sein, ihre nukleare Stufe in den Orbit zu schicken.
Der Aufstieg in den Orbit war immer die schwierigste und gefährlichste Phase einer Mission: in dieser Phase wurden Unmengen von Energie verbraucht, um mehrere Tonnen Metall auf eine Orbitalgeschwindigkeit von acht Kilometern pro Sekunde zu beschleunigen. Der Wiedereintritt war wesentlich einfacher, weil man ihn nämlich selbst zu kontrollieren vermochte. Der Aufstieg war die Phase mit dem größten Risiko, die Phase, in der Donnelly immer mit Problemen rechnete.
Er mußte sich stärker beherrschen als im bisherigen Verlauf des Flugs.
Das Problem bestand darin, daß die Deutschen in Marshall ihre Fertigkeiten in einer Ära automatisierter, unbemannter Flugkörper entwickelt hatten. Es war unmöglich, per Funk den Kurs einer V-2 zu korrigieren, wenn sie erst einmal davon abgewichen war. Auch heute noch war die Vorstellung, eine Rakete im Flug zu kontrollieren, ihnen fremd. Also hatten die Deutschen alles getan, um ihre Controller, die beteiligten Menschen, in Roboter zu verwandeln - in eine Verlängerung der Maschine. Improvisieren Sie nicht. Verhalten Sie sich diszipliniert. Halten Sie sich an die Dienstvorschrift: Sie werden fürs Handeln bezahlt und nicht fürs Denken.
Donnelly schwor sich, in dieser Hinsicht auf Veränderungen hinzuarbeiten. Er wollte nicht noch einmal in eine Situation geraten, wo er sich auf das Urteilsvermögen der Leute aus Marshall verlassen mußte.
Dennoch - obwohl die Saturn sich etwas oberhalb des geplanten Pfads befand, der an der Stirnseite des Raums dargestellt war - schien die Besatzung die Turbulenzen unbeschadet überstanden zu haben, und die Telemetrie des Triebwerks war normal. Die Mehrstufenrakete hatte die
Abstoßung der ersten Stufe, der ausgebrannten S-IC, überstanden, und die Brennphase der zweiten Stufe verlief ohne Komplikationen.
Vielleicht werden wir es trotzdem schaffen...
Donnelly spürte einen Druck im Rücken. Es hielten sich Leute im Leitstand auf - VIPs, Prominente, Vertreter des NASA-Hauptquartiers, Politiker und Familienangehörige der Besatzungsmitglieder -, von denen manche wußten, daß es Schwierigkeiten gab. Dann war da noch Fred Michaels, der sich die Nase an der Glasscheibe plattdrückte. Und neben Michaels stand Gregory Dana, Jims Vater. Donnelly kannte Dana senior zwar nicht persönlich, aber er wußte, daß er eine Art Missionsspezialist aus Langley war. Der Druck, den der Mann ausübte, war noch schlimmer als der Streß, den Michaels’ Anwesenheit ihm verursachte. Gottverdammt, das ist mein Sohn dort oben.
Donnelly war auf dem aufsteigenden Ast. Er sah einer glänzenden Zukunft entgegen - noch ein paar Jahre hier in der Arena, und dann würde er vielleicht zum Programm-Manager befördert werden. Und wenn er diese komplexe und schwierige Mission gemeistert hatte, könnte er sich eine bunte Feder an den Hut stecken.
Er liebte seine Arbeit. Und er wollte noch viel mehr erreichen; er wollte den Flug zum Mars leiten. Er wollte nicht, daß diese Mission ein Mißerfolg wurde.
Doch nun war es an der Zeit, die Atombombe zu zünden.
Apollo N schüttelte sich, als Sprengbolzen die ausgebrannte zweite Stufe, die S-II, abtrennten. Dana trieb schwerelos in der Kabine und wartete auf den zweiten Schub.
»Los geht’s!« sagte Jones in seinem Tennessee-Dialekt. Er wirkte ruhig und entspannt - als ob er das jeden Tag machen würde.
Und wenn Chuck Jones äußerlich noch so ruhig war; selbst er mußte gespannt sein wie eine Uhrfeder, sagte Dana sich, weil nämlich der entscheidende Moment des Flugs bevorstand. Bei der dritten Stufe der Mehrstufenrakete handelte es sich nicht um die alte, bewährte S-IVB, welche die Mondraketen in den Erdorbit und noch weiter gebracht hatte; es war eine S-NB mit dem ersten einsatzbereiten NERVA-Triebwerk. Und das verdammte Ding mußte nun zünden, um sie in den Orbit zu befördern, oder sie würden, wie Dana wußte, den Atlantik überfliegen und in der Sahara eine harte Landung hinlegen.
»Apollo, Houston«, meldete York sich, »Go für den Orbit. Go für den Orbit.«
Für lange Sekunden flog das Raumschiff antriebslos dahin, und schließlich erhielt Dana einen Tritt in den Rücken.
»Sie hat gezündet«, sagte Chuck Jones atemlos. »Was sagt ihr dazu. Wir reiten auf einer gottverdammten Atombombe.«
Die NERVA-Zündung war nicht so heftig wie die vor sechs Minuten erfolgte Zündung der zweiten Stufe; der Flug verlief nun gemächlicher, und der Schub von hundert Tonnen drückte ihm nur ein Ge ins Kreuz.
Danas Fenster wurde mit irdischem Licht ausgefüllt. Die Apollo wies nun mit der Nase zur Erde.
Er wurde so heftig in die Gurte geschleudert, daß er keine Luft mehr bekam. Mein Gott. Was ist nun wieder los?
Die Nase des Raumschiffs schwenkte wieder nach oben. Metall stöhnte, und das hell erleuchtete Antlitz der Erde schob sich am Fenster vorbei. Er schlug mit dem Helm gegen den Metallrahmen der Liege. Blaues Licht zuckte über das Helmvisier.
»Wir reiten hier auf einem Mustang, Houston«, sagte Chuck Jones mit belegter Stimme. »Sagt uns bitte, was wir tun sollen.« »Booster, Flug. Ich brauche Informationen.«
Für Donnelly hatte es den Anschein, als ob der kleine, stilisierte Saturn auf der Anzeigetafel betrunken sei, so erratisch kurvte er um die programmierte Trajektorie.
Doch die Stimme, auf die es nun angekommen wäre, schwieg. Mike Conlig meldete sich nicht bei ihm.
»Booster, Flug«, wiederholte er. »Haben Sie Informationen für mich?«
Er wußte aber auch, was los war, ohne daß Conlig es ihm sagte. Die S-NB selbst schien noch zu funktionieren. Dieses Nicken mußte noch vom Taumeln herrühren. Die Rakete hatte schon Overshoot gehabt, als die Stufe abgestoßen wurde. Sie flogen kopfüber. Die Nase hing zu tief. Nachdem die S-NB gezündet hatte, flog die Rakete zunächst mit Overshoot weiter. Dann hatte sie das Nukleartriebwerk geschwenkt und versucht, die Nase zu heben und sich auf den Erdmittelpunkt auszurichten. Für eine Weile kämpfte das Lenkungssystem gegen die kardanische Triebwerksaufhängung mit den begrenzten Freiheitsgraden an. Und als die S-NB dann zu merken schien, daß der Pfad zu flach wurde, richtete sie sich wieder auf.
Und so setzte dieser Rückkopplungsprozeß sich fort, während die Instrumenteneinheit der S-NB versuchte, das Schiff wieder auf eine - unerreichbare - Flugbahn zu bringen.
Wo, zum Teufel, steckte Conlig? »Booster,
Flug. Booster.«
Mein Gott, sagte Fred Michaels sich, der vom Leitstand an der Rückseite des MOCR zuschaute. Ich will den Flug nicht abbrechen.
Es wäre ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für einen Abbruch gewesen.
Die neue Reagan-Regierung formierte sich nach dem erdrutschartigen Wahlsieg, und Michaels schaute besorgt in die Zukunft. Er führte Carters Niederlage darauf zurück, daß Ted Kennedy während der Vorwahlen dem Erdnußfarmer die Gefolgschaft gekündigt hatte; andererseits war Michaels der Ansicht, daß Carters Zeit ohnehin abgelaufen war. Und nun kam Reagan, drohte den Russen wegen Polen und Afghanistan und versprach, die Geiseln im Iran zu befreien...
Vielleicht würde Reagan mit demselben Elan auch den Weltraum erobern; aber man wußte es eben nicht.
Michaels hatte einen wichtigen politischen Verbündeten im Weißen Haus verloren, und die Kennedy-Karte stach nicht mehr so richtig.
Dennoch hatte der Apollo-N-Flug der NASA eine umfassende Medienpräsenz beschert - zum Teil sogar mit wohlwollender Diktion, weil die NASA die Sicherheitsmaßnahmen beim Umgang mit den radioaktiven Substanzen publik gemacht hatte. Der Bericht über den Start hatte sogar eine höhere Einschaltquote erzielt als die Folge von >Dallas<, in der es um die Klärung der Frage von nationalem Interesse ging, wer auf JR geschossen hatte. Michaels legte keinen Wert darauf, daß anstatt dieser vorteilhaften Meldungen eine neue Apollo-Katastrophe auf den Titelseiten erschien -nicht jetzt und auch nicht in Zukunft.
Bert Seger, der ein paar Reihen hinter Michaels im Leitstand saß, wußte, daß es sich bei diesem Flug um die umstrittenste NASA-Mission seit den militärischen Besatzungen von Skylab A handelte. Auf dem Kennedy-Gelände hatten Protestversammlungen stattgefunden. Eltern hatten ihre Kinder mitgebracht, und Transparente mit der Aufschrift THREE MILE ISLAND waren entfaltet worden. Der Sicherheitsdienst des Raumfahrtzentrums hatte die Demonstranten vom Startgelände und den Zuschauertribünen ferngehalten. Doch für Bert Seger, der gerade aus Tjuratam zurückgekommen war und dringend an den Start mußte, war es ein echtes Spießrutenlaufen gewesen.
Seger war nun schon seit Jahren in dieses Projekt eingebunden. Er hatte den Zorn, den er auf den Gesichtern der Demonstranten gesehen und in den Nachrichten sowie über die Konferenzschaltungen der NASA mitbekommen hatte, als höchst beunruhigend empfunden.
Und noch beunruhigender war das Rumoren innerhalb der NASA. Ein paar Astronauten, dieser Joe Muldoon mit seiner großen Klappe zum Beispiel, hatten sich etwas zu freimütig über die Einsatzbereitschaft beziehungsweise über die fehlende Einsatzbereitschaft von NERVA geäußert. Zum Glück war Muldoon zur Zeit hinter dem Mond und vermochte deshalb keinen Schaden anzurichten.
Doch Muldoon und die anderen hatten in Seger den Keim des Zweifels gesät. War er vielleicht zu weit vorgeprescht? Wenn es heute zu einem Debakel kam, dann konnte die NASA in Anbetracht der zu erwartenden Proteste gleich nuklearen Treibstoff über der Ostküste ablassen.
Tags zuvor, in der Leitzentrale von Kennedy, hatte die Besatzung von Apollo-N Seger ein von allen signiertes Foto in einem Messingrahmen überreicht. Es zeigte die drei lächelnd im Raumanzug. Die Widmung lautete: Für Bert - In Ihren Händen.
»Booster, Flug. Booster, verdammt.«
Donnellys Stimme drang wie ein summendes Insekt aus Conligs Kopfhörer und erschwerte ihm das Nachdenken.
Die Missionsbestimmungen waren klar und eindeutig. Wenn in dieser Phase des Starts ein Fehler auftrat, sollte Conlig in seiner Eigenschaft als Triebwerks-Controller die Abbruchtaste
betätigen. Der stilisierte Saturn wich noch immer vom Pfad ab.
Aber.
Aber die Abweichung war doch nicht so gravierend, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Zumal die Rakete nun auch nicht mehr taumelte.
Die S-NB war ein >intelligentes< Gerät. Mittels der schwenkbaren Triebwerkstrichter war sie imstande, die Flugbahn weitgehend selbst zu korrigieren. Es sah so aus, als ob das Triebwerk alles tat, um den vorgesehenen Kurs zu halten. Die Trajektorie war noch immer unter Kontrolle.
Conlig mußte sich überwinden, Donnelly zu antworten. »Äh. Flug, Booster.«
»Mein Gott, Booster. Reden Sie.«
Conlig atmete durch. »Flug, Booster. Wir scheinen wieder alles unter Kontrolle zu haben.«
Nun gingen Anfragen von den anderen Controllern ein: Flugführung, Flugdynamik, und die Jungs in der System-Reihe hinter Conlig meldeten sich auch. Von der Oszillation um die Trajektorie abgesehen, war alles in bester Ordnung.
»Sicher, Booster?« fragte Donnelly.
Sind Sie wirklich sicher, daß Sie diesen Vogel unter Kontrolle haben? Sind Sie sicher, daß Sie nicht für einen Abbruch plädieren wollen?
Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun, Conlig?
Conlig hatte den Eindruck, daß der Raum, ja die ganze Welt auf ihn einstürzten; der Kopfhörer brannte förmlich auf den Ohren, und der Saturn auf der Anzeigetafel war wie ein Menetekel seiner Unentschlossenheit.
Ich sollte eigentlich abbrechen. Aber wo das Ding nun schon mal fliegt.
»Sind Sie sicher, Booster?« hakte Donnelly nach.
»Die Daten sprechen dafür, Flug.«
»Roger.« Ich will Ihnen mal vertrauen, Conlig.
Conlig starrte auf das Saturn-Symbol, als ob er es mit schierer Willenskraft dazu veranlassen könnte, aufzusteigen und in den Orbit zu gehen.
Er wußte, daß niemandem mit einem Abbruch gedient war, wenn es nicht unbedingt sein mußte.
Die Brennphase dauerte zweieinhalb Minuten. Apollo-N war auf eine Geschwindigkeit von acht Kilometern pro Sekunde beschleunigt worden und hatte in dieser Zeit vierhundert Kilometer zurückgelegt.
Dann schaltete die S-NB-Stufe das NERVA-Triebwerk ab.
Jones las die Werte auf der Anzeige ab. »Natalie, sagen Sie den Jungs aus Marshall, daß ihr Vogel sich prächtig gehalten hat. Nur daß wir mit dem Arsch voran in den Orbit geprescht sind.«
»Roger«, erwiderte York lapidar. »Ich werde es weitergeben, Chuck. Danke.«
Mike Conlig wußte, daß Natalie in ihrer Eigenschaft als Capcom nur ein paar Meter von ihm entfernt saß.
Ich hätte abbrechen sollen. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe sie weiterfliegen lassen.
Er drehte sich nicht um, weil er den Blickkontakt mit Natalie vermeiden wollte.
Donnelly spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihm abfiel.
Er befragte die Controller; sie meldeten, daß die Systeme des Schiffs, trotz allem, einwandfrei funktionierten. Wir haben es geschafft. Allerdings weiß ich nicht, wie.
Bert Seger wußte, daß sie nur Glück gehabt hatten. Er war entschlossen, den Kameraden aus Marshall wegen dieser Sache den Arsch aufzureißen. Die S-IC war ins Taumeln geraten. Die erste Stufe der Saturn hätte sie nicht im Stich lassen dürfen -nicht nach mehr als zehnjähriger Erfahrung, nicht nach so vielen Flügen.
Seger betrat das MOCR und beugte sich über Donnellys Station. »Wenn Sie auch nur die geringsten Zweifel an der Zuverlässigkeit des NERVA-Triebwerks aus Marshall hegen, bringen Sie die Jungs sofort wieder runter.«
Freitag, 28. November 1980
Apollo-N; Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Sie stopften die Druckanzüge in Netztaschen und verstauten sie unter den Liegen. Nun trug Jim Dana nur noch eine Kombi über der Unterwäsche.
Er befand sich nun in einer Höhe von hundertsechzig Kilometern, eintausendsechshundert Kilometer von Cape Canaveral entfernt und flog mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern pro Sekunde. Auf der mittleren Liege, die Füße zu den Sternen gerichtet, sah er durchs Fenster der Kommandokapsel auf den Heimatplaneten hinunter.
Beim Anblick der sonnenbeschienenen Erde geriet er schier in Verzückung. Sie stand als leicht gekrümmte Wand aus Farbe und Licht vor ihm, die das Universum in zwei Hälften teilte; leuchtend weiße Wolken lagen wie Federn über dem Land und dem Meer.
Ben Priest, der rechts von Dana lag, grinste ihn an. »Wie fühlst du dich?«
»Als ob ich hier oben geboren wäre.«
Chuck Jones öffnete den Sicherheitsgurt, stieß sich von der linken Liege ab und schwebte zur Instrumentenkonsole hinauf. »Wir sind im Orbit, meine Herren«, sagte er. »Willkommen im Astronauten-Korps. Nun müssen wir nur noch herausfinden, ob wir es hier aushalten.«
Priest und Jones schickten sich an, die Flugbahn des Schiffs und die geschätzte Geschwindigkeit mit den Bodenstationen und den Meßflugzeugen abzugleichen. Dana hörte, daß Jones bei der Arbeit summte. Dana hatte die Aufgabe, die Navigationsplattform auszurichten.
Er schwebte nach oben und klappte die mittlere Liege hoch. In der Mikrogravitation wirkte die enge Kabine recht geräumig. Dana tippte mit der Fingerspitze gegen eine Instrumentenkonsole; das genügte, daß er an den anderen vorbei in den Nutzlastraum unter den Liegen driftete.
Er schwebte zwischen Kühlröhren und Staufächern. Zum erstenmal seit dem Start hatte er die Gelegenheit, sich auszustrecken; die Füße stemmte er gegen die Luke, und der Kopf wies auf den Boden. Er spürte leichte Schmerzen in Bauch, Brust und in den Knien: Nachwirkungen des Taumelns. Dennoch war es nicht so schmerzhaft gewesen, wie er erwartet hatte; der Druckanzug hatte ihn offensichtlich geschützt.
Dana schwebte hinunter zum Trägheits-Meßgerät. Bei der Navigationsplattform handelte es sich um eine Metallkugel mit dem Durchmesser eines Strandballs. Innerhalb der Hülle befand sich eine Scheibe, die von drei ineinander verschachtelten Kugeln fixiert wurde.
Das Ding glich einem Tisch in einem Boot, der kardanisch montiert war, um unabhängig vom Schaukeln des Boots in der Waagrechten zu bleiben. Mit diesem System >bestimmte< das Raumschiff seine Position relativ zu einer Bezugstrajektorie. Die Kontrolle der Ausrichtung war ein Routinevorgang und wurde bei jedem Flug auf der Prüfliste abgehakt. Doch nun bestand die Gefahr, daß das Taumeln und die Kreiselbewegungen, denen die Apollo-N während des Starts ausgesetzt gewesen war, die Plattform verstellt hatten.
Um die Plattform neu zu kalibrieren, mußte Dana sich mittels eines optischen Teleskops und eines Sextanten an ein paar Sternen orientieren. Er wählte aus einem Katalog ein paar Sterne aus und ließ sie vom Raumschiff suchen. Wenn der Stern nicht exakt im Fadenkreuz des Teleskops stand, würde Dana eine Korrektur vornehmen, und der Computer übertrug diese Korrektur dann an die Plattform, woraufhin sie sich selbst ausrichtete.
Er wählte das Sternbild Orion, mit dem markanten, aus drei Sternen bestehenden Gürtel in der Mitte. Er beschirmte die Augen vor dem Licht der Erde und der Kabinenbeleuchtung und zielte mit dem Teleskop in die Richtung, wo Orion sich befinden mußte. Schließlich machte er die drei schwachen Punkte aus, die vom hellen Sirius flankiert wurden. Sie standen genau dort, wo sie sein sollten.
Er grinste. Die Justierung stimmte also noch. Vielleicht hatten sie das Schlimmste überstanden, und der Rest des Flugs würde ohne Komplikationen ablaufen.
Das erste Ziel der Flugerprobung war bereits erreicht: die S-NB war offensichtlich imstande, sich selbst und ein bemanntes Raumschiff in den Orbit zu bringen. Nun mußte noch der Nachweis erbracht werden, daß es möglich war, NERVA mehrmals hintereinander sicher zu starten. Während des einwöchigen Flugs würde Apollo-N auf langgezogene elliptische Orbits geschickt werden und hundertsechzigtausend Kilometer weit in den Raum ausgreifen - fast die Hälfte der Entfernung zum Mond.
Mittels eines starken Ultraviolett-Teleskops sollten viele wissenschaftliche Arbeiten ausgeführt werden: Sonnenbeobachtungen, Untersuchungen der äußeren
Atmosphäre sowie Erdbeobachtungen und -aufnahmen. Neben der Ausrüstung in der Kommandokapsel waren noch verschiedene Sensoren für Außenexperimente in einem Instrumentenfach der Betriebs- und Versorgungseinheit deponiert. Doch die Wissenschaft war nur zweitrangig, wie Dana wußte. Der eigentliche Zweck der Mission war folgender: sorgt dafür, daß die verdammte NERVA funktioniert und vom Raumschiff aus kontrolliert werden kann, ohne daß sie die Umwelt radioaktiv verstrahlt.
Nachdem er die Sterne angepeilt hatte, bestimmte er mittels des Sextanten den Winkel zwischen zwei Fixsternen. Dies diente der Überprüfung des >Gedächtnisses< der Plattform; Danas Berechnungen mußten eine Genauigkeit von einem zehntausendstel Prozentpunkt aufweisen: das Ziel waren fünf Nullen hinter dem Komma, eine Anzeige von -.00000 beim Abgleich des Sternenwinkels.
Dana erzielte -.00003: vier Nullen und ein >paar
Zerquetschte«
Inzwischen hatte er sich an die Mikrogravitation gewöhnt. Als er die Hände ausstreckte, merkte er, daß er sich in der Luft drehte wie ein Tannenzapfen.
Das Gefühl war wundervoll. Ihm war zum Lachen zumute.
Ralf Donnelly befand sich im Mittelpunkt eines Netzes aus Informationen, Argumenten und Extrapolation, einem Netz, das sich über das ganze Land zog: aus Marshall in Alabama über Rockwell in Downey, den Erbauern der Apollo, über Boeing, wo die telemetrischen Daten der ersten Stufe S-IC einer gründlichen Analyse unterzogen wurden, bis hin zu dem Dutzend und mehr Gruppen hier im MOCR, den Nebenräumen und in Gebäude 45. Er stellte sich vor, wie die Drähte glühten, während Bodenkontrolle und Raumschiffsbesatzung lange Checklisten durchgingen, mit denen die Antriebssysteme, die Triebwerksaufhängung, die Kreiselsteuergeräte, Computer und
Lebenserhaltungssysteme überprüft wurden. Die Ergebnisse wurden landesweit publik gemacht.
Dann gingen die ersten Antworten ein und wurden vom Indigo-Team gefiltert und zu einem Puzzle zusammengesetzt.
Das Taumeln der S-IC war anscheinend auf einen unerwarteten Resonanzmodus der Saturn VN, der neuen Saturn/NERVA-Stufe, zurückzuführen. Das hätte jemandem auffallen müssen, und zwar lange vor der Montage der Stufe.
Hatte die Qualitätskontrolle bei diesem Programm etwa gepennt? Donnelly hielt allen Beteiligten zugute, daß sie unter großem Zeitdruck gestanden hatten. Dennoch: an mir wird es nicht liegen, wenn es schiefgeht. Es hörte sich so an, als ob ein paar Dumpfbacken bei Boeing oder Marshall dieses Motto vergessen hätten, und ausgerechnet bei dieser Mission.
Doch was nun, nachdem der Schaden einmal eingetreten war?
Die Logik hätte geboten, den Flug abzubrechen und die Besatzung wieder nach Hause zu bringen. Schließlich war das Raumschiff nicht für die Belastung ausgelegt, der es beim Start ausgesetzt gewesen war.
Doch Donnelly war von Haus aus Physiker und im Grunde seines Herzens Wissenschaftler geblieben. Vergiß einmal die Missionsbestimmungen und die Politik: was sagen die Daten?
Die Saturn hatte schließlich versagt, nicht NERVA. Und nun war die Saturn abgestoßen, und die Triebwerks-Leute versicherten ihm, daß alles in Ordnung sei und daß das Taumeln der S-NB nicht annähernd so stark zugesetzt hatte, wie es vielleicht zu befürchten gewesen wäre. Inzwischen hakten die anderen Subsystem-Teams die jeweiligen Punkte auf den Checklisten quasi im Schnelldurchgang ab.
Hinter ihm, in der Management-Reihe und im Leitstand, fanden sich immer mehr hohe Tiere ein und ließen sich vor lauter Sorge noch mehr graue Haare wachsen. Bert Seger war dort, zusammen mit den Direktoren für die Flug- und
Besatzungsoperationen; und hinter Seger erkannte Donnelly Tim Josephson.
Die strategische Bedeutung des Flugs war für jeden offensichtlich: NERVAs Nukleartechnik mußte ein Erfolg werden - sie mußte nachweislich sicher sein -, wenn die Öffentlichkeit nicht besänftigt und das Nuklearprogramm beschnitten oder gar eingestellt wurde, nun, dann konnte man dem Mars gleich >Adieu< sagen.
Donnelly mußte den Dienstweg einhalten. Traditionsgemäß durften nur der Flugdirektor oder der Missions-Arzt einen Flug abbrechen. Die Führungsspitze der NASA hatte bisher noch keine Entscheidung eines Flugdirektors während einer Mission revidiert.
Das war eine Tradition, mit der Donnelly nicht gerade in seiner Schicht brechen wollte.
Natalie York saß in ihrer Eigenschaft als Capcom in der EDV-Reihe vor Rolf Donnelly. Sie musterte die Gesichter der Controller. Sie hatte sie während des intensiven Trainings für diese Mission kennengelernt, während der langwierigen und komplexen integrierten Simulationen und während der anschließenden Saufgelage. Es handelte sich durchweg um junge Männer. Sie waren alle so intelligent, daß sie sich schon auf einer Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn befanden. Das stellte in sozialer Hinsicht ein Handicap dar und machte sie zu unsteten und letzten Endes instabilen Persönlichkeiten.
Sie alle hatten, während sie das Raumschiff in den Orbit geleiteten, unter großem Druck gestanden, und nun mußten sie erneut schwerwiegende Entscheidungen treffen.
Mike saß im >Schützengraben< - in der Reihe vor ihr, etwas nach links versetzt. Er war über die Konsole gebeugt und wirkte äußerst angespannt. Sein Haar war ungekämmt und fettig. Er war gerade in eine gedämpfte Diskussion mit einem Kollegen von Mitchell verwickelt.
Bei ihr keimten wieder die alten Zweifel an Mikes Eignung auf, und sie fragte sich, ob er solchen Streßsituationen überhaupt gewachsen war, wo es um vom Kurs abgewichene Raketen und bemannte Raumschiffe ging und wo die Missionen oft solche Wendungen nahmen, daß blitzschnelle Reaktionen erforderlich waren.
Sie hatte das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, um ihn aufzumuntern oder zu beruhigen. Doch sie wußte, daß er das jetzt als Störung empfinden würde. Mike befand sich nun auf seiner eigenen Flugbahn und hatte sich ebenso ihrer Kontrolle entzogen wie die Saturn/NERVA-Stufe, die sich selbst ins All steuerte.
Wie dem auch sei, sie mußte sich auf ihre eigene Arbeit konzentrieren. Diese Aufgabe war ein großer Augenblick für sie. York war nun keine Astronauten-Anwärterin mehr. Sie war nun offiziell in den Dienstplan eingetragen, und die Ernennung zur Capcom war ihr erster operativer Einsatz. Obendrein war es ein großer Vertrauensbeweis.
Diese Tätigkeit war weitaus schwieriger, als sie vermutet hatte. Der Capcom war die einzige Person, welche mit der Besatzung Kontakt hielt. Bei ihr liefen alle Informationen zusammen, die von innerhalb und außerhalb des Kontrollzentrums kamen; sie mußte ständig präsent sein und sämtliche Informationen, die sie erhielt, filtern und bündeln. Niemand arbeitete ihr zu; sie mußte in Echtzeit entscheiden und handeln.
Sie war der Ansicht, daß sie bisher gute Arbeit geleistet hatte. Allerdings nahm niemand von ihr Notiz, weder auf die eine noch auf die andere Art. Das würde sich jedoch ändern, wenn sie Mist baute.
Ich hoffe nur, daß du heute die richtigen Entscheidungen triffst, Mike. Um Himmels willen, Ben ist dort oben.
Jones und Priest schwebten in die Schlafkabinen hinunter, die sich im Nutzlastraum befanden. Bei diesen Kabinen handelte es sich im Grunde nur um ein zwei Meter langes Regal mit einem Abstand von dreißig Zentimetern zwischen den einzelnen Brettern - ausreichend, um eine Hängematte darin unterzubringen.
Dana schnallte sich auf der Liege vor der Steuerkonsole an. Sie bot immer noch den größten Schlafkomfort. Doch als Pilot der Kommandokapsel mußte Dana das Kopfbügelmikrofon auch nachts aufbehalten, für den Fall, daß Houston eine dringende Mitteilung für die Besatzung hatte. Und selbst wenn Houston das Geschnatter verringerte, hörte er immer ein statisches Rauschen, das dem Schlaf nicht unbedingt förderlich war.
Doch das spielte keine Rolle.
Meine erste Nacht im All. Die Kabine der Kommandokapsel wurde von einem Summen durchdrungen und glühte in grauem und grünem Licht. Es war angenehm warm. Das war der Traum eines kleinen Jungen vom perfekten Versteck. Das Blatt einer Checkliste trieb in einer Luftströmung über seinen Kopf hinweg; er pustete, und das Blatt blähte sich leicht und driftete davon.
Er blickte zum Fenster. Apollo-N überflog gerade einen Gebirgszug. Die Auffaltungen erweckten den Eindruck, die Erde sei ein Reliefglobus, der sich unter ihm drehte; dichte Wolken drängten sich wie eine turbulente Flüssigkeit an eine Seite der Bergkette.
Er war den Widrigkeiten des irdischen Lebens entrückt: der Routine, des zeitraubenden Trainings, des Medienzirkus’, den er so haßte. Er erinnerte sich an das endlose Warten auf den ersten Flug. All diese Probleme erschienen ihm nun ebenso platt und zwei-dimensional wie die Oberfläche der Erde, und er verspürte ein zärtliches Gefühl für Mary und die Kinder, für seine Eltern und den ganzen Planeten, auf dem er geboren war.
Mein Gott, es ist wahr. Ich wurde geboren, um ins All zu fliegen. Die Technik, die Wissenschaft, die Aussicht, zum Mars zu fliegen - nichts davon zählt mehr im Vergleich zu diesem Augenblick. Ich möchte nie mehr zurück.
Sie überprüften alle Systeme. Die Telemetrie sah gut aus, das Trägheitsnavigationssystem war nachgestellt, und die Subsysteme waren ebenfalls kontrolliert worden. Die Jungs im Kontrollzentrum, die Ingenieure und die Herstellerfirmen mit ihren Meßplätzen sagten, ja, wir wissen, wo der Fehler gelegen hat; und, nein, wir glauben nicht, daß ein weiterer Störfall eintreten wird.
Ich weiß, wie wir das Risiko ausschalten, sagte Donnelly sich. Indem wir gar nicht erst fliegen.
Donnelly erhob sich und drehte sich zu Bert Seger um, der hinter ihm in der Management-Reihe stand.
»Bert, ich empfehle, die Mission fortzusetzen. Sämtliche Parameter haben sich wieder normalisiert.«
Seger, der noch unter der Zeitverschiebung litt, nickte nur.
Es war vier Uhr morgens. Die Entscheidung war gefallen.
Donnelly setzte sich wieder. Er hatte die ganze Zeit die Hände auf die Flugpläne gelegt; als er die Hände nun hob, sah er zwei konturierte, feuchte Abdrücke auf dem Papier.
Montag, 1. Dezember 1980 Moonlab
Adam Bleeker machte als erster von der Moonlab-Besatzung die anfliegende Sojus aus. »He, Phil, Joe. Kommt mal her.«
Stone schwebte zum Panoramafenster der Messe.
Die Silhouette der Sojus T-3 zeichnete sich vor dem hellbraunen Mond ab, der gemächlich vorbeiglitt.
Die zylindrische, mit einer flachen Kuppel gekrönte Gestalt der Sojus glich einer Pfeffermühle. Der zylindrische Körper war die Instrumentenkapsel und enthielt elektrische, Lebenserhaltungs- und Antriebssysteme. Zwei mattschwarze Sonnensegel wuchsen wie Schwingen aus den Flanken der Instrumentenkapsel. Auf einem Ausleger war eine Parabolantenne montiert. Stone erkannte die flache Basis des Raumschiffs; dort war ein toroidaler Brennstofftank angebracht, der von kleinen Triebwerkstrichtern eingefaßt war. Die Kuppel an der Oberseite der Pfeffermühle war die Landekapsel: Unterkünfte für die Kosmonauten und die Kabine, in der sie sich während des Wiedereintritts in die Erdatmosphäre aufhalten würden. Stone wußte, daß die Landekapsel für Missionen im Erdorbit noch mit einem großen eiförmigen Orbitalmodul, einer Arbeits- und Wohneinheit, verbunden gewesen wäre.
Die Hülle des Schiffs glänzte türkisfarben; der irdische Farbton bildete einen Kontrast zu den öden, tristen Farben des Mondes. Drastisch ausgedrückt, glich Sojus in Stones Augen einem Schrotthaufen. Bei den Solarzellen handelte es sich um große schwarze Rechtecke, die schlampig auf die Sonnensegel gepflastert waren. Dicke Kabel verliefen an den Kanten der Sonnensegel entlang; Stone sah faustgroße Lötstellen, wo irgendein besoffener Techniker geschludert hatte.
Das Ding entstammte den primitiven Anfängen des Maschinenbaus. Die anfliegende Sojus mutete Stone wie ein Objekt aus einem Paralleluniversum an.
Die Besatzung zog sich vom Fenster zurück; vor der Ankunft der Sowjets gab es noch einiges zu tun.
Stone schwebte durch das Loch im Gitterrost-Boden empor und erklomm die Stange, die zum Multiplen Kopplungsadapter an der anderen Seite des Wasserstofftanks führte, der auch als Experimentalkammer genutzt wurde. Drei Raumschiffe hingen an den Kopplungsöffnungen. Auf der einen Seite die Apollo, welche die Besatzung von der Erde heraufgebracht hatte und die Tausende von Schulkindern als Grissom kannten. Grissom vermochte im Notfall fünf Personen aufzunehmen; hierfür waren im unteren Nutzlastraum der Kommandokapsel zwei zusätzliche Liegen eingebaut worden. Des weiteren gab es einen Teleskopträger, ein kleines Labormodul mit vier Sonnensegeln und einer Batterie wissenschaftlicher Experimente und Sensoren. Der Träger stammte von der ursprünglichen Wiederaufstiegsstufe einer Mondfähre und war von Grumman-Ingenieuren zweckentfremdet worden; in einer anderen Realität würde diese Wiederaufstiegsstufe die Astronauten von Apollo 16 vom Mond zurück zur ApolloKapsel befördert haben.
Die dritte Komponente, die an der Kopplungsöffnung festgemacht hatte, war ein gedrungener Zylinder mit der Bezeichnung >Sojus-Kopplungsmodul<, eine Schnittstelle zwischen den inkompatiblen Atmosphären und Andocktechniken von Sojus und Apollo. Wiktorenko und Solowjow würden an diesem Modul andocken und es als eine Art Luftschleuse benutzen, um ins Moonlab zu gelangen.
Nun unterzog Stone das Kopplungsmodul einer letzten Überprüfung. Was sonst eine ziemlich langweilige Arbeit war, ödete ihn diesmal nicht so an. Immerhin war das Modul ein neues Stück Technik. Die Leute lebten und arbeiteten nun schon seit fünf Jahren in Moonlab, und sie verstanden ihr Handwerk.
Nach getaner Arbeit driftete Stone wieder in die Messe. Nun mußte er mittels eines Sextanten die Position der Sowjets bestimmen.
Im Verlauf seiner Beobachtungen löste Sojus sich aus dem Mondschatten und zeichnete sich nun vor dem Hintergrund der Sterne ab.
»Moonlab, hier spricht Komarow. Moonlab.«
Muldoon antwortete für Moonlab. »Wir hören Sie, Komarow. Die UKW-Verbindung ist gut.« Wiktorenko in der Sojus-Kapsel hatte Englisch gesprochen, und Muldoon erwiderte in holprigem Russisch.
Nun stellte Muldoon eine Konferenzschaltung zwischen Moonlab, Sojus und den beiden Kontrollzentren in Houston und Kalinin her, wobei er zunächst die Verbindungen testete und den Systemstatus bestätigte.
Sojus drehte sich, so daß die Kapsel nun auf das Moonlab gerichtet war. »Moonlab, Komarow. Wir sind bereit für das Andockmanöver. Ich werde die Boje einschalten.«
Ein Licht blitzte auf der Hülle von Sojus auf. Es war durch das Panoramafenster gut zu sehen.
»Ich sehe Sie, Komarow.«
»Und ich Sie, Joe. Euer elegantes Moonlab ist auch kaum zu übersehen. Wir haben die Raumanzüge an und sind bereit zum Andocken. Wir haben sogar eine Fliege umgebunden, um mit euch gepflegt zu Abend zu essen.«
Houston und Kalinin gaben simultan grünes Licht für das Andockmanöver. Sojus drehte sich langsam um die Längsachse und rollte um sechzig Grad, um sich korrekt am Kopplungsmodul auszurichten. Durch die Sonnensegel wirkte
Sojus beinahe wie ein Vogel, wie eine Metall-Schwalbe, die den Mond umsegelte.
Sojus kam langsam und zögernd rein, wobei die Kapsel immer wieder kleinere Lage- und Bahnkorrekturen ausführte. Einmal entfernte das Schiff sich wieder ein Stück weit vom Moonlab. Die Moonlab-Besatzung und Houston schwiegen; Stone lauschte dem leisen und hektischen, auf russisch geführten Dialog zwischen Komarow und Kalinin.
Komarows Flugeigenschaften waren offenkundig unter aller Sau. Sojus war zwar eine flexible Raumfähre, befand sich indes auf dem technischen Niveau der amerikanischen Gemini. Deshalb hatte sie nichts von der fortschrittlichen Technik und Leistungsfähigkeit der Apollo. Mit der Ausrüstung des Schiffs waren eine präzise Lage- und Bahnregelung sowie eine akkurate Translation ausgeschlossen. Die meisten Operationen der Mission wurden von vorprogrammierten EreignisSequenzern ausgeführt.
Die schlechte Manövrierfähigkeit der Sojus hatte in der Planungsphase des gemeinsamen Flugs zu etlichen Reibungen geführt. Auf amerikanischer Seite hatte man angeregt - und das war durchaus ernst gemeint -, daß Sojus als >passiver< Partner fungieren und daß Apollo das Moonlab wie einen Tender zum Andocken an die Sojus heranführen solle.
Jedenfalls sah es so aus, als ob die Sojus nun zum Endspurt ansetzte. Komarow kam immer näher und füllte schließlich Stones Blickfeld aus. Er hörte Muldoon auf russisch rufen.
»Fünf Meter. drei Meter. einer.«
Ein leises Klirren und das Klacken einschnappender Klampen ertönten.
»Gut gemacht, Wlad«, rief Muldoon. »Gute Vorstellung, towarischtsch. Sie sind gerade mal mit dreißig Zentimetern pro Sekunde ‘reingekommen.«
»Stimmt. Und nun schütteln Apollo und Sojus sich die Hände, hier im Schatten des Monds. Ja?«
Die Kosmonauten krochen in den engen Kopplungstunnel und verriegelten ihn. Dann mußten sie drei Stunden dort ausharren, bis der Druck die Werte von Moonlab erreicht hatte.
Stone drang in den Tunnel im Kern des Kopplungsadapters vor, in der Nähe des Eingangs zum Sojus-Modul. Muldoon und Bleeker erwarteten ihn bereits. Der ohnehin schon enge Tunnel war mit Instrumentenkisten und Sauerstoffflaschen zugestellt. Stone hatte den Auftrag, die kleine Filmkamera zu bedienen und die Bilder vom Händeschütteln zur Erde zu senden.
Sie hörten ein leises Klopfen. Muldoon öffnete die Luke.
Wladimir Wiktorenko kam mit einem strahlenden Grinsen zum Vorschein und schüttelte Muldoon die Hand. »Mein Freund. Ich freue mich sehr, Sie zu sehen.« Mit Elan zwängte er seinen gedrungenen Körper durch die Luke und umarmte Muldoon herzlich. Dann überreichte er ihm ein Päckchen mit Brot und Salz, eine traditionelle russische Begrüßung. Nach dem Kommandanten tauchte Solowjow auf. Nun steckten sie zu fünft im Tunnel des Kopplungsadapters und umarmten sich grinsend, wobei sie ständig in die Kamera schielten.
Dann führte Muldoon sie durch das verwinkelte Moonlab in die Messe. Wie die Etikette es verlangte, äußerten Wiktorenko und Solowjow sich lobend über die Station. Dennoch fand Stone das nett von ihnen.
Die wichtigste Aufgabe jeder neuen Besatzung bestand darin, mit Hilfe der Betriebs- und Versorgungseinheit der Apollo den Orbit des Moonlab zu stabilisieren. Das Schwerefeld des Monds war so schwach, daß ein Objekt im Mondorbit nicht sofort abstürzte. Das würde eine Weile dauern. Und als Stone mit der Grissom die Station zum erstenmal angeflogen hatte, fühlte er sich versucht, den >Dingen ihren Lauf zu lassen.<
Nach fünf Jahren war die äußere Hülle des Moonlab ziemlich ramponiert. Kleine Meteoriten hatten den Schild perforiert. Die Sonnensegel waren ebenfalls von Meteoriten getroffen worden, so daß die Energieversorgung nur noch die Hälfte der maximalen Leistung erreichte. Die Innenbeleuchtung funzelte trübe, und defekte Lüfter waren durch improvisierte Belüftungsrohre ersetzt worden. Stone hatte inzwischen genug von lauwarmen Mahlzeiten, lauwarmem Kaffee und lauwarmem Waschwasser.
Und es sah aus wie in einer Rumpelkammer. Stone wähnte sich eher in einem Schutzbunker als in einem Laboratorium -die Oberflächen waren verschrammt, die Ausrüstung geflickt, die Wände mit Müll verkrustet. Das Moonlab war von Anfang an ein Provisorium gewesen. Ein Ausbau war nicht vorgesehen, und wenn die neuen Besatzungen Experimentalzubehör oder Ersatzteile mitbrachten, hatten sie die Teile einfach an einer noch freien Stelle am Wasserstofftank befestigt und den Kram dann zurückgelassen. Nach fünf Jahren wuchsen die Wände nun nach innen, als ob sie mit metallischen Korallen bewachsen wären. Manchmal waren die benötigten Teile gar nicht mehr aufzufinden, und man mußte über Funk bei den früheren Besatzungen anfragen, wo sie den Krempel gelassen hatten.
Moonlab wurde wohl saubergehalten - das war Vorschrift -, aber als rein konnte man die Station nicht bezeichnen. Kein Wunder, waren hier doch hochqualifizierte Piloten und Wissenschaftler zugange. Sie wollten ihre Zeit natürlich nicht mit profanen Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten vergeuden, sondern ihrer Qualifikation gemäß arbeiten. Nur daß dieser Dünkel zuweilen unerfreuliche Folgen zeitigte.
Wie die schwarzen Schimmelpilze, die sich hemmungslos in der Dusche ausbreiteten.
Die Toilettenbelüftung funktionierte auch nicht mehr richtig. Und wenn man nachts schlafen wollte, rappelte es ständig in der Kiste. Von den Leuten, die für längere Zeit im Moonlab stationiert gewesen waren, hatten manche dem Vernehmen nach einen bleibenden Gehörschaden erlitten.
Es war viel schlimmer als beim erstenmal. Nun rächte sich Bert Segers Entscheidung aus dem Jahr 1973, diese Station aus dem Erdorbit in den Mondorbit zu beordern.
Vielleicht sollte ich doch nicht über diesen großen Traktor, die Sojus, die Nase rümpfen. Wenigstens fühlen die Sowjets sich dort zuhause. Das Moonlab ist auch nicht besser als ein Moskauer Hotel.
Dennoch hatte das Moonlab den Charakter einer Experimental-Station, um die Auswirkungen längerer Aufenthalte im Weltraum zu untersuchen. Das Moonlab war ein Raumschiff des Typs II. Typ I wurde überhaupt nicht repariert, sondern nach Gebrauch wieder zur Erde gebracht, wo das Schiff entweder verschrottet oder, wie Apollo, instandgesetzt wurde. Typ II, wie die Raumstationen, sollten repariert werden, jedoch mit logistischer Unterstützung von der nahen Erde. Typ III, das ferne optimale Ziel, wäre in der Lage, für ein paar Jahre ohne logistische Unterstützung zu überdauern. Eine Mars-Mission würde zwangsläufig mit einem Typ III-Raumschiff durchgeführt werden müssen, eine Entwicklungsstufe über dem Moonlab.
Ohne die Erfahrungen von Moonlab und Skylab in langfristigem Betrieb wäre die Mars-Mission undenkbar.
Sie erreichten die Messe. Der Kunststofftisch war am Gitterrost befestigt, und die Besatzung hatte fünf Sitze bereitgestellt. Sie setzten sich an den Tisch, hakten die Beine unter die Streben der Sitze, und Stone richtete die Kamera so aus, daß sie die ganze Gruppe erfaßte.
Nun wurde die Vorstellung erst richtig eröffnet.
Flaggen wurden ausgetauscht, einschließlich einer UNFlagge, welche die Sojus mitgebracht hatte und die Apollo wieder zur Erde mitnehmen würde. Jede Besatzung hatte halbierte Gedenkmünzen aus Aluminium und Stahl mitgebracht, die Muldoon und Wiktorenko nun gemeinschaftlich zusammenfügten. Dann wurden Schachteln mit Saatgut aus den jeweiligen Ländern ausgetauscht: die Amerikaner überreichten eine hybride Weißfichte, und die Sowjets Schottische Kiefer, Sibirische Lärche und Nordische Tanne.
Nun war es Zeit für das rituelle Mahl. Weil am Tag der Ankunft die Amerikaner Gastgeber waren, wurden den Kosmonauten in den üblichen Plastikbeuteln Kartoffelsuppe, Brot, Erdbeeren und Grillfleisch serviert. Das Essen wurde von gekünsteltem Gelächter und verkrampften launigen Sprüchen begleitet. Morgen waren die Russen an der Reihe und würden den Amis - wie Stone aus eigener Anschauung wußte - Fisch, Fleisch und Kartoffeln aus Dosen, Schmelzkäse, Trockensuppe, püriertes Gemüse und Haferschleim aus Tuben vorsetzen; außerdem würden Nüsse, Schwarzbrot und Dörrobst gereicht werden.
Beim Essen blickte Stone skeptisch in die Kamera, die ihn aus überhöhter Position anglotzte. Wie alle bisherigen Weltraum-PR-Aktionen würde auch diese wieder ein Reinfall werden. Mein Gott, sagte er sich. Hoffentlich guckt niemand zu.
»Natürlich«, hob Wiktorenko nun an, »gilt auch hier das Wort des Philosophen, der da sagt, das Wichtigste bei einem guten Mahl ist nicht, was man ißt, sondern mit wem man speist.« Dann holte er fünf Metallampullen aus einer Tasche seiner Kombination. >Wodka< stand auf den Ampullen. Die
Astronauten leckten sich gierig die Lippen, und nachdem sie die Ampullen dann geknackt hatten, stellten sie fest, daß sie mit Borschtsch gefüllt waren, den sie nun grinsend in die Kamera hielten. Ein russischer Scherz... Zum Totlachen, dachte Stone und rang sich ein Grinsen ab, das kläglich mißglückte.
Nachdem die Reste der Mahlzeit beseitigt waren, endete die Fernsehübertragung. Schließlich mußte die Besatzung sich auch einmal entspannen. Doch Bob Crippen, der an diesem Tag als Capcom Dienst tat, meldete sich aus Houston: »Moonlab, wir haben eine Überraschung für euch. Sprechen Sie, Mister President; Sie sind mit Moonlab verbunden.«
Der vertraute Georgia-Dialekt drang aus dem Lautsprecher: »Guten Abend, meine Herren. Oder sollte ich lieber >Guten Morgen< sagen? Ich melde mich aus dem Oval Office im Weißen Haus. Dies ist wohl das bemerkenswerteste Telefongespräch, Joe, seit John Kennedy mit Ihnen und Neil Armstrong auf dem Mond gesprochen hat. Das ist nun schon elf Jahre her.«
Die Besatzungen saßen am Tisch und blickten mit starrem Lächeln in die Kamera.
Carters Ansprache war mit Banalitäten gespickt und wollte überhaupt kein Ende nehmen. Solowjow und Wiktorenko waren erschüttert. Carter war ja noch dämlicher als Breschnew.
Es wäre nicht so schlimm, sagte Stone sich, wenn wir nicht wüßten, daß Carter bald abtreten wird. Und daß er das Raumfahrtprogramm immer voll unterstützt hat.
Nun widmete Carter sich jedem einzelnen Astronauten und Kosmonauten. »Na, Joe. Ich glaube, das ist Ihr erster Flug seit elf Jahren.«
»Ja, Sir, das ist mein erster Flug seit der Mondlandung. Es ist wundervoll, wieder im Weltraum zu sein.«
»Hätten Sie vielleicht einen Rat für die jungen Leute, die hoffen, bei späteren Weltraum-Missionen mitzufliegen?«
Muldoons Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Stone wußte genau, was er dachte. Klar. Mach dich nicht selbst zum Trottel, indem du der NASA am Zeug flickst. »Nun, Sir, ich würde sagen, der beste Rat, den ich ihnen geben kann, ist der, daß sie sich für ein Ziel entscheiden und es dann mit aller Kraft anstreben sollten.«
Solange Carter nicht fragt, ob er seine Frau vermißt, sagte Stone sich, wird Muldoon Ruhe bewahren; es wußte nämlich jeder in Houston, daß Jill ihn ein paar Monate vor dem Start verlassen hatte. In der Zeitung hatte es aber noch nicht gestanden.
Wiktorenko, der Stone am Tisch gegenübersaß, brachte fünf weitere >Wodka<-Kartuschen zum Vorschein und verteilte sie wortlos. Stone öffnete seine Kartusche und roch daran. Wiktorenko nickte ihm zu und sah ihm dabei ins Gesicht. Ja, diesmal ist es wirklich Wodka. Aber sie werden glauben, es sei Borschtsch. Ein doppelter Scherz! Ha, ha...
Stone leerte die Ampulle in einem Zug und zerquetschte sie in der Faust. Diesmal mißlang ihm sein Grinsen nicht.
Während die banalen Reden und Zeremonien weitergingen, warfen die von niemandem beachteten Mondberge Schatten auf die Tischplatte.
Mittwoch, 3. Dezember 1980
Apollo-N; Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Rolf Donnelly kontrollierte ein letztesmal die Abteilungen. »Habt ihr alles im Griff dort oben, INCO?«
»Positiv, Flug.«
»Was ist mit euch, Kontrolle?«
»Sieht gut aus.«
»Lenkung, alles okay?«
»Systeme klar.«
»FIDO, was ist mit euch?«
»Alles klar. Die Trajektorie ist zwar ein bißchen flach, Flug, aber kein Problem.«
»Booster?«
»Bereit für Zündung, Flug«, sagte Mike Conlig.
»Rog. Capcom, wie geht’s der Besatzung?«
Natalie York tat wieder Dienst als Capcom. »Apollo-N, Houston, seid ihr bereit?«
»Positiv, Houston«, meldete Chuck Jones über die LuftBoden-Schleife.
»Rog«, sagte Donnelly. »An alle Controller: los geht’s! Dreißig Sekunden bis zur Zündung.«
»Apollo-N«, sagte York, »bereit für Zündung.«
Apollo-N driftete über den nächtlichen Pazifik; Ben Priest sah eine Schüssel aus weißem Licht in den Gewässern dort unten -den Widerschein des Mondes -, und die Lichter eines großen Schiffs in dieser milchigen Einöde.
Die Besatzungsmitglieder lagen nebeneinander auf den Liegen. Die Druckanzüge umhüllten sie wie Kokons. Priest bekam Herzklopfen. Wir haben alles getan, um die verdammte Kiste in den Griff zu bekommen; nun müssen wir Vollgas geben und weiterfliegen.
Zehn Sekunden vor der Zündung erschien eine >99< auf der Anzeige. Chuck Jones streckte die Hand aus und drückte auf den Knopf.
Die Zahlen, die auf der Konsole erschienen, sagten Mike Conlig, daß der nukleare Kern von NERVA
Betriebstemperatur erreichte. Flüssigwasserstoff strömte bereits aus dem Tank der S-NB und wurde in die Lamellen des Druckmantels und des Triebwerkstrichters gepumpt. Conlig wußte, daß der Brennstoff jetzt den radioaktiven Kern erreichte, wo er in sonnenheißen Dampf umgewandelt werden würde.
Die Kerntemperatur stieg an und folgte dabei der in den Handbüchern abgebildeten Kurve.
Nein, das stimmte nicht. Der Anstieg erfolgte zu schnell.
Betrübt sah Conlig, wie die Zahlen von den Sollwerten abwichen.
Als NERVA gezündet wurde, erzitterte das Raumschiff.
Priest wurde sanft, aber nachhaltig in den Sitz gedrückt. Perfekt. Genauso wie bei den Simulationen.
»Alles klar«, sagte York. »Wir verfolgen eure Flugbahn. Ihr seid genau auf Kurs.«
Priest hatte den Auftrag, die Druck- und Temperaturwerte der S-NB-Stufe, bestehend aus dem NERVA-Triebwerk und dem Wasserstofftank, im Auge zu behalten. Jones beobachtete die Anzeige für die Lage- und Bahnregelung mit dem künstlichen Horizont. Er war jederzeit bereit, die manuelle Steuerung zu übernehmen, falls die automatischen Systeme ausfielen. Dana las die Geschwindigkeit von der Anzeige ab: »Zehn Kilometer pro Sekunde. elf.«
Mike Conligs Mund war wie ausgedörrt. Über die Schleife vom Nebenraum drang ein Kreischen an sein Ohr.
Seine Welt war im Moment ein grüner Bildschirm mit weißen Ziffern.
Die Computer aktualisierten laufend die Daten, und ihre Bedeutung zu erschließen, war gar nicht so einfach. Er mußte die verschiedenen Datenquellen in der rechten oberen Ecke des Monitors betrachten, um sich zu vergewissern, daß die Quellen die Daten auch korrekt aktualisierten. Wenn er die Daten falschen Quellen zuordnete, bestand die Gefahr, daß er die Lage falsch beurteilte.
Doch darüber war er erhaben. Er wußte genau, was der stetige Datenfluß ihm mitteilte. Der NERVA-Kern war noch immer überhitzt.
Er versuchte den Wasserstoffdurchfluß des Kerns zu verstärken. Das würde einen Teil der überschüssigen Wärme abführen.
Doch der erhoffte Erfolg blieb aus. Statt dessen sagte eine Anzeige ihm, daß der Wasserstoffdurchfluß nun abnahm.
Vielleicht gab es einen Defekt in der Wasserstoffzuleitung. Vielleicht war eine Pumpe ausgefallen. Oder vielleicht handelte es sich um seinen Angstgegner, die Kavitation, die irgendwo in den Brennstoffleitungen aufgetreten war.
Die Kerntemperatur stieg weiter an. Das Kreischen im Ohr verstärkte sich.
Verdammt, verdammt. Er würde die Brennphase abbrechen müssen. Und das bedeutete dann wohl das Ende der Mission; er bezweifelte, daß man ihm nach einem solchen Fehlschlag die nochmalige Zündung des Triebwerks erlauben würde.
Er schickte einen Befehl an die Moderatortrimmung des Triebwerks. Er würde die Reaktion im NERVA-Kern verzögern und dadurch die Temperatur verringern.
Wieder tat sich nichts.
Wenn die Temperatur einen bestimmten Wert überschritt, bestand die Gefahr, daß die Brennelemente sich verzogen, vielleicht sogar schmolzen. Und dann wäre es nicht mehr möglich, die Steuerelemente in den Kern einzuführen. War dieser Fall schon eingetreten?
Wenn ja, war die Situation seiner Kontrolle entglitten. Während Conlig den Anstieg der Werte verfolgte, verspürte er den ersten Anflug von Panik.
Priest erkannte die Vulkankegel von Hawaii, die wie große, rissige Blasen wirkten. Die Erde fiel merklich zurück, als ob er sich in einem Aufzug befände. Der Flug war wirklich ein Erlebnis.
Er fühlte einen Anflug von Überschwang. Die verdammte Atombombe funktioniert!
Es geschah ganz plötzlich.
Conlig beobachtete einen Leistungsanstieg, der durch den überhitzten Kern bedingt wurde. Dann stieg der Widerstand, den der Kern dem Wasserstoffdurchfluß entgegensetzte, steil an. Im ganzen System bildeten sich Blasen. Die Brennstoffpumpen versagten. Auch die Brennstoffzuleitungen drohten unter dem steigenden Druck zu bersten.
Die gesamte Struktur des Kerns kollabierte.
Der Druckanstieg im Reaktor betrug nun über fünfzehn Atmosphären pro Sekunde. Zudem liefen aufgrund der exorbitanten Temperaturen nun chemische und exotherme Reaktionen im Kern ab.
Und nun wirkte der erhöhte Druck im Reaktor auf die Pumpen zurück, so daß deren Überdruckventile platzten. Wo die Pumpen nun ausgefallen waren, kam der Wasserstoffdurchfluß des Kerns gänzlich zum Erliegen.
Die Sicherheitsventile des Reaktors wurden ausgelöst und bliesen Wasserstoff in den Weltraum ab. Das entspannte die Lage zunächst. Doch es war nur von kurzer Dauer; die Ventile hielten dem enormen Druck und Durchsatz nicht stand und barsten.
Und nun wirkte der gewaltige Druck auf die Struktur des Druckmantels selbst ein.
Ich habe ihn verloren. Ich habe den Reaktor verloren. In wenigen Sekunden war sein Lebenswerk zerstört worden. Er wollte reagieren und den Vorfall dem Flugleiter melden. Doch der Mund war wie ausgedörrt, und die Kiefermuskulatur hatte sich verkrampft.
Plötzlich ertönte ein lauter, dumpfer Knall, und die Kommandokapsel bockte wie ein Mustang.
Dana, der auf der mittleren Liege angeschnallt war, spürte, wie das Raumschiff erbebte. Ein dumpfes Rattern und Knarren drang von unten in die Kabine, und das Metall der Kabine stöhnte unter der Belastung. Die Geräusche glichen irgendwie dem niederfrequenten Gesang einer Walherde.
Der Hauptalarm schrillte als piepsendes Stakkato in Danas Kopfhörer.
Er drehte sich zu seinen Kameraden um. Jones starrte auf die Instrumentenkonsole, und Priest machte große Augen. Das war verflucht keine Routine, was auch immer los war.
Jones stellte den Alarm ab.
Das Gefühl des Schubs brach sofort ab. Es war wie ein Zusammenstoß zwischen zwei langsam fahrenden Autos. Dana wurde sachte in die Gurte gedrückt.
»Jim«, sagte Jones. »Das Licht des Hauptalarms ist an. Überprüfen Sie das.«
Dana sah auf seine Konsole. Eine rote Unterspannungslampe glühte. Verdammt. Ich hätte das sofort sehen müssen. Dana war für die Systeme der Kommandokapsel verantwortlich.
»Bestätige«, sagte er. »Wir haben eine HauptalarmUnterspannungsanzeige.« Er wunderte sich, daß er das so gelassen gesagt hatte. Nun überprüfte er die Spannungs- und Stromkreise; sie zeigten erratische, unzusammenhängende Werte.
Plötzlich machte es >ping< und >plopp<. So hörte es sich an, wenn Metall sich durchbog und brach. Das Raumschiff erbebte von neuem. Irgendein verdammtes Teil ist unter uns explodiert.
Die Erde wirbelte an den Fenstern vorbei. Eigentlich hätten die Triebwerke der Betriebs- und Versorgungseinheit feuern müssen, um das Raumschiff zu stabilisieren. Nur daß er die Elektromagneten nicht klacken hörte.
Jones nahm Kontakt zu Houston auf: »Natalie, wir sind ein gerupfter Vogel. Wir haben ein Problem.« Er löste die Gurte und schwebte zum linken Fenster hinauf. Dana wußte, daß er einem alten Piloteninstinkt folgte: in einem solchen Moment mußte man, unabhängig von der Telemetrie, eine Sichtprüfung des Vogels vornehmen, nach Lecks suchen und gegen die Reifen treten. Man mußte sich selbst vom Zustand der Maschine überzeugen.
Dana schaute an Ben Priest vorbei durchs Fenster zur Rechten.
Er sah Funken stieben und irgendwelche Brocken, die an der Kommandokapsel vorbei nach oben flogen. Das Material war rotglühend.
Und nun roch er etwas im Helm. Es erinnerte ihn irgendwie an Hampton: an seine Kindheit, ans Meer.
Ozon!
Donnelly mußte sich den Wortlaut der Meldung gar nicht erst anhören. Er spürte, was los war, sah es an der veränderten
Körpersprache der Controller und hörte es aus den gehobenen Stimmen heraus.
Irgend etwas war schiefgelaufen. Die Ursache war zunächst noch unklar; alles, was Donnelly mitbekam, war eine Flut von Symptomen, die von seinen Controllern festgestellt worden waren.
»Wir haben mehr als nur ein Problem.« Das war EECOM, der die elektrischen Anlagen und Lebenserhaltungssysteme der Apollo-N überwachte. »Ich habe hohe Dichte bei CSM EPS«, rief er. »Hört zu, Leute. Der Druck auf Brennstoffzellen 1 und 2 ist verschwunden.« Das war Controller-Jargon für auf Null gefallen. »Und jetzt verliere ich auch noch den Druck und die Temperatur bei Sauerstoff tank 1.«
Natalie York funkte die Besatzung an. »Hier ist Houston. Wiederholen Sie das bitte.«
».Wir haben ein Problem«, sagte Jones über die LuftBoden-Schleife. »NERVA ist ausgefallen, und wir haben eine Unterspannung in Hauptbus A.«
»Roger. Hauptbus A. Bleiben Sie dran, Apollo-N; wir suchen den Fehler.«
»Wir haben einen Computer-Warmstart. Wir wissen nicht, woran es liegt.«
Ein Warmstart erfolgte dann, wenn ein außergewöhnliches Ereignis den Computer veranlaßt hatte, selbsttätig herunterzufahren und wieder zu starten. Donnelly ließ sich das von einem anderen Controller bestätigen.
Die Besatzung bestätigte die Bus A-Unterspannung.
Die elektrische Energie für die Apollo-N wurde in drei Brennstoffzellen in der Betriebs- und Versorgungseinheit erzeugt. Der Strom floß dann von den Zellen durch die A- und B-Busse - Hauptleitungen, welche die Komponenten des Raumschiffs mit Strom versorgten. Ein Unterspannungs-Alarm bedeutete also, daß die Stromversorgung des Raumschiffs zusammenbrach.
Donnelly wollte sich das Problem von EECOM bestätigen lassen. »Sehen Sie eine Bus-Unterspannung, EECOM?«
». Negativ, Flugleiter.«
EECOM hatte jedoch gezögert.
Er weiß mehr, als er mir sagt. Er will das Problem erst einmal selbst lösen. Was, zum Teufel, ging hier vor? Die Mission schien sich vor seinen Augen zu einer Katastrophe auszuwachsen.
Donnelly wandte sich erneut an EECOM, um weitere Informationen abzufragen. »Die Besatzung meldet noch immer Unterspannung, EECOM.«
»In Ordnung, Flugleiter. Ich habe Probleme mit den Meßwerten. Die will ich erst beheben.«
Probleme mit den Meßwerten. EECOM registriert also die Unterspannung. Aber er traut den Instrumenten nicht. Bei den vielen Abweichungen vermutet er einen Defekt an der Telemetrie. Er will sichergehen, bevor er Meldung macht.
»Ich nehme an«, sagte Donnelly, »daß Sie den Reserve-EECOM eingeschaltet haben, um die Lage zu klären.«
»Er ist schon hier.«
»Roger.«
Nun schaltete INCO, der Instrumenten- und Funk-Controller sich ein. »Flugleiter für INCO. Die Hochleistungsantenne hat auf das obere Seitenband umgeschaltet.«
Was, zum Teufel, hatte das nun wieder zu bedeuten? »INCO, können Sie den Zeitpunkt dieser Veränderung bestätigen?« Falls das möglich war, ergab sich vielleicht ein erster Hinweis darauf, was dort oben vorging.
Bevor INCO zu antworten vermochte, erfolgte eine weitere Meldung. »Flugleiter für Lenkung. Wir registrieren Lage- und Bahnänderungen.«
»Was soll das heißen, Lage- und Bahnänderungen?«
»Die RCS-Ventile scheinen geschlossen zu sein. Sie müßten aber geöffnet sein.«
Probleme mit der Lage- und Bahnregelung. Probleme mit der Antenne. Probleme mit den Sauerstofftanks und den Brennstoffzellen.
Eine solche System-Signatur war ihm in keiner Simulation untergekommen, die er bisher durchlaufen hatte. Allerdings handelte es sich bei Apollo-Saturn trotz zwölfjähriger Flugerprobung noch immer um ein Experimentalsystem. Ein neues Flugzeug wurde viel intensiver als ein Raumschiff getestet, bevor es die Musterzulassung erhielt.
Wo lag also das Problem? Vielleicht lag es daran, daß die Instrumente falsche Werte anzeigten, wie EECOM anscheinend vermutete. Es war aber auch möglich, daß die Betriebs- und Versorgungseinheit explodiert war und die Rakete vom Kurs abgebracht hatte. Oder vielleicht hatte sich woanders eine Explosion ereignet und die Betriebs- und Versorgungseinheit beschädigt.
INCO meldete sich wieder. Die Probleme mit der Antenne waren ein paar Sekunden nach der Zündung der NERVA aufgetreten.
Donnelly schaute wieder auf die Anzeigetafel, auf der die Flugbahn dargestellt wurde. Das Raumschiff wich deutlich von dem Pfad ab, dem es hätte folgen müssen, wenn die NERVA richtig funktionierte.
Es sah so aus, als ob die S-NB ausgefallen wäre.
»Lenkung, bestätigt ihr diese Abweichung?«
»Rog, Flugleiter.« Lenkung war der Boden-Navigator und wurde auch mit mehreren Problemen auf einmal konfrontiert, während das Raumschiff von seiner Trajektorie abwich und die Lageregelung versagte.
»Booster, wie sieht’s bei euch aus?«
Mike Conlig antwortete nicht. Donnelly sah, daß er zusammengesunken an der Konsole saß. »Booster?«
»Die Besatzung meldet Ozongeruch in den Helmen«, sagte York.
»Flugleiter, hier ist der Arzt. Eine Kontraindikation ist eingetreten.« Der aus Oklahoma stammende Flugarzt mit einem Bürstenhaarschnitt saß bei den System-Jungs in der Reihe vor Donnelly, links von Natalie York. Er trug einen Button mit der Aufschrift FUCK IRAN. Seine Stimme war angespannt.
Donnelly schaltete ihn auf eine geschlossene Schleife. »Reden Sie, Doktor.«
»Flugleiter, ich registriere einen starken radioaktiven Fluß in der Kabine des Raumschiffs. Und Veränderungen bei den Vitalfunktionen der Besatzung.«
Donnelly erinnerte sich an Yorks Meldung. Sie riechen Ozon. Sauerstoff, der durch Strahlung ionisiert wurde. Strahlung von der NERVA. Allmächtiger Gott.
Dann war es also Realität. Die Instrumente funktionierten doch. Und die Russen haben dieses Jahr einen gottverdammten Vietnamesen mit einer Saljut in den Orbit geschickt. Die Presse wird uns ans Kreuz schlagen.
Wegen der zwei simultan ablaufenden Missionen war Bert Seger für drei Tage nicht im Büro gewesen und nutzte nun die Gelegenheit, die Post durchzugehen. Nach ein paar Minuten klingelte die >Quasselstrippe<, die Leitung, über die er mit dem Führungspersonal in Gebäude 2 verbunden war.
Es war irgendein Problem beim Apollo-N-Flug aufgetreten, und Seger sollte lieber zum MOCR kommen.
Verärgert legte Seger die Post weg. Mit der NERVA war doch ständig etwas anderes los.
Die Nadel des Voltmeters für Bus A sackte auf den Grund der Skala. Weitere Warnlampen leuchteten auf.
Dana überprüfte Brennstoffzelle 1 der Betriebs- und Versorgungseinheit, die Bus A mit Strom hätte versorgen sollen. Sie war tot. Nun schaltete Dana die Systeme der Kommandokapsel von Bus A auf Bus B, was mit den behandschuhten Fingern eine diffizile Arbeit war.
Nun leuchtete noch ein rotes Licht auf. Spannungsabfall auch an Bus B. Er überprüfte Brennstoffzelle 3, von der Bus B versorgt wurde; sie war ebenfalls tot.
Mein Gott. Wir haben die Betriebs- und Versorgungseinheit verloren. Das ist eine Neuauflage von Apollo 13.
Er zwang sich zur Ruhe und machte Meldung. Mary würde sicher zuhören, wahrscheinlich auch die Kinder. »In Ordnung, Houston, ich habe einen Warmstart versucht, und die Brennstoffzellen 1 und 3 zeigen beide graue Marken. Ich habe eine Verstopfung im Fluß.«
»Verstanden, Apollo-N. EECOM hat bestätigt.«
Die Erde zog in ihrer ganzen Schönheit an den Fenstern vorbei. Sie ahnte nichts von dem Drama, das sich im All anbahnte.
Das Raumschiff und das Zusatztriebwerk waren durch diesen rätselhaften Knall in Rotation versetzt worden. Dana wußte, daß die Lage- und Bahnregelungssysteme des Schiffs dem langsamen Taumeln hätten entgegenwirken müssen, doch von einer Korrektur war nichts zu spüren.
»Chuck, ich glaube, die Lage- und Bahnregelung der Betriebs- und Versorgungseinheit ist ausgefallen.«
»Rog«, sagte Jones. »Houston, die Reaktionssteuerung ist ausgefallen - bei der Betriebs- und Versorgungseinheit und bei der S-NB.«
Wenn die Betriebs- und Versorgungseinheit wirklich explodiert war, dann bedeutete dies das Ende der Mission.
Dennoch mußte die Besatzung in der Lage sein, aus diesem niedrigen Orbit zur Erde zurückzukehren.
Eine expandierende Wolke aus glitzernden Eiskristallen driftete am Fenster zu seiner Rechten vorbei. Irgendwo in der Mehrstufenrakete mußte ein Leck sein. Es war ein schönes Bild, wie die Wolke über dem leuchtenden Antlitz der Erde stand.
Weitere Alarmlampen leuchteten auf, während die Probleme sich multiplizierten und immer mehr Komponenten ausfielen.
Donnelly sagte dem Arzt, er solle ihm die Meßwerte des Strahlungsdosimeters über die geschlossene Schleife mitteilen.
EECOM meldete sich: »Flugleiter, ich möchte Bus A und Bus B an die Batterie anschließen, bis wir die Ursache für die Anomalien gefunden haben. Wir bestätigen Unterspannung.«
Donnelly versuchte, die Stimme des Arztes zu ignorieren und sich auf den Vorschlag von EECOM zu konzentrieren.
EECOM wollte die Kommandokapsel mit Batteriestrom betreiben. Kurzfristig wäre das wohl eine Lösung. Doch mittelfristig mußten die Batterien der Kommandokapsel geschont werden, um der Besatzung den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zu ermöglichen. »Wie wäre es, nur einen Bus an die Batterie zu hängen anstatt beide?«
»Bleiben Sie dran, Flugleiter.« EECOM würde sich nun mit seinen Experten in den Nebenräumen beraten.
Aus einer Vielzahl von Indikatoren, nicht zuletzt des Berichts der Besatzung, ging hervor, daß die NERVA sich ein paar Sekunden nach der planmäßigen Zündung abgeschaltet hatte. »Booster, haben Sie irgendwelche Informationen für mich?«
Conlig antwortete noch immer nicht. Der Kerl wirkte wie erstarrt.
»Die Besatzung wird schwere gesundheitliche Schäden erleiden«, sagte der Arzt über die geschlossene Schleife. »Obwohl sie es vielleicht noch gar nicht weiß. Flugleiter, in wenigen Minuten werden die ersten Ausfallerscheinungen eintreten.«
Die Lenkung meldete sich. »Die Lage des Vogels ist noch immer instabil. Sie müssen ihn stabilisieren. Sonst droht Kardansperre.«
»Ich habe verstanden, Lenkung.«
>Kardansperre< hieß, das Taumeln war so heftig, daß das Trägheitsrichtgerät versagte. Die Plattform konnte man visuell nachstellen. Doch falls Donnelly zu einem Not-Wiedereintritt gezwungen wurde, mußte das Schiff sofort neu ausgerichtet werden.
Dennoch hatte er das unbestimmte Gefühl, daß eine falsche Ausrichtung, selbst eine Kardansperre noch die geringsten Probleme waren, die das Raumschiff im Moment hatte.
»Houston für Apollo-N.« Das war Jim Dana; für Natalie klang Jims Stimme schwach, aber beherrscht. »Wir sehen eine Art Gas, das aus dem Bündel ausströmt.«
York bekam eine Gänsehaut.
»Rog, Apollo-N«, sagte sie. »Wissen Sie, ob es aus dem Tank der S-NB oder der Betriebs- und Versorgungseinheit ausströmt?«
»Wir wissen es nicht. Möglicherweise aus beiden.«
Sie hatte den angespannten Dialog der Controller verfolgt. Die Controller vermuteten noch immer, daß die Häufung der Anomalien auf einen Defekt der Instrumente oder der Telemetrie zurückzuführen war.
Doch wenn Gas aus dem Schiff ausströmte, war das sicher nicht die Ursache. Das Problem konnte nicht von defekten
Meßgeräten oder einem Fehler in der Elektronik verursacht worden sein. Zumal sie sah, daß der Arzt neben ihr auf eine geschlossene Schleife geschaltet hatte.
Etwas Schlimmes war Apollo-N widerfahren - ein Ereignis mit zerstörerischer Wucht hatte ein Raumschiff mit einer Atombombe im Schlepptau heimgesucht, das sich dort oben im Erdorbit befand.
Sie schaute zu Mike hinüber. Er war noch immer über die Konsole gebeugt und flüsterte ins Mikrofon. Wieso spricht er nicht mit dem Flugleiter?
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie mit der rechten Hand den Metallrahmen umklammerte, an dem die Konsole für Reparaturarbeiten ausgezogen wurde.
Ihre Kehle war wie ausgedörrt, und sie mußte schlucken, bevor sie wieder etwas zu sagen imstande war.
Ben ist dort oben. Was, zum Teufel, geht dort vor?
Im Leitstand erkannte Gregory Dana, daß das stilisierte Raumschiff auf der Anzeigetafel von der programmierten Trajektorie abwich, und er bekam auch so viel von den Unterredungen der Controller mit, um zu erkennen, daß Jims Schiff etwas Schlimmes zugestoßen war.
Der Leitstand füllte sich - ebenso wie das MOCR->Amphitheater< - mit Personal von den Freischichten, was die Krisenstimmung nur noch verstärkte.
Ralph Gershon vom Astronauten-Korps gesellte sich zu Dana. Dana hatte ihn durch Jim kennengelernt.
Gershon warf einen Blick auf das Tohuwabohu im MOCR und stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Mein Gott. Sehen Sie sich dieses Chaos an. Es ist immer wieder das gleiche. Was ist geschehen? Wo sind wir? Was sollen wir tun? Dieses verdammte Scheuklappendenken. Und inzwischen treibt der Vogel mit gebrochenen Flügeln am Himmel.«
Gebrochene Flügel.
Sie mußten Schwierigkeiten mit dem Nukleartriebwerk haben. Daraus resultierten dann alle anderen Probleme.
Sie müssen die Besatzung von diesem verdammten Triebwerk wegschaffen. Dana begriff nicht, weshalb das nicht längst schon geschehen war.
Er schaute sich um und fragte sich, ob diese Szenen im Fernsehen übertragen wurden. Was, wenn Mary, Jake und Maria das sahen? Was, wenn Sylvia das sah?
Gregory sprach ein stummes Gebet.
Die NERVA ist explodiert. Das muß die Ursache sein.
Jim Dana lag auf der Liege. Er glaubte förmlich zu spüren, wie die radioaktiven Teilchen in den Körper eindrangen. Es war, als ob eine leichte Brise in den Knochen wehte. Gesicht und Oberkörper schienen in Flammen zu stehen. Er fühlte ein Brennen und Ziehen in den Schläfen, und die Augenlider schmerzten, als ob sie mit Säure benetzt worden wären.
Bei jedem Atemzug mußte sich die Lunge mit Radionukleiden füllen.
Der Hals schmerzte, und er hustete.
Mittwoch, 3. Dezember 1980 International Club, Washington
Die >Führungsriege< hatte sich zum Dinner im International Club in der 19. Straße eingefunden. Der designierte Vizepräsident Bush war anwesend, des weiteren Senatoren und Abgeordnete, die Schlüsselpositionen im Raumfahrt- und
Haushaltsausschuß innehatten. Die Gäste standen mit Drinks in der Hand im Foyer.
Unter der Oberfläche aus Konversation und Kontaktpflege ließ Fred Michaels die Ereignisse des Tages Revue passieren.
Michaels hatte das Konzept der >Führungsriege< von seinen Vorgängern bei der NASA übernommen. Die Gruppe setzte sich aus den Führungsspitzen des Raumfahrtprogramms zusammen: Michaels und seine leitenden Angestellten sowie hohe Tiere von Rockwell, Grumman, Boeing, McDonnell-Douglas und IBM. Es war ein elitärer Club, den Michaels vier-bis fünfmal im Jahr zusammentrommelte.
Heute war ein guter Tag gewesen, befand er. Die Konferenz der >Führungsriege< war erfolgreich verlaufen, und Bushs Abschlußrede hatte Anlaß zur Hoffnung gegeben. Michaels hatte schon befürchtet, die Unterstützung des aus der aktiven Politik ausscheidenden Ted Kennedy zu verlieren; er und sein Bruder waren indes noch immer Befürworter des Raumfahrtprogramms. Und Bush schien sich heute, wenn schon nicht als Befürworter, so zumindest als Bundesgenosse zu geben.
Ja, ein guter Tag. Michaels war dennoch angespannt und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Es war ihm einfach nicht möglich, sich mitten in einer Mission zu entspannen. Er wußte, daß es Hunderttausende von möglichen Defekten gab, von denen jeder einzelne vielleicht das Ende des Fluges bedeutete, die Besatzung womöglich das Leben kostete und vermutlich der Mars-Initiative den Todesstoß versetzt hätte - und nicht zuletzt auch seiner Karriere. Wie, zum Teufel, sollte man sich da entspannen? Zumal sich nicht nur eine, sondern gleich zwei amerikanische Besatzungen im Weltall befanden, von denen die eine mit einer Atombombe im Schlepptau die Erde umkreiste und die andere mit diesen Russen den Mond umkreiste. Was für eine Situation.
Immerhin schien die S-NB noch so gut zu funktionieren, daß Hans Udet - der ranghöchste Deutsche in Marshall, der am Projekt beteiligt war -, sich in der Lage gesehen hatte, der Runde heute abend beizuwohnen. Und nun sah Michaels ihn auch, wie er eine Gruppe Kongreßabgeordneter mit dem ganzen preußischen Charisma und Charme begrüßte, dessen er fähig war. Udet wirkt doch ganz zuversichtlich. Wieso, zum Teufel, sollte ich mir dann Sorgen machen?
Und dann stand das Telefon nicht mehr still. Im Rückblick vermochte Michaels nicht mehr zu sagen, für wen der erste Anruf bestimmt war.
Er sah den Vorstandsvorsitzenden von Rockwell in ein Gespräch mit einem anderen Mann vertieft. Dann verließen die Manager von Rockwell geschlossen den Raum. Als sie nach ein paar Minuten zurückkamen, waren sie sichtlich gestreßt. Sie streiften durch den Raum und hielten Ausschau nach bestimmten Personen; Michaels sah, daß die Nachricht - wie auch immer sie lautete - die gesamte >Führungsriege< in eine gedrückte Stimmung versetzte.
Michaels’ Pager meldete einen Anruf von Tim Josephson, der sich noch immer im ein paar Blocks entfernten NASA-Hauptquartier aufhielt.
»Fred, die Besatzung hat die NERVA verloren. Die technischen Parameter haben den Grenzwert überschritten. Äh. es sieht so aus, als sei das Ding explodiert.«
»Mein Gott. Und die Besatzung?« fragte Michaels schroff. »Was ist mit der verdammten Besatzung, Josephson?«
»Das läßt sich von hier aus schwer sagen, Fred«, sagte Josephson mit ruhiger und analytischer Stimme. »Die Daten ergeben kein klares Bild. Ich würde sagen, wir müssen mit dem Verlust der Besatzung rechnen.«
Ein Kellner hatte noch einen Anruf für Michaels.
Diesmal war es Bert Seger aus Houston. Mit hoher Stimme und in abgehackten Sätzen teilte Seger ihm weitere Einzelheiten mit: der Reaktor der NERVA war durchgegangen, die Betriebs- und Versorgungseinheit war schwer beschädigt, das Ausmaß der Schäden an der Kommandokapsel stand noch nicht fest.
Michaels unterbrach ihn. Kein amerikanischer Astronaut war bisher im Weltraum umgekommen. Kein NASA-Direktor hatte bisher eine Besatzung verloren. »Holen Sie sie nach Hause, Bert.«
Michaels spürte, wie jemand ihn am Arm packte. Es war Udet; der hochgewachsene Deutsche lächelte, und sein Gesicht war durch den Alkohol schon mit einer leichten Röte überzogen. Udet wollte Michaels einem Senator vorstellen.
Michaels nahm Udet auf die Seite und erzählte ihm die Neuigkeiten.
Udets Lächeln verflog. Er schien sich in sich selbst zurückzuziehen; er hielt sich kerzengerade, und das Gesicht war maskenhaft starr. Mit präzisen Bewegungen stellte er das Glas auf einem Tablett ab.
»Was ist zu tun?«
»Hans, ich möchte, daß Sie im Weißen Haus anrufen und dem Präsidenten mitteilen, was geschehen ist. Sagen Sie ihm, ich würde mich umgehend mit ihm in Verbindung setzen. Und dann möchte ich, daß Sie flugs nach Marshall zurückkehren.«
Der Deutsche nickte. Michaels sah ihm nach, als er steif den Raum verließ.
Er erinnerte sich, daß Segers Telefonstimme entfernt und schrill geklungen hatte, als ob sie zu kippen drohte. Michaels verspürte einen Anflug von Besorgnis. Der Mann steht unter unglaublichem Druck. Natürlich hört er sich komisch an. Hauptsache, er hält durch, bis er den Vogel runtergeholt hat.
Um Segers geistige Verfassung konnte Michaels sich immer noch kümmern.
Mein Gott. Ich werde ein paar verdammt gute Karten brauchen, um dieses Spiel zu gewinnen.
Michaels widmete sich wieder seinen Gästen in der Empfangshalle. Offensichtlich hatte die Nachricht sich schon herumgesprochen. Teufel, sie müssen mir nur ins Gesicht sehen. Ein Mann weinte sogar.
Im Speisesaal deckten die Kellner den Tisch; niemand nahm von ihnen Notiz.
Michaels fand Bush und sprach kurz mit ihm. Dann bat er um Ruhe und verkündete die Neuigkeit offiziell.
Dann löste die >Riege< sich schnell auf. Die Vertreter der Firmen, deren Technik von der Havarie betroffen war, nahmen die nächste Maschine nach Houston.
Michaels entschuldigte sich bei Bush, verließ den Club und wies seinen Fahrer an, ihn zum NASA-Hauptquartier zu bringen.
Mittwoch, 3. Dezember 1980
Apollo-N; Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Im Astronauten-Büro herrschte in dieser Nacht Ruhe. Ralph Gershon war als einziger anwesend. Als MEM-Spezialist war er nicht unmittelbar an den aktuellen Missionen beteiligt. Die meisten Piloten arbeiteten entweder für die Flugführung in den Simulatoren oder waren zur Raumfahrt-Industrie abgestellt.
Doch Gershon waren die Probleme mit der NERVA zu Ohren gekommen. Er war ins MOCR hinübergegangen, doch hatte es dort nichts für ihn zu tun gegeben. Er stand den Leuten nur im Weg und machte sie nervös. Also hinterließ er für den Notfall seinen Aufenthaltsort und sichtete im Büro die Post.
Das Telefon klingelte. Er nahm beim ersten Läuten ab.
»Ralph? Ich bin froh, daß ich Sie erreiche.«
»Natalie? Sind Sie noch immer im Dienst?«
»Ja. Rolf Donnelly hat mich gebeten, Sie anzurufen. Ich.«
»Ja?«
»Wir befürchten, daß wir die Besatzung verlieren.«
Gershon hörte Stimmen im Hintergrund des MOCR, angespannt und schrill.
York wandte sich mit der Bitte an Gershon, dafür zu sorgen, daß Astronauten und ihre Frauen die Familien der verunglückten Besatzungsmitglieder besuchten.
Gershon erklärte sich sofort dazu bereit und legte auf.
Es war eine Tradition, die bis zu Mercury zurückreichte: schlechte Nachrichten wurden von einem Astronauten oder seiner Frau überbracht - von jemandem also, der selbst den Risiken und dem Druck ausgesetzt und deshalb in der Lage war, den Angehörigen mit dem erforderlichen Feingefühl zu begegnen.
Gershon holte das Telefonbuch hervor. Er würde mit den Leuten anfangen, die in der Nähe der betroffenen Familien lebten.
Das war einer der härtesten Aufträge, die er in seinem ganzen Leben ausgeführt hatte.
Er wählte die erste Nummer.
Gasaustritt.
Donnelly begriff die Weiterungen dieser Beobachtung so gut wie jeder andere.
»In Ordnung, Indigo Team«, sagte er über die Schleife, »ihr müßt die Ruhe bewahren. Wir halten uns an die Missionsregeln und erinnern uns an die Prioritäten.
Fangen wir noch einmal ganz von vorn an. EECOM sagt mir, daß die Büchse noch dicht sei.« Sprich ein hermetisch abgedichtetes Schiff, in dem die Besatzung zu überleben vermochte. »Mit Situationen wie diesen sind wir in den Simulationen schon oft konfrontiert worden« - aber noch nie in der Realität, verdammt -, »und Sie wissen, daß eine unbeschädigte Hülle das Allerwichtigste ist. Solange sie hält, bleibt uns genug Zeit zum Überlegen. Wir müssen dieses Problem lösen, aber wir dürfen die Dinge nicht durch Spekulationen komplizieren. Los geht’s!«
Die Ansprache schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen; die Atmosphäre im MOCR schien sich etwas zu entspannen, und die Gestalten in den weißen Hemden schienen sich etwas zu entkrampfen. Donnelly nickte zufrieden; vielleicht hatte er die Blase der Panik, die sich aufgebläht hatte, zerstochen.
Donnelly wußte, daß er systematisch vorgehen mußte. Er würde das tun, was im Fachjargon als >down-mode< bezeichnet wurde und aus einer gegebenen Anzahl von Optionen die geeigneten herausfiltern. Er mußte so viele Missionsziele wie möglich verwirklichen und gleichzeitig darauf achten, daß er das Leben der Astronauten nicht gefährdete. Wenn man schon nicht auf dem Mond landen kann, sollte man wenigstens versuchen, ihn zu umkreisen. Und er wollte sich nicht ohne Not seiner Optionen begeben, weil er nicht wußte, was sonst noch alles auf ihn zukommen würde. Er mußte sich einen Handlungsspielraum bewahren. Es war zum Beispiel denkbar, daß er das S-NB-Triebwerk noch für den Wiedereintritt brauchte, falls sich herausstellte, daß die Betriebs- und Versorgungseinheit der Kern des Problems war.
Paß auf, wo du hingehst, damit du nicht in Scheiße tappst. So lautete das Motto. Das Problem war nur, daß Donnelly fast keine Optionen mehr hatte.
Im Hintergrund hörte er Natalie York mit der Besatzung sprechen: »Apollo-N, wir arbeiten daran. Wir werden euch da raushelfen, sobald wir etwas haben, und ihr werdet die ersten sein, die es erfahren.«
Braves Mädchen.
»Danke, Houston«, erwiderte Chuck Jones. Jones’ Stimme klang trocken und schwach in der Luft-Boden-Schleife.
Als Reaktion auf den Klang von Jones’ Stimme herrschte im MOCR für kurze Zeit betretenes Schweigen, trotz der bernsteinfarbenen Lichter vor Donnelly.
Er überflog das MOCR. Jeder Controller starrte auf seinen Bildschirm und vergrub sich immer tiefer in die Probleme, die in seinem Aufgabenbereich auftraten. Als ob diese Probleme losgelöst von den anderen zu betrachten wären.
Plötzlich hatte Donnelly nagende Zweifel. Mache ich das überhaupt richtig? Die Controller kapselten sich von den Kollegen und vom realen Raumschiff dort oben ab; ein paar von ihnen redeten sich wahrscheinlich noch immer ein, daß nichts Schlimmeres passiert sei als ein Triebwerksausfall und ein paar Instrumenten-Mißweisungen.
Wir wissen aber, daß das nicht stimmt. Die Besatzung hat einen Knall gehört. Und sie sehen ausströmendes Gas.
Er mußte zu den Controllern sprechen und sie anhalten, im Team zu arbeiten.
»In Ordnung«, sagte er, »ich möchte jeden in der Schleife haben. Retro, Lenkung, Steuerung, Booster, GNC, EECOM, INCO, FAO. Gebt mir ein Licht, bitte.«
Ein bernsteinfarbenes Licht auf der Konsole des Flugleiters bedeutete >Sprechen und Hören<; damit bat der Controller um Aufmerksamkeit. Nach und nach wechselten die Lichter von grün (>Hören<) auf bernsteinfarben.
Außer dem Booster.
»Gottverdammt«, fluchte Donnelly. »Booster, Flug. Geben Sie mir bitte bernstein.«
»Verstanden«, sagte Mike Conlig hastig. Die letzte Lampe wechselte auf bernsteinfarben.
»In Ordnung, Leute, sagt mir, wo wir stehen. Was ist der dringendste Punkt? Wer fängt an?«
»Flug, Lenkung. Die Lage- und Bahnabweichung.«
»Rog. Capcom, bitte informieren Sie die Besatzung, daß sie sich aus einer drohenden Kardansperre herausmanövrieren müssen.«
»Verstanden«, sagte York.
Nun kam Bert Seger in staksendem Gang aus der Management-Reihe. Jede Geste des hageren Mannes zeugte von Nervosität. An Donnellys Ellbogen blieb er stehen. Er stöpselte sich in eine Konsole ein und hörte die Schleifen der Controller ab.
»Flug.« Das war EECOM. »Ich glaube, im Moment wäre es das Beste, alle Systeme herunterzufahren. Wir sollten uns die Telemetrie ansehen und versuchen, die Systeme dann wieder hochzufahren.«
Das klang verdammt optimistisch für Donnelly. »Bleiben Sie dran, EECOM.« Er wollte die Systeme der Kommandokapsel nicht herunterfahren, um sich die Option offenzuhalten, die Besatzung schnell runterzubringen. »Gut, wer kommt als nächster?«
Dieses Arschloch vom Booster, Mike Conlig, sprach noch immer nicht mit ihm.
»Es ist die NERVA«, sprach Seger ihm ins Ohr.
»Ja. Ich.«
»Diese abgefuckte Atombombe ist geplatzt. Und es sieht so aus, als ob sie die Betriebs- und Versorgungseinheit auch zerstört hätte. Das fällt sogar mir auf. Rolf, Sie sind zu langsam. Sie müssen sie von diesem Ding wegbringen und nach Hause holen.«
»Aber.«
»Tun Sie es, Rolf, oder ich werde das Kommando übernehmen!«
Donnelly schloß für eine Sekunde die Augen. Mein Gott. Da geht meine Karriere den Bach runter.
»Kommunikation, bitte übermitteln Sie der Besatzung neue Instruktionen.«
Apollo-N nickte und gierte. Metall stöhnte, und Priest spürte, wie sein Magen sich verkrampfte.
»Wir müssen die NERVA abstoßen«, sagte Chuck Jones mit raspelnder Stimme. »Die Strahlung bringt uns sonst noch um. Tun Sie es, Jim.«
Dana reagierte nicht.
Priest schaute nach links.
Jim Dana lag auf der mittleren Liege. Er schien das Bewußtsein verloren zu haben. Sein Gesicht unter dem Helm war mit Blasen bedeckt; an manchen Stellen hatten sich Streifen von Fleisch abgelöst und hingen in der Luft. Er schien sich übergeben zu haben; Kügelchen einer hellbraunen Flüssigkeit hingen an der Innenseite des Helmvisiers.
Priest streckte die Hand nach Danas Station aus. Die Trennung der Apollo-N vom S-NB-Zusatztriebwerk war ein Routinemanöver, das jeder von ihnen durchzuführen in der Lage war. Doch Priests Gehirn war wie in Watte gepackt, und er hatte Schwierigkeiten, die Konsole vor sich zu erkennen. Außerdem spürte er mit dem Handschuh des Druckanzugs die Schalter nicht. Er fummelte am Handschuh herum, doch die Hand schien geschwollen zu sein, und der Handschuh saß ziemlich fest. Schließlich hatte er den Handschuh abgestreift und ließ ihn davonschweben.
Verwundert betrachtete er die Hand. Die Haut wies einen dunklen Braunton auf. Nukleare Bräune. Was sagt man dazu.
Er legte ein paar Schalter um.
Ein paarmal ertönte ein lauter Knall, und die Kapsel wurde durchgeschüttelt.
»Houston, die Trennung ist erfolgt«, sagte Jones.
Die Erde glitt nun schneller an den Fenstern vorbei, während die befreite Apollo-N sich von der S-NB entfernte. Nach der Trennung schien das Taumeln schwächer zu werden; Priest vermutete, daß das Nicken hauptsächlich durch das aus der S-NB ausströmende Gas verursacht worden war.
Jones betätigte die Hebel, welche die Steuertriebwerke der Betriebs- und Versorgungseinheit hätten aktivieren sollen. Er versuchte, das Taumeln aufzuzehren und das Schiff zu stabilisieren. »Mist«, sagte er. »Noch immer nichts, Houston; die Lage- und Bahnregelung funktioniert nicht.«
»Verstanden, Apollo-N«, sagte Natalie York. »Wir arbeiten daran. Vermeiden Sie Kardansperre.«
Priest sah, daß die rote Warnfläche ins Sichtfenster des künstlichen Horizonts wanderte - eine Kardansperre stand unmittelbar bevor.
»Scheiße«, knurrte Jones, »ich wüßte nicht, wie ich das verhindern sollte, Natalie.«
Nun geriet durch das Taumeln das Nukleartriebwerk in Priests Blickfeld. Der schlanke, schwarzweiße Zylinder wirkte geradezu ästhetisch, wie er sich von ihm entfernte. Er hob sich gegen die leuchtende Erdoberfläche ab und glänzte im Sonnenlicht. Aber er sah auch, daß an der Basis des Wasserstofftanks durch die Wucht der Explosion eine Platte aus dem Druckmantel des Reaktorkerns gesprengt worden war. Priest sah die im Innern des Mantels verlegten Röhren und die
Mylar-Isolierung. Und der Wasserstofftank selbst war aufgerissen worden; noch immer entwichen dünne Gasschwaden aus dem Behälter.
Priest fragte sich flüchtig, ob er eine Kamera auf den Booster richten solle.
Jones beschrieb Houston die S-NB. »Von dem verdammten Ding fehlt eine ganze Seite. Ich sehe Kabel herumhängen, und die Basis des Wasserstofftanks ist zerfetzt. Es sieht wirklich schlimm aus.«
Während die S-NB weiterrollte, sah Priest durch die Basis des aufgerissenen Tanks bis hinauf zum NERVA-Reaktor selbst. Dort indes sah er einen weißglühenden Lichtpunkt. Das ist der gottverdammte Kern. Der Reaktor ist geplatzt und hat den Kern freigelegt. Von dem biologischen Schild war nichts zu sehen. Er mußte weggesprengt worden sein. Vielleicht waren das die rotglühenden Bruchstücke gewesen, die er an den Fenstern der Kommandokapsel hatte vorbeifliegen sehen.
Als er den Schrotthaufen betrachtete, spürte er Wärme im Gesicht: Hitze, die vom Kern ausstrahlte, als wäre er eine winzige, eingefangene Sonne.
Er warf einen Blick auf die Anzeige des Dosimeters. Der Kern strahlte mit dreißigtausend Röntgen pro Stunde, und diese Strahlung durchdrang das Schiff mit einem unsichtbaren Hagel aus Gamma- und Neutronenstrahlen.
Dreißigtausend! Dieser Wert war schier unvorstellbar. Die Obergrenze lag gemäß den Missionsbestimmungen bei einem Tausendstel Röntgen pro Tag.
»Wir genießen wohl eine Art von Privileg«, sagte Priest. »Noch nie in der Menschheitsgeschichte war jemand aus so geringer Distanz einer so intensiven Strahlungsquelle ausgesetzt. Selbst die Opfer von Hiroshima kamen hauptsächlich durch die Hitze und Druckwelle ums Leben und weniger durch die Strahlung selbst.«
Jones stieß ein keckerndes Lachen aus und schloß die Augen. »Wieder eine Premiere im Raumfahrtprogramm. Ich danke dir, Gott.«
Mittwoch, 3. Dezember 1980 Timber Cove, El Lago, Houston
Gregory Dana mußte sich regelrecht aus dem JSC freikämpfen. Dutzende von Reportern drängten sich am Tor und wollten bei den Lagebesprechungen der NASA anwesend sein. Der Parkplatz vor Gebäude 2, dem Büro für Öffentlichkeitsarbeit, war belegt.
Es war schon stockfinster, als Dana endlich das Ranchhaus in der Lazywood Lane erreichte.
Jim und Mary wohnten in einer schönen Gegend. Timber Cove war eine Siedlung, die in den Sechzigern ein paar Kilometer vom JSC entfernt angelegt worden war. Die properen Straßen waren mit individuell gestalteten Ranchhäusern gesäumt, die in den grünen Gärten wie Holzspielzeug wirkten. Das üppig sprießende Gras war mit Rauhreif überzogen, und die Kiefern auf den Rasenflächen hoben sich dunkelgrün, fast schwarz gegen die Straßenbeleuchtung ab.
In der Gegend lebten fast nur NASA-Angehörige und deren Familien. Früher hatte Jim immer damit angegeben, daß kein Geringerer als Jim Lovell mit seiner Familie im Haus neben ihm gewohnt habe. Hier hatte Dana in glücklicheren Tagen mit Jake Baseball gespielt, Papierflieger für Klein Mary gefaltet und mit seinem Sohn die politischen und technischen Aspekte der Raumfahrt erörtert.
Dana blieb noch für ein paar Minuten im Wagen sitzen. Mit einemmal fühlte er sich völlig kraftlos. Dann kurbelte er die Scheibe runter, und eine kühle Brise umfächelte sein Gesicht.
Er hörte den Regen auf das Dach prasseln und das Klirren der Kette, mit der Jim sein Boot gesichert hatte.
Er nahm die Brille ab und putzte sie mit seiner zerknitterten Krawatte.
Noch heute abend würde Gregory nach Virginia zu Sylvia fliegen müssen und sie hierher bringen. Er hatte schon ein paarmal mit ihr telefoniert - im Kontrollzentrum hatte man ihm eine Leitung freigeschaltet -, wobei sie ziemlich gefaßt gewirkt hatte. Doch Dana vermochte sich nicht vorzustellen, wie sie reagieren würde, wenn sie direkt damit konfrontiert wurde.
Und wie reagiere ich denn? Bin ich mir überhaupt des ganzen Ausmaßes der Sache bewußt? Mein Sohn, mein einziger Sohn ist vielleicht im Orbit gefangen, und sein Körper ist von Marshalls nuklearer Höllenmaschine verstrahlt. Es war eine Situation, sagte er sich, auf deren Bewältigung ein menschliches Herz einfach nicht programmiert war.
Und unter dem ganzen Kummer fühlte er einen dumpfen Zorn, weil das alles nicht hätte sein müssen - es hatte keinerlei Veranlassung bestanden, Atomraketen zu bauen, um zum Mars zu fliegen.
Er setzte sich wieder die Brille auf, stieß die Wagentür auf und stieg aus.
Ein Adventskranz hing an Jims Haustür.
Verwundert stellte er fest, daß es ihm körperliche Schwierigkeiten bereitete, die Auffahrt hinaufzugehen. Er schaute auf die in braunen Schuhen steckenden Füße, die sich scheinbar ohne sein Zutun auf dem Kiespfad hoben und senkten.
Er erreichte die Tür.
Er war erschöpft, als ob er einen steilen Aufstieg hinter sich hätte. So schlimm wird es schon nicht werden, redete er sich ein. Klingel einfach an der Tür; das ist alles, was du zu tun hast. Seger hatte gesagt, daß inzwischen jemand vom Astronauten-Büro erschienen sein mußte. Dann mußt du ihr wenigstens nicht die Nachricht überbringen. Zumal Walter Cronkite vom CBS wohl ohnehin schon Horrorszenarien entwarf.
Du mußt ihr nicht einmal die Nachricht überbringen. Dann drück auf die Klingel, verdammt noch mal!
Doch er schaffte es nicht. Seine Hände baumelten nur schwer und schlaff an den Hüften.
Mittwoch, 3. Dezember 1980
Apollo-N; Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
»Apollo-N, Houston. Wir werden euch nach Hause bringen. Ihr müßt nur die Ruhe bewahren, und dann bringen wir euch runter. Die Systeme der Kommandokapsel sehen diesmal gut aus. Ihr möchtet vielleicht den Erste-Hilfe-Kasten hervorholen.«
Natalies Stimme war ruhig und beherrscht, und trotz der sich verstärkenden Schmerzen in Brust und Augen spürte Priest eine Aufwallung von Stolz. Gut gemacht, Frischling.
»Ich glaube nicht, daß wir das schaffen«, sagte er. »Ich bezweifle, daß auch nur einer von uns an den Erste-HilfeKasten herankommt, Natalie.«
»Haltet die Stellung, Apollo-N.«
»He, Fliegenauge«, sagte Jones zu Priest. »Ich habe Jims Nadel einstecken.«
»Welche Nadel?«
»Seine Fliegerspange. Das goldene Abzeichen. Er ist nun kein Frischling mehr. Ich wollte sie ihm nach der Brennphase überreichen. Möchtest du sie ihm geben? Er wird sich sicher freuen.«
»Später vielleicht. Ich glaube, er schläft.«
»Sicher. Später vielleicht.«
Donnelly vernahm das Stimmengewirr auf den Schleifen. Er war wie betäubt, und seine Existenz kam ihm unwirklich vor, als ob die Strahlung seinen Körper kontaminiert hätte.
Der Wiedereintritt würde eine heikle Sache werden.
Die System-Jungs gingen hastig eine Checkliste durch, um die Kommandokapsel so zu konfigurieren, daß sie aus eigener Kraft den Rückflug schaffte. Gleichzeitig fragten die Mitarbeiter der Abteilung Flugbahn sich, wo sie den Vogel runterbringen sollten; nach Möglichkeit in der Nähe eines Kriegsschiffs, das die Besatzung sofort aufnahm und medizinisch versorgte.
Plötzlich wurde er sich bewußt, daß er seit geraumer Zeit nichts mehr gesagt und nicht einmal auf direkte Anfragen der Controller reagiert hatte.
Mein Gott, was für ein Schlamassel!
Bei Schichtende drehte York sich um und hielt nach Mike Ausschau, doch sein Platz in der Booster-Reihe war schon von jemand anderem besetzt - von einem ihr unbekannten Marshall-Techniker. Mike war gegangen, ohne daß sie es bemerkt hätte - und genauso wenig, so sagte sie sich, hatte er sich von ihr verabschiedet.
Sie wollte Mikes Ablösung schon fragen, wohin er gegangen sei, doch der neue Triebwerks-Controller war bereits in die Arbeit vertieft.
Ein paar der Controller, die nun Feierabend hatten, gingen ins Singing Wheel, eine traditionelle Astronauten-Kneipe in der Nähe des JSC. Sie fragten York, ob sie auch mitkommen wolle, doch sie lehnte ab.
Nachdem sie das JSC verlassen hatte, fuhr sie auf schnellstem Weg zum Portofino. Mike war nicht dort.
Rastlos streifte sie durch das Apartment; sie fühlte sich eingesperrt, und die Bilder vom Mars, die an den Wänden hingen, deprimierten sie.
Sie nahm ein Bad. Dann legte sie sich auf das Doppelbett und versuchte zu schlafen. Es war schon nach dreiundzwanzig Uhr. Doch sie fand keinen Schlaf; sie spürte noch immer den Druck des Kopfhörers auf den Ohren, sah die über den Bildschirm flimmernden Zahlen und hörte die flüsternden Stimmen auf den Schleifen.
Sie schaltete das Fernsehgerät ein, um Nachrichten zu sehen. Apollo-N dominierte natürlich jeden Kanal, doch substantielle Informationen erhielt sie nirgends.
Ben ist dort oben.
Mike war noch immer nicht da.
Sie zog sich wieder an, steckte die Geldbörse ein und fuhr zum Singing Wheel.
Ein paar Controller vom Indigo Team waren noch da. Das Wheel, ein aus roten Ziegelsteinen gemauerter Saloon mit Antiquitäten, die jedenfalls als solche bezeichnet wurden, war normalerweise ein Forum für angeregte Gespräche. Das Personal des Kontrollzentrums traf sich hier, um sich nach den Simulationen zu entspannen oder um Meilensteine wie die Rückkehr zur Erde zu feiern. Doch heute nacht herrschte eine verhaltene Stimmung. Die Leute saßen an den Tischen, tranken und unterhielten sich leise. In dieser Hinsicht, so wußte York, glichen die Controller den Fliegern, wenn sie einen Kameraden verloren hatten: sie verarbeiteten das; indem sie einfach nur dasaßen und das >Wie< und >Weshalb< erörterten und sich darüber betranken.
York leistete ihnen bis in die frühen Morgenstunden Gesellschaft.
Schließlich erhob Donnelly sich vom Pult und griff nach dem Logbuch. Er sah auf die Wanduhr und trug die verstrichene Zeit der Mission ein. Dann trug er sich aus. Seine Hände zitterten, und die Unterschrift fiel entsprechend krakelig aus.
Er blätterte im Logbuch zurück. Die letzten paar Seiten waren schlicht unleserlich.
Donnerstag, 4. Dezember 1980
Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Es war bereits nach Mitternacht, als Bert Seger Fay vom Büro aus anrief.
Er bat Fay, ihm ein paar frische Sachen zu bringen. Er mußte veranlassen, daß man ihr einen Sicherheitsausweis ausstellte. Nachdem das ganze Ausmaß der Havarie publik geworden war, hatte man das JSC und Cape Canaveral hermetisch abgeriegelt.
Er erkundigte sich nach den Kindern, ohne daß er die Antworten seiner Frau überhaupt registriert hätte. Dann sagte er Fay, daß er sie liebte und legte auf.
Es war klar, daß er für eine Weile in Houston oder vielleicht auch in Cape Canaveral bleiben würde, falls beziehungsweise wenn die Kommandokapsel nach dem Wiedereintritt geborgen wurde. Fred Michaels hatte ihm bereits gesagt, daß Carter die Bildung einer Präsidialen Kommission veranlaßt hatte, die sich mit der Havarie befassen sollte. Der Präsident erwartete eine volle Aufklärung von seiten der NASA, und die Verantwortung hierfür oblag Bert Seger.
Seger hätte auch nichts anderes erwartet.
Er hatte immer schon gewußt, daß er früher oder später die Verantwortung für den Tod eines Astronauten würde übernehmen müssen.
Die Systeme, die sie bauten, waren einfach nicht zuverlässig genug, um Sicherheit zu garantieren. Das Astronauten-Korps bestand nach wie vor hauptsächlich aus Testpiloten, die das Risiko kannten und es in Kauf nahmen. Dann machte Seger sich um das Bodenpersonal schon mehr Sorgen. Die Leute würden nämlich mit dem Bewußtsein leben müssen, versagt zu haben. Wegen mir wird es nicht schiefgehen. Was geschah, wenn dieses Motto sich in Es ist wegen mir schiefgegangen verwandelte?
Das Telefon klingelte. Es war Tim Josephson, der über die Besetzung des internen Untersuchungsausschusses der NASA reden wollte, der als flankierende Maßnahme zur Präsidialen Kommission gedacht war.
Seger zwang sich, sich auf Josephsons Aussagen zu konzentrieren.
Er und Josephson verständigten sich bald auf eine Liste, auf der nur noch ein Astronauten-Vertreter fehlte.
»Wie wäre es mit Natalie York?« fragte Seger. »Sie war Leiterin der Kommunikation, als die Stufe explodierte. Sie hat sich auch unter Druck als besonnen und analytisch erwiesen. Und sie ist eine Freundin von Priest.«
Josephson war damit nicht einverstanden. »York ist noch ein Anfänger. Außerdem ist sie mit Mike Conlig liiert. Hatten Sie das etwa vergessen? Wie soll sie einen Fall beurteilen, bei dem es vielleicht um Konstruktionsmängel und suspekte Managementpraktiken geht und in den noch dazu ihr Freund verwickelt ist?«
Sie zogen weitere Namen in Erwägung und verwarfen sie wieder.
Josephson fiel ihm ins Wort. »Bert, ich werde Ihnen sagen, wen Fred haben will. Joe Muldoon.«
»Muldoon? Sind Sie verrückt? Muldoon ist wie eine Bombe, die jeden Moment explodiert.«
»Stimmt schon. Er hat wohl ein großes Maul, doch das verleiht ihm vielleicht einen Nimbus der Unabhängigkeit, was im Moment nicht schaden kann. Zumal er ein MondSpaziergänger war. Fred hat viel Zeit für ihn.«
»Muldoon ist auch gar nicht verfügbar. Er befindet sich im Mondorbit.«
»Aber er wird in einer Woche zurückkommen. Solange haben wir noch Zeit.«
Die Kontroverse dauerte noch für eine Weile an, doch schließlich fügte Seger sich.
Er hatte Bedenken, jemanden wie Muldoon, dem es an Fingerspitzengefühl und Umgangsformen gebrach, in eine derart exponierte Position zu hieven. Wegen dieses Zwischenfalls würde der Schmutz kübelweise über der NASA ausgeschüttet werden, insbesondere aus Marshall. Er schauderte bei der Vorstellung, womit Muldoon, der Astronauten-Held, die Presse wohl füttern würde.
Er würde den Deckel draufhalten müssen.
Als Josephson auflegte, war es drei Uhr morgens.
Seger wußte, daß er Schlaf brauchte. Für solche Fälle bewahrte er ein Feldbett im Schrank auf.
Er zog die Schuhe aus und kniete nieder zum Gebet. Doch es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren; im Geiste erstellte er ständig neue Prioritätenlisten.
Eigenartigerweise waren die Zweifel, die er im früheren Verlauf der Mission gehabt hatte - Zweifel, die durch die Feindseligkeit der Atomkraftgegner gesät worden waren -, nun verflogen, wo der schlimmste Fall eingetreten war. Er vertraute auf seine Fähigkeit, die Sache zu bewältigen - was gleichbedeutend mit den Fähigkeiten der NASA war. Schließlich handelte es sich nur um einen verdammten technischen Defekt. Einen Defekt, den man beheben würde, nachdem man ihn identifiziert hatte.
Und die NASA hatte schon früher vergleichbare Probleme bewältigt: er erinnerte sich, daß gerade einmal zwei Jahre nach dem Brand in Apollo 1 Armstrong und Muldoon auf dem Mond gelandet waren. Und nachdem Apollo 13 auf dem Weg zum Mond explodiert war, hatten die Astronauten nicht nur den Heimweg geschafft, sondern sie hatten daraufhin mit Apollo 14 die erfolgreichste Mission überhaupt durchgeführt.
Er berührte das goldene Kruzifix am Revers. Er fühlte sich leicht, geradezu beschwingt. Sie würden es schaffen; dessen war er sich nun sicher. Mit Gottes Hilfe.
Doch das Beten fiel ihm schwer. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß Gott in dieser Nacht weit entfernt von ihm war.
Gegen vier Uhr morgens schlief er endlich ein. Und um sieben war er wieder auf den Beinen und führte die ersten Telefongespräche.
Donnerstag, 4. Dezember 1980
Apollo-N; Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Inzwischen schmerzte der ganze Körper - bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus. Jede einzelne Zelle befand sich in Agonie. Priest hatte das Gefühl, als ob sein Körper innen und außen mit Säure benetzt wäre und sich allmählich auflöste.
Er trug noch immer den Druckanzug, und das war vielleicht seine Rettung. Der Schmerz glich nämlich einem heftigen Juckreiz; er hätte sich wahrscheinlich wundgekratzt, wenn er die Haut erreicht hätte. Doch der Anzug hatte auch seine Nachteile. Der Magen rebellierte schon seit Stunden, und er hatte sich im Helm übergeben, der Alptraum eines jeden Fliegers. Doch wenigstens drifteten die Kügelchen aus Erbrochenem ihm nun nicht mehr vor dem Gesicht umher, sondern hatten sich irgendwo festgesetzt: am Helmvisier oder vielleicht auch im Haar oder auf der Haut. Doch das war ihm egal, solange er das verdammte Zeug nicht mehr sah.
Außerdem roch er nichts mehr, und auch das war wohl nur von Vorteil.
Er versuchte den Kopf zu drehen und nach Chuck und Jim zu sehen. Doch es gelang ihm nicht. Allerdings hatten sie schon auf seinen letzten Zuruf nicht geantwortet. Sie wirkten unversehrt in den Druckanzügen, wie er selbst wohl auch. Das Erbrochene, der Kot und der menschliche Schmerz waren in den Anzügen eingeschlossen, so daß die Kabine der Kommandokapsel antiseptisch und aufgeräumt wirkte, bis auf die Reihen glühender Warnlampen auf dem Instrumentenpanel.
Zumal er sich auch gar nicht von seinem Fenster abwenden wollte. Dieses Fenster war ihm überaus wichtig, weil es ihm einen Blick auf die Nachtseite der Erde gewährte. Er sah Polarlichter: bunte Wellen, die von den Polen abwärts liefen, hohe Luftschichten, die unter der Einwirkung des Sonnenwinds rot und grün glitzerten. Und er sah Blitze hoch oben in der Atmosphäre, und manchmal auch Lichtbahnen, welche die Netzhaut für lange Sekunden blendeten - Meteore, Körnchen interstellaren Staubs, die in die Atmosphäre eintauchten.
Priest hatte früher mit dem kleinen Petey zu den MeteorSchauern emporgeblickt, die am Himmel über dem Dach ihren Reigen veranstalteten. Und nun beobachtete er, wie Meteore unter ihm verglühten. Das ist vielleicht ein Höllentrip, Petey.
Es leuchteten noch andere Lichter in der Nacht.
Im Herzen von Südamerika sah er ein großflächiges Glühen: ein Feuer, das Bäume im Zentrum des Amazonas-Regenwalds verschlang. Und während Apollo-N die Wüsten überflog, erkannte er das helle Funkeln von Öl- und Gasquellen, die wie eingefangene Sterne in der Finsternis leuchteten.
Die Städte blendeten ihn schier mit ihrer Helligkeit. Wenn sie von Wolken überlagert waren, sogen diese das Licht auf und filterten es, so daß die jeweilige Stadt wie eine große, amorphe Schale aus Licht erschien. Und wenn der Himmel klar war, erkannte er jedes Detail mit einer Präzision, als ob er mit einer T-38 im Tiefflug über die Häuser jagte. Straßen und Autobahnen erschienen ihm als gelbe und orangefarbene Bänder aus Licht, und die großen Gebäude loderten wie Schachteln voller Diamanten. Er sah die Scheinwerfer von Autos auf Brücken und Fernstraßen leuchten. Es war, als ob er das ganze Licht und die Wärme spürte, die durch die Atmosphäre zu ihm herauf drang.
»Wir brauchen deine Hilfe, Ben. Du bist der einzige, mit dem wir dort oben reden können. Bleib dran.«
»Ja.« Aber es tut weh, Natalie.
»Ich weiß, daß es hart ist, Ben. Komm schon. Arbeite mit mir zusammen. Kommst du an die Checkliste für die Zündung heran? Sie hängt an einem Klettverschluß über.«
»Hilf mir da durch, Natalie.«
»Ja. Ja, sicher. Tu einfach das, was ich dir sage. Wir schaffen das schon. In Ordnung. Schubschalter auf Normal.«
»Schubschalter normal.«
»Einspritz-Vorventile auf.«
Um diesen Schalter zu erreichen, mußte er den Arm ausstrecken. Der Schmerz schoß in Schüben durch Rücken und Arme. »Gut. Einspritz-Vorventile auf.«
»Eine Minute bis zur Zündung, Ben. Translationsregler aktivieren.«
Priest zog am Hebel, bis der Schriftzug AKTIVIERT erschien. »Aktiviert.«
»Gut. Und nun die Trimmung.«
Priest betätigte den Translationsregler; durch das kurze Feuern der Reaktionsdüsen ruckte die Apollo-N nach vorn, wodurch das Schwappen des Treibstoffs in dem großen SPS-Triebwerk der Betriebs- und Versorgungseinheit neutralisiert wurde. Dies diente zur Stabilisierung für die bevorstehende Brennphase, die den Abstieg aus dem Orbit einleitete.
»Gut. Sehr gut, Ben. Dreißig Sekunden«, sagte York. »Schubdüsen aktivieren, Ben.«
Priest entriegelte den Regler und drehte ihn um hundertachtzig Grad. »Aktiviert.«
»Sag’s noch mal, Ben.«
»Aktiviert.« Sogar der Hals schmerzte, verdammt.
»Fünfzehn Sekunden. Du hast es geschafft, Ben. Setz dich wieder hin.«
Sicher. Und was, wenn das SPS nicht feuert? Wer weiß, in welchem Zustand die Betriebs- und Versorgungseinheit sich befindet, nachdem die verdammte NERVA unter ihr explodiert ist; wir verlieren seit der Explosion Energie und Telemetrie... Und man konnte auch nur hoffen, daß die Systeme der Kommandokapsel - die Lenkungselektronik und Computer zum Beispiel - von NERVA nicht allzu stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren; er glaubte jedoch nicht, daß die konzentrierte Röntgenstrahlung das Gehirn des Schiffs nicht in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Er rüstete sich für den Stoß in den Rücken.
»Zwei. eins. Zündung!«
Nichts.
Er schauderte, wobei die Spannung in den schmerzenden Muskeln sich in Krämpfen löste.
»In Ordnung«, sagte York ruhig. »Leg den Delta-Vau-Schalter um, Ben.«
»Delta-Vau umlegen.« Er griff nach dem Schalter für die manuelle Zündung und legte ihn um, ohne den Schmerz im Arm zu beachten.
Nun ertönte ein Zischen, und ein unregelmäßiger Schub des Retro-Triebwerks setzte ein, der ihn auf die Liege drückte.
Eine grüne Lampe leuchtete vor ihm auf. »Bremszündung«, wisperte er.
Der Druck auf den wunden Rücken nahm zu, und er wünschte sich die Mikrogravitation zurück. Doch sie kehrte nicht zurück, und er mußte den Schmerz ertragen.
»Bestätigte die Bremszündung, Ben.« Yorks Stimme zitterte. »Wir bestätigen das. Wir erledigen den Rest. Du mußt nur bei mir bleiben.«
Der Schmerz überwältigte ihn, und er vermochte keinen klaren Gedanken mehr zu fassen.
Die Erde glitt am Fenster vorbei. Das SPS funktionierte und änderte die Flugbahn des Schiffs.
»Laßt euch sagen, daß dieses alte SPS ein Sahnestück von Triebwerk ist, Houston«, flüsterte er. Obwohl ein Reaktor unter ihm durchgegangen war, war das Ding angesprungen und brachte ihn wieder nach Hause. Was sagt man dazu?
Nun redete jemand mit ihm. Vielleicht war es Natalie. Durch den Nebel des Schmerzes vermochte er nicht einmal mehr ihre Stimme zu erkennen. Diese letzte Checkliste hatte ihm alles abverlangt. Entweder brachte dieser Vogel ihn nach Hause oder nicht; es gab verdammt nichts, was er noch zu tun imstande war.
Er sah Natalies Gesicht vor sich: ernst, hager, etwas zu lang. Die buschigen Augenbrauen waren vor Konzentration zusammengezogen. Er erinnerte sich an ihr Gesicht über dem seinen, im Dunkeln, in jener Nacht nach der Landung von Mars 9.
Das Bild von Karen indes stand nicht vor dem geistigen Auge.
Was hatte er durch Gleichgültigkeit, Karrierebesessenheit und Unschlüssigkeit nicht alles verloren im Leben - gewiß aber in Herzensdingen. Und das alles für ein paar Stunden im All.
Er würde das ändern, wenn er auf der Erde angekommen und wieder gesund war. Bei Gott, das werde ich.
Das Triebwerk verstummte, und der Balsam der Mikrogravitation verschaffte ihm für ein paar Minuten die ersehnte Erleichterung.
Ein dumpfes Rattern ertönte an der Grundfläche der Kabine. Das war der Ring aus Sprengbolzen an der Basis der kegelförmigen Kommandokapsel, die per Fernsteuerung von Houston gezündet wurden und die beschädigte Betriebs- und Versorgungseinheit abstießen.
Vielleicht sah er die Betriebs- und Versorgungseinheit wegdriften. Seine Pflicht bestand wahrscheinlich darin, eine Kamera zu suchen und das verdammte Ding zu filmen. Sicher. Er war nicht einmal mehr imstande, die Hand zur Faust zu ballen; bei jedem Versuch spürte er einen explosiven Schmerz.
Nun erhob sich etwas über die Erdatmosphäre; es war eine goldbraune und angenehme Erscheinung. Der Mond. Er füllte die Mitte des Fensters aus. Er dachte an Joe Muldoon und seine Leute, die dort oben mit den Sowjets zusammen waren; wahrscheinlich würde Muldoon die Fortschritte beim Wiedereintritt verfolgen.
Er spürte einen Stoß im Rücken, und wieder wogte Schmerz über seine Haut. Das waren die Steuertriebwerke der Kommandokapsel: Houston oder der Bordcomputer
versuchten, die Kommandokapsel im zirka sechzig Kilometer breiten Wiedereintrittskorridor zu halten.
Durch den Schmerz spürte Priest, wie eine Art Sicherheit von ihm Besitz ergriff. Soweit er wußte, war das der Punkt in der Wiedereintritts-Sequenz, wo die Automatik ohnehin hätte anspringen müssen. Apollo-N funktionierte wieder nach Plan -zum erstenmal, seit der Kern der NERVA durchgegangen war.
»Haben Sie schon die voraussichtlichen Bahndaten, Retro?«
»Noch nicht, Flug.«
Es wurde verdammt knapp. Irgend etwas läuft falsch. Was verschweigt er mir?
Für Rolf Donnelly stellte der Moment, in dem die Kommandokapsel in die Atmosphäre eindrang, das größte Risiko beim Wiedereintritt dar. Dann hing nämlich alles vom Hitzeschild ab. Und falls der Schild durch die Explosion Risse bekommen hatte, würde die Kapsel platzen und wie ein Meteor verglühen. In dieser Hinsicht waren ihm die Hände gebunden; hier galt allein das >Prinzip Hoffnung«
Bisher hatten sie kaum an der Atmosphäre gekratzt. Doch aus heiterem Himmel befürchtete er, die Kommandokapsel zu verlieren.
Der >Retro< genannte Controller im >Schützengraben< hatte den Auftrag, den Eintrittswinkel der Kommandokapsel zu überwachen. Unmittelbar vor dem Abstoßen der Betriebs- und Versorgungseinheit hatte Retro Donnelly gemeldet, daß der Anflugwinkel von Apollo-N exakt in der Mitte des
Eintrittskorridors lag. Es lief alles wie am Schnürchen. Und das bedeutete, daß die voraussichtlichen Bahndaten, die Retro prognostiziert hatte, noch immer gültig waren. Die voraussichtlichen Bahndaten definierten den Vektor, der seinerseits den Eintrittswinkel des Raumschiffs in die Atmosphäre bestimmte.
Doch Retro mußte die voraussichtlichen Bahndaten noch an den Bordcomputer der Kommandokapsel übermitteln. Und nun, ein paar Minuten vor dem Eintritt in die Atmosphäre, wurde Donnelly Ohrenzeuge einer Diskussion zwischen Retro und FIDO, dem Flugdynamik-Controller, der Retro die aktualisierten Prognosen zur Flugbahn des Raumschiffs übermittelte.
»Das glaube ich Ihnen nicht, FIDO!« plärrte Retro.
Donnelly spürte, wie ihm die Galle hochkam. »Präzisieren Sie, Retro. Wollen Sie mir nicht sagen, was bei Ihnen los ist?«
»Overshoot, Flug. Wir stehen bei null komma drei eins Grad.«
Noch immer innerhalb des Korridors. Dennoch war die Bahn in diesem Punkt zu steil. Und wenn diese Tendenz anhielt, würde Retro die voraussichtlichen Bahndaten revidieren müssen. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was dort oben los ist, Retro?«
»Keine Ahnung, Flug.« Nun hatte zum erstenmal Anspannung in der Stimme von Retro gelegen, und Donnelly sah, daß er dem neben ihm sitzenden FIDO über die Schulter blickte, um sich die aktualisierten Daten für die Flugbahn zu besorgen.
Würde die Flugbahn noch steiler werden? Das kam auf die Ursache an. Wenn zum Beispiel eine der Schubdüsen für die Lage- und Bahnänderung blockiert war und ständig Vollschub gab, würde diese Tendenz anhalten. Wenn jedoch Treibstoff oder Kühlmittel aus einem Leck in der Hülle entwichen, dann würde das dem Overshoot entgegenwirken.
Das Problem war nur, daß niemand die Ursache kannte. Niemand kannte das Ausmaß des Schadens, der durch die Explosion des Reaktors an der Kommandokapsel entstanden war.
Wenn Donnelly die Besatzung schon verlieren sollte, wäre es ihm lieber gewesen, wenn die Kommandokapsel zu steil in die Atmosphäre eingetreten und verglüht wäre. Wenn die Kapsel die Atmosphäre nur streifte, wieder in den Orbit ging und dort oben mit einer Fracht von drei radioaktiven Leichen die Erde umkreiste, wäre das Raumfahrtprogramm nämlich gestorben.
Erneut startete er eine Abfrage bei den Controllern. Keiner von ihnen war in der Lage, ihm genauere Daten zur Flugbahn zu präsentieren. Außerdem wurde in dem Maße, wie die Luft um die Kommandokapsel ionisiert wurde, die Telemetrie instabil.
Das ist ein Glücksspiel. Ich muß Retro einfach machen lassen. Ändert er die Zahlen nun oder nicht?
Retro meldete sich erneut: »Overshoot reduziert sich, Flug.«
»Ich brauche die voraussichtlichen Bahndaten, Retro.«
»Ja.« Wieder hörte Donnelly die Anspannung in der Stimme von Retro. Der Controller war ein junger Mann, der sich nun dem entscheidenden Moment in seinem Leben näherte und eine Entscheidung treffen mußte, mit deren Konsequenzen er fortan würde leben müssen.
Donnelly sprach ein stummes Gebet; was er nun gar nicht brauchte, waren unschlüssige und vor Furcht wie gelähmte Mitarbeiter. Wie dieses abgefuckte Arschloch von Conlig.
»Overshoot hält an. Ich bestätige die voraussichtlichen Bahndaten.«
»Wiederholen Sie, Retro.«
»Ich bestätige die voraussichtlichen Bahndaten. Falls der Overshoot anhält, wird er höchstens ein zehntel Grad betragen.«
Plötzlich wurde Donnelly sich bewußt, daß er während der ganzen Zeit die Luft angehalten hatte. Er stieß die Luft in einem Schwall aus. »Rog, Retro.«
Nun sah er Dunst vor dem Fenster, ein rosiges Glimmen, das an einen Sonnenaufgang erinnerte. Zuerst glaubte er, es würde vom Retro-Triebwerk herrühren. Doch dann erkannte er, daß es sich um ionisiertes Gas handelte, Atome der obersten Schicht der Erdatmosphäre, die durch den Zusammenstoß mit dem Hitzeschild der Apollo-N aufgebrochen wurden.
Er verspürte einen Druck auf dem Unterleib - schwach zwar, doch stark genug, um den Schmerz erneut auflodern zu lassen. Er glaubte, einen Schrei auszustoßen. Die Kabine vibrierte. Die Erdatmosphäre griff nach der Kommandokapsel, und Apollo-N wurde hart abgebremst.
Plötzlich erfolgte ein schneller Druckanstieg, und er wurde auf die Liege gepreßt. Er spürte, wie die Haut innerhalb des Druckanzugs sich spannte und aufriß. Er glaubte auszulaufen, als ob der Körper nicht mehr Substanz hätte als eine matschige Frucht.
Nun wurde die Kabine von kaltem weißen Licht durchflutet, das die Instrumentenbeleuchtung überblendete.
Die letzten Augenblicke vor dem Abbruch der Funkverbindung wirkten fast wie ein Routinevorgang. Als ob es sich um eine ganz normale Mission gehandelt hätte und nicht um den gefährlichsten und heikelsten Wiedereintritt seit Apollo 13. Das Schweigen wurde nur von den Aktualisierungen der Lage-und Bahndaten der Kommandokapsel unterbrochen, der Stationierung der Bergungsschiffe und der festen Stimme von Natalie York, der Leiterin Kommunikation, die versuchte, mit der Besatzung in Kontakt zu bleiben.
Man weiß ja nie, sagte Donnelly sich.
Und dann brach die Telemetrie von Apollo-N ab.
Im MOCR wurde es still. Nun blieb ihnen nichts mehr übrig als zu warten.
Es war durchaus möglich, daß eventuelle kleine Risse im Hitzeschild durch die Hitze des Wiedereintritts sozusagen geschweißt wurden. Möglicherweise. Doch das war nur eine weitere Unbekannte. Falls der Schild indes beschädigt war und versagte, würden sie den Vogel ohnehin verlieren.
Priest, in eine Wolke des Schmerzes eingehüllt, lag auf dem Rücken und wurde regelrecht zusammengestaucht, während die Kabine sich schüttelte und Flammen von der Grundfläche der Kommandokapsel schlugen und am Fenster züngelten.
Die glühenden Brocken des Hitzeschilds, die am Fenster vorbeischossen, waren groß. Vielleicht stimmte etwas nicht. Vielleicht versagte der Schild.
Falls wir überhaupt in die Atmosphäre eintreten. Falls ich nicht halluziniere; falls wir nicht schon tot sind.
Wie dem auch sei, er vermochte sowieso nichts daran zu ändern.
Ben Priest, der mit dem Hintern voran auf die Erde stürzte, wartete darauf, daß die Sonnenhitze durch die Basis der Apollo-N drang und ihn verzehrte. Das wäre die Erlösung.
»Netzwerk, noch kein Kontakt zum Begleitflugzeug?«
»Nein, Flugleiter.«
Vier Minuten verstrichen. Fünf. Spätestens jetzt hätte die Funkverbindung nach dem Abbruch wiederhergestellt sein müssen.
Auf den Schleifen war nichts zu hören außer statischem Rauschen - »ARIA 4 hat soeben ein Signal aufgefangen, Flug.«
»Rog«, sagte Donnelly, wobei er kaum die eigene Stimme erkannte.
Das MOCR geriet in Wallung - die müden Gestalten regten sich und grinsten verhalten.
Es war ein seltsames Gefühl, eine Art Halb-Erleichterung. Das Signal besagte noch lange nicht, daß die Besatzung am Leben war - zumal die Elektronik des Fallschirmsystems vielleicht einen Defekt hatte -, doch zumindest war die Kommandokapsel noch unversehrt.
Er hörte, wie York immer wieder mit trauriger Stimme die Besatzung rief.
Das Glühen war verschwunden und einem gewöhnlichen blauen Himmel gewichen. Der Schwerkraftmesser zeigte den Wert 1,0 an, und er stürzte mit dreihundert Metern pro Sekunde dem Ozean entgegen. Trotz seines kritischen Zustands bekam er die Landung in allen Einzelheiten mit.
Ein Knall ertönte: das war die Fallschirmabdeckung, die sich von der Spitze der konischen Kommandokapsel löste. Und dann knallte es noch einmal, als die drei Bremsfallschirme sich öffneten. Er sah weiße Gewebebahnen vor dem Fenster.
Er spürte einen Stoß im Rücken, als die Bremsfallschirme sich öffneten und den Fall der Kommandokapsel stabilisierten.
Dann hörte er ein lautes Zischen; das Ventil, das den Druckausgleich zwischen der Kabine und der Außenumgebung bewirkte, hatte sich geöffnet. Nun war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis.
Jetzt. Noch ein Knall. Das mußten die Hauptfallschirme sein, die drei Fünfundzwanzig-Meter-Schirme, an denen Apollo-N zur Meeresoberfläche hinabsank.
Als die Hauptfallschirme sich aufblähten, schüttelte die Kabine sich. Priest wurde auf der Liege gerüttelt, und der Schmerz wurde schier unerträglich.
Durchs Fenster sah er einen Ausschnitt des blauen Himmels und ein paar Wolken.
Eine entfernte Stimme ertönte im Kopfhörer. Sie klang ebenso freundlich wie kompetent. »Apollo-N, Apollo-N, Air Boss 1, das Radar hat euch fünfzig Kilometer südöstlich vom Bergungsschiff geortet. Willkommen zuhause, meine Herren; wir holen euch in null Komma nichts an Bord.«
Priest wollte antworten. Doch er war schon zu weit entfernt, zu tief in die Hülle seines Körpers eingesunken.
Auf den Bildschirm an der Stirnseite des MOCR wurde eine Aufnahme von Apollo-N eingeblendet. Alle Hauptfallschirme hatten sich geöffnet und wirkten wie drei große weißrote Kanzeln.
Der Jubel war so laut, daß Donnellys Kopfhörer übersteuerte, und er mußte um Ruhe bitten.
Funkverkehr drang aus dem Kopfhörer.
»Hier ist Recovery 2. Ich sehe die Schirme. Geht auf exakt zwölfhundert Meter runter.«
»Positiv, wir haben eine Kapsel in Sicht.«
Es gab eine Checkliste, welche die Besatzung nun abarbeiten mußte, wie Priest sich verschwommen erinnerte. Sie mußten zum Beispiel das Druckventil schließen, die Positionslampen einschalten und die Fallschirme kappen, damit die Kommandokapsel nicht von ihnen durchs Wasser geschleppt wurde.
Doch es gab niemanden, der das erledigte.
Priest versuchte, sich zu entspannen und den Schmerz zu unterdrücken.
Nun erfolgte ein heftiger Aufprall, und eine Woge qualvollen Schmerzes brandete durch den geschundenen Körper.
Wasser drang durch ein offenes Ventil über Priest ein und bespritzte ihn. Der Schwall war so stark, daß er schon glaubte, die Hülle der Kommandokapsel wäre aufgerissen.
Und nun kippte die Kommandokapsel. Er spürte das Rollen und sah, wie der Ozean sich vor dem Fenster drehte.
Als die Fenster untertauchten, wurde es dunkel in der Kabine. Priest hing in den Gurten, und das Inventar der Kabine ging in einem Regen um ihn herum nieder: Papiere, Urinbeutel, Waschlappen. Stabil 2, sagte er sich. Kopfüber. Chuck wird wütend sein. Wir haben ’s verbockt. Niemand hat die Fallschirme gekappt.
Er hing wie eine Fledermaus in der umgekippten Kabine. Die Dunkelheit wurde nur von der wie ein Weihnachtsbaum funkelnden Instrumentenkonsole durchbrochen. Gleich würden die Luftsäcke die Kommandokapsel wieder aufrichten und in die Position Stabil 1 bringen.
Er schloß die Augen.
Sonntag, 7. Dezember 1980 NASA-Hauptquartier, Washington
Das erste Bild zeigte die fünfköpfige Besatzung, wie sie um den kleinen Tisch in der Messe von Moonlab saß. Joe Muldoon befand sich im Mittelpunkt der Gruppe und hielt ein Blatt Büttenpapier in der Hand.
Hier ist die Besatzung von Moonlab, die live aus dem Mondorbit zu Ihnen spricht. Wir fünf - unsere Gäste Wladimir
Wiktorenko und Aleksandr Solozvjow sowie Phil Stone, Adam Bleeker und ich - haben den Tag verbracht, indem wir das Flugprogramm abgearbeitet, Aufnahmen gemacht und die Systeme des Raumschiffs gewartet haben...
Tim Josephson, der in seinem Washingtoner Büro am Schreibtisch saß und das Interview in einem tragbaren Fernsehgerät verfolgte, mußte sich förmlich zum Atmen zwingen. Mach kein großes Aufhebens darum. Laß es dabei bewenden, Muldoon.
Nun berichteten die fünf Astronauten von ihrer jeweiligen Arbeit - in der Teleskopkuppel, an den biomedizinischen Geräten, mit der problematischen Moonlab-Ausrüstung.
Das Interesse an den bisherigen Übertragungen dieser Mission - mit Ausnahme des ersten >Händeschüttelns< - war minimal gewesen. Keiner der größeren Sender hatte eine Direktübertragung gebracht, und die Angehörigen der Astronauten hatten ins JSC kommen müssen, um auf dem laufenden zu bleiben.
Doch das alles hatte sich nach der Explosion der NERVA geändert, und die Leute empfanden wieder eine morbide Faszination beim Anblick der Menschen, die im Weltraum ihr Leben riskierten. Das ist die höchste Einschaltquote seit Apollo 13, sagte Josephson sich. Mach jetzt bloß keinen Scheiß, Joe!
. Wir sind weit weg von zu Hause, und es ist schwer, diese Gewißheit zu verdrängen. Stellt man sich die Erde als Medizinball vor, dann wären die Skylabs kleine Modelle, die den Ball in einem Abstand von ein paar Zentimetern umkreisen. Der Mond indes hätte die Größe eines Fußballs und wäre sechs Meter entfernt. Und dort befinden wir uns nun.
Wir sind im Dienst der Wissenschaft hier. Wie Sie vielleicht wissen, befinden wir uns in einem geneigten Orbit und sehen deshalb viel mehr vom Mond, als es den Besatzungen der alten Apollos vergönnt war. Wir haben eine ganze Batterie von hochauflösenden und synoptischen Kameras an Bord sowie einen Laser-Höhenmesser und andere Sensoren, die es uns ermöglicht haben, die gesamte Mondoberfläche in unterschiedlichen Maßstäben zu kartieren.
Und wir haben ein paar interessante Entdeckungen gemacht. So haben wir zum Beispiel auf der Rückseite des Monds einen großen Einschlagkrater mit einem Durchmesser von ungefähr vierhundertfünfzig Kilometern entdeckt - das ist fast ein Viertel des Mondumfangs. Ich habe gehört, daß der Mond viel interessanter sei, als man zunächst angenommen hatte. Das gilt auch für Neil und mich, als wir unseren ersten MondSpaziergang machten.
In diesem Moment überfliegen wir das Meer der Stille<. Wenn man den Mond von der Erde aus betrachtet, ist das rechts von der Mitte. Also können Sie uns nun sehen. Und in unserem großen Teleskop erkenne ich manchmal das Funkeln der zurückgelassenen Landestufe.
Und nun hat die Besatzung von Moonlab eine Botschaft, die sie in diesen schwierigen Zeiten den Menschen auf der Erde übermitteln möchte.
Mein Gott, sagte Josephson sich. Das klingt gar nicht gut. Was nun?
Adam Bleeker driftete vom Sitz in Richtung Kamera. Er nahm die Kamera, wobei seine ausgestreckte Hand grotesk verzerrt wurde und richtete sie auf das Fenster der Messe. Das Bild stabilisierte sich; es hatte zwar eine niedrige Auflösung und war verschwommen, doch Josephson erkannte die blaue Sichel der Erde, die sich über die monochrome Öde des Monds erhob.
Nun ertönte die Stimme von Phil Stone:
Verlaß mich nicht; schnell kommt die Dämmerung; Dunkelheit umfängt mich; Herr, verlaß mich nicht. Wenn alle Hilfe versagt und es mir an Trost gebricht, Helfer der Hilflosen, o verlaß mich nicht.
Stones Stimme klang fest. Durch die Funkverbindung erhielt sie eine rauhe Klangfarbe. Dann ertönte die Stimme von Solowjow. Sie war stark akzentuiert und klang schrill und nervös.
Schnell ist ein Tag im Leben vergangen; Die Freuden der Erde verblassen, ihr Ruhm schwindet dahin; Veränderung und Verfall, wohin ich auch blicke; O Du, der sich niemals ändert, verlaß mich nicht.
Was, zum Teufel, tut Muldoon da? Nachdem die Astronauten von Apollo 8 eine Bibellesung im Mondorbit abgehalten hatten, war die NASA allen Ernstes von einem Atheisten verklagt worden, der die verfassungsmäßige Trennung von Staat und Religion verletzt sah. Und bei den Sowjets ist Religion überhaupt verpönt! Und nun trägt ein Kosmonaut in einer amerikanischen Raumstation einen Psalm vor. Mein Gott. Was für ein Schlamassel.
Und doch - und doch.
Adam Bleeker rezitierte frohgemut:
Ich brauche Deine Gegenwart in jeder Stunde; Was, wenn nicht Deine Gnade, vermag der Macht des Verführers zu widerstehen? Wer außer Dir könnte mir Führung und Halt geben? Durch Wolken und Sonnenschein, o verlaß mich nicht.
Und doch geschah hier etwas, das Josephson nicht ins Kalkül gezogen hatte. Die alten, schlichten Worte hatten eine schier elektrisierende Wirkung und erlangten ungeahnte Aktualität;
man würde nicht vergessen, wer diese Männer waren, was sie geleistet hatten, wo sie waren.
Nun sprach Wladimir Wiktorenko in holprigem Englisch:
Mit Deinem Segen fürchte ich keinen Feind; Krankheit ficht mich nicht an, und Tränen sind ohne Bitterkeit. Wo ist der Stachel des Todes? Wo, Grab, dein Sieg? Ich werde immer triumphieren, solange du mich nicht verläßt.
Joe Muldoon rezitierte den letzten Vers.
Halt mir das Kreuz vor die brechenden Augen; Leuchte mir durch die Dämmerung und weise mir den Weg in den Himmel; Der himmlische Morgen bricht an, und die irdischen Schatten fliehen; im Leben und Tod bleib bei mir, o Herr.
Und die Besatzungen von Apollo und Sojus wünschen Ihnen eine gute Nacht und alles Gute. Möge Gott Sie segnen.
Das Bild der Erde verblaßte.
Tim Josephson standen Tränen in den Augen. Peinlich berührt beugte er sich über den Papierkram. Zum Glück war er allein.
Montag, 15. Dezember 1980 Cape Canaveral
Bert Seger schlug im Hangar >O< des Luftwaffenstützpunkts von Cape Canaveral sein Lager auf.
Die Luftwaffe hatte der NASA den Hangar überlassen, um nach der Bergung die Daten aus der Kommandokapsel der Apollo-N auszulesen.
Die Kommandokapsel war natürlich eher Opfer als Ursache der Havarie. Dennoch war die Kommandokapsel der einzige Überrest der Apollo-N-Stufe, der den Experten für eine Untersuchung zur Verfügung stand, und man erhoffte sich viele Hinweise auf die Ursache des Unfalls. Also würde man das Raumschiff in die Einzelteile zerlegen müssen.
Bei Segers erstem Besuch in Hangar >O< hatte sich noch kaum etwas getan. Niemand hatte in der Apollo-Kapsel etwas angefaßt - außer den Medizinern des Bergungsschiffs, die in Strahlenschutzanzüge gehüllt die verstrahlten Körper der Astronauten aus der Kapsel geborgen hatten -, und die Untersuchungsteams scheuten vor konkreten Maßnahmen zurück. Sie hatten Angst, diese unter den Augen der Öffentlichkeit ablaufende Operation zu verpfuschen.
Also führte Seger ein paar Telefonate, sichtete ein paar alte Unterlagen und übermittelte Muldoon per Funk ein paar Verfahrensratschläge. Muldoon, der sich noch auf dem Rückflug vom Mond befand, war damit einverstanden.
Der erste Schritt bestand nun darin, eine an einem schwenkbaren Ausleger befestigte Lucite-Plattform zu montieren, die durch die Luke der Kommandokapsel paßte und das Innere des Raumschiffs untersuchte. Auf diese Weise vermochten die durch die Strahlenschutzausrüstung behinderten Ermittler sich auf Händen und Knien im Innern der Kapsel zu bewegen. Sie waren in der Lage, die Kabine zu inspizieren, Aufnahmen zu machen und Teile zu demontieren und dabei unnötige Berührungen zu vermeiden.
Die folgenden Maßnahmen legte Seger dann selbst fest.
So war er zum Beispiel anwesend, als eine BesatzungsCheckliste - die vom Meerwasser durchtränkt und kaum noch zu entziffern war - aus dem Raumschiff geborgen wurde. Das Demontage-Team hatte hierfür und für alle anderen Aktionen ein TOTE10-Blatt erstellt. Bevor die Checkliste auch nur angerührt wurde, las der Leitende Ingenieur die jeweilige Instruktion vom TOTE-Blatt ab. Ein Qualitäts-Manager von Rockwell wurde hinzugezogen, und ein NASA-Inspektor fand sich ebenfalls ein. Ein Fotograf wurde bestellt. Ein Rockwell-Techniker stieg vorsichtig ins Raumschiff ein und löste unter Beachtung der spezifizierten Prozedur die Checkliste vom Klettverschluß. Der Techniker mußte die einzelnen Arbeitsschritte bei der Bergung der Checkliste sowie eventuelle Anomalien dokumentieren.
Dann übergab der Techniker die Checkliste dem Rockwell-Qualitätsmanager, der sich davon überzeugte, daß es sich auch um das richtige Teil und die richtige Teilenummer handelte. Anschließend trug er die Ergebnisse ins TOTE-Blatt ein. Nun übernahm der NASA-Inspektor die Liste und dokumentierte seine eigenen Beobachtungen. Der Fotograf machte eine Aufnahme von dem Teil. Der Ingenieur steckte die Liste in einen Plastikbeutel, versiegelte und beschriftete ihn und brachte ihn ins Depot.
Falls es dem Ingenieur aufgrund widriger Umstände nicht gelungen wäre, die Checkliste zu bergen, hätte man alle Bemühungen zunächst eingestellt und einem Prüfungsausschuß ein geändertes TOTE-Blatt zugeleitet, um die Modifikationen absegnen zu lassen.
. Und so weiter, und so fort.
Die Arbeiter in der radioaktiv verseuchten Kommandokapsel waren inzwischen mit Strahlenschutzanzügen ausgestattet worden. Sie mußten alle paar Stunden duschen und sich einer Strahlenmessung unterziehen.
Es war eine schwere und diffizile Arbeit, die dadurch kompliziert wurde, daß nur zwei, maximal drei Leute auf einmal in die Kommandokapsel paßten. Doch Seger bestand auf dieser Prozedur, und Muldoon unterstützte ihn. So hatten sie es nach dem Feuer mit Apollo 1 gemacht, und so würden sie es auch mit Apollo-N machen. Es war genau die Art von Arbeit, in die Seger sich gern verbiß.
Zuweilen dachte er an die Begleitumstände des Flugs zurück. Er erinnerte sich an die zornigen Gesichter der Demonstranten am Tag des Starts. Dieser Anblick verfolgte ihn noch immer. Und er erinnerte sich, wie die interne Kommunikation seiner Organisation, sogar innerhalb des Kontrollzentrums selbst, an jenem Tag versagt hatte. In seiner Eigenschaft als Leiter des Programm-Büros hatte Seger seinen Leuten schon seit Jahren einen engen Finanz- und Zeitrahmen gesteckt, und sie hatten die Aufgaben auch bewältigt. Doch nun fragte er sich, ob nicht gravierendere Probleme unter der Oberfläche geschwelt hatten, die er nur nicht gesehen hatte. Teufel, vielleicht hatte er sie auch nicht sehen wollen.
Nun, falls es solche Probleme gab, würde er sich darum kümmern. Man mußte rational handeln und Zweifel überwinden, wenn man vorankommen und etwas erreichen wollte. Die Besatzung war sich der Risiken bewußt gewesen, als sie das NERVA-Raumschiff bestiegen hatte. Sie hatte den höchsten Preis gezahlt. Und nun war Seger es ihnen schuldig, daß sie ihr Leben nicht umsonst geopfert hatten. Die NASA mußte daraus lernen und weitermachen.
Wenn er sich nicht gerade im Hangar aufhielt, verbrachte Seger viel Zeit mit Telefongesprächen, bei denen er mit Fred Michaels, Tim Josephson und anderen die Zukunft des Raumfahrtprogramms erörterte.
Es war unstrittig, daß der Zwischenfall das Programm zurückwarf. Doch Seger wollte das kompensieren, indem er die >Komplett-Test<-Methode anwandte. Beim nächsten Flug, so forderte Seger, solle wieder eine bemannte Saturn/NERVA starten. Vielleicht sollte man noch ehrgeiziger sein, eine S-NB aus dem Erdorbit holen und auf eine Mondumlaufbahn bringen.
Doch damit war Michaels nicht einverstanden. Michaels sagte, falls sie nicht gleich zu einer Einstellung des Nuklearprogramms gezwungen würden, sollten sie lieber noch ein paar unbemannte Tests durchführen und dann das ApolloN-Missionsprofil wiederholen. Wenn Apollo-N eine sinnvolle Mission gewesen war (und wenn nicht, wieso hatten sie dann drei Leute verloren?) schuldeten sie es dem Programm und dem Andenken an die Besatzung, die Mission durchzuführen.
Seger hielt das für ein rein emotionales Argument.
Sie kauten das stundenlang durch. Manchmal bedauerte Seger es, daß seine persönliche Meinung so stark von Michaels’ und Josephsons Standpunkt abwich. Er mußte sich vorsehen, daß er sich nicht selbst ins Abseits stellte. Wo der erste Schock der Havarie jedoch abgeklungen war, kehrte seine Zuversicht zurück. Er hatte die Sache im Griff. Der Unfall war eine abgeschlossene Sache und lag noch innerhalb der Bandbreite dessen, was menschliche Wesen zu verstehen und zu lösen imstande waren, und man durfte nicht zulassen, daß diese Tragödie die größeren Ambitionen beeinträchtigte.
Er versuchte, im Büro ein Nickerchen zu machen, doch er fand keinen Schlaf.
Spätestens um sieben Uhr morgens war er entweder in >O< oder telefonierte mit den Leuten in Cape Canaveral, Houston und Marshall, die sich rund um die Uhr mit den Facetten der Havarie beschäftigten.
Am Ende der ersten Woche flog er nach Houston und verbrachte den Abend mit seiner Familie. Am nächsten Tag fuhr er mit Fay nach Timber Cove und El Lago und stattete den
Frauen und Familien von Jones, Priest und Dana einen Besuch ab.
Und am Sonntag hieß es zurück nach Cape Canaveral, wo er sich wieder in die Untersuchungen stürzte.
Er arbeitete mit einer Intensität, die bisher unerreicht war. Das war die einzige Möglichkeit, seine Gefühle wegen des Zwischenfalls zu sublimieren: er mußte sie mit Arbeit ausbrennen und dafür sorgen, daß so etwas sich nicht wiederholte. Und einen großen Teil der Freizeit verbrachte er allein in der Kirche, mit Gebeten und in Kontemplation versunken. Auf diese Art bewältigte er das alles.
In gewisser Weise hatte er auch Spaß daran. In dem Maße, wie er die Dinge in den Griff bekam, wurde er von Kraft, Mut und Zuversicht erfüllt. Er betete jeden Tag und hatte das Gefühl, daß Gott ihm beistand.
Manchmal brauchte er etwas Unterstützung beim Einschlafen. Ein paar Tabletten oder ein, zwei Schnäpse. Das gestattete er sich. Er stand unter Strom, wie er seiner Frau sagte; er war wie ein Flugzeug, das den Nachbrenner gezündet hatte.
Donnerstag, 8. Januar 1981
. Bei der Einlieferung litt Oberst Priest an Übelkeit, Schüttelfrost und innerer Unruhe. Er hatte glasige Augen. Die Körpertemperatur betrug vierzig Grad. Man hatte ihn aus dem Druckanzug geschnitten. Er mußte sich wiederholt übergeben und litt an Schwellungen des Gesichts, des Halses und der oberen Extremitäten. Die Arme waren so stark angeschwollen, daß der Blutdruck nicht mit der normalen Manschette gemessen werden konnte. Die Krankenschwestern mußten sie verlängern.
Er war zeitweilig bei Bewußtsein und vermochte manchmal klar und logisch zu denken, doch ich gelangte zu der Auffassung, daß er zu schwach war, um sich zum Hergang des Unfalls zu äußern.
Die Angehörigen und ein paar meiner Mitarbeiter fühlten sich wegen Priests Sprachschwierigkeiten und der zeitweiligen Verwirrtheit unbehaglich.
Vierundzwanzig Stunden nach der Einlieferung gab ich die Anweisung, vier Knochenmarksproben aus Priests Brustbein und Beckenknochen (jeweils vorn und hinten) zu nehmen. Priest ließ den Vorgang geduldig über sich ergehen. Anhand der Proben wurde die Strahlenbelastung des Körpers bestimmt. Am vierten und fünften Tag nach der Einlieferung hatte Priest starke Schmerzen, die von Verletzungen der Schleimhäute des Mundes, der Speiseröhre und des Magens herrührten. Die Schleimhäute lösten sich in Schichten ab. Priest litt sowohl an Schlaf- als auch an Appetitlosigkeit. Am sechsten Tag schwoll das rechte Schienbein, von dem sich nun auch die Haut löste, an. Es fühlte sich an, als ob es kurz vor dem Platzen stünde; dann wurde es steif und schmerzte.
Am siebten Tag ordnete ich nach der Diagnose einer starken Agranulozytose - eines Rückgangs der Anzahl in körniger Form vorliegenden Leukozyten, die für die Immunabwehr zuständig sind - eine Gabe von siebenhundertfünfzig Millilitern Knochenmark mit Blut an.
Dann wurde Priest in einen mit ultraviolettem Licht sterilisierten Raum verlegt. Eine Periode von Darmsyndromen setzte ein: Darmentleerungen erfolgten fünfundzwanzig- bis dreißigmal alle vierundzwanzig Stunden und enthielten Blut und Schleim. Es wurden Tenesmus, Rumoren und Flüssigkeitstransport in der Region des Blinddarms festgestellt. Aufgrund der schweren Läsionen im Mund und Oesophagus nahm Priest für mehrere Tage nichts zu sich. Wir versorgten ihn intravenös mit Nährlösung. In der Zwischenzeit erschienen weiche Bläschen am Damm und Gesäß, und das rechte Schienbein war bläulich-purpurn angeschwollen. Es glänzte und ließ sich leicht eindrücken.
Am vierzehnten Tag fiel Oberst Priest das Haar aus. Es war ein kurioser Vorgang: das Haar am Hinterkopf und am restlichen Körper fiel aus. Er wurde schwächer, und die Phasen der Bewußtlosigkeit und Verwirrtheit wurden länger.
Am 2. Januar, einem Freitag, dem dreißigsten Tag nach dem Unfall, sackte Priests Blutdruck plötzlich ab.
Siebenundfünfzig Stunden später starb Oberst Priest; als unmittelbare Todesursache stellte ich akute myokardiale Dystrophie fest.
Unter dem Mikroskop war Priests Herzgewebe nicht mehr zu erkennen. Die Zellkerne waren nur noch Klumpen aus zerrissenen Fasern. Die Feststellung ist zutreffend, daß Priest an der Strahlung selbst gestorben ist und nicht an sekundären biologischen Veränderungen. Meine Herren, die Rettung solcher Patienten ist unmöglich, wenn das Herzgewebe erst einmal zerstört ist.
Von der dreiköpfigen Besatzung der Apollo-N war nur Oberst Priest noch am Leben, als die Kapsel nach dem Wiedereintritt geborgen wurde. Die Strahlung vom explodierten Kern der NERVA hatte Oberst Priest von hinten erfaßt und Rücken, Waden, Damm und Gesäß am stärksten in Mitleidenschaft gezogen.
Seine Mutter, Ehefrau und Sohn waren bei seinem Tod zugegen.
Bericht der Präsidialen Kommission zum Zwischenfall mit Apollo-N, Band 1: Aussage von Dr. I. S. Kirby vor dem Medizinischen Analysegremium (Auszug). Washington, DC: Bundesdruckerei, 1981.
Januar 1981
Lyndon B. Johnson-Raumfahrt Zentrum;
Clear Lake, Houston
In einem der Nebenräume des MOCR wurden die tele-metrischen Daten untersucht, die das Kontrollzentrum in den letzten Minuten vor der Havarie von Apollo-N empfangen hatte. Die Wände waren mit Ausdrucken von jedem Sensor tapeziert, mit dem die Besatzung und das Raumschiff verbunden gewesen waren.
Hier saß Natalie York nun. Sie hörte die Bänder mit den Stimmaufzeichnungen aus der Kabine der Kommandokapsel ab, las Protokolle durch und versah sie mit Anmerkungen.
Die Besatzungsmitglieder hatten sich wie Wissenschaftler verhalten. Das war auch nicht verwunderlich - schließlich ging es darum, Daten zu sammeln. Hatten den Astronauten schon zu einem früheren Zeitpunkt Hinweise vorgelegen, daß sich Probleme mit der NERVA anbahnten? Vielleicht würde eine gründliche Analyse der Bänder Aufschluß darüber geben und weitere Anhaltspunkte für die Aufklärung des Falls liefern.
Und York war in ihrer Eigenschaft als Leiterin der Kommunikation an jenem Tag geradezu prädestiniert, ihre Worte zu interpretieren.
Sie mußte sich die Bänder immer wieder anhören.
Bei jedem Durchgang hatte York den Eindruck, den ganzen Zwischenfall noch einmal zu durchleben. Ist es wegen mir schiefgegangen? - Wenn Mike nur nicht so passiv gewesen wäre. Wenn sie nur mehr Gespür für die Entwicklung bewiesen hätte - wenn sie imstande gewesen wäre, Ben zu warnen, daß der Kern außer Kontrolle geriet, hätte er die Kontrolle über die Kommandokapsel übernommen und das verdammte Ding abgeschaltet.
Schließlich gelangte York an den Punkt, wo sie spürte, daß es ihr das Herz zerreißen würde, wenn sie sich Bens schwächer werdende Stimme noch einmal anhören müßte.
Ich glaube, die Sache zwischen uns wird für immer offenbleiben, Ben. O Gott.
Man hatte ihr nicht einmal erlaubt, ihn vor seinem Tod noch einmal zu sehen.
»Mama?«
»Ich komme zu dir, Natalie.«
»Nein, Mama.«
»Versuch nicht, mich davon abzubringen. Ich weiß, daß du mich jetzt brauchst.«
»Wieso?«
»Ich weiß, wieviel Ben dir bedeutet hat.«
Das verschlug York zunächst die Sprache; sie wollte sogar schon auflegen. »Was weißt du davon?«
»Du bist nicht sehr erfahren in dieser Hinsicht, nicht wahr, meine Liebe? Ich habe dich auf der Party gesehen, kurz nachdem du nach Portofino gezogen warst. Es war offensichtlich, Natalie. Selbst wenn ich nicht deine Mutter gewesen wäre, hätte ich es gewußt. Ich mußte mir nur ansehen, wie ihr beide miteinander umgegangen seid. Wie ihr euch geflissentlich aus dem Weg gegangen seid. Und wenn ihr euch dann doch begegnet seid, schient ihr so vertraut, als ob ihr euch auch ohne Worte verständigen würdet.«
Mein Gott. Ich bin wohl keine sehr gute Schauspielerin. Wissen dann alle Bescheid?
Ein Schlüsselbund rasselte an der Tür.
»Ich muß Schluß machen, Mama.«
»Ich komme dich besuchen.«
»Nein.«
»Ben Priest war verheiratet, nicht wahr? Ich habe es in.«
»Mach’s gut, Mama.« Sie legte auf.
Mike Conlig stand im Raum und schaute sie an. Er trug eine Reisetasche mit Aufklebern von Fluggesellschaften, aus denen hervorging, daß er in Marshall gewesen war.
Es war das erstemal, daß sie ihn seit der Havarie gesehen hatte. Das war über einen Monat her.
»Du warst erstarrt«, sagte York spontan. »Du warst erstarrt. Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht, Mike?«
Mike stellte die Tasche ab und ging mit seinem schweren Mantel im Apartment auf und ab. Er hatte einen ungepflegten Pferdeschwanz, und sein Bart überwucherte den Hals. »Ich war nicht erstarrt«, sagte Conlig.
»Wenn du wußtest, daß du kein Wort mehr rausbringen würdest, hättest du deinen Platz zur Verfügung stellen müssen«, sagte York. Sie spürte einen Kloß im Hals und einen Druck hinter den Augen; doch sie mußte das durchstehen, ohne die Fassung zu verlieren. »Du hattest eine Verantwortung! Diese Männer im Orbit hatten sich auf dich verlassen.«
Mit unwirschem Gesichtsausdruck schaute er auf sie herab. »Ich sehe dich seit einem Monat zum erstenmal wieder, und du gehst gleich zum Angriff über. Ich wünsche dir ein gutes beschissenes Neues Jahr, Natalie. Dann habe ich sie also getötet. Willst du das damit sagen?«
»Aber die verdammte NERVA war noch nicht einsatzbereit. Oder?«
»Natalie, du weißt doch gar nicht, wovon du sprichst.«
»Oder? Du hattest seit Jahren an den Kühlsystemen gearbeitet, und dann hat sich das verdammte Ding überhitzt und ist explodiert.«
»Ich wußte, was ich tat, Natalie.«
»Du wußtest, daß es bei der NERVA zu einer Kernschmelze kommen würde?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, verdammt. Natalie, ein Abbruch wäre die einfachste Sache von der Welt gewesen. Wenn ich abgebrochen hätte, wäre die Mission verloren gewesen.«
»Aber nicht die drei Menschen.«
».und vielleicht«, fuhr er verstockt fort, »hätten wir nie erfahren, was schiefgegangen ist. Und wir hätten das Leben von drei weiteren Leuten riskieren müssen, um es herauszufinden.« Er zupfte sich nervös am Bart. »Es ging so schnell, daß ich einfach nicht sicher war. Ich hoffte, die Lage würde sich wieder stabilisieren und wir würden die NERVA unter Kontrolle behalten. Es hätte auch anders kommen können, Natalie, und dann wäre es uns erspart geblieben, weitere Menschenleben zu riskieren. Doch genau das müssen wir nun tun. Es ist eine reine Kosten-Nutzen-Frage.«
Sie war entsetzt. »Mein Gott, bist du ein Arschloch. Du hast sie umgebracht.«
»Aber das stimmt doch nicht«, sagte er mit quengelnder Stimme. Er fühlte sich mißverstanden. »Schau: Die NASA ist einfach zu vorsichtig. Jede Sicherheitsmaßnahme erhöht die Komplexität und die Kosten einer Mission. Mit geringerem Sicherheitsaufwand wäre es uns gelungen, den Mond etwas früher zu erreichen und viel mehr Forschungsarbeiten durchzuführen, und.«, fuhr er trotzig fort, »ja, und wir hätten ein paar Märtyrer geschaffen.«
»Wie kannst du nur von Märtyrern sprechen? Wenn du es nicht verbockt hättest, wäre Ben jetzt noch am Leben. Und die anderen, verdammt.«
»Ach, sicher. Der wertvolle Ben. Darum geht es dir also, stimmt’s?« Er war nun richtig wütend.
»Was soll das jetzt heißen?«
Er schnaubte. »Ich weiß alles über dich und diesen abgefuckten Ben Priest, Natalie. Komm schon. Ich weiß es seit Jahren.«
Du auch? Sie wollte das schon dementieren und ihm sagen, daß er sich irrte. Doch Ben war tot. Das wäre unter ihrer Würde.
Er schüttelte den Kopf. »Ich will die Einzelheiten gar nicht wissen. Es interessiert mich einen Scheiß. Und weißt du was? Ich glaube, es hat mich nie interessiert.«
Sie beobachtete ihn, wie er im Raum umhertigerte. Er wirkte wie ein Fremder, ein Außerirdischer in ihrem Apartment. »Nein. Es hat dich nie interessiert, nicht? Ich kann nicht glauben.«
»Was?«
»Ich kann nicht glauben, daß ich dich jemals geliebt habe.«
Er stutzte und schaute sie an; doch dann wurde sein Gesicht wieder maskenhaft starr vor Zorn. »Ja, schön, glaub was du willst.«
»Wie kannst du das ausgerechnet jetzt sagen? Ben ist tot, um Gottes willen.«
»Ich weiß, daß er tot ist!« schrie er. »So tot wie meine abgefuckte Karriere!«
»Ist das alles, was dich interessiert?«
Nun verzehrte er sich fast vor Wut. »Ja. Ja, vielleicht ist das alles. Das und die Tatsache, daß es wahrscheinlich das Aus für das Nuklear-Programm bedeutet.«
»Raus hier!« sagte York.
»Omelett und Eier, Natalie! Man erreicht nichts, wenn man nicht ein paar Risiken eingeht. Und mit dem, was wir aus diesem Flug gelernt haben - falls wir wieder fliegen dürfen -, werden wir es beim nächstenmal richtig machen.« Unter der Wut in seiner Stimme glaubte sie noch immer Verletzlichkeit herauszuhören, das Flehen um Verständnis. »Mein Gott,
Natalie, wir könnten schon auf dem Mars sein. Aber die abgefuckte NASA.«
Sie wandte sich von ihm ab. »Hau ab! Hau ab, Mike!«
Sie sah ihm nicht einmal nach.
Mike hatte in gewisser Weise recht. Er hatte eine Wahrheit ausgesprochen, die von vielen in der NASA auch als solche empfunden wurde. Wenn wir nur keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen müßten und mit voller Kraft weitermachen dürften.
Geringere Zuverlässigkeit bedeutete nämlich geringere Entwicklungskosten und eine schnellere Umsetzung in die Praxis.
Das war ein ebenso heimtückisches wie verführerisches Argument.
Die Maschine ist alles! Ja, wir müssen Menschen in diese Maschinen stecken, und wir haben ein paar Probleme damit, und ein paar von ihnen zerbrechen an ihren Erfahrungen, und ein paar weitere sterben auf qualvolle und wenig heldenhafte Art - wie der liebe Ben, der in einem Krankenhausbett verrottet und einen Monat nach dem Flug gestorben war -, aber der Zweck heiligt nun einmal die Mittel.
Zumal wir keinen Mangel an Bewerbern haben.
Und am schlimmsten war, daß die NASA - ein Kind des Kalten Kriegs - nie die Wahrheit über eine Situation sagte, wenn sie nicht dazu gezwungen wurde. Und schon gar nicht, wenn diese Wahrheit ihr eine schlechte Presse bescherte. Das alles verbarg sich hinter dem Glanz: die Gefahren, das qualvolle Sterben, der fast psychotische Wunsch mancher Ingenieure und Besatzungsmitglieder, ins All zu fliegen.
Es ist nicht nur Mike. Es gibt nicht einmal >sie<, denen man die Schuld geben könnte.
Alle Astronauten steckten mit drin: all jene, die sich freiwillig selbst für die gefährlichste Mission meldeten und der Verschleierungstaktik Vorschub leisteten. Das galt sogar für Ben. Er hatte an NERVA mitgearbeitet; er mußte von ihrer mangelhaften Einsatzbereitschaft gewußt haben.
Auch ich, gestand sie sich schließlich ein. Sogar ich bin schuldig. Für die Arbeit bei der NASA kompromittiere ich meine wissenschaftlichen Grundsätze. Doch das ist noch nicht alles.
Indem ich an dem Programm teilgenommen habe, indem ich ihm meine stillschweigende Unterstützung gewahrt habe, bin ich genauso mitschuldig an Bens Tod wie die defekte NERVA.
Sie setzte sich auf einen Stuhl, schlang die Arme um den Körper und legte den Kopf auf die Knie.
Und nun muß ich mich entscheiden. Soll ich aussteigen? Vielleicht die Wahrheit in die Welt hinausschreien?
Oder soll ich bleiben, damit Bens Tod nicht umsonst war?
Etwas in ihrem Innern, kalt und hart und selbstsüchtig, sagte ihr, daß Ben es war, der gestorben sei, und nicht sie. Und der Mars war immer noch da und wartete auf sie.
Vielleicht rationalisierte sie nur; vielleicht versuchte sie nur, ihr Verbleiben im Programm zu rechtfertigen.
Und vielleicht hatte sie Mike mit seinem Gerede von den Märtyrern nur deshalb rausgeworfen, weil ein Teil ihrer Seele seiner brutalen Analyse zustimmte.
Am nächsten Tag ließ sie die Schlösser auswechseln, packte Mikes Kram und schickte ihn nach Huntsville. Und dann bot sie das Apartment in Portofino zum Verkauf an.
Dienstag, 20. Januar 1981 NASA-Hauptquartier, Washington
Nachdem das Manuskript des internen Berichts der NASA auf seinem Schreibtisch gelandet war, bestellte Michaels Seger, Muldoon und Udet zu einer Besprechung in sein Washingtoner Büro.
Die drei saßen in einer Reihe an der anderen Seite des Schreibtischs. Muldoon wirkte angespannt, ärgerlich und unbehaglich. Seger machte einen energischen und fast schon zu fröhlichen Eindruck. Und Udet gab sich reserviert und musterte Michaels und die anderen Anwesenden mit seinen himmelblauen Augen.
Michaels nahm das Manuskript in die Hand und legte es wieder auf den Tisch. »Ich habe versucht, das zu lesen. Ich weiß, daß ich jeden Punkt beantworten muß. Meine Herren, ich möchte, daß Sie diese verfluchte Explosion mit mir durchgehen. Schritt für Schritt, von vorne nach hinten und zurück - so lange, bis ich es begriffen habe. Haben Sie das verstanden? Hans, möchten Sie anfangen?«
Udet nickte energisch. »Natürlich, Fred. Der Defekt trat auf, als wir die S-NB auf die Wiederanlauf-Zündung vorbereiteten. Ich möchte Sie indes darauf hinweisen, daß die Rakete während der ersten Brennphase einwandfrei funktioniert hatte.«
»Ich erinnere mich.«
»Die Moderatoren wurden eingeregelt, um den Kern auf die Betriebstemperatur von dreitausend Grad zu bringen. Die Turbopumpen wurden gestartet, und dann floß Wasserstoff durch den Kühlmantel und den Kern. Wir registrierten einen Schubanstieg auf den Nominalwert; das Kabinen-Protokoll belegt, daß die Besatzung davon Kenntnis hatte. Dann.«
»Und dann«, sagte Joe Muldoon trocken, »ist ein Störfall eingetreten.«
Der Fluß des flüssigen Wasserstoffs in die Kühlmäntel geriet ins Stocken, sagte Udet. Später stellte sich, heraus, daß sich in den Rohrleitungen, die den Wasserstoff zum Triebwerk transportierten, ein Leck gebildet hatte.
»Hätte man den Kern nicht runterfahren müssen, als das eintrat?« fragte Michaels.
»Ja, das ist die Standard-Prozedur«, sagte Muldoon. »Ohne Kühlmittel überhitzt sich der Kern.«
»Wir hatten gerade einmal einen Sekundenbruchteil, um eine Entscheidung zu treffen«, sagte Udet. »Mehr nicht. Bei einem Abbruch hätten wir vielleicht das ganze Triebwerk verloren, und die Mission wäre ein Fehlschlag geworden. Und vielleicht grundlos, wenn die Flußprobleme sich selbst behoben hätten.«
»In Ordnung, Hans. Fahren Sie fort.«
»Wir regelten die Moderatoren ein, um die Kerntemperatur zu senken, bevor wir ihn abschalteten. Doch es gelang uns nicht, die Zieltemperatur zu erreichen.«
»Und hier haben wir auch schon den ersten grundlegenden Konstruktionsfehler, Fred«, sagte Muldoon.
Udet und Seger beugten sich nach vorn, um Widerspruch einzulegen, doch Michaels bedeutete ihnen, zu schweigen.
»Wir hatten nur einen Regelkreis - den Moderator des Reaktors - und folglich nur eine Option zum Herunterfahren. Als die wegfiel, war es uns nicht mehr möglich, den Temperaturanstieg umzukehren.«
Michaels nickte. »Hans?«
Udet machte eine ausladende Geste. »Wir müssen einen Kompromiß finden zwischen Zuverlässigkeit und Gewicht, Fred. Das ist seit jeher das Dilemma des Raumflugs: soll man lieber die Nutzlast erhöhen oder doch ein zusätzliches Redundanzsystem einbauen? Unserer Ansicht nach war das
Moderator-System in diesem Fall hinreichend zuverlässig, um den Flug zu vertreten - auch ohne die Installation eines weiteren Sicherheitssystems, das nur zu einer unnötigen Erhöhung des Gewichts geführt hätte.«
»Bert? Möchten Sie sich dazu äußern?«
Seger, dessen Augen funkelten, zuckte die schmalen Schultern. »Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand; wir haben alle Tests durchgeführt. Aber wir haben dennoch einen Fehler gemacht. Beim nächsten Flug einer NERVA werden wir das behoben haben.«
So etwas kommt eben vor. Diese Antwort war kaum geeignet, die Kommission des Weißen Hauses zufriedenzustellen, sagte Michaels sich düster.
»Weiter, Hans.«
»Inzwischen«, sagte Udet, »wußte die Besatzung, daß der Schub nach der ersten Brennphase ausgesetzt hatte. Seit der ersten Störung im Fluß waren erst ein paar Sekunden verstrichen. Nun stieg der Wasserstofffluß deutlich an«, sagte Udet. »Ein Strahl spritzte aus der lecken Leitung. Der Wasserstoff überschritt den nominalen Durchsatz und flutete den Kern förmlich. Wir haben den Moderator weiter heruntergeregelt.«
»Und an dieser Stelle hätte gemäß der Standardprozedur der Reaktor wieder heruntergefahren werden müssen«, sagte Muldoon barsch. »Der Regelbereich war zu schmal geworden; wir hatten den Kern nicht mehr unter Kontrolle. Dennoch haben wir die Automatik erneut übergangen.«
»Wir versuchten, die Mission zu retten«, sagte Udet.
»In Ordnung. Wir sollten uns an die Fakten halten; rechtfertigen können wir uns später. Was geschah dann?«
»Dann brach der Kühlmittelfluß in den Kern ab«, sagte Udet. »Vielleicht haben die Leitungen in diesem Augenblick ganz versagt.«
»Das ist der entscheidende Moment, Fred«, sagte Muldoon. »Wir haben einen Reaktor, der bereits instabil ist. Durch die Wasserstoffflut ist der Kern isotherm geworden - das heißt, überall herrscht dieselbe Temperatur -, so daß die Veränderungen simultan im ganzen Kern erfolgen. Und der Kühlmittelfluß ist unterbrochen - die wichtigste Wärmesenke des Kerns, der Wasserstoffluß durch den Mantel, ist verschwunden.«
»Also erhitzt er sich nun.«
»Also erhitzt er sich nun. Im gesamten Bereich des Kerns. Und viel schneller als zuvor.«
»Wir versuchten, ihn herunterzufahren«, sagte Udet. »Doch der Moderator war zu weit außerhalb des Kerns, um schnell genug zu reagieren. Der Wasserstoff im Kern und im Mantel erreichte den Siedepunkt und expandierte.«
»Und dann ist der Kern durchgegangen«, sagte Muldoon. »Weil der Reaktor für einen positiven Temperaturkoeffizienten ausgelegt war.«
Michaels seufzte und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Tun Sie einfach so, als wüßte ich nicht, wovon Sie sprechen.«
Muldoon grinste verkniffen. »Ich weiß. Ich habe auch eine Weile gebraucht, um die Zusammenhänge zu erkennen. Schauen Sie: angenommen, die Temperatur des Kerns steigt. Nehmen wir außerdem an, der Kern sei so ausgelegt, daß bei einem Temperaturanstieg die Reaktivität sinkt - das heißt, die Reaktionsgeschwindigkeit sinkt automatisch. Das wird als >negativer Temperaturkoeffizient< bezeichnet. In diesem Fall hat man eine negative Rückkopplungsschleife: die Reaktion fällt ab, und die Temperatur fällt ebenso.«
»Gut. Es handelt sich um eine Art Selbstkorrektur. Auf diesem Prinzip basieren die Reaktoren von Atomkraftwerken. Doch im Fall der NERVA war dieser Koeffizient positiv, zumindest in einem Teil des Temperaturbereichs. Als die Temperatur anstieg, erhöhte die Reaktivität sich auch.«
»Und die Geschwindigkeit der Kernspaltung erhöhte sich ebenfalls und führte somit zu einem weiteren Anstieg der Temperatur.«
»Und so weiter. Ja.«
Michaels sah Udet düster an. »Ich habe das abgefuckte Prinzip nun begriffen, Hans. Wieso, zum Teufel, sind wir mit einem instabilen Reaktor geflogen?«
Udet beugte sich nach vorn. Er war blaß im Gesicht, und die Halsmuskulatur war vor Zorn angespannt. »Sie müssen wissen, daß wir hier keine Reaktoren für Atomkraftwerke bauen. Wir machen keinen >Dampf unter dem Kessele. NERVA 2 ist ein Hochleistungs-Triebwerk, ein semi-experimentelles Flugmodell. Stabilität genießt bei uns nicht immer höchste Priorität.«
Michaels runzelte die Stirn. Und du haßt es, auf diese beschissenen Fragen zu antworten, nicht wahr, Hans? »Und weshalb brauchen wir Instabilität? Wie meinen Sie das?«
»Es gleicht einem Hochleistungsflugzeug, Fred«, sagte Seger. »Ein Schiff, das zu stabil ist, wird sich suhlen wie ein Schwein - bildlich gesprochen. Deshalb ist Instabilität ein bewußtes Konstruktionsmerkmal. Ein instabiler Vogel ist in der Lage, schnell von einer Fluglage in die andere zu wechseln; wenn man das zu kontrollieren vermag, erhält man eine große Manövrierfähigkeit.«
»Das ist aber ein großes >wenn<, Bert. Zumal wir in der Praxis offenkundig nicht in der Lage waren, den Vogel zu kontrollieren. Hans, weshalb haben Sie das Regelsystem nicht entsprechend ausgelegt?«
Udet unterstrich jedes seiner Worte, indem er mit der Handkante auf Michaels’ Schreibtisch hieb. »Wegen. der. inakzeptablen. Gewichtszunahme.«
Michaels hatte allergrößte Bedenken, diesen Mann vor der Kommission aussagen zu lassen. »Weiter. Was geschah dann?«
»Die Ereignisse liefen dann in schneller Folge ab«, sagte Udet. »Die Leistungsabgabe stieg exponentiell an und verdoppelte sich in Sekundenbruchteilen. Die BrennstoffKügelchen - mit pyrolytischem Kohlenstoff überzogenes Urankarbid - wurden durch den thermischen Schock aufgrund des plötzlichen Leistungsanstiegs zertrümmert. Die Flußkanäle innerhalb des Kerns schmolzen. Die Moderator-Systeme versagten. Es erfolgte eine Wasserstoffexplosion, die den Druckmantel und den biologischen Schild zerstörte.«
»In Ordnung.« Michaels schauderte. »Den Rest kennen wir bereits.« Mein Gott. Was für ein Schlamassel. »Dann wurde das alles also durch ein beschissenes Leck in einer Wasserstoffleitung verursacht.«
Bert Seger nickte. »Das Szenario ist wohl nicht so schlimm, wie Sie vielleicht befürchtet hatten«, sagte er dann. Michaels war perplex.
»Nicht so schlimm? - Wovon, zum Teufel, reden Sie, Bert?«
»Die Beeinträchtigung des Wasserstoffflusses rührte von einem simplen Materialfehler her. Es handelte sich um Risse, die auf zirka zwei Metern Länge in einer EdelstahlBrennstoffleitung mit einem Durchmesser von fünfzehn Millimetern aufgetreten sind, die flüssigen Wasserstoff vom Tank zum nuklearen Triebwerk transportierte. Mehr nicht. Es dürfte ein leichtes sein, das abzustellen.«
»Und weshalb ist die verdammte Leitung überhaupt gerissen?«
»Nun, wir hatten einen neuentwickelten Schwingungsdämpfer eingebaut«, sagte Seger. »Jede Leitung war mit zwei schwingungsdämpfenden Faltenbälgen bestückt, deren Oberfläche aus einem Drahtgeflecht bestand. Als die neue Leitung Schwingungstests auf dem Boden unterzogen wurde, haben sie perfekt funktioniert.«
»Wieso.«
»Es stellte sich heraus«, sagte Udet, »daß der durch die Leitung fließende flüssige Wasserstoff in der Atmosphäre Eisbildung auf dem Drahtgeflecht verursachte. Und dadurch veränderte die Charakteristik der Bälge sich so sehr, daß sie nicht mehr in der Lage waren, die Schwingungen der Leitungen zu dämpfen.«
»Aha«, sagte Michaels. »Aber im Vakuum kann sich doch gar kein Eis bilden.«
»Und die Bälge vibrierten dann wie Preßlufthämmer«, sagte Joe Muldoon. »Als die erste Saturn-Stufe schließlich ins Taumeln geriet, waren die Bälge überfordert. Sie platzten einfach.«
»Weshalb haben Sie die Eisbildung nicht bemerkt, während Sie die Bälge auf dem Boden einem Vakuumtest unterzogen?« fragte Michaels Udet.
Udet sah Michaels ins Gesicht; er machte einen ruhigen, ja beinahe zuversichtlichen Eindruck. »Wir haben dieses Bauteil keinem Vakuumtest unterzogen. Wir sahen hierfür keine Notwendigkeit.«
Michaels hielt seinem Blick für lange Sekunden stand, doch es kam nichts mehr: keine weiteren Informationen, keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung. »Ich stecke ganz schön in der Scheiße. Joe?«
Muldoon beugte sich über den Schreibtisch und tippte auf den Bericht. »In dieser Hinsicht sind wir verantwortlich, Fred. Diese gottverdammten Bälge waren hochkritische Komponenten: das heißt, ihr Versagen hätte zum Verlust des ganzen Raumschiffs geführt. Aber wir haben sie nicht unter realen Einsatzbedingungen getestet. Und, was noch schlimmer ist, wir haben mittlerweile auch Beweise für Probleme mit den
Bälgen, die beim unbemannten S-NB-Testflug aufgetreten sind - obwohl die Mission seinerzeit nicht gescheitert war.«
Ich bin totes Fleisch, erkannte Michaels.
Der Defekt wäre vorhersehbar gewesen, und das war immer tödlich. Und wie immer hatte wohl ein kleines Arschloch von Techniker in Marshall oder Cape Canaveral einen Bericht geschrieben, der exakt den Defekt vorhersagte, der dann auch eingetreten war, einen Bericht, der von der Führung der NASA verlacht und zurückgehalten worden war, ein Bericht, der nun ohne Zweifel irgendeinem Kongreßabgeordneten in die Hände fiel.
»Verantwortlich. Mein Gott. Wie ich dieses Wort hasse.«
Michaels erhob sich. Er trat ans Fenster, verschränkte die Arme auf dem Rücken und ließ den Blick über Washington schweifen. Der durch den Smog weichgezeichnete Himmel wurde bereits dunkel.
»Ich will die Konsequenzen dieser Angelegenheit nicht beschönigen, meine Herren. Das ist eine Katastrophe, vom Verlust der Besatzung ganz zu schweigen. Alle Grünen dieser Welt werden mich aufs Korn nehmen. Allein schon wegen der Bergung der radioaktiven Kommandokapsel sind wir ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Vor dem Flug gab es bereits eine starke Opposition gegen den Transport radioaktiver Substanzen ins All. Und nun machen die Russen von ihrer beschissenen Sojus aus Bilder des verdammten radioaktiv glühenden Kerns, den wir im Orbit zurückgelassen haben.
Sie haben recht, Joe; ich bezweifle nicht - genauso wenig wie die Öffentlichkeit, der Kongreß und das Weiße Haus -, daß wir verantwortlich sind. Und nun müssen wir bei uns aufräumen, und zwar so, daß jeder es sieht.
In Ordnung, meine Herren. Welche Maßnahmen empfehlen Sie als nächstes?«
Seger meldete sich. »Meine Empfehlung lautet, wegen dieser Sache nicht in Panik zu geraten, Fred. Ich habe Sie verstanden; die Havarie, die wir erlitten haben, wäre vermeidbar gewesen. Daran besteht kein Zweifel. Aber die Probleme sind lösbar und überschaubar. Wir müssen die S-NB so bald wie möglich wieder ins All schicken - und zwar mit einer Besatzung - und den Mars in Angriff nehmen. Wir dürfen nicht die Nerven verlieren. Das ist die Botschaft, die Sie dem Kapitol überbringen müssen, Fred.«
Alles nur Floskeln, sagte Michaels sich, vorgetragen in der für Seger typischen skurrilen und draufgängerischen Art und Weise.
»Hans?«
Udet seufzte. »Bert hat recht. Wir müssen das NERVA-Programm weiterverfolgen. Das ist die einzige Option, wenn wir zum Mars fliegen wollen.«
»Teufel, ich muß Ihnen widersprechen«, sagte Muldoon schroff. »Ihnen beiden. Ich glaube, daß wir, falls man uns nach diesem ganzen Schrott überhaupt noch fliegen läßt, das ganze System auf den Prüfstand stellen müssen: Raumschiff, Triebwerksstufen, Organisationsabläufe - einfach alles.«
»Und wenn Sie das tun«, sagte Seger hitzig, »dann riskieren Sie, alles zu verlieren. Am Ende dieses Prozesses wird ein unausgereiftes System stehen, überzüchtet und mit zu vielen Veränderungen befrachtet, das uns eine Reihe von Problemen bescheren wird, von denen wir uns bisher nicht haben träumen lassen.« Erneut richtete er seinen glasigen Blick auf Michaels. »Sehen Sie, Fred, dies ist eine lausige Sache, und ich wünschte, sie wäre nie passiert, weil sie mich wohl mein ganzes Leben lang verfolgen wird: was habe ich falsch gemacht, wie hätte ich das vermeiden können und so weiter. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um einen solchen Unfall in Zukunft zu verhindern. Doch letztlich fliegen wir hier
Experimental-Raumschiffe. Der Tod ist der ständige Begleiter eines Testpiloten - das war immer schon so. Man verliert ganze Besatzungen. Und das ist eine Wahrheit, mit der wir leben müssen.«
Michaels grunzte. Das Problem ist nur, daß man uns wohl nicht erlauben wird, damit zu leben.
Nachdem Udet, Seger und Muldoon gegangen waren, stand er noch für lange Zeit am Fenster.
Er vermochte sich nicht vorzustellen, daß die bemannte Raumfahrt ganz eingestellt werden würde. Das würde sich nämlich so verheerend auf die amerikanische Luft- und Raumfahrtindustrie auswirken, daß eine solche Maßnahme politisch nicht durchzusetzen wäre.
Doch rechnete er fest damit - und nahm es im Grunde schon als gegeben hin -, daß die NERVA erledigt war.
Und wie sollten sie ohne NERVA zum Mars fliegen, in dieser Dekade oder später? Würden sie sich damit begnügen müssen, im niedrigen Erdorbit herumzuhampeln?
. Vielleicht hatte er aber dringlichere Probleme.
Seger hatte geklungen, als ob er langsam die Nerven verlöre. Das beunruhigte Michaels. Beide Häuser des Kongresses würden jeweils eigene Anhörungen zu dem Zwischenfall anberaumen, sobald die Präsidiale Kommission ihren Bericht vorgelegt hatte. Michaels hatte inzwischen eine Ahnung, welcher Ton bei diesen Anhörungen angeschlagen werden würde: es waren Bestrebungen im Gange, Ingenieure der NASA - womit hauptsächlich Seger gemeint war - wegen grober Fahrlässigkeit anzuklagen.
Doch Michaels hatte von Tim Josephson und anderen gehört, daß Seger sechzehn Stunden am Tag arbeitete, drei bis vier Stunden schlief und die Freizeit in der Kirche verbrachte. Es hatte den Anschein, daß Seger sich mit körperlicher Erschöpfung und religiösem Eifer kasteite. Doch selbst das war manchmal noch zu wenig, und - wie Michaels gehört hatte -konsumierte Seger Tabletten und Alkohol, um sich noch den Rest zu geben.
Michaels befürchtete, daß Seger eine Anhörung nicht durchstehen würde. Und wenn er dann noch solche Sprüche brachte wie >begrenzter Schaden< und >alles unter Kontrolle< würden sie alle wie selbstgefällige Bastarde dastehen, und die Kongreßabgeordneten würden sie ans Kreuz schlagen.
Er schenkte sich einen Drink ein. Teufel. Wollten wir vielleicht doch zu viel auf einmal?
Er wurde die Erinnerung an den glasigen, fiebrigen Ausdruck in Segers Augen nicht mehr los.
Er wußte, daß er eine Entscheidung treffen mußte.
Mittwoch, 21. Januar 1981
Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Am Tag nach der Besprechung in Washington rief Fred Michaels Bert Seger in Houston an.
Er legte Seger ans Herz, Urlaub zu nehmen.
Seger war dazu aber nicht bereit. Er fühlte sich fit und war voller Tatendrang, zumal er bei der Aufklärung der Unfallursachen immer besser vorankam.
Sie beendeten das Telefonat, ohne die Angelegenheit abschließend geklärt zu haben.
Später am Tag besuchte Tim Josephson, der seit der Katastrophe außerhalb von Houston gearbeitet hatte, Seger im Büro.
»Sehen Sie, Bert, wir möchten, daß Sie einmal ordentlich ausspannen.«
»Aber ich habe das doch schon mit Fred besprochen.«
»Ich auch. Und ich habe bereits eine Pressemitteilung verfaßt, die morgen rausgehen wird.«
»Dann können Sie auch gleich meinen Rücktritt verkünden«, empörte Seger sich.
Josephson hielt seinem Blick stand und musterte ihn prüfend. »Bert, Sie sind überreizt. Sie sind nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.«
»Ach, wirklich? Woher, zum Teufel, wollen Sie das denn wissen? Sind Sie etwa ein Arzt, daß Sie mir eine Diagnose stellen können?« Er starrte auf Josephsons schmales, intelligentes Gesicht. »Was geht hier vor, Tim? Überreizt -was, verdammt noch mal, soll das? Ich glaube, Sie lassen sich von Gerüchten, Halbwahrheiten und Dingen leiten, die Sie gar nicht begreifen.«
»Wirklich?« fragte Josephson trocken.
»Wirklich. Hören Sie, mir und meinen Leuten geht es gut. Wir arbeiten mit den Jungs in Huntsville zusammen. Mit Gottes Hilfe werden wir das durchstehen. Was auch immer Sie gehört haben, ich werde keinen Zusammenbruch erleiden.«
»Darum geht es auch gar nicht, Bert. Niemand will.«
»Hören Sie, Tim. Wenn Sie eine psychiatrische Untersuchung anberaumen wollen, dann tun Sie das. Ich werde den Rat jedes kompetenten Psychiaters befolgen. Wenn er der Ansicht ist, daß ich mich einer Therapie unterziehen sollte, dann werde ich Ihnen Bescheid sagen. Aber ich akzeptiere weder von Ihnen, von Fred Michaels oder von sonst einem Amateur einen Befund meiner Psyche. Haben Sie das verstanden?«
Josephson machte einen nachdenklichen Eindruck. Dann nickte er mit ausdruckslosem Gesicht und verließ das Büro.
Seger widmete sich wieder seiner Arbeit; er hoffte, daß das nun erledigt sei.
Doch wenig später rief Josephson zurück und sagte, daß er noch für diesen Abend ein Gespräch mit zwei Psychiatern im Houston Medical Center arrangiert habe.
Segers Gespräch mit den Psychiatern dauerte drei Stunden, und sie teilten ihm ihre Schlußfolgerungen sofort mit.
Er stehe offensichtlich unter Streß, sagten sie, doch habe er keine Psychose. Es bestand nicht die Gefahr, daß Seger unter anhaltendem Druck zusammenbrechen würde.
In Hochstimmung kehrte Seger ins Büro zurück. Er rief Tim Josephson an und sagte ihm, er könne die Pressemitteilung zurückziehen. Dann kniete er im abgedunkelten Büro nieder und sprach ein Dankgebet.
Er hätte lachen mögen; er hatte nämlich das Gefühl, die Psychiater genasführt zu haben.
Am nächsten Tag rief Fred Michaels erneut an. Er versuchte, ihm eine neue Stelle schmackhaft zu machen, eine höhere Position im Büro für Bemannte Raumfahrt. »Sie haben sich lang genug mit der Technik befaßt, Bert, und Sie haben verdammt gute Arbeit geleistet. Doch nun brauchen wir jemanden, der uns dabei hilft, die NASA durch das Fahrwasser der nächsten paar Jahre zu steuern. Diese Aufgabe wird mindestens genauso schwer werden wie die Herausforderungen, vor denen wir bisher gestanden haben. Ich möchte, daß Sie auf die politische Ebene befördert werden. Ich möchte Sie mit den Kabinettsmitgliedern bekannt machen. Mit diesem Job hätten Sie den Gipfel erreicht, Bert.«
Klar. Den Gipfel im flachen Washington.
Seger zögerte. »So, wie Sie es sagen, hört es sich gut an, Fred.« Aber ich weiß, was wirklich dahintersteckt. »Fred, ich sage es Ihnen noch einmal in aller Offenheit: ob Sie mich nun aus dem Weg räumen oder nicht, es wäre ein Fehler, nun bei unseren Systemen umfassende Änderungen vorzunehmen. Verbesserungen sind offensichtlich vonnöten, aber sie sollten nur das Notwendigste umfassen. Sonst würden wir am Ende ein noch unzuverlässigeres System mit neuen Fehlerquellen bekommen.«
»Sehen Sie, Seger, ich kann das nicht mehr hören. Ich stimme nicht mit Ihnen überein. Ich sehe es eben nicht so, und ich glaube auch nicht, daß dies die herrschende Meinung in der NASA ist. Und ich weiß mit Sicherheit, daß es nicht die herrschende Meinung im Kapitol ist.«
»Was wollen Sie damit sagen, Fred? Ich bin doch bei Ihren Seelenklempnern gewesen, und.«
»Ich weiß.«
»Ich bin kein Psychotiker, Fred.«
»Das weiß ich auch«, sagte Michaels ruppig. »Und das freut mich auch für Sie. Aber das ist im Grunde gar nicht die Frage.«
»Was dann?«
»Ob Sie zum jetzigen Zeitpunkt der richtige Mann sind, um das Programm zu leiten.«
Seger nahm eine Heftklammer vom Schreibtisch und verbog sie.
Freitag, 30. Januar 1981 Soldatenfriedhof von Arlington
Michaels fröstelte trotz des Überziehers. Der Himmel war verhangen, und die Wolken schienen direkt über den Wipfeln der Bäume zu hängen. Gott sei Dank ist das die letzte.
Die Trauergäste standen in mehreren Reihen gestaffelt: dort war Jim Danas Familie - der arme, alte Gregory Dana, der Träumer aus Langley, stand in der ersten Reihe und hielt seine Frau und seine verwitwete Schwiegertochter umarmt. Dort waren die obligatorischen NASA-Manager und Ingenieure, Kongreßabgeordneten und Senatoren; und dort war der Vizepräsident der Vereinigten Staaten höchstpersönlich. Ganz vorne war eine Reihe von Astronauten angetreten und salutierte ihrem gefallenen Kameraden: Muldoon, York, Gershon, Stone, Bleeker und andere - Männer, welche die erste Mercury geflogen hatten, Männer, die auf dem Mond gelandet waren, Männer - und Frauen -, die vielleicht auf dem Mars landen würden. Und dort war Wladimir Wiktorenko, der mit Joe Muldoon in den Mondorbit gegangen war und auf dessen Erscheinen Muldoon bestanden hatte - Afghanistan hin oder her -, um das Astronautenkorps von der anderen Seite der Welt zu repräsentieren.
Es wurden drei Gewehrsalven abgefeuert, und ein Hornist blies eine getragene Weise. Die präzise choreographierte Beisetzung mit militärischen Ehren wollte kein Ende nehmen und wurde dadurch um so schmerzlicher.
Plötzlich ertönte ein Donnern, daß der Boden erbebte. Erschrocken blickte Michaels gen Himmel.
Vier Düsenjets flogen aus südwestlicher Richtung in rautenförmiger Formation an, nicht mehr als hundertfünfzig Meter über dem Boden. Die weißen Maschinen hoben sich gegen den bleiernen Himmel ab. Als die Staffel mit kreischenden Triebwerken über die Trauergemeinde hinwegjagte, scherte der Flügelmann aus der Formation aus und stieg senkrecht in den Himmel. Binnen weniger Sekunden war er in den Wolken verschwunden.
Die anderen drei Jets flogen mit glühenden Nachbrennern nach Norden.
Michaels wußte um die Symbolik der Formation. Der fehlende Mann. Er sah, daß die am Grab angetretenen Astronauten, Anfänger und Veteranen gleichermaßen, zu den Flugzeugen hinaufschauten.
Nachdem die Zeremonie beendet war, kämpfte Michaels sich durch die mit schwarzen Mänteln bekleidete Menge zu Joe Muldoon durch.
»Joe, ich muß Sie sprechen. Ich habe einen Auftrag für Sie.«
Muldoon sah ihn nur finster an. Er ragte wie ein Turm über Michaels auf, unbeugsam und einschüchternd. Die Muskeln zeichneten sich unter der Uniform ab, und das Gesicht war maskenhaft starr. Michaels sah, daß ein heiliger Zorn in dem Mann loderte.
Michaels holte tief Luft. Diesen Zorn mußte er sich nun zunutze machen. »Ich möchte, daß Sie das folgende für sich behalten: Ich werde Bert Seger versetzen. Ich lobe ihn ins Programm-Büro hoch. Ich habe ihm eine Stelle in Washington besorgt.«
»Das wird er nicht akzeptieren.«
»Er wird es akzeptieren müssen. Zum Teufel, Sie haben ihn doch in dieser Besprechung mit Udet erlebt. Ich mußte ihn aus der Schußlinie nehmen.«
Muldoon schüttelte den Kopf. »Bert hat verdammt hart gearbeitet. Und nichts davon war seine Schuld.«
»Ich will hier auch keine Schuldzuweisungen machen«, sagte Michaels dezidiert. »Das überlasse ich dem Kapitol. Mir geht es nur darum, das Programm voranzubringen, von der derzeitigen Phase bis zum Abschluß. Und in meinen Augen ist Bert Seger nicht mehr der richtige Mann für diese Aufgabe.«
»Wer sonst?«
»Sie.«
Muldoon schaute ihn mit offenem Mund an. Seine Augen waren runde blaue Scheiben, eine Karikatur der Verblüffung. »Ich? Sie machen wohl Witze. Ich bin kein Manager. Ich bin das Arschloch mit dem großen Maul, das Sie beinahe geschaßt hätten, wenn Sie sich erinnern.«
»Ja, Sie sind manchmal ein Arschloch«, antwortete Michaels patzig. »Aber ich vertraue Ihrem Urteilsvermögen bei den Dingen, auf die es ankommt. Sie sind schließlich ein MondSpaziergänger. Und Sie haben die Moonlab-Mission gut ausgeführt. Diese Übertragung.«
»Das war eine Provokation.«
»Moment. Hier unten hatte diese Übertragung die Wirkung einer Katharsis. Ich glaube, sie hat vielen Leuten, in der NASA und darüber hinaus, bei der Bewältigung des Unfalls geholfen. Und Sie haben sich bei der Untersuchung der Havarie bewährt.« Er seufzte. »Sehen Sie, Joe, ich brauche Sie, weil wir verdammt in der Klemme stecken. Ich weiß noch immer nicht, welche Richtung Reagan einschlagen wird. Aber ich weiß, daß wir durch den Unfall sehr schlechte Karten im Kapitol haben. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß wir das nukleare Raketenprogramm werden einstellen müssen. Und vom MEM existiert noch nicht einmal die Hülle; auch vor diesem Desaster hingen wir schon Monate zurück. Was ich brauche, ist eine energische, harte, charismatische Person - Sie, Joe -, welche das Programm in den Griff bekommt und Marshall, der Luft- und Raumfahrtindustrie und den anderen Beteiligten Dampf macht.«
Muldoon ließ den Blick über den Friedhof schweifen. »Ich möchte eines klarstellen«, sagte er leise. »Wenn ich diesen Auftrag annehme, muß ich aber aus dem aktiven Dienst ausscheiden.«
Michaels atmete durch. »Ja. Beide Aufgaben können Sie nicht übernehmen.«
»Wenn ich also diesen Job annehme, um Ihren Arsch zu retten, verspiele ich die Chance, zum Mars zu fliegen.«
»Ich möchte Ihnen da nicht widersprechen, Joe. Aber wenn Sie den Auftrag nicht annehmen, wird niemand die Chance haben, zum Mars zu fliegen - weder zu meinen Lebzeiten noch zu Ihren.«
Muldoons Lippen zuckten. »Das ist ein höllischer Preis, den ich zahlen soll.«
»Das weiß ich.«
»Und es ist auch nicht in Ordnung, Fred«, sagte Muldoon. »Was werden all diese Ingenieure, Manager und RaumKadetten wohl dazu sagen, wenn Sie einen Kommißkopp wie mich an die Spitze der Organisationspyramide setzen?«
Michaels lächelte. »Nun, in den Tagen von Apollo hüpften die Manager ständig um das Organigramm herum, ohne ihm allzu viel Beachtung zu schenken. Vielleicht brauchen wir diesen Geist wieder. Sie sollten sich wirklich keine Sorgen wegen der Farbe des Teppichs machen, Joe. Und falls jemand Ihren Rang und Status in Frage stellt - nun, dann kommen Sie einfach zu mir.«
»Nein, zum Teufel«, sagte Muldoon. »Wenn irgendein Sesselfurzer mich anzuscheißen versucht.«
»Heißt das, Sie übernehmen den Job?«
»Das heißt, daß ich darüber nachdenken werde. Sie sind ein Bastard, Michaels.«
Sie gingen zu den wartenden Fahrzeugen.
Dienstag, 3. Februar 1981 Osero Tengis, Kasachstan
Der über die Steppe fegende Wind drang durch die Lagen von Yorks Druckanzug. Sie versuchte herumzulaufen, um sich warmzuhalten. Doch der mit Drähten verstärkte Anzug sowjetischer Machart erwies sich für die Fortbewegung als hinderlich, und sie ermüdete rasch. Obendrein drückte ihr der >Anhang<, die aufgestülpte Öffnung an der Vorderseite des Anzugs, auf die Brust.
Neben ihr hatte Ralph Gershon sich in sich selbst zurückgezogen. Er hatte den Kopf auf den Kragen des Anzugs gelegt und den Helm unter den Arm geklemmt. Gershons Augen waren glasig. Er hatte, wie York nicht zum erstenmal auffiel, die Macke, sich gleichsam in einen privaten Kosmos zurückzuziehen, wenn die Außenwelt gar zu beschissen war. Um diese Macke beneidete sie ihn nun.
Das Modell der Sojus-Kommandokapsel im Maßstab eins zu eins stand in der kasachischen Ebene. Ein paar verbeulte Lastkraftwagen ohne Anstrich waren um die Kapsel geparkt. Neben der Sojus stand der Tieflader, der die Kapsel hierher gebracht hatte. In fünfzig Metern Entfernung befand sich ein sowjetischer Militärhubschrauber, dessen Rotoren sich langsam drehten. Kabel gingen von der Kommandokapsel aus, schlängelten sich über die staubige Steppe und führten zu Winden, die im Hubschrauber montiert waren.
Es lag ein schwacher Grasgeruch in der kalten Luft. Das Erdreich war mit einer gelblichen steinharten, glasierten Schicht überzogen, aus der vereinzelte Grasbüschel wuchsen. An manchen Stellen lag noch Schnee. Wladimir Wiktorenko hatte ihr gesagt, die Steppe würde sich zu Beginn des Frühjahrs in ein Blumenmeer verwandeln. York vermochte das kaum zu glauben.
Sie kannte nicht den Grund für die jüngste Verzögerung. Techniker standen tatenlos herum, wobei Zeitpläne und Ablauforganisation anscheinend Fremdworte für sie waren. So schien das in der Sowjetunion eben zu laufen, selbst beim Raumfahrtprogramm.
York bemühte sich um Toleranz, was ihr indes schwerfiel. Sie hatte nicht die Zeit, mit einem Haufen schlafmütziger
Techniker in der Steppe rumzuhängen. Weitermachen. Bringen wir’s hinter uns.
Nun stapfte der kompakte Wladimir Wiktorenko zielstrebig zu ihr herüber. Den Helm hatte er bereits aufgesetzt. »Also«, sagte er und klopfte ihr auf die Schulter. Sie hatte schon mit so etwas gerechnet, weshalb es ihr gelang, das Gleichgewicht zu wahren. »Sind Sie bereit für den Flug? Und Sie, Ralph?«
Gershon hob den Kopf vom Kragen des Anzugs; wie eine Schildkröte, die den Kopf aus dem Panzer steckte.
York starrte auf die Wand der Kommandokapsel, und ihre Besorgnis stieg. »Wir sind nicht in die Sojus eingewiesen worden. Wo ist die Luke? Oben?«
»Ja, sie ist oben. Ich werde als erster einsteigen.« Er tippte zuerst ihr auf die Schulter, dann Gershon. »Dann Sie, und dann Sie. Sie werden sehen, daß es ganz einfach ist.«
Die Techniker kicherten. Yorks Ressentiments wuchsen.
»Wladimir, weshalb lachen Ihre Leute über mich?«
Er hob die Augenbrauen. »Wlad-im-ir«, sagte er und betonte dabei die zweite Silbe. »Ach, es ist nichts.«
»Und ob was ist.« Zorn wallte in ihr auf. Seit Apollo-N spürte sie diesen Zorn und ließ ihn an jedem aus, der ihr dumm kam. Sie vermutete, daß das auch ein Grund war, weshalb man sie trotz ihrer Beteiligung an der Untersuchung der Havarie hierher geschickt hatte.
Sie war ihnen im Weg. Sie sollte sich hier in der Steppe abkühlen.
Nur daß das nicht funktionierte.
Sie stakste zu einem der Techniker hinüber, einem bulligen Kerl in einem öl verschmierten Hemd, das sich über seinem Wanst spannte. »Was ist denn so lustig? Hä?«
Wiktorenko kam zu ihr und faßte sie am Ellbogen. »Sie müssen ruhig bleiben, meine Liebe.«
Sie schüttelte seine Hand ab. »Ja, sicher. Sobald diese rüpelhaften Arschlöcher.«
»Nein«, sagte er, und nun lag ein metallischer Klang in seiner Stimme.
»Wieso nicht, zum Teufel?«
»Soj-us.« Er sprach das Wort so aus, wie sie es als Amerikanerin getan hatte. Sogar für Yorks Ohren klang es nun schräg. »Darüber amüsieren sie sich. Ich vermute, Ihre englische Transliteration ist ungenau«, sagte er gelassen. »Es liegt vielleicht am >j<. Sehen Sie, in der Standard-Orthographie bezeichnet >ju< einen kyrillischen Buchstaben, weshalb das >j< und das >u< nicht getrennt werden dürfen. Die Silben lauten Sojus. Weil die Betonung auf der zweiten Silbe liegt, schwächen wir das unbetonte >o< von >So< zu einem >a< ab. Und dann hat >jus< ein langes >u<, wie >Schuh<. Sa-juhs. Und dann müssen Sie noch beachten, daß Schlußkonsonanten stimmlos sind. Sa-juhs. Sa-juhs.«
Sie versuchte es ein paarmal, was mit einem ironischen Klatschen des stämmigen Technikers quittiert wurde.
»Schon besser«, sagte Wiktorenko. »Sehen Sie, nun ist es Ihnen gelungen, eins der wenigen russischen Wörter korrekt auszusprechen, von denen man erwarten sollte, daß sie einem amerikanischen Astronauten geläufig sind.«
Sie registrierte den skeptischen Blick des Technikers und erwiderte ihn. Diese Russen waren noch größere Machos als ihre amerikanischen Kollegen.
Doch vielleicht hing das auch mit der internationalen Lage zusammen. Sie versuchte sich vorzustellen, was diese Männer beim Gedanken an ihre in Afghanistan kämpfenden und sterbenden Landsleute empfanden und was ihnen bei ihrem Anblick - einer verwundbaren, isolierten Amerikanerin - durch den Kopf ging. Sie erinnerte sich an die aggressive antisowjetische Rhetorik, die seit Reagans Amtsantritt im
Weißen Haus Einzug gehalten hatte. Sie hatten wohl das Recht, sie zu verachten, sagte sie sich.
Ihr Zorn verflog. Teufel. Vielleicht habe ich es auch verdient. Sie schauderte und versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Eine Strickleiter schlängelte sich aus der Sojus zum Boden herab.
Sie kniete auf dem Dach der Kommandokapsel, wobei ein kräftiger Techniker ihr Hilfestellung gab. Die Kapsel glich einem überdimensionierten Autoscheinwerfer, der auf der Streuscheibe stand. Der grüne Anstrich bildete einen markanten Kontrast zum ausgewaschenen Braun des Erdbodens. Von hier oben wirkte die Steppe deprimierend in ihrer unendlichen Weite. Sie war menschenleer bis auf die kleine Gruppe, die sich um die Kapsel versammelt hatte. Der metallisch graue Himmel glich einem Deckel, der über das Land gestülpt war.
In der Ferne erspähte sie ein silbernes Glitzern, bei dem es sich vielleicht um ein Gewässer handelte. Irgendein einsamer Salzsee.
Wiktorenko stieg zuerst in die Kapsel. Er sagte York, sie solle ein paar Minuten warten, bevor sie ihm folgte - er müsse erst noch die Bolzen überprüfen, mit denen die Sitze befestigt waren. Sie hatte den Eindruck, daß er das ernst meinte.
Schließlich steckte Wiktorenko den Kopf aus der Luke und bedeutete ihr mit einem Winken, einzusteigen. Der Techniker nahm ihr die Überschuhe und den Schutzüberzug ab, den sie über dem Helm getragen hatte.
Auf den ersten Blick glich die Kabine dem Interieur einer Apollo-Kommandokapsel, die schließlich dem technischen Stand der Sojus entsprach. Drei primitive, ausgeformte Liegen waren strahlenförmig angeordnet und berührten sich an den Fußenden. Zögerlich, mit den Füßen voran, ließ sie sich hinab.
Wladimir Wiktorenko hatte sich bereits auf dem Sitz des Kommandanten auf der linken Seite der Kabine plaziert. Er bedeutete ihr, auf der anderen Seite Platz zu nehmen. »Seien Sie mein Gast!«
Sie schraubte sich nach unten, bis sie die Konturen des rechten Sitzes unter sich spürte. Die Liege war zu kurz und stauchte Schultern und Waden. Die Liegen in einer richtigen Sojus waren der Größe der jeweiligen Kosmonauten angepaßt; in diesem Trainingsgerät hatten die Liegen jedoch ein einheitliches Format und waren zudem durch den häufigen Gebrauch verschrammt und abgenutzt.
Die Kapsel war eng, sogar im Vergleich zu den ApolloAttrappen, und sie war mit Ausrüstung für die Landung vollgepackt: Fallschirme, Notrationen, Luftkissen und
Überlebensausrüstung. Die wichtigsten Instrumente waren in einem Pult vor Wiktorenko zusammengefaßt: ein Monitor, Orientierungsregler zur Rechten und Steuerungsregler zur Linken. Vor einem Fenster in einer Seite der Konsole war ein optisches Orientierungssystem installiert. York identifizierte nur ein paar Instrumente. Doch das war auch egal, denn sie würde ohnehin nicht selbst fliegen. Zumal es sich bei den meisten Instrumenten dieses Modells ohnehin nur um Attrappen handelte.
Die Einrichtung der Kapsel war ausgesprochen rustikal. Überall waren scharfe Kanten, und manche Regler waren so weit von den Kosmonauten entfernt, daß sie die Konsolen nur mit Hilfe von eigens hierfür ausgegebenen Stäben zu bedienen vermochten. Die Kapsel war spartanisch primitiv und zweckmäßig.
An Yorks rechtem Ellbogen befand sich ein kleines rundes Fenster. Sie schaute hinaus und versuchte, sich in den Anblick des grauen Himmels und der flachen Steppe zu versenken.
Nun zwängte Ralph Gershon sich durch die Luke. Er schlug mit Stiefeln und Knien gegen die Konsolen und gegen York und Wiktorenko. Der Russe lachte herzhaft, packte seine Beine und verhinderte so, daß Gershon größeren Schaden anrichtete.
Gershon ließ sich auf den mittleren Sitz fallen und drückte sie an die Wand. Ihre Schienbeine hatten Kontakt, ohne daß eine Rückzugsmöglichkeit bestanden hätte. »Mein Gott, Ralph.«
Gershon hatte einen Kaugummi im Mund und wirkte recht aufgeräumt. »Komm schon, York. So schlimm isses nun auch wieder nicht. Wenigstens sind wir nun vor dem abgefuckten Wind geschützt.«
Wiktorenko langte über Gershons Kopf hinweg und drückte die innere Luke zu, die wie ein dicker Metallstopfen aussah. Abrupt brachen das Pfeifen des Windes und das Geplapper der Techniker ab, und York hatte nun das Gefühl, sich in einer Sardinenbüchse zu befinden. In einer Gruft.
Sie hörte, wie die Techniker die Außenluke zuknallten.
Das Geräusch des Hubschraubers reduzierte sich zu einem gedämpften Brummen. Sie spürte, wie der Herzschlag sich beschleunigte. Dann schlug etwas gegen die Hülle, und ein schabendes Geräusch ertönte. York vermutete, daß Kabel über die Wandung des Raumschiffs glitten.
Scheinbar ungerührt nahm Ralph Gershon den Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter den Sitz.
Der Motor des Hubschraubers brüllte auf. Durchs Fenster sah sie eine kurze Serie von Lichtblitzen - die Rotorblätter, welche die Kommandokapsel bestrichen -, und dann wurde die Sojus nach oben gerissen, als ob sie sich in einen Aufzug verwandelt hätte.
York spürte, wie ihr die Luft aus der Lunge entwich, und die Druckpunkte der Liege bohrten sich ihr in Rücken und Hüfte.
Vor dem Fenster schaukelte die zurückweichende Steppe wie Form-Gips in einer Simulation hin und her. Sie sah einen kleinen Kreis aus Ingenieuren, die mit ihren Mützen winkten und deren Gesichter wie staubige Blumen gen Himmel gerichtet waren.
Von der Kapsel aufgewirbelter Staub stob in konzentrischen Kreisen über die Steppe, und die Techniker wichen zurück und beschirmten die Augen.
Dann sah sie den Boden nicht mehr: vor dem Fenster stand ein Ausschnitt des wolkigen Himmels.
York wurde es warm im Druckanzug. Sie spürte, wie der Schweiß sich am Steißbein sammelte. Die Füße indes waren kalt. Das Kühlsystem des sowjetischen Anzugs war wohl noch nicht ganz ausgereift. Sie versuchte, die Zehen zu krümmen, was bei dem mehrlagigen Gewebe nicht einfach war.
Der neben ihr liegende Gershon bestand nur aus Ellbogen.
Eine Fernsehkamera - ein vorsintflutliches Gerät, das noch aus den Fünfzigern zu stammen schien - hing über Gershons Kopf an der Kabinenwand. York wußte nicht, ob sie eingeschaltet war oder nicht. Eine Metallminiatur, ein Raumfahrer, baumelte an einer Kette vor der Linse; während die Kabine wie ein Pendel unter dem Hubschrauber schwang, schaukelte die Miniatur hin und her.
Wiktorenko sah, wie sie die Figur betrachtete. »Das ist mein Freund Boris.« Er sprach es Ba-riis aus. »Boris ist ein wichtiger Bestandteil der Sojus.« Er wies auf die Kamera. »Sie ist ständig auf Boris ausgerichtet. Durch die Beobachtung dieses Hampelmanns weiß die Bodenstation genau, wann Schwerelosigkeit eintritt. Genial, nicht?«
Nun schwang die Kapsel nach rechts. York wurde vom Gewicht der beiden Männer an die Wand gedrückt.
Wiktorenko brüllte vor Begeisterung. »Wie in Disney World! Ha ha! Ralph und Natalie. Ihr müßt euch vorstellen, daß wir in einer echten Sojus zur Erde zurückkehren, nachdem wir etwa hundert Tage an Bord unserer prächtigen Raumstation Saljut verbracht haben. Wir haben den leichten Stoß beim Wiedereintritt - gerade einmal drei oder vier Ge, dank der intelligenten aerodynamischen Konstruktion der Kommandokapsel - überstanden, und wegen der Reibungshitze der Atmosphäre ist das Fenster mit Ruß überzogen. Doch dann stoßen wir die Fensterblenden ab und sehen einen sonnigen Morgen über Kasachstan. Und nun kommen die Fallschirme: die drei Bremsfallschirme öffnen sich in schneller Folge, plopp plopp plopp, und dann entfaltet der Hauptfallschirm sich wie ein großes weißes Segel.« Wiktorenko imitierte den Fall einer Feder. »So sinken wir trotz des Gewichts von drei Tonnen wie eine Schneeflocke hinab.«
Sie schloß die Augen. Sie wußte, daß irgend etwas schiefgehen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, der Schwere des Störfalls und ob sie die Situation meistern würde, wenn es soweit war. Es war wie in einer Simulation: es war ein sadistisches Spiel, und Wiktorenko bestimmte die Spielregeln. Und der Bastard wußte das auch.
»Und nun«, sagte Wiktorenko, »naht der Augenblick der Wiedervereinigung mit dem Mutterplaneten! Doch ihre Umarmung ist fest. Deshalb sind eure Sitzflächen mit Preßluft gefüllt, um die Wucht des Aufpralls zu mindern. Und weniger als zwei Meter über dem Boden werden Bremsraketen feuern, um den Aufprall zu dämpfen. Natürlich haben wir keine Bremsraketen, denn in diesem Fall handelt es sich nur um ein Trainingsmodell. Wenn wir Glück haben, weht nur ein schwacher Wind; andernfalls machen wir vielleicht ein paar Sätze.«
Es rauschte im Funkgerät, und dann wurde auf russisch eine kurze Nachricht durchgegeben. Wiktorenko bestätigte und schaute auf einen Chronometer. »Drei, zwei, eins.«
Schlaffe Kabel peitschten gegen die Hülle. Der Hubschrauber hatte die Kapsel abgeworfen.
Die Kommandokapsel fiel und riß sie mit in die Tiefe.
Mit lautem Poltern prallte die Sojus auf eine harte Oberfläche.
Der Aufprall war heftiger, als York erwartet hatte. Sämtliche Druckpunkte der Liege malträtierten ihren Körper.
»Fuck«, sagte Gershon atemlos.
Wenigstens bin ich wieder unten. Sie ließ den Blick durch die Kabine schweifen. Bis auf das entfernte Geräusch des Hubschraubers war es still in der Kapsel. War es das schon? Ist es vorbei - sind wir unten?
Dann kippte die Kapsel langsam nach links, so daß ihr Gewicht nun auf Gershon lastete.
»Fuck«, wiederholte Gershon.
»Was, zum Teufel, ist los, Wladimir?« rief York.
Das Fenster hinter Wiktorenko verdunkelte sich kurz, obwohl York nicht sah, wodurch. Wiktorenko grinste. »Offensichtlich ist etwas schiefgelaufen.«
Nun neigte die Kapsel sich auf die andere Seite, von York aus gesehen nach rechts, und das Gewicht der beiden Männer drückte wieder auf York. Vor dem Fenster gluckerte lehmiges, silbergraues Wasser.
Das ist es also. Das ist die sorgfältig geplante Panne. Die Sojus sollte eigentlich auf festem Boden landen.
»Fuck«, sagte Gershon.
»Willkommen im Osero Tengis«, sagte Wiktorenko. »Der Tengiz-See ist ein Salzsee mit einer Breite von dreißig Kilometern und befindet sich hundertfünfzig Kilometer von.«
York stöhnte. »Müssen wir da wirklich durch? Ich meine, eine Notlandung im Wasser proben? Nachdem wir von einer Sojus aus dem Orbit geborgen wurden?«
»Würden Sie lieber unvorbereitet in eine solche Situation geraten? Unser Training ist kompromißlos praxisorientiert, müssen Sie wissen. Unsere Kosmonauten werden auf alle nur denkbaren Notfälle vorbereitet.«
»Aber nicht auf die undenkbaren«, wandte York ein.
»Die kann man vernachlässigen; in den meisten Lagen, die bei einer Mission auftreten, gibt es Optionen. Diese Übung deckt nur einen Eventualfall ab. Dafür dürfen Sie sich bei meinem alten Freund Joseph Muldoon bedanken.«
Gershon löste den Kaugummi von der Sitzfläche des Stuhls, knetete ihn, um ihn wieder weich zu machen und steckte ihn in den Mund. »Muldoon kann mich im Arsch lecken«, sagte Gershon. »Und Sie mich auch.«
Der Russe musterte ihn ebenso entsetzt wie fasziniert.
»In Ordnung, Wladimir«, sagte York, »wir werden das Spiel mitmachen. Welcher Drill?«
»Überlebensausrüstung«, sagte Wiktorenko und öffnete den Reißverschluß seines Druckanzugs.
York war der ganzen Sache überdrüssig. Doch sie hatte keine Wahl.
Sie nahm den Helm ab und zwängte ihn hinter den Sitz.
Die äußere Lage des Anzugs war ein Einteiler aus grober Kunstfaser mit Taschen, Schlaufen und Platten. Er wurde vorn geöffnet und enthüllte die als >Blinddarm< bezeichneten Gewebelagen, die mit Gummibändern fixiert waren. Als York die Bänder abstreifte, entfaltete das Material sich.
Während der Außenanzug wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte, in sich zusammenfiel, widmete York sich nun der inneren Schicht aus einem luftdichten, elastischen Material.
In dem engen Raum, die Kabinendecke ein paar Zentimeter vor der Nase, war sie kaum imstande, sich zu bewegen, und stieß laufend gegen Regler und Schalter. In der Kabine herrschte nun Chaos, wo die drei Körper sich wanden und abgelegte Ausrüstungsgegenstände herumflogen.
»Es geht leichter, wenn ihr euch gegenseitig helft«, rief Wiktorenko fröhlich.
»Verpiß dich«, sagte Gershon.
Nachdem sie sich des Druckanzugs entledigt hatte, stand sie nun in der Thermo-Unterwäsche da und schickte sich an, die Überlebensausrüstung anzulegen: einen roten Pullover, eine Springerkombi, eine Jacke, eine dick gefütterte Hose, noch eine Jacke.
»Das ist erbärmlich«, knurrte Wiktorenko. »Erbärmlich! Ihr müßt als Team arbeiten. Auf dem Mars, fünfundsechzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt, gibt es nur eure Besatzung. Ihr müßt um Hilfe bitten, wie ein Kind seine Mutter um Hilfe bittet - instinktiv und selbstverständlich. Habt ihr verstanden? Und diese Hilfe muß selbstlos und unverzüglich gewährt werden. Sonst werdet ihr keinen Erfolg haben. Morgen muß das besser werden.«
»Sie belieben zu scherzen«, sagte York barsch. »Wir sollen da noch mal durch?«
Wiktorenko setzte den Vortrag fort, während er seine Ausrüstung anlegte. »Hören Sie zu. Die Ausbildung der Sowjets ist härter als Ihre, und ein paar Leute bei der NASA haben das bereits erkannt. Bei manchen unserer Übungen besteht keine Möglichkeit, Hilfe anzufordern. Es gibt keine Rettungsmannschaft. Weil es auf dem Mars auch keine gibt! Es hat schon alles seinen Sinn. Wenn man nämlich erkennt, daß eine Situation vielleicht gesundheitsschädlich oder gar lebensgefährlich ist, ändert die Lage sich. Mit einemmal muß man sich konzentrieren.
Im Weltraum muß man den Mut und den Einfallsreichtum aufbringen, auch dann noch an der Lösung eines Problems zu arbeiten, wenn ein Durchschnittsmensch, der auf Rettung hofft, schon längst aufgegeben hätte. Und dieses Bewußtsein will ich bei euch wecken.«
York war müde. Sie litt Schmerzen und war gereizt. Es gab wirklich eine Fraktion in der NASA, die den harten Ansatz der Sowjets befürwortete und hauptsächlich aus LuftwaffenVeteranen bestand, die ohnehin der Ansicht waren, die NASA-Astronauten würden verhätschelt. Joe Muldoon zum Beispiel, Wiktorenkos alter Mondorbit-Kumpel. Genau, verhätschelt. Vor allem diese gottverdammten Bindestrich-Astronauten, die zum Mars fliegen wollen.
»Aber dieses ganze Macho-Training hat Ben Priest und den anderen nichts genützt, stimmt’s?« sagte sie.
Wiktorenko musterte sie. »Nein«, sagte er mit sanfterer Stimme. »Es hat Ben Priest nichts genützt.« Er zupfte an den Ärmeln des dicken Pullovers. »Hören Sie, Natalie. Es gibt ein altes russisches Märchen. Eine junge Frau namens Maruschka war berühmt für ihre wundervollen Stickereien. Die Kunde von ihr drang bis zu Kaschei dem Unsterblichen, einem bösen Zauberer. Er verliebte sich in sie und hielt um ihre Hand an. Doch sie wies ihn trotz seiner Zauberkräfte ab; sie war nämlich ein bescheidenes Mädchen und wollte in dem Dorf bleiben, wo sie geboren war.
Der erzürnte Kaschei verzauberte sie in einen Feuervogel mit leuchtendem Gefieder und sich selbst in einen großen schwarzen Raubvogel. Der Raubvogel schlug die Klauen in den Feuervogel und flog mit ihm davon.
Als Maruschka erkannte, daß sie sterben würde, stieß sie ihr Gefieder ab. Die Federn fielen auf das Land, das sie so liebte.
Maruschka starb, aber ihre Federn hatten magische Kräfte. Sie blieben lebendig, aber nur für diejenigen, welche ihre Schönheit zu würdigen wußten und sie mit anderen teilten.
So ist es auch mit dem Tod der Menschen. Der Tod eines Kosmonauten ist nie vergebens, Natalie York.«
Die Kommandokapsel ruckte nun heftiger und pendelte um dreißig bis vierzig Grad durch. Wasser klatschte gurgelnd gegen die Hülle. York hatte einen Alptraum, daß die Kapsel sank und sie mitsamt der schweren Ausrüstung auf den Grund dieses lausigen kleinen Salzsees hinunterzog.
Es ist so heiß hier drin. Das Blut schien sich im Kopf zu stauen; sie spürte das Pulsieren der Halsschlagader und sah einen gelben Schleier am Rand des Blickfelds.
Mein Gott. Ich werde gleich ohnmächtig.
Doch dann kippte die Kabine wieder nach rechts, und der Magen verkrampfte sich. Speichel sammelte sich am Gaumen. Nein. Nein, ich werde nicht ohnmächtig.
Sie wandte sich von den anderen ab und richtete den Blick auf die Wand; als es schließlich soweit war, spritzte das Erbrochene gegen das Fenster und die Wand und rann unter den Sitz.
Sie spürte eine Hand auf der Schulter. »York. Bist du in Ordnung?«
Es war Gershon. Sie verscheuchte ihn mit einer Geste. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte noch immer kein Wort heraus.
Und dann stieg der Gestank Gershon in die Nase. »O Gott.« Er wirbelte herum, hängte den Kopf über die Lehne der Liege und übergab sich ebenfalls, mit lautem Würgen und heftigen Krämpfen.
Wiktorenko lachte. »Also, Ba-riis, dann sind nur du und ich richtige Seeleute, eh?«
»Fuck«, stöhnte Gershon.
Das Wasser schlug gegen die Hülle der Sojus, und Boris der Kosmonaut baumelte an seiner silbernen Kette über Yorks Kopf.
Sie fragte sich, was wohl mit Gershons Kaugummi passiert war.
Washington Post,
Montag, 23. Februar 1981
.Wir haben beschlossen, diesen Leitartikel exklusiv dem Bericht der Präsidialen Kommission über die Apollo-N-Katastrophe zu widmen, die nach wochenlangen gezielten Indiskretionen, Gerüchten und Dementis endlich ans Licht gekommen ist. Der Bericht hat einen Umfang von 3 300 Seiten, ein Gewicht von neun Kilogramm, und die Verfasser nehmen kein Blatt vor den Mund. Aus dem Werk geht eindeutig hervor, daß es sich bei dem Unfall mitnichten um das Resultat eines zufälligen Defekts im statistischen Sinne handelte, sondern vielmehr um die Folge einer fatalen Häufung von Fehlern, verbunden mit einer fehlerhaften Konstruktion.
Die Apollo-N-Katastrophe hat eine neue nationale Debatte entfacht, die von einem skeptischen Kongreß angeführt wird und bei der es um die Frage geht, ob das Land weiterhin viele Milliarden Dollar in ein bemanntes Raumfahrtprogramm ohne konkreten Nutzen investieren solle, wo die Nation doch vor so vielen anderen Problemen steht. Aus Meinungsumfragen geht hervor, daß viele Bürger sich die Frage stellen, ob das Programm nicht zu teuer sei. Sie sind der Ansicht, daß ein Flug zum Mars rein politisch motiviert sei, genauso wie das ApolloRennen zum Mond.
Inzwischen vertreten viele renommierte Wissenschaftler, wie zum Beispiel Professor Leon Agronski, ein ehemaliger wissenschaftlicher Berater von Präsident Nixon, in der Öffentlichkeit die Ansicht, daß billigere unbemannte Sonden uns mehr über die Beschaffenheit des Mars und der anderen Planeten sagen könnten als Astronauten.
Befürworter des Raumfahrtprogramms weisen hingegen darauf hin, daß der Durchschnittsamerikaner pro Jahr viel mehr für Zigaretten und Alkohol ausgebe als für die Erforschung fremder Planeten und daß das gegenwärtige Programm einen enormen wissenschaftlichen und technischen Nutzen habe.
Was das betrifft, so ist diese Zeitung jedoch skeptisch.
Der heikelste Teil des Kommissionsberichts indes ist eine Anklage der NASA und der wichtigsten Auftragnehmer. Die Untersuchung der Kommission hat viele Schwachpunkte bei der Konstruktion und Entwicklung, bei der Produktion und Qualitätskontrolle ergeben. Es wurden zahlreiche Beispiele genannt, neben dem banalen und vermeidbaren Defekt, der zu der Tragödie geführt hat.
Diese Zeitung ist entsetzt über den unglaublichen Pfusch der NASA-Ingenieure. Nicht einmal ein Schüler im Grundkurs Physik hätte bei einer Weltraum-Mission einen Reaktor mit eingebauter Instabilität eingesetzt.
Wahrscheinlich wird diese Nation ihre Bestrebungen fortführen, zum Mars und zu noch ferneren Planeten zu fliegen. Erfolge in der Raumfahrt sind nämlich unabdingbar, um das Image der Vereinigten Staaten als wissenschaftliche und technische Führungsmacht aufrechtzuerhalten: ein Image, das auf die Sowjetunion projiziert wurde, unsere Verbündeten auf der ganzen Welt, die blockfreien Staaten der Dritten Welt, und - was vielleicht am wichtigsten ist - auf die Bevölkerung dieses unseres Landes. Und wir dürfen nicht die ebenso kalte wie zynische politische Kalkulation vergessen, daß eine Einstellung des Raumfahrtprogramms mit einem Schlag drastische Überkapazitäten in der Luft- und Raumfahrtindustrie freisetzen sowie Arbeitsplatzabbau und Firmenschließungen zur Folge haben würde.
Wenn wir nun das Kapitel Apollo-N abschließen und zu neuen Ufern aufbrechen, dürfen wir trotzdem nicht vergessen, daß die trockene technische Prosa des Berichts der Präsidialen Kommission die NASA-Verantwortlichen gravierender Inkompetenz und grober Fahrlässigkeit bezichtigt.
Freitag, 27. Februar 1981 NASA-Hauptquartier, Washington
Joe Muldoon rief Fred Michaels in seinem Washingtoner Büro an. Dann flog er von Houston herüber. Kurz nach sieben war er da.
Michaels erhob sich nicht. Er bedeutete Muldoon, Platz zu nehmen. »Setzen Sie sich, Joe. Schön, Sie zu sehen. Möchten Sie einen Drink?«
Eine Karaffe und ein paar Gläser standen auf einer Ecke von Michaels’ Schreibtisch; Michaels schenkte Muldoon einen Dreifachen ein und reichte ihm das Glas. Es war ein guter Kentucky-Bourbon. Der nüchterne Büroraum war abgedunkelt, und die hellste Lichtquelle war das kleine Fernsehgerät in einer Ecke, das gerade die Nachrichten zeigte. Der Ton war leise gestellt.
Michaels schaukelte auf dem Stuhl und hatte die Füße auf die Ecke des repräsentativen Schreibtischs gelegt. Die mit einer Goldborte verzierte Weste stand offen, und im trüben Licht traten die tiefen Falten auf Michaels’ Gesicht um so deutlicher hervor, während er - auf die für ihn typische Art - darauf wartete, daß Muldoon sein Anliegen vorbrachte.
Nun berichtete Muldoon dem Leiter der NASA über die Fortschritte, die er in seiner neuen Rolle als Leiter des Programm-Büros machte. »Bei den NERVA-Zulieferern ist es zugegangen wie auf einem Rummelplatz, Fred. Und diese Bastarde in Marshall haben ihnen das noch durchgehen lassen.«
Michaels, der mit einem Auge aufs Fernsehgerät schaute, zuckte die Achseln. »Das ist vielleicht ein bißchen hart, Joe. Wir haben sie unter enormen Zeitdruck gesetzt. Vielleicht zu sehr.«
»Nein, daran liegt es nicht. In vielen Fällen handelt es sich schlicht um Schlamperei. Als ich zum Beispiel zum erstenmal die Testinstallation der S-NB bei Michoud inspizierte, stellte sich heraus, daß die Techniker zum Mittagessen ein paar Bierchen zischten. Das ist verflucht verantwortungslos, wenn man an Komponenten für die bemannte Raumfahrt arbeitet. Und dann habe ich gesehen, wie so ein Kerl Flüssigsauerstoff aus einem Bodentank in einen Versorgungsturm pumpte. Ich fragte ihn, wohin er das Zeug denn schickte. >Keinen Schimmer<, sagte er. Die Charge wußte nicht, was mit dem Flüssigsauerstoff geschah, nachdem er aus der Düse des Schlauchs ausgetreten war. Und dann habe ich ihnen gesagt, daß jeder Ingenieur sich mit dem jeweiligen System vertraut machen solle - woher das Zeug kommt, wohin es geht und alle potentiellen Schwachpunkte dazwischen. Jeder muß sein System wie seine Westentasche kennen.
Dann habe ich eine Liste von dreißig Punkten erstellt - ich habe Ihnen eine Kopie mitgebracht -, die mir schon in der ersten Stunde gestunken haben. Nachlässige Handhabung des Materials, ungenaue Abgrenzung der Arbeitsbereiche, ineffiziente Arbeitsabläufe.
Sicher, wir stehen unter Zeitdruck. Wenn die Lieferanten aber so schlampig arbeiten, wundert es mich gar nicht, daß sie es nicht schaffen, die Zeitpläne einzuhalten. Und dann reduzieren sie noch die Qualitätskontrolle, um die Fristen einzuhalten, was bedeutet, daß die Ware zu spät geliefert wird und von lausiger Qualität ist.«
Michaels nickte und rieb sich das Doppelkinn. »Ja. Ich verstehe. Sie leisten gute Arbeit, Joe. Ich habe mit Ihnen den richtigen Mann für diesen Job ausgesucht.«
»Fred, irgendwo haben wir einen Fehler gemacht. Bei Apollo hatten wir unter dem gleichen Druck gestanden. Nur daß die Sache damals reibungslos geflutscht hat. Doch nun ist Sand ins Getriebe geraten.«
Michaels grunzte und nippte an seinem Drink. »Schon möglich. Aber damals hatten wir auch unter günstigeren Vorzeichen gearbeitet. Ein klares Ziel, wohlwollende Politiker, auch wenn der Kongreß den Etat beschnitten hatte und - wie soll ich es ausdrücken? - eine Art von romantischer Aufbruchsstimmung. Es war noch ein großes Abenteuer, Joe, bei dem es jedes Jahr etwas zu entdecken gab. Und wir standen höllisch unter Zeitdruck, weil wir befürchteten, daß die Russen uns überholen würden.
Doch heute«, sinnierte er, »ist es anders. Die Lage hat sich geändert. Obwohl nach wie vor die Perspektive besteht, zum Mars zu fliegen, krebsen wir schon seit einem Jahrzehnt im Erdorbit ‘mm. Und was haben wir vorzuweisen, außer ein paar zu Raumlabors umgerüsteten Treibstofftanks, altes ApolloGerät, das zehn Jahre nach den Mondlandungen immer noch in Betrieb ist, einem modifizierten Saturn-Triebwerk, das noch kein einziges Mal geflogen ist und einer Höllenmaschine namens NERVA?«
»Schon, aber Sie müssen das positiv sehen, Fred. Skylab A ist noch immer funktionsfähig, obwohl es fast schon vor einem
Jahrzehnt gestartet wurde. Was, wenn wir es aufgeben und auf die Erde stürzen lassen würden? Das wäre nicht nur eine unglaubliche Verschwendung, sondern wir würden uns auch noch zum Gespött machen. Zumal Moonlab auch noch dort oben ist.«
»Ja, ja. Trotzdem handelt es sich nur um Apollo-Technik aus den Sechzigern. Nur daß die Entwicklung inzwischen aber nicht stehengeblieben ist, Joe. Der Vorsprung, den wir vor einem Jahrzehnt hatten, ist geschrumpft. Die Russen starten noch immer die Sojus und Saljut.«
»Aber unser Gerät ist besser als das ihre.«
»Vielleicht. Aber ihre Verweildauer im Weltraum stellt unsere diesbezüglichen Leistungen weit in den Schatten. Zumal die Sowjets nicht die einzigen sind. Sogar unsere Freunde füllen die Lücken aus, die wir hinterlassen haben. Die Europäer arbeiten schon seit ein paar Jahren mit ihrer Ariane, so daß wir auch bei kommerziellen Starts gegenüber unseren sogenannten Verbündeten ins Hintertreffen zu geraten drohen.«
Mit seinen Wurstfingern rieb er sich die Nasenwurzel und schloß die Augen. »Ach, zum Teufel. In acht oder neun Jahren werde ich das Raumfahrtprogramm wieder für einen neuen Präsidenten ummodeln. Und dann werde ich wieder herauszufinden versuchen, welche Zukunft vor uns liegt und welche Richtung das Weiße Haus voraussichtlich einschlägt. Vielleicht ist das für euch Jungs nicht so offensichtlich; ich weiß schließlich selbst, wie es ist, wenn man sich im Programm engagiert. Doch die Dinge liegen heute ganz anders als 1971 oder gar 1960, völlig anders.«
»Ich halte sehr wohl die Augen offen, Fred«, quetschte Muldoon hervor. »Ich sehe die Veränderungen durchaus. Trotz Afghanistan ist der Kalte Krieg Schnee von gestern. Oder zumindest wollen die Leute das so sehen. Und wenn das Weltall nur ein symbolischer Kriegsschauplatz war.«
»Welchen Sinn hat die Raumfahrt dann noch?« Michaels lächelte über das Glas hinweg. »Sie haben ganz recht. Wir hatten das Glück, diese Karte spielen zu dürfen, wenn immer es uns paßte, Joe; vielleicht wäre die Raumfahrt sonst gar nicht möglich gewesen. Doch nun haben die Leute genug und geben uns die Quittung. Doch auf der anderen Seite.«
»Ja?« fragte Muldoon.
»Auf der anderen Seite haben wir vielleicht doch noch ein paar Ansatzpunkte. Wie Sie wissen, erhöht Reagan die Rüstungsausgaben.«
»Sicher«, knurrte Muldoon. »Genauso wie er die Steuern senkt und den Rest des Haushalts beschneidet.«
»Und ich glaube auch, daß dieser Trend während Reagans Amtszeit andauern wird«, sagte Michaels nachdenklich. »Haig sagt, Carters ganzer Menschenrechtskram sei ein Irrweg gewesen, und wir müßten nun den Sowjets Kontra geben, die noch immer die größte Bedrohung darstellen.«
»Und was bedeutet das für uns, Fred?«
Michaels lächelte müde. »Sie müssen die Ansatzpunkte erkennen. Wir müssen uns so positionieren, daß wir zu dem Teil des Budgets gehören, der erhöht wird und nicht umgekehrt. Wenn das ganze Geld in die Landesverteidigung fließt, dann müssen wir in diesem Strom mitschwimmen und ein wenig für uns umleiten.« Er nippte an seinem Drink. »Dann hätten wir noch Reagan selbst. Diesen alten HollywoodCowboy. Sie wissen, daß ich seit Reagans Nominierung mit ihm und seinen Leuten zusammengearbeitet habe. Und ich halte es für möglich, daß er Kennedy nacheifern möchte. Oder ihn sich wenigstens geneigt machen will. Wie Sie wissen, hatte Reagan im letzten Jahr auf der Wahlkampfplattform der Republikaner das Gespann Carter/Kennedy angegriffen, weil sie die NASA mit unzureichenden Finanzmitteln ausgestattet hätten. Nun muß er zu seinem Wort stehen.
Und vielleicht betrachtet Reagan die uneinheitliche Lage, in der wir uns nach dem NERVA-Unfall befinden, auch als Gelegenheit. Als die Gelegenheit, den Gang der Ereignisse zu gestalten. Das Raumfahrtprogramm ist eine Art Lackmus-Test für jede neue Regierung, eine Bewährungsprobe. Wir hatten Kennedy und den Mond, Nixon und das langfristige MarsProgramm. Joe, ich glaube, wenn wir mit einem Programm und einem klar umrissenen Ziel aufwarten, das geeignet ist, unser Image aufzupolieren und uns in ein paar Jahren wieder an die Spitze der Raumfahrt zu setzen - sagen wir, in fünf bis sechs Jahren, also noch innerhalb seiner voraussichtlichen Amtszeit -, wird Reagan es vielleicht kaufen.« Seine wässrigen Augen glänzten. »Und wir müssen jetzt handeln, während seine Administration sich etabliert. Aber.«
»Aber was?«
»Aber Reagan ist nicht Kennedy. Und Bush ist bestimmt nicht LBJ. Eine bloße Ankündigung ist nicht genug. Ich weiß nicht, ob es uns gelingen würde, hinter einem solchen Programm eine Interessenkoalition zu bilden und vor allem zusammenzuhalten. Und falls NERVA ein Schuß in den Ofen wird, was hätten wir Reagan dann überhaupt anzubieten, Joe?« Er schenkte sich noch einen Drink ein. »Meine Güte. Ich sage Ihnen, ich weiß nicht, ob mir das noch einmal gelingen würde. Über die Jahre habe ich im Kapitol viel Kredit verspielt, mit den ständigen Programmverzögerungen und Mehrkosten. Und nun noch diese Katastrophe mit der NERVA. Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, noch einmal dort hinzugehen und zu kämpfen. Ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt versuchen sollte.«
Er spielt mit dem Gedanken, aufzugeben, erkannte Muldoon. Die plötzliche Erkenntnis schmerzte ihn, traf ihn fast wie einen körperlichen Schock. Verdammt! Wieso habe ich das nicht schon früher erkannt?
Weil, so sagte er sich, er das nicht hatte erkennen wollen.
Eine NASA ohne Fred Michaels an der Spitze war völlig undenkbar für Muldoon und sicherlich auch für die meisten Amerikaner.
Muldoon war hinreichend mit den Abläufen in der NASA vertraut, um zu wissen, aus welchem Holz man als Leiter dieser Organisation geschnitzt sein mußte. Wissenschaftler oder Ingenieure kamen hierfür nicht in Frage. Es mußte jemand sein, der die komplizierte politische Szene ebenso kannte wie die öffentliche Meinung. Es mußte ein Manager sein, jemand, der imstande war, die rivalisierenden Gruppen zu effektiver und effizienter Arbeit zu motivieren. Es mußte ein Mann sein, der einen guten Draht sowohl zum Kongreß, als auch zum Pentagon sowie zum Haushaltsausschuß hatte.
Fred Michaels war ein solcher Mann.
Michaels hatte, wie bereits sein Vorgänger James Webb, die Fähigkeit bewiesen, eine politische Lobby hinter einem Raumfahrtprogramm zu formieren und sie - was letztlich der entscheidende Punkt war - mittelfristig aufrechtzuerhalten. Michaels Beständigkeit sowie seine schier unerschöpfliche Energie und sein Engagement hatten wahrscheinlich genauso viel wie Kennedys Fürsprache dazu beigetragen, die NASA während dieser langen und scheinbar fruchtlosen Jahre über die Runden zu bringen.
Mit weniger kompetenten Männern im Büro des NASALeiters, wurde Muldoon sich bewußt, wäre die NASA schon vor Jahren in echte Schwierigkeiten geraten.
Und nun, auf der Talsohle, will er aufgeben und sich ins beschissene Dallas verkrümeln.
Muldoon saß im schummrigen Büro, hörte Michaels zu und schaute auf den flackernden Bildschirm.
Das erinnerte ihn an jenen Tag, als sein Vater ihm eröffnet hatte, daß er unheilbar krank sei; damals hatte er sich genauso entwurzelt und unsicher gefühlt.
Ich muß endlich erwachsen werden, sagte er sich.
Aber was, zum Teufel, soll ich denn tun?
März-April 1981
Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston
Aus Joe Muldoons Sicht erlangten die Diskussionen und die Entscheidungsfindung bezüglich der künftigen Gestalt des Raumfahrtprogramms während der nächsten Wochen eine dramatische Dynamik.
Reagan beauftragte seinen Berater im Weißen Haus, die Optionen zu prüfen. In einem Raum des Weißen Hauses mit Blick auf den südlichen Rasen wurde eine Besprechung im kleinen Kreis anberaumt. Anschließend unterrichtete Tim Josephson Muldoon über den Verlauf der Sitzung. Eine Handvoll Leute hatten dort stundenlang kontrovers diskutiert: der Berater des Präsidenten, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Fred Michaels, Josephson, ein paar Assistenten sowie Michaels’ alter Widersacher Leon Agronski.
»Das war wichtig für uns, Joe. Es handelt sich vielleicht um die wichtigste Besprechung seit der Entscheidung für den Flug zum Mond. Doch hauptsächlich haben wir uns wegen der lausigen Entscheidungen gestritten, die uns überhaupt in diese Lage gebracht haben. Und dann hatte Agronski wieder betont, welche Zeitverschwendung die bemannte Raumfahrt doch sei. Ich habe aber noch immer den Eindruck, daß Reagan nach etwas Positivem sucht, einer realistischen und reellen Option, mit der wir alle einverstanden sind. Doch bisher haben wir ihm keinen Kompromiß vorgelegt. Wir laufen Gefahr, uns ins Abseits zu manövrieren. Reagan wird sich etwas anderes suchen, um die Moral der Nation zu heben, und wir dürfen uns dann damit begnügen, im niedrigen Orbit gottverdammte Spionageflüge durchzuführen.«
Muldoon fragte sich, weshalb Josephson in letzter Zeit verstärkt dazu neigte, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Muldoon vermutete, daß Josephson viel Zeit damit verbrachte, telefonischen Kontakt zu Leuten inner- und außerhalb der NASA aufzunehmen, um auf seine Art Fred Michaels bei der Bewältigung dieser Durststrecke zu helfen.
Wir haben nicht das Geringste erreicht, hatte Josephson gesagt. Muldoon wußte, daß das stimmte.
Also nutzte Muldoon - der mit den Apollo-N-Untersuchungen und organisatorischen Veränderungen schon voll ausgelastet war - die paar Stunden, die er eigentlich hätte schlafen sollen, für eigene Recherchen.
»Für welches Programm sollen wir uns nun entscheiden?« fragte er Phil Stone und wies mit ausladender Geste auf die Stapel aus Fotokopien, Journalen und Büchern auf dem Schreibtisch. »Wenn die Vorschläge alle eßbar wären, hätte ich schon fünfzig Kilo zugelegt. An Ideen fehlt es uns wahrlich nicht. Sollen wir uns wieder dem Mond zuwenden und seine Bodenschätze ausbeuten? Oder sollen wir einen Asteroiden einfangen, in der Nähe der Erde stationieren und dessen Bodenschätze ausbeuten? Oder wie wäre es mit der Gründung von Kolonien an den Librationspunkten des Erde-MondSystems? Wir könnten aber auch Fabriken im Weltraum errichten und Kristalle, Medikamente oder Metallkugeln aus einem Guß herstellen. Eine andere Möglichkeit wäre der Bau großer hydroponi scher Farmen im All, wo die Sonne immer scheint. Oder wir spannen Sonnensegel mit einer Fläche von vielen Quadratkilometern auf, um saubere Energie zu gewinnen. Oder wir zapfen flüssigen Sauerstoff aus der oberen Atmosphäre.«
Der NASA gebrach es gewiß nicht an Visionären, Ideen und Vorschlägen aller Art. Allerdings existierte keine klare Linie. Aufgrund ihrer noch kurzen Geschichte wies die NASA als Organisation Defizite in langfristiger Planung auf; von der Basis und den Zentren wurden fragmentarische Ideen und Pläne an die Oberfläche gespült und meistens in internen Querelen zerrieben.
Stone machte eine Geste. »Das sind alles tolle Ideen, Joe. Trotzdem halte ich sie für undurchführbar.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Sowjets haben einen Vorsprung vor uns, was die Montage großer Strukturen im Orbit betrifft, und sie haben auch mehr Erfahrung mit Langfrist-Aufenthalten im Weltraum. Wir liegen also schon zurück, ehe wir auch nur gestartet sind. Was auch immer wir in diesem Bereich in Angriff nehmen wollten, die Russen würden uns mit Leichtigkeit ausstechen. Zumal der ganze Kram, Fabriken und Kraftwerke im Weltall, irgendwie.«
»Was?«
»Phantasielos ist. Das ist öde. Joe, dieser Kram bringt uns nicht weiter; und seit Apollo sind wir keinen Schritt weitergekommen.«
»Was sollen wir dann tun? Wieder irgendeine spektakuläre Aktion durchführen?«
»Zum Mars fliegen. Darum geht es doch schon seit zehn Jahren, nicht wahr?«
»Aber wir hatten nie ein Mars-Programm als Pendant zum Mond-Programm der Sechziger. Wir müssen die Technik Schritt für Schritt entwickeln - die Atomrakete, neue Hitzeschilde, neue Navigationstechniken, LangstreckenErfahrung und so weiter. Eines Tages sind wir bestimmt in der
Lage, all das zu einer Mars-Mission zu integrieren - allerdings mit einer modularen Struktur, wobei die Module flexibel und für unterschiedliche Missions-Anforderungen frei zu kombinieren sind.«
Stone lachte. »Sie müssen mal wieder hinter dem Schreibtisch hervorkommen, Joe. Sie hören sich schon so an, als seien Sie dort festgewachsen.«
Muldoon grunzte und rieb sich die Augen. »Wie dem auch sei, wir werden auf keinen Fall zum Mars fliegen. Weder Sie noch ich werden das erleben, Phil.«
»Sind Sie sich da so sicher? Die meisten Elemente haben wir doch schon.«
»Aber klar bin ich mir da sicher. Die beschissene Atomrakete ist im Orbit explodiert, wenn Sie sich erinnern. Die Russen schicken noch immer Bilder von dem verdammten Ding, das in der Dunkelheit blau glüht, zur Erde. Nach dem, was ich gehört habe, werden wir keine Genehmigung für den Start einer NERVA mehr bekommen. Und ohne NERVA.«
»Hat Ihre Mars-Mission sich erledigt. Es sei denn, Sie fliegen mit Chemie.«
»Ja«, knurrte Muldoon. »Aber wie? Hier - sehen Sie sich das an.« Er wühlte auf dem Schreibtisch herum, bis er eine Hochglanzbroschüre mit spektakulären Farbfotos gefunden hatte. »Das ist von Udet und seinen Jungs in Marshall. Sie haben ein paar alte Unterlagen überarbeitet, die zum Teil noch aus den frühen Sechzigern stammen. Haben Sie schon einmal von den EMPIRE-Studien gehört?«
»Nee.«
»Marshall und ein paar Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie haben sie 1962/63 erstellt. Damals existierte Saturn-Apollo gerade auf dem Reißbrett, und die Ingenieure fragten sich, was sie so alles damit anfangen könnten. Die Antwort lautete EMPIRE, ein Programm für bemannte interplanetare >Rundflüge< von einem Planeten zum andern. Sehen Sie sich das an. Ein paar der Optionen basierten zwar auf nuklearen Raketenstufen, doch bei den meisten hätte ein chemischer Antrieb genügt. In dieser Zeit wurden viele solcher Studien erstellt. Doch bald darauf war jeder Luft- und Raumfahrtingenieur des Landes Apollo in den Arsch gekrochen, und die Sache hatte sich erledigt.«
Stone blätterte den Bericht durch. »Und was hat Udet nun damit vor?«
»Er will die chemische Mars-Vorbeiflug-Option aus der Mottenkiste holen. Ein paar dritte Stufen der S-IVB sollen in den Orbit gebracht, aneinandergekoppelt und auf eine minimal energetische, schleifenförmige Trajektorie um den Mars gebracht werden. Man brauchte dazu zwei, höchstens drei Saturn-Starts.«
»Ein Vorbeiflug am Mars? Was, zum Teufel, soll das für eine Mission sein?«
Muldoon rieb sich das Gesicht. »Wir reden hier von einem vielleicht siebenhundert Tage dauernden Rundflug und einem Arbeitstag auf dem Mars.«
»Ein Vorbeiflug mit interplanetarer Geschwindigkeit.«
»Ach, noch etwas. Der Vorbeiflug würde an der Nachtseite erfolgen.«
Stone lachte. »Das soll wohl ein Witz sein.«
»Eine solche Mission wurde jedenfalls im Jahre 1963 vorgeschlagen. Es ging dabei um den Flug an sich - im Grunde wie bei Apollo -, ohne daß jemand sich dafür interessiert hätte, welches Ziel damit verfolgt wurde.«
Stone warf den Bericht auf Muldoons Schreibtisch. »Sie werden dem doch nicht zustimmen, Joe? Aus solchen Aktionen sind wir inzwischen herausgewachsen. Nicht? Auf lange Sicht schlagen sie nämlich auf den Urheber zurück. Verdammt, Udet und seine Jungs sollten es besser wissen. Zumal der Kongreß uns wahrscheinlich eh auslachen würde.«
Muldoon zuckte die Achseln. »Teufel, Reagan würde es vielleicht genehmigen, Phil.«
»Betrachten wir es mal von dieser Warte«, sagte Stone nachdenklich. »Was würde Natalie York wohl dazu sagen?«
Muldoon lachte; doch dann brach das Lachen ab, und er musterte Stone. »Wissen Sie was, Sie haben recht. York hat ein Gespür für solche Dinge.« Auch wenn sie so lästig wie Hämorrhoiden ist, sagte er sich, würde sie keine Mission gutheißen, die den Aufwand vielleicht nicht wert ist. »In Ordnung. Dann müssen wir also eine chemische Mission planen, die in einer vertretbaren Zeitspanne eine Besatzung in den Mars-Orbit bringt - Landung inklusive. Doch das führt uns wieder an den Ausgangspunkt zurück - es sieht nämlich nicht so aus, als ob wir das auf chemischem Wege schaffen würden.«
Stone zuckte die Achseln. »Dann lassen Sie sich eine intelligentere Lösung einfallen.«
»Und die wäre?«
»Woher soll ich das denn wissen? Joe, Sie sind doch der Programmdirektor, meine Güte. Es laufen hier genug schlaue Leute ‘rum. Sie sollen in die Puschen kommen.« Er machte einen nachdenklichen Eindruck. »Natalie York, hä?«
»Genau. Gibt Ihnen zu denken, nicht wahr?«
Muldoon widmete sich wieder der Untersuchung.
Als er in jener Nacht in einer besseren Abstellkammer am JSC einzuschlafen versuchte, war sein Kopf angefüllt mit den widersprüchlichen Anforderungen der neuen Stelle. Muldoon dachte an eine Konferenz zurück, an der er vor langer Zeit teilgenommen hatte. Sie hatte im von Braun Hilton in Marshall stattgefunden, wie er sich erinnerte: ein Seminar über MarsModi. Und dann hatte ein kleiner Mann sich erhoben und den eigenartigen Vorschlag unterbreitet - Muldoon hatte den größten Teil der Konferenz verschlafen und erinnerte sich nicht an die Details -, die geringe ? v, die durch die chemische Technik nur möglich war, durch die Nutzung von Gravitationsschleudern zu erhöhen. Auf dem Flug zum Mars sollte man sich quasi an der Venus abstoßen. Und der kleine Mann hatte dann unter dem Hohngelächter von Udet und den anderen Arschlöchern aus Marshall den Rückzug vom Podium angetreten.
Doch weshalb kam er gerade jetzt darauf?
Um drei Uhr morgens stieg er aus dem Bett und schlurfte zu seinem alten Schreibtisch im Astronauten-Büro. Dann wühlte er sich durch die alten Unterlagen und Tagebücher und versuchte, die flüchtigen Erinnerungen festzuhalten.
Gegen fünf Uhr hatte er gefunden, wonach er suchte. Gregory Dana. Mein Gott. Er war Jim Danas Vater.
Um sieben Uhr setzte er sich ans Telefon und versuchte Dana ausfindig zu machen.
Vorsichtig steckte Muldoon die Zehen ins Haifischbecken der NASA-Politik.
Er zog ein paar Fäden und richtete eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der NASA und der Luft- und Raumfahrtindustrie ein, welche der Idee, die ihm im Kopf herumspukte, Substanz verleihen sollte. Gleichzeitig verfaßte er einen Bericht an Michaels, in dem er die bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfaßte. Er ließ Tim Josephson eine Endfassung erstellen, wodurch er ihr unausgesprochenes und fragiles Bündnis festigte. Und als Muldoon den Bericht dann an Michaels schickte, ließ er Josephson auch ein Exemplar zukommen, damit der Inhalt ins Weiße Haus durchsickerte.
Natalie York war die Repräsentantin des Astronauten-Büros in Joe Muldoons Arbeitsgruppe. Sie wurde zu einer ersten Besprechung ins NASA-Hauptquartier geschickt.
Vor der Ankunft dort hatte sie sich kaum Gedanken über diesen Auftrag gemacht. Sie freute sich lediglich auf den Kurzurlaub in Washington - so entkam sie nämlich der Tretmühle des Trainings, das vor dem Hintergrund eines aus dem Ruder gelaufenen Programms sinnlos geworden war. Außerdem floh sie aus ihrem leeren, noch nicht verkauften Apartment und vor all den Löchern, die Ben in ihrem Leben hinterlassen hatte.
Daß sie nun an einer solchen Konferenz teilnahm, hätte sie sich noch vor ein paar Monaten nicht träumen lassen - zumal sie nicht damit gerechnet hatte, daß sie nach dem Desaster überhaupt Zustandekommen würde.
Muldoon hatte Mitarbeiter aus allen wichtigen NASA-Zentren einbestellt, darunter Udet und sein Team aus Marshall sowie hochrangige Ingenieure und Manager der größten Auftragsnehmer der NASA: Boeing, Rockwell, Grumman, McDonnell, IBM und andere. Der Abzug so vieler leitender Angestellter bedeutete allerdings eine Beeinträchtigung vieler anderer Projekte, einschließlich der Untersuchungen der Apollo-N-Havarie und des Umstrukturierungsprogramms. Und wirklich überschritt Muldoon damit seine Kompetenzen.
Doch offensichtlich hatte er seine neue Position genutzt, um Fäden zu ziehen.
Muldoon stellte sich auf ein Podium in einem überfüllten Konferenzsaal und eröffnete die Sitzung.
»Die Konferenz ist für die nächsten vierzehn Tage anberaumt«, sagte Muldoon. »Das Ziel ist, in dieser Zeit die Grundzüge eines neuen Raumfahrtprogramms zu entwickeln. Nichts weniger. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich voll engagieren, auch an den Wochenenden. Ich werde diese
Gruppe von allen anderen Verpflichtungen freistellen; Sie werden hier in Washington arbeiten. Für Büroräume, EDV-Ausrüstung und Telefonverbindungen habe ich bereits gesorgt.«
Trotz Muldoons kraftvoller Präsentation vernahm York ein unzufriedenes Murmeln. Wovon, zum Teufel, redet er? Worum geht es bei diesem Plan überhaupt? Ohne die beschissene Atomrakete werden wir bis zur Jahrtausendwende nicht mehr aus dem Erdorbit herauskommen.
York hatte Muldoon noch nie so erlebt.
Sie kannte ihn bisher als einen komplizierten Menschen: ein Mond-Spaziergänger, der besessen war von der Idee, wieder ins All zu fliegen - ein ungestümer Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm und vielleicht zu heftig über die Inkompetenz von Leuten wetterte, die ihm in die Quere kamen. Nun sah sie, wie er einen Saal mit den besten Leuten der NASA im Griff hatte, mit Leidenschaft und Verve und dem sichtlichen Willen zum Erfolg. Er hatte sich erstaunlich entwickelt; nun wurde ihr zum erstenmal bewußt, wie weise Fred Michaels’ Entscheidung gewesen war, diesen Mann als Nachfolger von Bert Seger mit der Leitung des Raumfahrt-Programms zu betrauen.
Muldoon skizzierte die Leitlinien für die Konferenz.
»Ich möchte, daß Sie sich auf ein Missions-Profil für eine vierköpfige Besatzung und mit einem dreißigtägigen Zwischenstop konzentrieren. Der Start soll 1985 erfolgen. Diese Mission wird sich grundlegend von den bisherigen Planungen unterscheiden: uns steht nur noch die chemische Technik zur Verfügung, und nun sind Ihre Trajektorie-Experten gefordert.
Selbstdisziplin ist das Gebot der Stunde. Das kann ich nicht oft genug betonen. Das Ziel ist die Entwicklung eines Programms auf der Grundlage dessen, was getan werden muß
und was auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden erprobten Technik möglich ist. Es geht nicht darum, wie das Programm Ihrer Meinung nach aussehen sollte. Das Programm und der Zeitplan müssen realistisch sein: keine
Versprechungen, die wir nicht einzuhalten imstande sind, keine Utopien.«
Nun dämmerte York, wovon Muldoon sprach, welches Ziel diese Arbeitsgruppe wirklich verfolgte.
Der Marsflug. Vielleicht ist er doch noch möglich.
Zum erstenmal seit Bens Tod fühlte York sich wieder motiviert.
Nach einer Woche hatte Muldoon - inmitten des Chaos aus Computerausdrucken, Fachzeitschriften, Folien, FlipchartSeiten, halbaufgegessenen Sandwiches und Pappbechern - den Eindruck, daß etwas Machbares sich herauskristallisierte.
Er hatte aus dem Bauch heraus gehandelt und war bestätigt worden. Wir haben hier wirklich etwas.
Allmählich begriff er auch, weshalb Michaels ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte.
Das Mars-Programm hatte die Entwicklung der NASA seit 1972 geprägt. Nein, sagte Muldoon sich, mehr noch: es hatte die Entwicklung der NASA nach Apollo und aller anderen Programme verzerrt. Die NASA war von einem unausgesprochenen Ziel besessen: Menschen auf dem Mars. Diesem Ziel wurde alles andere untergeordnet: die ErdorbitProgramme dienten der Vorbereitung für die zukünftigen Langstreckenflüge, und die unbemannten Programme wurden entweder eingestellt oder auf operative Zwecke reduziert.
Muldoon wußte nun, weshalb Michaels ein solches Vertrauen ihn in gesetzt hatte. Weil auch er ein Monomane war. Seine eigene Besessenheit war quasi eine verkleinerte Abbildung der Besessenheit der NASA.
Er war die ideale Besetzung.
Nach diesen zwei Wochen hatte Muldoon genug Material für den Leiter der NASA gesammelt.
Muldoon ließ sich von Josephson einen Termin bei Michaels geben. Bei der Besprechung anwesend waren Udet, Gregory Dana, Vertreter der Luft- und Raumfahrtindustrie und sogar zwei Senatoren: sie alle waren glühende Verfechter des neuen, embryonischen Programms.
Muldoon skizzierte den Missions-Modus. »Wir brauchen noch immer ein Orbitaltransfer-Triebwerk, um das Schiff von der Erde zum Mars und zurück zu befördern. Hierfür hatten wir ursprünglich die S-NB vorgesehen.« Er warf einen Blick auf Michaels. »Doch auch ohne die S-NB haben wir noch eine Option, Fred. Eine Option aus dem Bereich der chemischen Technik. Es bestünde die Möglichkeit, die S-II, die zweite Saturn-Stufe, zu modernisieren. Uns liegen bis 1972 zurückreichende Konstruktionsunterlagen von Rockwell vor, in denen die entsprechenden Verbesserungen für die S-II beschrieben werden - indem man sie mit WiederanlaufTriebwerken, Verniertriebwerken, Andockvorrichtungen etc. ausrüstet.«
»Ja«, grunzte Michaels. »Und diese Studien sind seit Anbeginn von diesen Bastarden aus Marshall zerpflückt worden.«
Udet starrte reglos auf Muldoons Folie.
»Ich brauchte eine Bestätigung«, sagte Dana, »daß die Entwicklung der S-II innerhalb des gesteckten Zeitrahmens möglich ist.«
Michaels nickte. »Die bekommen Sie, Doktor.« Er machte sich eine Notiz.
Muldoon legte eine andere Folie auf. »Treibstoff. Unter der Annahme, daß Wasserstoff/Sauerstoff verwendet wird, haben wir den folgenden Treibstoffbedarf errechnet: tausend Tonnen für den Start von der Erde, dreihundert Tonnen für die Landung und den Wiederaufstieg vom Mars sowie siebzig Tonnen, um wieder in den Erdorbit zu gehen. Das sind beim Start der Mission insgesamt eintausenddreihundertundsiebzig Tonnen im Erdorbit. Und es wäre noch viel mehr, wenn wir nicht in der Lage wären, mit Doktor Danas SchwerkraftHilfsmanöver Brennstoff zu sparen. Die maximale Masse, die wir mit der Saturn VB in den Orbit bringen, beträgt etwa vierhunderttausend Pfund - ungefähr einhundertachtzig Tonnen.«
»Die Saturn VB muß aber erst noch erprobt werden«, sagte Dana.
»Dessen bin ich mir bewußt.« Muldoon legte wieder eine andere Folie auf. »Das ist aber nicht akut, Doktor; wir haben genug Zeit, um diesbezügliche Probleme zu lösen. Und so würde die Mission ablaufen: Zunächst würden wir eine modifizierte, leere S-II in den Orbit schicken. Dort würde die S-II an eine neue Einrichtung andocken, die wir als Orbitale Montageanlage bezeichnen. Ein simples Gerät, das aus einem Gitterrohrrahmen und Steuertriebwerken besteht; wir würden es in einen Orbit in der Nähe von Skylab bringen.
Anschließend würden unbemannte VBs Zusatztanks in den Orbit bringen. Jeder dieser Außentanks wird siebenhundert Tonnen flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff enthalten, die sicher voneinander isoliert sind. Die Tanks würden dann an der Montageanlage festgemacht. Mit weiteren Saturn VB-Flügen würde der Brennstoff in Behältern nach oben gebracht und in die Tanks beziehungsweise in die S-II-Stufe gefüllt. Dazu werden mindestens zehn Saturn VB-Starts erforderlich sein. Bedenken Sie, daß die Saturn VB-Konfiguration sich vor allem durch ihre Wiederverwendbarkeit auszeichnet - die vier Feststoff-Booster werden überholt und wiederverwendet -, wodurch die Kosten pro Start deutlich reduziert werden. Wir entwickeln bereits Einrichtungen, die ein schnelles Drehen der Startplattform und die zügige Überholung des Fluggeräts ermöglichen. Außerdem sind wir in der Lage, die TreibstoffFlüge mit anderen Zielen zu kombinieren, beispielsweise mit der Flugerprobung des Mars-Exkursionsmoduls. Zum MEM liegen im übrigen noch keine Spezifikationen vor. In ein paar Wochen werden wir eine Aufforderung zur Angebotsabgabe aussprechen, falls die Mission genehmigt wird.«
Dann wartete Josephson mit einer Reihe von Präsentationen auf; er zeigte Tabellen und Diagramme zu den Kosten und dem zeitlichen Ablauf der Entwicklung und Erprobung. Die Folien mit den Finanzdaten basierten auf der Annahme eines Programms der intensivierten Erprobung der verschiedenen Komponenten und Konfigurationen im mondnahen Raum, an dessen Ende drei operative Missionen stehen sollten. Die Referenten zeigten das Potential der neuen Technik auf: sie ermöglichte nicht nur eine Landung auf dem Mars und die Rückkehr zum Mond, sondern auch die Errichtung einer MarsBasis sowie Orbitalmissionen zur Venus. Das neue Programm diente also nicht nur als Grundlage für einen einmaligen Flug zum Mars, sondern für die Expansion ins Sonnensystem.
Michaels mit seinem pausbäckigen Politiker-Gesicht folgte der Präsentation, ohne eine Miene zu verziehen. Zeitweilig saß er sogar mit geschlossenen Augen da, als ob er gleich einschlafen würde.
Nachdem die Präsentation beendet war, massierte Michaels sich die Nasenwurzel und die Tränensäcke unter den wässrigen Augen.
Nachdem die anderen gegangen waren, bat er Muldoon, noch zu bleiben.
»Sie haben verdammt gute Arbeit geleistet, Joe. Sie haben mich überzeugt. Zumal ich schon unter dem Druck des Weißen Hauses stehe, mit einem solchen Vorschlag aufzuwarten.«
Muldoon bekam daraufhin Herzklopfen.
Michaels öffnete eine Schublade und holte eine Flasche Kentucky-Bourbon und zwei Gläser heraus; dann schenkte er jedem von ihnen einen Schuß ein. »Sagen Sie mir, wie Sie die langfristigen Planungen der NASA beurteilen.«
Muldoon wollte erst einen ausführlichen Kommentar geben. Doch dann beschloß er, sich kurz zu fassen.
»Welche langfristigen Pläne?«
Michaels grunzte. »Sie haben’s erfaßt. Die Zentren legen uns alle möglichen gottverdammten Pläne vor. Das ist schön und gut. Aber seitdem ich dieses Amt bekleide, habe ich noch nie die Notwendigkeit für eine langfristige Strategie der NASA gesehen. Und wissen Sie auch, weshalb? Weil das bemannte Raumfahrtprogramm einer starken Opposition gegenübersteht. So ist es immer schon gewesen, und so wird es immer sein. Und jeder Plan, den ich vorlege - jede verdammte Aussage -ist ein gefundenes Fressen für die Opposition. Das habe ich alles von Jim Webb gelernt, damals in den Sechzigern. Webb hat Apollo mit vollem Einsatz verteidigt - auch wenn das letztlich seine Entlassung bedeutete. Er wußte, welche Bedeutung ein Erfolg von Apollo haben würde; und erst recht wußte er um die Konsequenzen eines Mißerfolgs oder der Einstellung des Programms. Das ist mit ein Grund für den Schlamassel, in dem wir nun stecken. Aber wir müssen die Lektion lernen, Joe. Selbst wenn das bedeutet, daß wir eine Hypothek auf die Zukunft aufnehmen.«
Michaels schenkte ihnen noch ein paarmal ein und erzählte noch ein wenig über Taktik, Details der Vorschläge und davon, wie man die Unterstützung des Militärs, der Luft- und Raumfahrtindustrie und anderer Interessengruppen erlangte.
Langsam begriff Muldoon, worüber Michaels laut nachdachte und welchen Weg er suchte. Er redet über Taktik. Er mag müde sein, aber fertig ist er noch nicht. Er sagt uns, was er tun muß, um es zu erreichen. Er hat es uns abgekauft.
Nach der Besprechung mit Michaels suchte Udet Dana auf. »Doktor Dana. Wir müssen uns unterhalten. Ich glaube, daß wir im Grunde dasselbe Ziel verfolgen.«
»Früher hätte ich das wohl auch so gesehen.« Danas Stimme war unnatürlich hoch, und die Augen hinter der Brille waren ausdruckslos. »Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe mich damit abgefunden, daß ich es nicht mehr erleben werde, wie Menschen zum Mars fliegen - falls der Versuch mit zu hohen Risiken behaftet ist.«
Ja, ja. Trotzdem hast du Muldoons Einladung angenommen, in dieser Arbeitsgruppe mitzuwirken. Wenn dieser Traum wirklich so vage ist, wie du behauptest, wärst du doch gar nicht hier.
Udet spürte ein eigenartiges Hochgefühl, fast ein Gefühl der Verwandtschaft mit diesem kauzigen Männchen. Du hast die Schlacht bereits gewonnen, Hans. Du solltest jetzt nicht übermütig werden.
Allerdings hörte Udet nicht auf die innere Stimme.
»Doktor Dana. Ich glaube, es gibt einiges zwischen uns, das einmal ausgesprochen werden sollte. Wir arbeiten nun schon seit vielen Jahren zusammen. Und trotz persönlicher Differenzen haben wir große Leistungen vollbracht. Ich werde dieses Schiff bauen. Und es wird ein Denkmal für Ihren Sohn werden.«
Danas Kopf schwenkte wie ein Geschützturm herum. »Sie hatten mit meinem Sohn nichts zu tun, Udet. Vereinnahmen Sie ihn nicht für Ihre Zwecke.«
»Natürlich nicht. Ich meinte auch nur.«
»Und was uns betrifft, Sie und mich - wir haben viel tiefere Wurzeln, als Sie vielleicht glauben.«
Udet verspürte einen Anflug von Furcht. »Sagen Sie mir, was Sie damit meinen.«
»Daß ich im Mittelwerk war.«
Dana nahm seine Aktentasche an sich und ging mit einem knappen Kopfnicken davon.
Udets Hochgefühl, die triumphale Stimmung, verflog mit einemmal; nun fühlte er sich, als ob er mit einer Pistole hantiert hätte, ohne zu wissen, daß sie geladen war.
Das Mittelwerk. Es war hier, eines dieser nach Tausenden zählenden Gespenster. Mein Gott.
Dieser absurde kleine Mann hat vielleicht absolute Macht über mich.
Nach der Besprechung mit Michaels entwickelten die Dinge eine Dynamik, die Muldoon verblüffte.
Der neue Vorschlag stieß bei Leon Agronski vom MIT11 auf Ablehnung, was aber auch zu erwarten gewesen war. Agronski nahm die NASA aufs Korn, weil sie der bemannten Raumfahrt in seinen Augen eine zu große Bedeutung beimaß. Und er machte ökonomische Vorbehalte geltend. Er legte Studien vor, wonach die Ausgaben für Forschung und Entwicklung der Luft- und Raumfahrtindustrie fünfunddreißig Prozent der nationalen F&E-Ausgaben ausmachten, die F&E der Luft- und Raumfahrtindustrie indessen in der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung mit nur vier Prozent der Wertschöpfung bei den Rohstoffen zu Buche stand.
Doch Michaels konterte mit Belegen, wonach zwei Drittel des Wirtschaftswachstums seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis zum Start des Sputnik durch neue Techniken bedingt waren und daß die Investitionsrentabilität für die NASA im Jahre 1980 ungefähr dreiundvierzig Prozent betrug.
Wie Michaels erwartet hatte, diskreditierte Agronski das neue Programm auch als wissenschaftliche Scharlatanerie. Michaels erwiderte, daß die NASA die Erbringung mehrerer Astronauten-Monate auf dem Mars plante, und zwar für einen Bruchteil der Kosten von Apollo, wo gerade einmal ein paar Mann-Wochen auf dem Mond erbracht worden waren.
Gleichzeitig eröffnete Michaels eine neue Front und trat in Verhandlungen mit dem Verteidigungsminister ein, der - zu Recht - argwöhnte, daß Michaels ein paar der Milliarden, die Reagan der Rüstungsindustrie zugesagt hatte, für sich
abzweigen wollte. Deshalb brauchte Michaels die
Genehmigung des Verteidigungsministers für dieses zivile Weltraumprojekt.
Allerdings stellte sich zunächst einmal die Frage, wieso ein solches Entgegenkommen überhaupt gewährt werden sollte. Nachdem die Sowjets eine ganze Serie von militärischen Saljut-Flügen im niedrigen Orbit durchgeführt hatten, machten der Verteidigungsminister und vor allem die Luftwaffe sich für ein neues Programm stark, das Flüge im niedrigen Erdorbit für Aufklärungs- und sonstige Zwecke zurückschraubte und
Experimente mit weltraumgestützten Waffensystemen - wie Laser- und konventionelle Waffen zur Abwehr von
Interkontinentalraketen - förderte, was eher mit Reagans strategischer Denkweise konform ging.
Michaels hatte jedoch ein Trostpflaster für die Militärs. Er setzte ihnen auseinander, daß die Technik der Mars-Mission -zum Beispiel orbitale Betankungstechniken - auch einen militärischen Nutzen hätte. Und er sagte ihnen zu, Militärpersonal auf die Testflüge für die Mars-Mission mitzunehmen und militärisch relevante Experimente durchzuführen.
Außerdem verwies Michaels auf die größeren Zusammenhänge, nämlich auf den Nutzen für die Luft- und Raumfahrtindustrie als solche. Eine neue Initiative in diesem Bereich würde der Wirtschaft einen solchen Schub verleihen, daß es wegen der drohenden Inflationsgefahr schon wieder ungesund war. Und um es den Politikern recht zu machen, nährte er den schon Anfang der Fünfziger aufgekommenen Verdacht, daß von allen Teilstreitkräften die Luftwaffe sich am meisten der politischen Kontrolle entzog, je mehr sie in die Raumfahrt involviert war. Die Luftwaffe hatte nämlich von Anfang an auf ein eigenes Weltraumprogramm gedrungen, das unabhängig von den Aktivitäten der NASA verlaufen sollte. Und in den letzten Jahren hatten etliche Leute den Eindruck gewonnen, daß die Forderungen der Luftwaffe den Zielen des Skylab-Projekts abträglich gewesen seien. Zumal eine bemannte Mars-Mission in Verbindung mit der neuen Militärdoktrin sich vielleicht auch öffentlichkeitswirksam ausschlachten ließe: die Vereinigten Staaten lassen nicht nach in ihren Verteidigungsanstrengungen - und sie sind noch immer reich und mächtig genug, um nach den Sternen zu greifen.
Also war es durchaus möglich, ein rein ziviles RaumfahrtProgramm - das mit HighTech gespickt, jedoch dem Zugriff des Verteidigungsministers und insbesondere der Luftwaffe entzogen war - den Politikern schmackhaft zu machen.
Und so ging die von Michaels und Josephson dominierte Diskussion weiter. Die beiden scharten die Kräfte der nationalen Politik um sich, um das Programm nach ihren
Vorstellungen zu gestalten. Schließlich verlagerte die Debatte sich auf die Ebene der Wirtschaftstheorie und des politischen Diskurses, und Joe Muldoon, ein schlichter MondSpaziergänger, hatte nichts mehr zu melden.
Später wurden Michaels und sein Stab, einschließlich Muldoon, zu einer Besprechung ins Weiße Haus geladen, um zusammen mit dem Verteidigungsminister und Vertretern des Haushaltsausschusses die Vorschläge der NASA zu erörtern. Und dann beraumte Reagan selbst eine Kabinettssitzung an, an der auch Vertreter der NASA, des Haushaltsausschusses, des Verteidigungsministeriums und des MIT teilnahmen.
Michaels war sichtlich erschöpft, doch Muldoon sah, daß er auf der Kabinettssitzung seine Position unter Aufbietung aller Kräfte vertrat. Er wußte, daß er kurz vor dem Ziel stand, doch diese letzte Hürde mußte er noch nehmen.
Reagan stellte überraschend pointierte Fragen zu den größeren Zusammenhängen des Vorschlags. Muldoon hatte den Eindruck, daß er sich dabei auf Elemente beschränkte, von denen er selbst profitieren würde - wie Kennedy es vor zwei Jahrzehnten auch getan hatte. Und Michaels bemühte sich, Reagans Erwartungen gerecht zu werden; er deutete an, daß, wie seinerzeit bei Kennedy, eine kühne Weltraum-Initiative ihm größeren Rückhalt im Kongreß verschaffen und den Weg für weitere Pläne ebnen würde.
Doch Reagan waren die Kosten noch immer zu hoch, und er und sein Stab durchforsteten das Programm und setzten den Rotstift an.
Muldoon mußte hilflos mit ansehen, wie sein minutiöses Test- und Entwicklungsprogramm zusammengestrichen wurde, wie die orbitalen Venus-Missionen und Mars-Basen Makulatur wurden und wie von den drei Mars-Flügen am Schluß nur noch einer übrigblieb. Das war unglaublich.
Und im Verlauf der Sitzung nahm Muldoon unterschwellig noch etwas wahr. Die NASA hatte die Sache mit Apollo-N nach allen Regeln der Kunst verbockt, und trotzdem war Reagan bereit, ein neues und umfangreiches Programm zu genehmigen. Aber die NASA mußte einen Preis dafür zahlen. Mit dem Abschuß von Bert Seger und einer Neuorganisation der NASA war es nicht getan.
Muldoon wußte, daß die NASA Buße tun mußte, wenn sie rehabilitiert werden wollte.
Michaels verfaßte einen Abschlußbericht für Reagan, in dem er den Ablauf der neuen Mission beschrieb und ein Programm vorlegte, um die Zustimmung des Kongresses und des Senats zu erhalten.
Er lehnte es ab, das Dokument durch Mitarbeiter des Präsidenten zustellen zu lassen. Statt dessen brachte er den Bericht selbst ins Oval Office und übergab ihn, vor Müdigkeit zitternd, Reagan persönlich.
Ans Deckblatt war ein Rücktrittsgesuch geheftet.
Donnerstag, 16. April 1981 Weißes Haus, Washington, DC
. Unser großes Ziel ist es, den amerikanischen Pioniergeist wiederzubeleben und die Überwindung neuer Grenzen ins Auge zu fassen. Eine dynamische Wirtschaft bietet Anreiz für Initiativen, schafft neue Industrien und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit alter Industrien. Nirgends sonst ist das von größerer Bedeutung als bei unserer neuen Grenze, dem
Weltall. Nirgends sonst werden unsere technische Führung und unsere Fähigkeit, die Wohlfahrt der Erde zu steigern, eindrucksvoller demonstriert. Das Weltraumzeitalter ist erst ein Vierteljahrhundert alt. Dennoch haben wir die Zivilisation mit unseren Fortschritten in Wissenschaft und Technik bereits vorangebracht. In dem Maße, wie wir neue Schwellen des Wissens überschreiten und tiefer ins Unbekannte vorstoßen, wird auch die Zahl der Arbeitsplätze sprunghaft ansteigen. Unsere Vorstöße in den Raum - wo wir große Fortschritte für die Menschheit machen - sind ein Tribut an den Teamgeist und die Leistungsfähigkeit der Amerikaner. Unsere klügsten Köpfe in Politik, Wirtschaft und an den Hochschulen haben sich zusammengeschlossen. Und wir dürfen mit Stolz behaupten: wir sind die Ersten, wir sind die Besten; und wir verkörpern diese Tugenden, weil wir frei sind.
Amerika hat seit jeher die größten Leistungen vollbracht, wenn wir Mut zur Größe besaßen. Und zu dieser Größe werden wir zurückfinden. Wir sind imstande, unsere Träume von den Sternen zu verwirklichen und im Weltraum zu leben und zu arbeiten, zum Wohle des Friedens, der Wirtschaft und der Wissenschaft.
Meine Berater entwickeln zur Zeit eine nationale WeltraumPolitik, die ich im Laufe dieses Jahres in aller Ausführlichkeit vorstellen werde. Diese Politik wird grundlegende Zielsetzungen für das Raumfahrtprogramm der USA enthalten und folgende Aspekte umfassen: die Stärkung der Sicherheit der Vereinigten Staaten, die Aufrechterhaltung der Führung der Vereinigten Staaten in der Raumfahrt, die Stärkung von Investitionen im privaten Sektor der Vereinigten Staaten und der zivilen Weltraum- und weltraumbezogenen Aktivitäten und die Förderung internationaler Gemeinschaftsprojekte im nationalen Interesse. Mit Blick in die Zukunft müssen wir die Führungsrolle in der Raumfahrt bis zum Ende dieses
Jahrhunderts und darüber hinaus gewährleisten. Um das zu erreichen, muß das Raumfahrtprogramm eine neue, erfolgversprechende Richtung einschlagen, in der unsere derzeitigen Fähigkeiten im Bereich der chemischen Raketentechnik sowie die Fähigkeit, für längere Zeit im Weltraum zu leben und zu arbeiten, voll ausgeschöpft werden. Und wir müssen es jetzt tun.
Noch heute werde ich die NASA vor dem Hintergrund der neuen Weltraum-Politik anweisen, mit den Vorbereitungen für eine bemannte Mission zum Mars fortzufahren und dieses Ziel innerhalb von fünf Jahren zu erreichen. Eine solche Mission wird einen Quantensprung in Forschung und Entwicklung und in bezug auf das Verständnis der Natur des Universums bedeuten.
Wie die Ozeane früher eine neue Welt für Seeleute und Yankee-Händler eröffnet hatten, eröffnet heute das All ein riesiges Potential für die Wirtschaft.
Veröffentlichte Dokumente der Präsidenten der Vereinigten Staaten: Ronald Reagan, 1981 (Washington, DO: Presseamt der Regierung, 1981), S. 362.
Donnerstag, 16. April 1981 NASA-Hauptquartier, Washington
Michaels bestellte Tim Josephson in sein Büro. Er hatte die Krawatte gelockert und eine neue Flasche seines bevorzugten Kentucky-Bourbons aufgemacht. Doch den beiden war nicht gerade zum Feiern zumute, während sie im Zwielicht an den Drinks nippten. So erschöpft hatte Josephson Michaels noch nie gesehen.
Josephson hob das Glas. »Auf Sie, Fred. Sie haben in den letzten Wochen Unglaubliches geleistet.«
Michaels nahm einen Schluck. »Ja. Ja, das habe ich wohl. Wir haben Reagan die Zusage abgeluchst. Und wenn ich gehe, ziehe ich die NASA wegen Apollo-N aus der Schußlinie.«
»Fred.«
»So sieht’s aus, Tim«, sagte Michaels mit harter Stimme. »Das ist meine letzte Aufgabe. So läuft’s eben. Der dickste Brocken liegt aber noch vor euch. Ihr müßt dieses Projekt verwirklichen.« Er musterte Josephson. »Und das ist eine Aufgabe, die Sie bewältigen müssen, Tim. Ich habe Sie bereits im Weißen Haus empfohlen.«
Das traf Josephson zwar nicht unvorbereitet, aber dennoch fühlte er einen Anflug von Panik. »Ich. freue mich, daß Sie ein solches Vertrauen in mich setzen, Fred. Aber bin ich wirklich der richtige Mann? Teufel, ich bin ein Bürohengst. Ein Funktionär, der geborene Befehlsempfänger.«
»Mein Gott, als ob ich das nicht wüßte!« sagte Michaels barsch. »Aber ich habe keinen besseren Kandidaten. Sie müssen einfach über Ihren Schatten springen, Tim. Sie werden es schaffen, wenn Sie nur an sich arbeiten.«
Josephson lächelte hinter dem Glas. »Danke, Fred. Sie werden mir fehlen.«
»Und ich möchte, daß Sie sich an Muldoon halten. Nutzen Sie seine Fähigkeiten. Ihr beide werdet ein erstklassiges Team abgeben.«
»Ich werde das beherzigen.«
Michaels starrte in sein Glas. »Wissen Sie, manchmal glaube ich, daß uns irgendwann etwas abhanden gekommen ist. Ich meine, von den Leuten, die am wenigsten an der Entscheidungsfindung beteiligt waren, stammen die besten Ideen. Es waren die Ingenieure in Langley und Marshall -Leute, die ihr Leben der Raumfahrt gewidmet haben. Leute wie
Gregory Dana. Wir bedienen uns ihrer Studien und Berichte und nutzen sie als Munition in der politischen Auseinandersetzung. Doch der visionäre Überbau, die Beschwörung des Entdeckergeists und des Schicksals, die Appelle ans Gefühl und die Bemühungen, den geistigen Horizont der Menschheit zu erweitern - all das geht leider unter.«
Josephson nippte am Drink. »Vielleicht ist das auch eine zwangsläufige Folge, Fred. Bei Apollo war es das gleiche. Wird die Raumfahrt erst einmal in den Rang einer Religion erhoben, erlangt sie eine enorme Macht. Doch sie weckt in uns nicht mehr die alten Träume. Und alle Beteiligten - die NASA, das Weiße Haus, der Verteidigungsminister - wollen das Raumfahrtprogramm nur für ihre Interessen nutzen. So ist das eben.«
»Schon möglich. Und ich weiß, daß die Jungs in Langley über diesen >Einweg<-Flug verdammt unglücklich sein werden. Wer, zum Teufel, weiß, wann wir die nächste Gelegenheit bekommen werden? Ich erinnere mich, daß LBJ einmal zu mir sagte, die Amerikaner seien viel besser im Erobern von neuem Terrain als im Halten des alten Geländes. Damit hatte er sicher recht. Egal, zum Teufel damit! Vergessen wir den ganzen politischen Kram, Tim, und träumen wir vom Mars.« Wieder musterte er Josephson. »Ich will Ihnen mal was sagen«, sagte er. »Wo wir nun ein neues Ziel haben, eine neue Apollo, diese Spritztour zum Mars, brauchen wir auch einen neuen Namen. Einen, der das alles zum Ausdruck bringt.«
»Sie haben recht«, sagte Josephson. »Wir hätten das aber schon erledigen sollen, bevor wir die Pressemitteilungen rausschickten.«
»Sie sitzen jetzt auf dem heißen Stuhl«, sagte Michaels. »Wofür werden Sie sich entscheiden, Tim?«
Josephson schürzte die Lippen. »Hmmm. Wie ist man denn auf den Namen >Apollo< gekommen? Das war noch vor meiner Zeit.«
»Abe Silverstein wählte ihn im Jahre 1960 aus«, sagte Michaels. »Abe war damals Leiter des Büros für Bemannte Raumfahrt - oder vielmehr der Vorläuferorganisation. Silverstein hatte ein Faible für klassische Mythen. Ein Jahr zuvor hatte er schon den Namen >Mercury< ausgewählt, weil er das Bild vom Himmelsboten passend fand. Und weil von Brauns Leute ihr neues Trägersystem dann auf den Namen >Saturn< tauften, konnte Silverstein nicht umhin, wieder einen klassischen Gott zu bemühen.«
»Na gut«, sagte Josephson mit einem sparsamen Lächeln, »aber das kommt mir doch spanisch vor. Stimmt es wirklich, daß von Braun seine Raketen nach Planeten benannte? Da gab es die >Jupiter< und dann die >Saturn<.«
»Lassen Sie’s mal gut sein«, sagte Michaels launig. »Silverstein war Entwicklungsingenieur; manch einer mag solche Leute für Fachidioten halten, doch Silverstein verfügte durchaus über Allgemeinbildung. Er erinnerte sich nämlich aus der Schulzeit an die Geschichte vom Gott, der in einem von vier geflügelten Rössern gezogenen Sonnenwagen fuhr: Apollo, Sohn des Zeus. Also recherchierte Silverstein ein wenig, um sich zu vergewissern, daß Apollo nichts auf dem Kerbholz hatte, das ihn in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit kompromittiert hätte - zum Beispiel ein Verhältnis mit seiner Mutter. Doch Apollo hatte eine weiße Weste - und der Name war gebongt.«
Josephson starrte ins Glas und ließ sich das durch den Kopf gehen. »Vielleicht sollten wir dieser Tradition folgen. Ich bin nämlich auch ganz firm in der Mythologie. Apollo hatte einen Halbbruder, der ebenfalls eine große Nummer auf dem Olymp war. Er hatte seine eigene Mythologie und wurde später von den Römern als Kriegsgott übernommen. Kampf und Blutvergießen waren sein Pläsier, und seine beiden Kinder, Phobos und Deimos - Panik und Furcht - folgten ihm aufs Schlachtfeld.«
Michaels grunzte. »Panik und Furcht. Solche Kerle wären im Kapitol gut aufgehoben.«
Josephson lächelte. Der Name paßte wie die Faust aufs Auge. Und die Presse würde ihn lieben.