Viertes Buch. Annäherungen

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 171/13:24:02

»Sechzig Minuten bis zum Perizentrum«, sagte Stone.

Alle drei Besatzungsmitglieder befanden sich auf der Wissenschaftlichen Plattform des Missionsmoduls. Sie hatten sich im Mittelpunkt der achteckigen, mit Schalterbänken und Monitoren angefüllten Kammer angegurtet und die Füße in steigbügelartige Halterungen gesteckt.

Über Yorks Kopf war ein kleines Sichtfenster in die Hülle eingelassen. Ihr Gesicht wurde von weißem Licht beschienen, das die fluoreszierenden Anzeigen überblendete.

Sie sah die obere Hälfte einer dicken fahlen Scheibe, die sich stetig rundete.

Mein Gott. Das ist die Venus.

Für das bloße Auge leuchtete die Tagseite des Planeten in einem grellen Weiß - viel heller als die Erde aus der gleichen Entfernung -, das die Sterne überblendete. Im schmalen Segment der Nachtseite erkannte sie überhaupt nichts.

Die Trajektorie von Ares hatte das Schiff in eine Bahn um die Venus befördert. Nachdem Ares an der Sonne vorbei in Richtung Venus katapultiert worden war, taumelte das Schiff nun auf einer Hyperbel der Gravitationsquelle der Venus entgegen. Ares flog inzwischen mit fast neunzig Kilometern pro Sekunde auf die Venus zu, und die Ränder der Scheibe wanderten bereits aus Yorks Blickfeld aus. Das reflektierte Sonnenlicht warf Schatten auf ihren Schoß.

An einer Arbeitsplatte war eine Kamera befestigt; sie riß den Klettverschluß auf, drückte die Nase gegen das Fenster und machte Aufnahmen.

Die Venus war ungefähr so groß wie die Erde, doch dieser Anblick war nicht mit der Perspektive aus dem Erdorbit zu vergleichen. Sie erkannte keine Details: die Oberfläche der Venus verbarg sich unter den dicken Schichten einer Hülle aus Kohlendioxid. Aus dieser geringen Entfernung wirkten die Wolken glatt und amorph und verliehen dem Planeten das Aussehen einer riesigen Perle.

Bei näherer Betrachtung erkannte sie auf der rechten Seite der Scheibe nun doch eine Struktur in den Wolken: eine gazeartige Hülle, die sich gegen die Dunkelheit des Weltalls abhob, umgab die massiven Wolkenschichten.

Sie drückte hektisch auf den Auslöser.

»Was machst du da, Natalie?« fragte Stone trocken.

»Ich glaube, ich sehe die Dunstschicht«, sagte sie. Eine Hülle aus schwefelsauren Wolken, welche die Venus umgab und die sich in der Dunkelheit des Weltraums abzeichnete.

»Ja. Aber dieses Bild steht nicht auf dem Plan«, sagte Stone.

Mein Gott. »Na schön, verdammt.« Sie legte die Kamera wieder an ihren Platz. »Ich habe nur etwas gesehen, das zuvor noch kein Mensch gesehen hat. Ich sagte mir, das sei wohl einen Schnappschuß wert.«

»Wenn wir bei diesem Rendezvous von der vorgeschriebenen Trajektorie abkommen«, murmelte Stone und schaute dabei auf die flimmernden Bildschirme, »wirst du keine Gelegenheit haben, den Film zu entwickeln, weil du nämlich nicht mehr nach Hause kommst. Wir müssen uns konzentrieren, Leute.«

Ja, ja. Wir sind im Einsatz. Halte dich an den verdammten Missionsplan.

York konzentrierte sich wieder auf die Anzeigen.

Grinsend blickte Gershon sie über die Schulter an.

Der Plan sah vor, daß Ares an der Nachtseite des Planeten vorbeiflog. Der Schleudereffekt würde die Trajektorie des Schiffs dann um dreißig Grad ändern und Ares eine enorme Beschleunigung verleihen. Bisher war Ares antriebslos um die Sonne gekrochen und hatte sich dabei kaum von der Erde entfernt; nun kreuzte Ares zwischen Venus und Erde. Auch wenn die Mehrstufenrakete gleich in den Schatten der Venus eintrat, würde die Sichtverbindung zur Erde nie abbrechen.

Jedes Besatzungsmitglied hatte während des Rendezvous mit der Venus bestimmte Aufgaben zu erledigen: Stone

überwachte die Bahndaten, Gershon verfolgte den Eintritt der Atmosphären-Sonde, die Ares abgesetzt hatte, und York bediente per Fernsteuerung den Instrumententräger des Missionsmoduls.

Einer der Monitore bildete die Wolken im ultravioletten Spektrum ab. Sie leuchteten in satten Blau- und Grautönen, die für das bloße Auge unsichtbar waren: Wolkenstrukturen waberten um den Planeten, komplexe Bögen und Zellen wurden entlang der Breitengrade des Planeten abwechselnd gestaucht und gestreckt. In der computergenerierten Falschfarbendarstellung wies der Planet eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Erde auf.

Die Sensorfläche auf dem Ausleger des Rückspiegels war ein Ensemble dicker, primitiv anmutender Röhren, Antennen und Linsen, die alle mit Folie umhüllt waren. Es gab eine Kamera für die Aufnahme der Wolken, ein Spektrometer für den Nachweis von Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff im UV-Bereich, ein Infrarot-Radiometer für die Bestimmung der Wolkentemperatur, ein Magnetometer und LadungsträgerTeleskope. Vier spindelförmige Radarantennen sollten die Wolkendecke durchdringen und den Streifen der Venus kartieren, den Ares gerade überflog. Die Sensoren waren bereits aktiviert und auf dem Rückspiegel justiert, dem Instrumententräger, der aus der Hülle des Missionsmoduls ragte.

»He«, sagte Gershon. »Dort ist die Sonde. Sie durchstößt gerade die Ionosphäre. Vierhundert Kilometer über dem

Boden. Sie nähert sich mit hyperbolischer Geschwindigkeit den Haupt-Wolkenschichten. Was sagt ihr dazu.«

York löste die Füße aus den Halterungen und schwebte zu Gershon hinüber. Gershons Station wurde von einem Monitor beherrscht, der im Moment jedoch nur Schnee zeigte.

Die Sonde war vor dreiundzwanzig Tagen aus einem Schacht an der Grundfläche des Missionsmoduls ausgestoßen und in einen variablen Orbit gebracht worden. Ares flog in einem Abstand von ein paar tausend Kilometern an der Venus vorbei. Die Sonde flog Ares voraus und sollte ein paar Minuten vor der dichtesten Annäherung des Mutterschiffs auf dem Planeten landen. Die Landezone befand sich im Zentrum der Tagseite, in einem Hochland mit der Bezeichnung Ishtar Terra.

Im Moment steckte die Sonde noch im Bremsmodul, einer Art fliegender Untertasse. Die Kameras vermochten die Hülle zwar nicht zu durchdringen, aber durch ein für Funkwellen durchlässiges Fenster an der Oberseite war die Sonde in der Lage, mit Ares zu kommunizieren.

»Ich bin nun in der Atmosphäre«, sagte Gershon, »aber noch immer oberhalb der Haupt-Wolkenbänke. In neunzig Kilometern Höhe. Die Temperatur ist hier niedrig; sie beträgt weniger als minus hundert Grad. Aber das ist auch schon das Minimum; die Werte müßten ansteigen, sobald ich in die Haupt-Wolkenbänke eindringe. Gleich wird die Hülle der Sonde abgesprengt. Drei, zwei, eins. Los geht’s! Achte auf den Monitor, Natalie.«

York wußte, daß in diesem Augenblick irgendwo in den Wolken die Untertasse zerfiel. Ein Pilotfallschirm würde den Deckel festhalten, und der Hauptfallschirm würde sich über der Sonde öffnen.

Im Schneegestöber auf dem Monitor war ein verschwommenes gelbes Flackern zu erkennen.

»Toll«, jubelte Gershon. »Nun sehen wir auch was.«

Die fahlen gelben Schlieren auf dem Monitor wurden periodisch heller und dunkler; die Sonde rotierte langsam am Fallschirm, und bei diesem stroboskopartigen Flackern mußte es sich um die Sonne handeln, deren Licht durch den Dunst aus schwefelsauren Teilchen gefiltert wurde.

»Die Sicht wird schlechter und beträgt noch ungefähr sechs Kilometer«, sagte Gershon. »Der Druck beträgt drei Viertel des irdischen Werts in Meereshöhe, und die Temperatur liegt bei fünfzig Grad. Mollig warm. Und dabei bin ich noch immer sechzig Kilometer hoch.«

Sechzig Kilometer. Zweihunderttausend Fuß. Auf der Erde würde das die Obergrenze der Stratosphäre markieren: der Druck betrug dort weniger als ein Prozent des Werts in Meereshöhe.

Der Dunst auf dem Monitor verzog sich. »Toll«, sagte Gershon. »Seht euch das an. Auf einmal habe ich eine grenzenlose Aussicht.«

Yorks Blick fiel auf eine dichte Wolkendecke mit einer blaßgelben Färbung. Die Wolken glichen den Schäfchenwolken auf der Erde. Es war ein fast idyllisches Bild. Darüber spannte sich ein amorpher gelber Himmel, an dem die Sonne nicht zu sehen war.

Die Sonde tauchte in die Wolken ein.

»Ich bin noch vierzig Kilometer hoch. Diese ScheißSchwefelsäure habe ich hinter mir. Aber die Außentemperatur liegt inzwischen bei vierhundert Grad. Und der Druck hat eine Atmosphäre überschritten. Drei, zwei, eins. Null. Trennung vom Fallschirm.«

Das Bild flackerte und stabilisierte sich wieder.

Der Druckkörper - das Herz der Sonde - war aus der Hülle geschlüpft und hatte sich vom Fallschirm gelöst. Die Sonde war zwar immer noch fünfunddreißig Kilometer hoch, hatte sich aber schon vom letzten Fallschirm gelöst. Die Luft der

Venus war so dicht, daß die Sonde imstande war, den Rest der Strecke im freien Fall zu bewältigen.

Der Druckkörper war eine dickwandige Metallkugel. Rotoren stabilisierten den Körper während des Falls, und die Hülle war von kleinen Fenstern durchbrochen, hinter denen die Instrumente der Sonde hervorlugten.

»He«, sagte Gershon. »Seht euch mal die Zahlen des Massenspektrometers an.« Er tippte gegen einen Bildschirm. »Ich habe da ein paar schwere Wasserstoffisotope in der Luft.«

»Na und?«

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wasser, meine Liebe. Hier hat es einmal Ozeane gegeben. Aber sie sind längst durch den Treibhauseffekt verdampft, der durch das Ce-o-zwei verursacht wurde. Aber es hat hier einmal Ozeane gegeben.«

Vielleicht sogar Leben.

Die Sonde rotierte gemächlich in der dichten Luft. Das Licht war dunkelrot, doch die Sichtverhältnisse waren auch nicht schlechter als an einem trüben Tag auf der Erde. Die Sonne entzog sich ihrem Blick; sie sah nur ein diffuses, beinahe unheilvoll anmutendes Glühen, das die Hälfte der Wolkenbank durchdrang, die den Himmel bedeckte.

Und dann sah sie plötzlich die Oberfläche: die WeitwinkelKamera der Sonde zeigte ihr das Panorama einer Landschaft, die durch das trübe Licht weichgezeichnet wurde. York machte etwas aus, das wie eine Bodenspalte aussah, die sich vom einen Rand des Bilds bis zum andern zog - nein, das war keine Spalte, wie sie nun erkannte; es war ein Gebirgszug mit einer Länge von mehreren hundert Kilometern, der schließlich in einem Plateau auslief.

»Windgeschwindigkeit runter auf null«, sagte Gershon. »Druck und Temperatur weiter steigend. Die Venus hat keine Luft; dieses Zeug erinnert mich an die Hühnersuppe meiner Mama.« Er tippte gegen den Monitor. »Das ist Ishtar Terra«, sagte er. »Beziehungsweise die Randzone, in deren Richtung wir uns auch bewegen. Wir sind voll auf Kurs. Schau dir das an, Natalie. Elf Kilometer über Normalnull, und.«

».so groß wie die Vereinigten Staaten. Ich weiß.« Ishtar Terra war ein markantes Hochplateau, das bereits von erdgestütztem Radar kartiert worden war: so würde wohl auch ein Kontinent auf der Erde aussehen, wenn die Weltmeere verdampft wären.

Erregung überkam York. Dann bot sich ihr vielleicht doch noch die Gelegenheit, geologische Untersuchungen auf dieser Mission durchzuführen.

Venus und Erde waren Zwillinge. Also hatte die Venus vermutlich auch einen heißen, radioaktiven Kern wie die Erde, dessen Wärme in den Weltraum abgeführt werden mußte. Auf der Erde geschah das auf zwei Wegen: Plattentektonik und Vulkanismus. Doch aus den Radarkarten und den Daten der primitiven russischen Sonden ergaben sich keine Hinweise auf Plattentektonik auf der Venus: weder Aufwölbungen noch Verwerfungsspalten.

Deshalb folgte York der geologischen Lehrmeinung, daß der primäre geologische Prozeß für die Abfuhr der Kernwärme ein kontinuierlicher Vulkanismus sein mußte. Der Planet mußte mit aktiven Vulkanen übersät sein, welche die Wärme in die Atmosphäre und in die ultimate Wärmesenke, das Weltall, abführten. Deshalb rechnete sie auch damit, daß Ishtar eine Oberfläche hatte, deren Topographie durch aufsteigende Magma - flüssiges Gestein unter der festen Kruste - und Lavaströme geprägt wurde. Falls überhaupt Einschlagkrater existierten, wären sie kaum noch als solche zu erkennen und vielleicht schon unter jüngeren vulkanischen Schichten begraben.

Sie wies auf den rechten Ausschnitt des Bildschirms, wo die Konturen von Kegeln sich im dämmrigen Licht abzeichneten.

»Schau mal. Das müssen die Maxwell Montes sein.« Die größte Bergkette auf der Venus. Sie sah, daß die Sonde auf die Montes zutrieb, wobei sie sich wie ein Metallballon in einer trägen Strömung verhielt. Die Montes waren in manchen Abschnitten steiler als jedes irdische Gebirge. Die Berge stellten Auffaltungen der Oberfläche dar, beschienen vom diffusen rötlichen Licht und umströmt von dicker Luft; York hatte den Eindruck, über einen untermeerischen Bergrücken hinwegzutreiben.

Etwas erschien am Bildschirmrand: ein kreisförmiges

Gebilde an der Flanke der Bergkette.

»He. Was ist denn das?« Und dann wanderte das Gebilde aufgrund der Rotation der Sonde aus dem Erfassungsbereich der Kamera. »Verdammte Scheiße.«

Gershon schaute grinsend zu ihr auf. »Tut mir leid«, sagte er. »Hier gibt’s keinen Panoramaschwenk oder Vergrößerung. Das ist nicht die Sportschau.«

Ein Kreis? Handelte es sich vielleicht um einen Krater. Was, zum Teufel, hatte der hier verloren?

Etwas stimmte nicht; York roch es förmlich. Ungeduldig wartete sie, bis die Kamera wieder herumgeschwenkt war; das ging nicht nur quälend langsam vonstatten, sondern das Bild wackelte auch noch, als die Sonde in der sämigen Luft von Turbulenzen erfaßt wurde.

Das kreisförmige Merkmal wanderte von rechts ins Bild.

York drückte sich fast die Nase am Bildschirm platt.

Es war ein fast perfekter Kreis, der von einer Schicht aus dunklerem Material umgeben war: es mußte sich um einen Einschlagkrater handeln, der von einer Auswurfschicht umgeben war. Wie ein Einschußloch inmitten eines Flecks aus eingetrocknetem Blut. Und bei der Größe war der Krater mit größter Wahrscheinlichkeit ein paar hundert Millionen Jahre alt.

Und er war jungfräulich: er war weder von Lavaströmen bedeckt noch von Verschiebungen in der Landschaft verzerrt.

Was bedeutete, daß Ishtar Terra für mindestens denselben Zeitraum schon geologisch tot sein mußte.

Das ist unmöglich. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn das charakteristisch für die gesamte Oberfläche ist, wird alles auf den Kopf gestellt. Keine Plattentektonik und auch kein Vulkanismus?

Der rätselhafte Krater verschwand aus dem Blickfeld, als die Sonde zur Oberfläche hinabsank.

»Zehn Minuten bis zum Perizentrum«, sagte Stone. York sah, daß der Kommandant die Instrumente überwachte, anstatt die Bilder von der Sonde zu betrachten, die ersten Bilder von der Oberfläche der Venus.

Die Sonde näherte sich einer mit zerklüfteten Felsen übersäten Ebene. Sie sah Anzeichen für das Vorhandensein von Winden: Staubablagerungen und ein paar flache Dünen. Dann ist die Luft also nicht immer so ruhig.

»Wir kommen rein«, sagte Gershon. »Landegeschwindigkeit sechs Meter pro Sekunde. Noch dreißig Sekunden.«

Etwa fünfundzwanzig Kilometer pro Stunde. Wie bei einem Zusammenstoß zweier langsamer Fahrzeuge: hart, aber nicht unbedingt tödlich.

»Neun. Acht.«

Der Boden schoß nach oben und drehte sich auf die Kamera zu; York wurde leicht schwindlig beim Versuch, Details zu erkennen.

»Zwei. Eins.«

Das Bild verschwamm kurz und wurde wieder klar.

Sie sah die Abbildung einer steinigen Ebene. Die Ebene neigte sich ein wenig, als die Sonde umkippte.

»Treffer!« jubelte Gershon und wedelte mit den Armen. »Willkommen an einem schönen Frühlingstag auf der Venus.

Der Luftdruck beträgt angenehme einundneunzig Atmosphären. Die Temperatur wird heute frische vierhundertneunzig Grad Celsius erreichen.«

Heiß genug, um Blei zu schmelzen.

York beugte sich zum Monitor hinab. Die Abbildung wurde durch das Weitwinkelobjektiv an den Rändern gekrümmt. Den Horizont sah sie nicht; die Sicht betrug nicht mehr als ein paar hundert Meter. Die Sonne versteckte sich, aber der Himmel war dennoch hell. Wie an einem Smog-Tag in LA.

Live von der Oberfläche der Venus. York verspürte auf einmal Zuneigung für die kleine Supersonde.

Das flache Land war zu Platten zertrümmert und mit Felsen übersät. Die Platten waren rötlichbraun und schimmerten schwach. Das Licht war so hell, daß ein paar Felsen einen Schatten warfen. Die Oberfläche wirkte wie Ton, der bei zu hohen Temperaturen im Brennofen gewesen war: gesprungen und von Rissen durchzogen.

Ist vielleicht Basalt. Vulkanisch. Wahrscheinlich stark alkalisch. Und diese Platten wirken beinahe wie Sedimente. Aber es gibt hier doch kein Wasser! Handelt es sich dann um Ablagerungen aus der Luft? Nein. Dann ist vulkanischer Ursprung schon wahrscheinlicher. Und woher kommt dieses Geröll? Welche Erosionsmechanismen hatten hier gewirkt? Der Wind oder die saure Atmosphäre?

Wie wurde die Wärme aus dem Planeteninnern abgeführt, wenn es weder Plattentektonik noch Vulkanismus gab?

Sie erging sich in wilden Spekulationen. Vielleicht wird sie gar nicht abgeführt. Vielleicht wird die Wärme unter einer stabilen Oberfläche gespeichert, anstatt wie auf der Erde stetig zu entweichen... und baut sich auf bis ein . Punkt erreicht wird, wo die Litosphäre sie nicht mehr zu halten imstande ist.

Sie spielte das in Gedanken durch. Die Oberfläche des Planeten schmolz periodisch, wodurch die gespeicherte

Wärme auf einen Schlag freigesetzt wurde. Und dann erschuf der verdammte Planet sich neu. Katastrophen-Vulkanismus, der vielleicht im Turnus von einer halben Milliarde Jahre eintrat: geologische Phasen von mehreren hundert Millionen Jahren wurden zu ein paar tausend Jahren komprimiert.

Ihr stockte der Atem. Das Szenario schien unglaublich. Eine gewagte Hypothese, die du auf einem gottverdammten Einschlagkrater aufbaust, Natalie.

Doch wie hätte man diese jungfräuliche Wunde in den Maxwell Montes sonst erklären sollen?

Sie fragte sich, ob sie das veröffentlichen oder schon vorab per Funk zur Erde schicken sollte, bevor sie den Mars überhaupt erreicht hatten.

Aber ohne eindeutige Beweise? Die akademischen Kollegen, denen sie die Theorie vorlegen müßte, verhielten sich nicht immer kollegial. Ich würde mich nur zum Gespött der Leute machen. Die bekloppte Weltraum-Tussi aus Kalifornien.

Die Verteilung der Einschlagkrater wäre aber signifikant, sagte sie sich. Sogar eindeutig. Auf dem Mars und dem Mond traten Krater in bestimmten Regionen gehäuft auf. Auf dem Mars gab es eine junge, unberührte Hemisphäre und eine alte, die mit Kratern förmlich perforiert war. Das gleiche galt für den Mond, wo nach den jungen Meeren und dem alten Hochland differenziert wurde.

Hier wäre das anders - falls ich recht habe. Die Krater müssen gleichmäßig über die Planetenoberfläche verteilt sein.

Wir bräuchten nur eine hinreichend detaillierte Karte der Oberfläche und müßten die Krater zählen. Dann wüßten wir Bescheid.

Doch eine solche Karte gab es nicht und würde es auch in Zukunft nicht geben. Jedenfalls nicht zu ihren Lebzeiten.

Die Radarkarte, die bei diesem Überflug erstellt wurde, wies eine bisher einmalige Detailfülle auf - allerdings erfaßte sie bloß einen Streifen des Planeten, noch dazu nur auf einer Seite. Eine darauf basierende Zählung der Krater wäre nur bedingt repräsentativ.

Sie schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte. Stone schaute sie verwundert an, doch sie wich seinem Blick aus.

Verdammt. Was haben wir hier überhaupt zu suchen! Um den ganzen Planeten zu kartieren, würde es genügen, für fünfzig Millionen Mäuse eine Sonde anzuschaffen und im Polarorbit zu stationieren. Der Reserve-Lokus für diese Blechdose hat schon mehr gekostet.

Seit fünfzehn Jahren ging fast das gesamte NASA-Budget für die bemannte Raumfahrt drauf. Unbemannte Projekte waren den Erfordernissen der Mars-Mission untergeordnet oder ganz eingestellt worden. Der gravitationsunterstützte Flug zur Venus und zum Merkur war gestrichen worden, die Erforschung der Asteroiden und Kometen sowie die Langstrecken-Sonden zu den äußeren Planeten. Und das große Weltraum-Teleskop, das >Auge im Erdorbitc, war auch im Mülleimer gelandet.

Na schön, die Menschen waren auf dem Weg zum Mars. Doch mit Blick auf den Rest des Sonnensystems verharrte die Menschheit noch auf dem Kenntnisstand von 1957: die Monde von Jupiter und Saturn waren noch immer nur Lichtpunkte am Himmel, und die Scheiben und Ringe der Riesenplaneten waren auch durchs Teleskop nur verschwommen zu erkennen.

Und ich mache da noch mit, sagte sie sich grimmig. Nach den vollmundigen moralischen Vorsätzen bin ich nun genauso schuldig wie alle anderen. Und vielleicht noch mehr, weil ich es nämlich besser weiß.

Plötzlich füllte der Bildschirm sich mit Schnee.

Die Sonde war implodiert, durch den Druck zerquetscht worden.

York schaute auf die Uhr. Seit der Landung waren gerade einmal fünfundfünfzig Sekunden vergangen.

Gershon stieß sich von der Konsole ab. »Da haben wir’s. Nun ist es offiziell, daß die Venus ein Scheißhaus ist.«

Plötzlich wurde es deutlich dunkler in der Kabine. Sie blickte nach oben. Während Ares in den Schatten der Venus eintauchte, verwandelte die helle Sichel sich in einen Ring, der in den Farben des Regenbogens schillerte (ich hoffe, die Kameras nehmen das auf). Wenig später verblaßte der Regenbogen und verschwand.

Nun klaffte über Ares ein Loch im Weltraum: das war die Schwärze der heißen und leblosen Wolken der Venus.

York kehrte auf ihre Station zurück. »Die MosaikrasterKameras laufen«, meldete sie. »Und die planetare StreifenPhotographie. Der Instrumententräger funktioniert einwandfrei.«

»Perizentrum«, sagte Stone unvermittelt. »Hört mal her. Die Zeitdauer der Mission beträgt nun hundert-einundsiebzig Tage, vierzehn Stunden und vierundzwanzig Minuten.« Er sah auf die Anzeigen. »Wir haben heute den achten September 1985 und stehen über der Venus, Leute. Die Entfernung von der Oberfläche beträgt fünftausendachtundvierzig Kilometer mit schwankender Tendenz. Wir sind hunderteinundsiebzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Die Abweichung von der nominalen Trajektorie beträgt gerade einmal achtzig Kilometer. Toller Schuß.«

York blickte durch das kleine Sichtfenster. Die Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit angepaßt, und sie glaubte die Wolkendecke zu erkennen, die vermutlich vom Sternenlicht beschienen wurde. Die Wolken-Welt wirkte wie der überdimensionierte Bauch einer Schwangeren, der sich ihr entgegenstreckte.

Irgendwo unter den Wolken blitzte es auf, wie eine Glühlampe, die unter einer Wolldecke angeknipst wurde.

Sie stieß sich zum Sichtfenster ab und schaute hinaus. »Mein Gott.«

»Was denn?« fragte Stone.

Das kenne ich doch aus dem Erdorbit. »Ich habe gerade einen Blitz unter den Wolken gesehen.«

Gershon schaute sie an. »Das ist doch lächerlich. Die Gewitter auf der Erde entstehen dadurch, daß große Teilchen wie Eiskristalle von aufwärts gerichteten Luftströmungen transportiert werden. Die Luft der Venus ist aber so zäh wie Brei. Es gibt keinerlei Hinweise auf Luftströmungen oder große Teilchen. Wie sollten da Blitze entstehen?«

Dann geschah es wieder: ein annähernd elliptischer Blitz, der eine Fläche von vielen Quadratkilometern umfaßt haben mußte. Für einen Augenblick erkannte sie eine detaillierte Struktur in den grauen Wolkenschichten und -bänken. Sie waren in Drehrichtung geschichtet und wurden von unten angestrahlt.

»Streitet euch nicht«, sagte Stone ruhig. »Wenn es hier Gewitter gibt, wird die Kamera sie erfassen. Teufel, Ralph, deine kleine Sonde hat sie vielleicht auch gehört.«

Gershon hatte natürlich recht, sagte York sich. Es gab auf der Venus keinerlei unmittelbare Anzeichen für die Mechanismen, die auf der Erde die Entstehung von Gewittern bewirkten. Aber was dann? Vulkanismus?

Betrübt kehrte sie auf ihre Station zurück. Ein flüchtiger Blick ist nicht genug. Schließlich haben wir es hier mit einem Planeten zu tun. Man müßte schon ein ganzes Jahr im Orbit verbringen, mit einer größeren Palette von Instrumenten und hundert Sonden. Durch diesen Vorbeiflug werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.

»Da kommt man schon ins Grübeln«, sagte Gershon. »Dieses Manöver verhilft uns zu einer Delta-Vau von fast vier Kilometern pro Sekunde. Noch dazu gratis. Das ist mehr, als wir beim Verlassen des Erdorbits aus den Tanks rausgeholt hatten! Und nun fliegen wir mit ungefähr vierzig Kilometern pro Sekunde. Die höchste Geschwindigkeit, die wir bisher erreicht haben.«

»Was sagst du dazu, Natalie«, sagte Stone. »Du fliegst im schnellsten von Menschenhand gefertigten Fluggerät aller Zeiten. Welch ein Flug für jemanden, der eigentlich gar kein Pilot werden wollte.«

Doch York hörte gar nicht zu.

Wir sind nur hier, um dich zu bestehlen, sagte sie sich. Ares hatte überhaupt kein Interesse an der Venus selbst. Wir brauchen nur deine Energie.

Licht durchflutete die Wissenschaftliche Station. Sie schaute nach oben. Eine neue Sichel formte sich, als Ares auf die Tagseite des Planeten zuflog.

Dieser erstaunliche Anblick ging ihr nicht aus dem Kopf: der einsame jungfräuliche Krater, der in eine Bergkette geschlagen worden war.

Mittwoch, 3. Juni 1981

Firmensitz von Columbia Aviation, Newport Beach

JK Lee sagte sich, daß er schon lange keinen solchen Mist mehr zu Gesicht bekommen hätte wie die Aufforderung zur Angebotsabgabe für das neue Mars-Exkursionsmodul.

Eine Aufforderung zur Angebotsabgabe war Teil der Standardprozedur, welche die Regierung bei der Vergabe von

Großaufträgen befolgte. Diese spezifische Aufforderung zur Angebotsabgabe war an vierzehn Firmen ergangen, darunter McDonnell, Boeing, Rockwell, Lockheed und Martin. Die Antwort sollte innerhalb von zehn Wochen erfolgen. Dann würde die NASA die Angebote mittels einer eigens hierfür entwickelten Punktmatrix auswerten. Damit sollten der technische Ansatz, das vom Bewerber eingesetzte Personal, die Expertise des Anbieters in den relevanten Bereichen und so weiter gewichtet werden. Bei der Ausschreibung eines Großauftrags war die Aufforderung zur Angebotsabgabe an sich schon ein Teil des Projekts.

Das Dokument, das JK Lee nun in Händen hielt - nicht sehr aussagefähig, schlecht fotokopiert, teilweise mit handschriftlichen Einträgen nachgebessert - war miserabel.

Er bestellte Jack Morgan zu sich.

Lee knallte Morgan die Aufforderung zur Angebotsabgabe auf den Tisch. »Sehen Sie sich das an.«

Jack Morgan war ein stämmiger Mann mit grauem Haar und Händen wie Klodeckeln. Er nahm auf der anderen Seite von Lees wuchtigem Stahlschreibtisch Platz.

Nachdem er die Aufforderung zur Angebotsabgabe flüchtig durchgesehen hatte, warf Morgan die Unterlagen wieder auf Lees Schreibtisch.

»Und was halten Sie davon?« fragte Lee.

»Ich würde mir nicht mal den Arsch damit abwischen. So eine schludrige und stümperhafte Arbeit ist mir noch nicht untergekommen.«

»Klarer Fall.« Morgan hatte natürlich recht. Die Vorgaben für das Gewicht des MEM waren außerordentlich strikt, und der mit Blick auf den für 1985 vorgesehenen Start gesteckte Kosten- und Zeitrahmen war so eng, daß er kaum einzuhalten war. Die NASA hatte bei der Aufforderung zur Angebotsabgabe offensichtlich unter enormem Druck gestanden und versucht, ein Programm für die Mars-Mission zusammenzuschustern, während sie noch mitten in der Untersuchung der Apollo-N-Havarie steckte.

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Lee. »Diese Aufforderung zur Angebotsabgabe ist eine Zumutung. Ich wundere mich nur, daß sie das überhaupt so rausgegeben haben. Trotzdem.«

»Trotzdem was? JK - Sie spielen doch nicht etwa mit dem Gedanken, mitzubieten?«

Lee lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. »Wieso nicht?«

»Weil wir den Auftrag eh nicht bekommen würden. Weil es rausgeschmissenes Geld wäre. Ich weiß nicht mal, weshalb man uns dieses Elaborat überhaupt zugeschickt hat.«

Lee glaubte es aber zu wissen.

Zufällig wußte er nämlich, daß Ralph Gershon in dem NASA-Gremium saß, das die Angebote auswertete. Seit sie sich damals bei der Zusammenkunft der Technischen Kontaktgruppe in Rockwells >Ziegelei< kennengelernt hatten, wo Lee einen Astronauten-Novizen zusammengeschissen hatte, weil das MEM wie eine Apollo-Kapsel aussah und seit sie den Ausflug in die Mojave-Wüste unternommen hatten, waren er und Gershon in Verbindung geblieben.

Er sagte sich, daß er Gershon für diese Aufforderung zur Angebotsabgabe wohl noch dankbar sein mußte.

»Wie dem auch sei«, sagte Morgan, »Rockwell wird den Zuschlag für das MEM erhalten; das weiß doch jeder.«

»Ja, aber angenommen.«

»Was?«

»Ich weiß nicht. Nur einmal angenommen.«

»Noch ein kleines Detail«, sagte Morgan. »Wir wären nicht imstande, das Ding zu bauen, selbst wenn wir den Auftrag bekämen.«

»Wieso nicht?«

»Weil wir auf Flugzeugzellen und Avionik spezialisiert sind. Das würde uns als Zulieferer qualifizieren. Wenn man sich aber um den Auftrag für den Bau eines Raumschiffs bewirbt, um Himmels willen, muß man sich überall auskennen: Tanks, Triebwerke, Navigations- und Flugführungssysteme, Lenkungscomputer, Hitzeschilde, Lebenserhaltungssysteme.«

Darauf hatte Lee nur gewartet. »Lebenserhaltungssysteme sind kein Problem.«

»Quatsch, JK«, sagte Morgan. »Wenn Sie glauben, ich würde wegen einer solch hanebüchenen Aktion bei Art Cane meine Haut zu Markte tragen, sind Sie schief gewickelt.« Er stand auf, nahm die Aufforderung zur Angebotsabgabe und warf sie in Lees Papierkorb. »Wenn Sie noch halbwegs bei Verstand sind, lassen Sie es dort liegen.«

»Ja. Werde ich. Danke, Jack.«

Nachdem Morgan gegangen war, lehnte Lee sich im Drehstuhl zurück, brachte die Füße auf dem Schreibtisch in eine noch bequemere Position und zündete sich eine Zigarette an. Der wuchtige, schlachtschiffgraue Stahlschreibtisch war JKs Markenzeichen; er war ein Geschenk von dem Team, mit dem er damals am B-70-Projekt gearbeitet hatte. Das Möbel hatte ihn seitdem überallhin begleitet.

Er dachte über Jack Morgan nach.

Morgan war im Korea-Krieg Flugarzt bei der Luftwaffe gewesen und war dann sozusagen in die Raumfahrtmedizin hineingeschlittert. Nach dem Krieg hatte er für Rockwell -damals noch North American - gearbeitet und einen Piloten behandelt, der aus einer F-100, einem experimentellen Überschallflugzeug, aussteigen mußte. Die Luft war bei dieser Geschwindigkeit hart wie Stein. Morgan hatte dem Ärzteteam angehört, das dem Piloten das Leben gerettet hatte. Es war erst das dritte Mal in der Geschichte der Luftfahrt gewesen, daß ein Pilot aus einem Flugzeug ausgestiegen war, das schneller als der Schall flog. Also wurde Morgan de facto Pionier in der neuen Disziplin der Raumfahrtmedizin.

Im Lauf der Zeit war Morgan einer von Lees engsten Vertrauten - sprich Saufbrüdern - geworden und in seine Firma eingetreten, nachdem der durch die Entlassung von Stormy Storms desillusionierte Lee Rockwell im Jahre 1967 den Rücken gekehrt hatte.

Lee legte Wert auf Morgans Rat. Was aber nicht bedeutete, daß er ihn oft befolgte.

Nach einer Viertelstunde beugte er sich nach vorn und drückte auf die Taste der Sprechanlage. »Bella, ich möchte, daß Sie ein paar Besprechungstermine für mich anberaumen.«

»Jawohl, JK.«

Er erhob sich vom Stuhl und fischte die Aufforderung zur Angebotsabgabe aus dem Abfalleimer.

Drei Tage später platzte JK Lee ins Büro seines Chefs, Arthur Cane, gefolgt von vier seiner besten Mitarbeiter. Einschließlich Jack Morgan. Sie waren mit Tabellen und Grafiken bepackt und improvisierten eine Präsentation mit dem Motto: >Weshalb wir uns um den Auftrag für das MEM bewerben solltenc.

Cane saß hinter einem großen Schreibtisch aus massivem Walnußholz. Der vor ihm liegende Stapel Papiere wurde von einem massiven englischen Füllfederhalter aus Marmor gekrönt.

Arthur Cane war inzwischen über siebzig. Ein klobiges Hörgerät aus Bakelit war an einem Ohr befestigt. Er hatte kein einziges Haar mehr auf dem Kopf. Doch nach all diesen Jahren erkannte Lee noch immer das Leuchten in den Augen des alten Mannes, wenn er über den Firmenparkplatz ging, vorbei an dem großen, glänzenden Windkanal. Seht her. Ich habe einen eigenen Windkanal.

Cane war ein Veteran der Luft- und Raumfahrtindustrie. Vor dem Krieg hatte er bei Hughes gearbeitet und dann ein paar

Jahre bei den Eierköpfen in Langley verbracht. Die Entwicklung von Flugzeugen war Canes Steckenpferd - ihn reizte der Innovationsschub, der auch auf andere Bereiche ausstrahlte, die Herausforderung, mit Material und Systemen die Grenzen des scheinbar Möglichen zu überschreiten. Langley mit dem beschränkten Budget und den internen Querelen war jedoch eine Enttäuschung für ihn gewesen.

Nachdem Langley schließlich der NASA eingegliedert wurde, war Cane ausgeschieden und hatte eine eigene Firma -Columbia Avionics - gegründet. Nun war er imstande, selbst zu forschen, seinem Riecher zu folgen und die Ergebnisse dann an die NASA und die großen Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie zu verkaufen.

Was er auch mit Erfolg getan hatte. Allerdings hatte Cane darauf geachtet, daß Columbia nicht zu schnell expandierte, und er hatte die Firma geschickt vor den Übernahmeversuchen geschützt, zu denen die großen Jungs regelmäßig ansetzten.

Und nun wollte Lee Cane um ein paar Millionen aus dem Firmenvermögen bitten, um bei einem Auftrag mitzubieten, der so groß war, daß er Columbia bis zur Unkenntlichkeit verändern würde. Deshalb muß ich verdammt genau wissen, wie Art dazu steht.

Lee machte den Eröffnungszug. Die Einleitung war durch eine neutrale und prägnante Diktion gekennzeichnet. Auf den Putz hauen konnte er immer noch.

Nach Lee sprach Julie Lye, eine intelligente junge Absolventin vom MIT. Lee hatte sie von ihrer eigentlichen Arbeit abgezogen, um dem Vorschlag akademisches Gewicht zu verleihen. Lye legte kurz und bündig die Erkenntnisse dar, die man von den verschiedenen Mars-Sonden gewonnen hatte: die Zusammensetzung der Atmosphäre, die Beschaffenheit des Bodens. Es handelte sich um eine Erläuterung der generellen Problematik, mit der jeder konfrontiert wurde, der Menschen zum Mars schicken, sie dort am Leben erhalten und wieder nach Hause holen wollte. Lyes Vortrag war präzise und überzeugend.

Cane betrachtete sie mit ausdruckslosem Gesicht und gefalteten Händen.

Als nächster sprach Chaushui Xu, auch ein kluges Kind. Der Amerikaner chinesischer Abstammung verfaßte gerade eine Dissertation über seine Arbeit bei Columbia. Xu stellte die Optionen für die Durchdringung der Marsatmosphäre vor und wartete mit Vorschlägen auf, Columbias Expertise in die Problemlösung einfließen zu lassen.

Canes Augen verengten sich zu Schlitzen, als ob er gleich einnicken würde.

Xu wurde nervös und geriet ins Stottern. Doch Lee war unbesorgt; er wußte nämlich, daß für Cane Intelligenz an erster Stelle rangierte und daß er es hier mit den besten Nachwuchskräften der Firma zu tun hatte. Cane hörte sehr wohl zu.

Xu beendete den Vortrag und setzte sich. Er war noch immer nervös.

Nun war Bob Rowen an der Reihe. Rowen, der deutlich älter war als die anderen, hatte damals schon mit Lee am B-70-Projekt gearbeitet. Anschließend war er mit Lee und Storms an der Entwicklung der X-15 beteiligt gewesen. Rowen legte dar, wie Columbia die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Avionik des Raumschiffs bewältigen konnte. Bald stand fest, daß ein MEM von Columbia das beste Raumschiff werden würde, das jemals geflogen war.

Rowen war gerade so richtig in Fahrt, als Cane ostentativ das Hörgerät abschaltete und sich seinen Unterlagen widmete.

Jack Morgan beugte sich zu Lee hinüber. »Mein Gott«, flüsterte er. »Und was machen wir nun?«

Lee grinste nur. »Wir machen einfach weiter. Er verfolgt die Präsentation ganz genau, glauben Sie mir. Wenn er nichts von unseren Vorschlägen hielte, wären wir längst draußen.«

Der letzte Referent war Jack Morgan, und er führte aus, wie ein Columbia-MEM vier Menschen für einen Monat das Überleben auf dem Mars sichern würde. Morgan, wegen Canes Verhalten sichtlich irritiert, leierte den Vortrag herunter und nahm dann geräuschvoll wieder Platz.

Nun trat Lee noch einmal vor. Er faßte die bisherigen Ausführungen zusammen und formulierte ein paar Perspektiven für die zukünftige Entwicklung der Firma. Dann wartete er auf eine Reaktion des Chefs.

Er wußte, daß seine Leute unruhig wurden, doch Lee war nicht zum erstenmal hier. Er harrte vor Canes Schreibtisch aus.

Nach zwei Minuten legte Cane den Marmorfüllfederhalter aus der Hand und lehnte sich im Sessel zurück. Er schaltete das Hörgerät wieder ein. »JK, Sie sind verrückt. Ich weiß nicht, weshalb ich Sie überhaupt noch beschäftige.«

Lee beugte sich vor und legte die zu Fäusten geballten Hände auf den Schreibtisch. »Verdammt, Art, wir sind im Luft- und Raumfahrtgeschäft. Und seit Apollo ist das für uns die erste Gelegenheit für Innovationen.«

Cane rieb sich die Augen. »Wir sind eine ExperimentierWerkstatt. Ein ewiger Zulieferer. Wir gehören nicht zu den Großen.«

»Wer sagt denn, daß es so bleiben muß?« sagte Lee.

»Zumal wir den Zuschlag ohnehin nicht bekommen würden.« Cane zog ein Blatt Papier aus dem scheinbar ungeordneten Haufen auf dem Schreibtisch. »Sehen Sie sich das an. Sehen Sie, gegen wen wir alles antreten. McDonnell, Martin, Gonvair, General Electric, Boeing. Ganz zu schweigen von Rockwell, die sowieso gewinnen werden. Ein paar von diesen Firmen beteiligen sich schon seit 1972 an der

Grundlagenforschung für das MEM. Sie sind uns um Jahre voraus, verdammt. Jahre. Und sehen Sie sich das an. Martin hat schon drei Millionen aus eigener Tasche investiert und eine detaillierte Analyse erstellt, die viertausend Seiten umfaßt. Und wir fangen bei Null an.«

»Mir ist schon klar«, sagte Lee gestikulierend, »daß wir nicht imstande sind, in einen Konstruktionswettlauf mit diesen Firmen einzutreten. Bedenken Sie aber, daß zum Beispiel Bell mit der X-15 nicht zum Zuge gekommen ist, obwohl die Firma zuvor schon die X-1 gebaut hatte - das Flugzeug, mit dem Chuck Yeager die Schallmauer durchbrach.«

»Ich weiß bestens Bescheid in der Geschichte der Luftfahrt, JK.«

»Entschuldigung. Wie dem auch sei, Bell hätte den Auftrag für die X-15 bekommen müssen. Aber was sie vorlegten, war ein futuristisches Raumflugzeug, das seiner Zeit um Jahre voraus war. Rockwell hat schließlich den Auftrag erhalten, indem es der NASA gab, was sie wollte: eine simple, kraftstrotzende Maschine. Und als später die Ausschreibung für Apollo erfolgte, waren es Firmen wie Martin und Douglas, die Millionen in utopischen Kram investierten, fliegende Untertassen, Lifting Bodies und was nicht alles. Und Rockwell hat wieder gewonnen, weil es der NASA das gab, was sie wollte und brauchte: eine Mercury-Kapsel für eine dreiköpfige Besatzung.«

»Ja, JK, nur daß wir diesmal gegen Rockwell bieten«, sagte Cane trocken. »Und Sie wollen mir sagen, Sie würden es besser machen als Rockwell und Martin mit ihrer Truppe von dreihundert Ingenieuren, und.«

»Ja, genau das will ich sagen. Diese Kameraden sind nämlich so sehr damit beschäftigt, ihre Lieblingsprojekte, die sie über die Jahre aufgezogen haben, zu verteidigen, daß sie nicht mehr sehen, was der gottverdammte Kunde will, Art.«

Cane ließ sich das durch den Kopf gehen. »Sie sind ein schlauer Bursche, JK. Nur Sie sind in der Lage, unsere Konzeptionslosigkeit in eine Stärke umzumünzen. Um so mehr, weil ich den Eindruck habe, daß Sie wirklich glauben, was Sie sagen.«

»Natürlich glaube ich daran. Sehen Sie, hier bietet sich uns eine einmalige Gelegenheit. Columbia könnte zum Mars fliegen. Werden Sie mich nun unterstützen oder nicht?«

Art Cane musterte ihn mit schmalen, wässrigen Augen.

»Ich erteile Ihnen die Erlaubnis, mitzubieten. Aber wenn Sie mehr als zwei Millionen Piepen ausgeben, schwöre ich Ihnen, daß ich Ihnen die Eier abreiße. Und nun verlassen Sie mein Büro.«

Juni 1981

Beschleunigungslabor der Marine, Johnson, Pennsylvania Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

Surrend setzte das Rad sich in Bewegung. Die auf eine Liege geschnallte York hatte das Gefühl, ihr würde der Brustkorb zerquetscht werden.

Sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß laut Aussage der Piloten, die schon ins All geflogen waren, die Ausbildung härter war als die Praxis.

Das war aber nur ein schwacher Trost.

Sie erreichte fünf Ge, und es bedurfte einer bewußten Willensanstrengung, Luft in die Lungen zu saugen. Sie wurde durchgerüttelt, wobei sie sich vorkam wie eine Erbse in einer Dose, die an einer Schnur herumgewirbelt wurde - ein richtiger Flug verläuft viel ruhiger, Natalie...

Sie hatte eine Checkliste, die sie abarbeiten sollte, und sie betätigte mit den behandschuhten Fingern die Schalter.

Ein grauer Schleier verhüllte das Blickfeld, als ob im Kopf ein Vorhang zugezogen würde. Das war das erste Anzeichen für einen Blackout. Bunte Lichter auf einer Konsole sagten ihr, welche Fortschritte sie schon gemacht hatte. Wenn sie sich entspannte, wurde der graue Vorhang zugezogen, und wenn sie sich konzentrierte, wurde er zurückgezogen. Sie versuchte, den Schmerz in der Brust zu verdrängen, doch bei jeder Bewegung der Arme und des Kopfes wurde sie benommen. Das war die Corioliskraft - die Kraft, die bei schneller Rotation seitlich auf den Körper wirkte.

York absolvierte eine Reihe simulierter Wiedereintritte aus dem Erdorbit. Und diese Übung, die schlimmste von allen, simulierte eine hohe, steile Flugbahn, als ob die Kommandokapsel zu schnell in die Erdatmosphäre eindrang und brutal abgebremst würde.

Als schließlich acht Ge auf ihr lasteten, vermochte sie die Arme nicht mehr zu bewegen. Sie lag nur noch im Käfig und ließ es über sich ergehen.

Nun wurde der Grauschleier vor den Augen dichter und löste sich nicht mehr auf.

Natürlich ist es schlimmer als eine echte Mission. Die verdammten Ärzte machen das absichtlich.

Die Sicht verschwamm vor ihren Augen. Es gelang ihr kaum noch, die Instrumente abzulesen. Zwölf Ge; viel mehr, als bei einer echten Mission auftreten würden. Genug, um die Augäpfel zu plätten. Der Kopf schlug gegen die Innenseite des Druckhelms. Die Lichter des Labors, in dem der Käfig sich befand, wirbelten an den Fenstern des Kabinenmodells vorbei.

Fünfzehn Ge. Sie war nicht mehr in der Lage, zu atmen. Nun würde sie mit Sicherheit ohnmächtig werden. Aber ich habe erst die Hälfte hinter mir. Und die Ärzte beobachteten sie - die Kameras übertrugen jedes Zucken des Gesichts.

Endlich war der Durchgang zuende; der auf der Brust lastende Druck verringerte sich, und sie sog gierig die Luft ein.

Natürlich beklagte niemand sich über die HighTech-Folter, der er in Geräten wie dem Rad unterzogen wurde. Genauso wenig wurde die Frage nach dem Bezug dieser Übungen zur praktischen Raumfahrt gestellt, und schon gar niemand gab zu, daß er oder sie Probleme mit diesen Übungen hatte. Wenn man sich nämlich beklagt, wird das Muldoon gemeldet. Dann notiert er das in dem verdammten System, nach dem er die Besatzungen auswählt, und du kannst den Flug ins All vergessen. Nach diesen Regeln wurde im Moment gespielt. In seiner Eigenschaft als Leiter des Mars-Programms hatte Joe Muldoon gleichzeitig auch die Funktion des Leiters der Besatzungs-Operationen übernommen.

Es war Muldoon, der die Besatzungen für die Missionen einteilte. Und jeder wußte, daß Muldoon bereits die Besatzungen für die ersten Flüge zusammenstellte, die schließlich in die Mars-Mission münden würden. Das einzige, worauf es im Leben nun ankam - einzig und allein - war die Teilnahme an diesen Flügen.

Also mußte York sich zusammennehmen, wenn sie den Käfig verließ.

Wie ist es gelaufen? Sie haben keinen Blackout gehabt, oder?

Ich? Kommt schon. Es war wie ein turbulenter Flug in einem Flugzeug, mehr nicht.

Natürlich.

Als die Ärzte ihr aus dem Käfig halfen, stellte sie fest, daß der Rücken an den Stellen, wo das Blut durchs Fleisch gepreßt worden war, Blutergüsse aufwies. Und sie hatte Kopfschmerzen wie nach einem wüsten Besäufnis.

Kinkerlitzchen. Probleme? Ich? Kommt schon.

Während sie in der Badewanne lag und sich regenerierte, erhielt sie eine Nachricht von Muldoon.

Sie - und der Rest der Astronauten - sollten das nächste Flugzeug nach Houston nehmen und sich bei Muldoon melden.

Das war nicht nur ein ungewöhnlicher, sondern ein noch nie dagewesener Vorgang.

Sie kletterte aus der Wanne und trocknete sich ab. Das leichte Herzklopfen, das sie nun spürte, rührte nicht von der Beschleunigung her.

Ares. Es geht los.

Als York den kleinen Konferenzraum im zweiten Stock von Gebäude 4 betrat, war er bereits überfüllt. Joe Muldoon saß auf einem Podest an der Stirnseite des Raums an einem Tisch und blätterte in Folien für einen Overhead-Projektor.

York kämpfte sich durch einen Block aus mit Polohemden bekleideten männlichen Astronauten vor und fand schließlich einen Platz an der Rückseite des Raums. Neben ihr saß ein Mann, der schon einmal um den Mond geflogen war.

Muldoon weiß bestimmt, sagte York sich, daß er jede hier anwesende Person absolut im Griff hat.

Eine der Fragen, die sie im Zusammenhang mit dem Auswahlverfahren für die Besatzungen beschäftigte, lautete, ob Männer wie Muldoon es genossen, Macht auszuüben. Doch wo sie Muldoon nun beobachtete, wie er nervös mit dem Fuß auf den Boden tappte und in verkrampfter Haltung dasaß, kamen ihr gewisse Zweifel.

Was, von ihrer Warte aus gesehen, nur für ihn sprach.

Der Raum war von lebhafter Konversation erfüllt und hallte von tiefen Stimmen wider, in denen allerdings auch leichte Nervosität mitschwang. Es herrschte eine lockere Atmosphäre, als ob die Leute sich im Grunde gar nicht als Konkurrenten betrachteten. Eben, schließlich geht es hier nur um die Zusammenstellung der Besatzungen für das wichtigste

Raumfahrtprogramm der nächsten Jahre. He, hast du am Samstag die Sportschau gesehen?

Nun erhob Muldoon sich, stemmte die Hände in die Hüften und überflog das Astronauten-Korps. Mit den blauen Augen und dem Bürstenhaarschnitt wirkte er wie die Karikatur eines Schleifers bei der Armee, sagte York sich.

Die Gespräche verstummten, und Muldoons Blick schweifte über Reihen mit schweigenden Leuten.

Muldoon sprach ohne Mikrofon. Er verzichtete auf eine Einleitung und kam gleich zur Sache. Er sagte:

»Die Leute, die als erste zum Mars fliegen werden, befinden sich hier in diesem Raum.«

»Sie wissen inzwischen von den Einschnitten im AresMissionsprofil.«

Er schaltete den Overhead-Projektor ein, und ein Bild wurde auf eine Leinwand hinter ihm geworfen. Es handelte sich um eine maschinengeschriebene Liste, die auf Folie kopiert worden war. »Wir haben acht Flüge angesetzt, sowohl bemannte als auch unbemannte. Wir haben sechs vorläufige Missions-Klassen definiert: A bis F. Hauptsächlich handelt es sich um Missionen im Erdorbit, wo die Systemkomponenten erprobt werden. Mit dem letzten Flug - Missions-Klasse F -wird dann eine Landung auf dem Mars angestrebt.

Anhand der Folie sehen Sie, daß die beiden A-Klasse-Missionen der Erprobung des neuen Saturn VB-Triebwerks dienen, mit dem Apollo- und MEM-Modelle ins All geschossen werden. Die B-Mission ist der erste bemannte Flug in den Erdorbit - oder vielleicht auch Mondorbit -, um der Saturn VB die Zulassung für den bemannten Raumflug zu erteilen. Diesmal werden eine echte Apollo, aber immer noch ein MEM-Modell verwendet. Bei der C-Mission handelt es sich wieder um einen unbemannten Flug, und zwar um die Erprobung eines MEM-Prototypen unter annähernden Einsatzbedingungen. Die D-Mission ist der erste bemannte MEM-Flug in den Erdorbit - ein Dauertest, um die Raumtüchtigkeit zu testen.

Bei den beiden E-Klasse-Missionen handelt es sich wieder um bemannte MEM-Tests, wobei wir die neuen Landesysteme im Rahmen von Landungen auf dem Mond und/oder auf der Erde erproben wollen. Außerdem erwarten wir in dieser Periode die Bestätigung der orbitalen Montage-Prozeduren. Die F-Mission umfaßt dann den Flug zum Mars und ist für den 21. März 1985 angesetzt. Andernfalls müßten wir wieder zwei Jahre auf die nächste Opposition warten. Die exakte Abfolge der anderen Missionen und des jeweiligen Zeitpunkts muß noch bestimmt werden; die Entscheidung erfolgt in Abhängigkeit vom Erfolg der vorhergehenden Mission.«

York hörte kaum zu. Die anderen wahrscheinlich auch nicht, sagte sie sich. Es finden also nur fünf bemannte Flüge statt.

Nur fünf Flüge.

Muldoon zog die Folie unter dem Projektor hervor; sie zeichnete sich als graue Welle im Licht der Projektorlampe ab. Dann legte er die nächste Folie auf.

Es handelte sich um eine Namensliste.

»In dieser Phase wäre es verfrüht«, sagte Muldoon, »die Besatzungen für alle Flüge bis zur F-Mission festzulegen. Ich bin sicher, daß Sie hierfür Verständnis haben. Deshalb sehen Sie hier zunächst die Besatzungen für die Klassen B und D sowie für die erste E-Mission - also die ersten drei bemannten Flüge - und die Ersatzmannschaften...«:

York reckte den Hals und kniff die Augen zusammen, um die Namen auf der unsauber getippten und unscharf projizierten Liste zu erkennen. Mit den Lippen formte sie die jeweiligen Namen.

Die Flüge fanden mit drei- beziehungsweise vierköpfigen Besatzungen statt. Phil Stones Besatzung - mit Adam Bleeker und einem erfahrenen Astronauten namens Ted Durval - sollte die B-Mission durchführen: die erste und somit riskante Erprobung des modifizierten Zusatztriebwerks, der Saturn VB. Es handelte sich um eine reine Luftwaffen-Besatzung. York erkannte die zugrunde liegende Logik, Testpiloten mit einer Mission zu betrauen, die eigentlich einen Testflug darstellte -doch gleichzeitig wurden dadurch auch Akzente für das gesamte Programm gesetzt: ein falscher Akzent indes, denn die Betonung lag auf dem Militärischen. Noch mehr Kampfpiloten-Scheiß. Wie gehabt.

Doch die D-Mission, der Dauertest im Weltraum, hatte eine vierköpfige Besatzung, darunter zwei Missions-Spezialisten: Ralph Gershon, las sie. Und.

Natalie York.

Sie versuchte weiterzulesen. Phil Stones B-Missions-Besatzung stellte die Ersatzmannschaft.

Natalie York.

Immer wieder las sie den Namen; sie traute den Augen nicht und wähnte sich noch immer in der Zentrifuge, wo ihr die Augäpfel geplättet worden waren. Mein Gott. Das bin wirklich ich, in einer Erstbesatzung. Ich werde in den Orbit gehen.

Ich werde die erste Amerikanerin im Weltraum sein.

Sie war eine von nur drei weiblichen Astronauten im Korps und die einzige, die Muldoon auf die Liste gesetzt hatte.

Die Spannung im Raum entlud sich. Jubelrufe ertönten, die Leute schüttelten sich die Hände und hieben sich kumpelhaft auf den Buckel. Sogar York bekam ein paar Knüffe ab.

Auf vielen Gesichtern lag ein verkniffenes Grinsen. Sie wußte, was das zu bedeuten hatte; sie dachte nämlich das gleiche. Ich muß lächeln und so tun, als ob ich mich für dich freuen würde. Aber ich müßte auf der Liste stehen und nicht du, Bastard. Aber vielleicht werde ich doch noch draufkommen - ich bete nämlich zu Gott, daß du dir das Bein brichst oder während der Vorbereitungen Scheiße baust.

Nun brachte Muldoon die Leute mit einer Geste zum Schweigen. »Wie ich Ihnen schon sagte, halte ich es für verfrüht, über die erste E-Mission hinaus schon Besatzungen zusammenzustellen. Aber die Auswahl wird nach dem normalen Rotationsprinzip erfolgen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit; wenn Sie im Moment keine Fragen haben, dürfen Sie gern in mein Büro kommen...«

Das normale Rotationsprinzip, hatte er gesagt.

Das traf York wie ein Stromschlag, und die Euphorie zerstob.

Sie und alle anderen wußten, was das zu bedeuten hatte. Sie sah wieder auf die Leinwand und stellte Kalkulationen an. Das bedeutet, daß ich in den Erdorbit gehen werde. Aber nicht weiter. Phil Stone wird zum Mars fliegen. Ich nicht.

An diesem Tag arbeitete niemand mehr im Astronauten-Büro. York vermutete, daß Joe Muldoon die Ankündigung bewußt auf diesen Termin gelegt hatte.

Sie fuhr zum Singenden Rad hinaus. Auf dem Parkplatz standen lauter Sportwagen, und an der Bar fand sie Phil Stone, Adam Bleeker und ein paar Kumpels aus der Zeit beim Militär, die sich bereits systematisch vollaufen ließen. Stone zog einen Hocker heran und reichte ihr ein eiskaltes Bier.

»Glückwunsch«, sagte er aufrichtig. »Dann fliegst du nun doch in den Weltraum. Amerikas erste Frau im All. Auf dich, Natalie. Kommt, Leute.« Er brachte ein paar Toasts mit kühlem Bier aus, die sie geduldig über sich ergehen ließ. »Wie fühlst du dich?« fragte er.

»Durchwachsen«, sagte sie. »Immerhin fliege ich.«

»He, du kannst dich wirklich nicht beklagen. Wie lange bist du nun bei der NASA - drei Jahre? Teufel, wir haben Leute, die drei- oder viermal so lang auf einen Platz gewartet haben wie du. Ich freue mich darauf, auf der D-Mission mit dir zusammenzuarbeiten. Das meine ich ernst, Natalie.«

»Ja«. Sie rang sich ein Lächeln ab.

Stone musterte sie. »Ja, aber.«, versuchte er sie aus der Reserve zu locken.

»Aber, Phil, meine ehrliche Meinung ist, daß du das Arschloch bist, das zum Mars fliegt, und nicht ich.«

Er lachte nur und nahm einen Schluck Bier. »Komm schon, Natalie. Es steht doch noch gar nicht fest, wer zum Mars fliegt. Nicht in dieser Phase. Falls die Testflüge keinen Erfolg haben, wird vielleicht überhaupt niemand zum Mars fliegen.«

»Halt mal die Luft an. Du hast doch gehört, was Muldoon gesagt hat. >Das normale Rotationssystem<.«

Das >Rotationssystem< stammte noch aus den Anfangsgründen von Mercury und war bis einschließlich Apollo beibehalten worden. Die Aufstellung der Besatzungen erfolgte nach dem >Frosch-Prinzip<. Die Regel lautete >einmal in der Reserve-Besatzung, zweimal aussetzen, einmal fliegen<. Dann ging es wieder von vorne los. Deshalb stellten Phil Stone und seine Leute auch die Ersatzmannschaft für die D-Mission, Yorks Dauertest-Flug. Falls das Rotationsprinzip zum Tragen kam, würden sie die nächsten beiden Missionen - die EMissionen - aussetzen und an der F-Mission teilnehmen.

Die zufällig den Flug zum Mars umfaßte.

Stone spreizte die Finger. »Das Rotationsprinzip ist nicht schlecht, Natalie. Zumindest steckt ein System dahinter. Ich meine, Muldoon hat einen verdammt harten Job. Am liebsten würde jeder bei jedem Flug mitmachen.«

»Ach, Scheiße, Phil. Die Rotation läuft doch nicht maschinell ab. Damit läßt sich jede beliebige Besatzung zusammenwürfeln.«

»Schau, Natalie, alles andere als ein Rotationssystem wäre eine Beleidigung für die Astronauten und der Moral abträglich. Das ist meine Meinung, und ich glaube, der alte Joe sieht das genauso. Jede Besatzung muß in der Lage sein, jeden Flug durchzuführen. Es ist wie die Führung eines Geschwaders von Kampfpiloten. Man hat einen Auftrag auszuführen, so viele Einsätze zu fliegen und so viele Piloten zur Verfügung.«

»Aber das hier ist kein Kampfgeschwader. Wir brauchten handverlesene Besatzungen, die den Anforderungen der jeweiligen Mission entsprechen.«

»Und du bist nun der Ansicht, du müßtest für die F-Mission handverlesen werden?«

Sie nippte am Bier und wurde immer gereizter. »Es wäre eine Dummheit, nicht die Besten für eine Schlüsselmission auszuwählen.«

Er musterte sie amüsiert. »Willst du damit sagen, ich sei nicht der Beste?«

»Verdammt, Phil, das will ich damit nicht sagen, und hör auf, mich so von oben herab zu behandeln.«

Doch nun kam Adam Bleeker herein - der zu Phils Besatzung gehörte und auch ein Kandidat für den Mars war -, und dann erfolgte erst einmal eine lautstarke und joviale Begrüßung.

Für eine Weile beteiligte York sich an der allgemeinen Konversation.

Dennoch schweiften die Gedanken immer wieder zum ihrer Ansicht nach verfehlten Auswahlverfahren ab.

Sie trank noch etwas Bier; es war inzwischen abgestanden und schmeckte schal. Sie stellte das Glas ab und wischte sich die feuchten Hände an einer Serviette ab.

Dann verließ sie die Bar. Die Hälfte der Jungs war wohl schon so besoffen, daß sie ihren Abgang überhaupt nicht bemerkten.

Sie mußte Dampf ablassen.

Ohne sich Gedanken über die Zweckmäßigkeit ihres Tuns zu machen, fuhr sie schnurstracks zum JSC zurück und stürmte in Muldoons Büro.

Muldoon arbeitete gerade einen Stapel Unterlagen durch. »Natalie. Möchten Sie einen Kaffee? Mabel wird.«

»Nein.« Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie zitterte; es schien tief aus ihrem Innern zu kommen. Es liegt an den drei frustrierenden Jahren bei der NASA. Es liegt an Bens sinnlosem Tod. Es liegt an der Tatsache, daß ich nun schon dreiunddreißig Jahre alt bin und meine akademische Laufbahn dafür geopfert habe, ein paar Monate im niedrigen Erdorbit zu verbringen und zuzusehen, wie die MEM-Komponenten langsam zerfallen.

Oder, sagte sie sich, vielleicht haben auch alle recht. Vielleicht bin ich nur eine blöde Hysterikerin.

Muldoon musterte sie. »Ich nahm an, Sie würden sich freuen, zu einer Erstbesatzung zu gehören.«

»Das stimmt auch.«

Er lehnte sich zurück und stieß einen Seufzer aus. »Aber Sie wollen zum Mars. Und Sie haben die Implikationen des Rotationsprinzips erkannt.«

»Verdammt, Joe, ich bin weit und breit der beste Missionsspezialist für Operationen auf der Marsoberfläche. Sie wissen das auch, und deshalb sollte ich an der F-Mission teilnehmen, um zum Mars zu fliegen und die Praxis zu erwerben, die ich anderen als Theorie vermitteln soll!«

Er faltete die Hände. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir auch weiterhin nach dem Rotationsprinzip arbeiten werden. Und wenn daraus folgt, daß Phil Stone mit seiner Besatzung zum Mars fliegt, dann ist es eben so. Und wenn aus irgendwelchen Gründen Pannen oder Verzögerungen auftreten und Ihre Besatzung an die Reihe kommt - durch das normale Rotationsprinzip -, dann werden Sie Ihre Chance bekommen. Und falls es noch einen zweiten oder dritten Flug gibt.«

»Sie wissen ganz genau, daß es keinen zweiten Flug mehr geben wird. Wir stecken alles, was wir haben, in diesen einen Versuch. Und wenn ich ein Mann wäre, ein zweiter Harrison Schmitt, dann wäre ich schon längst erste Wahl. Aber ich bin nur eine Frau, und deshalb darf ich nicht fliegen.«

»Natalie, so ist das nicht.«

»Kommen Sie schon, Joe. Sagen Sie mir wenigstens einmal die Wahrheit.«

Er verschränkte die Finger. »Die Wahrheit?«

»Die Wahrheit.«

»Ich will nicht verhehlen, daß der Aspekt des Geschlechts Probleme aufwirft, Natalie.«

Der Aspekt des Geschlechts. »Was für Probleme, um Himmels willen? Daß ich nicht in der Lage bin, den Helm über meine Lockenpracht zu stülpen? Joe, wir leben im Jahr 1981.«

»Halten Sie mal die Luft an, Natalie. Sehen Sie, es würde vielleicht anders aussehen, wenn wir das Shuttle gebaut hätten, wenn wir größere Schiffe hätten, mit denen wir sieben oder acht Leute in den Orbit schicken könnten, wenn die Raumfahrt ein Routinevorgang wäre. Dann würde jeden Monat eine Frau ins All fliegen. Aber diese Voraussetzungen sind nun einmal nicht gegeben. Eine gemischte Besatzung würde einen Mehraufwand erfordern, zum Beispiel mit Blick auf Körperpflege und Privatsphäre. Das würde die Nutzlast verringern. Und das wäre nicht gerade von Vorteil, wenn man eine achtzehnmonatige Weltraummission plant.«

»Nehmen Sie doch eine rein weibliche Besatzung. Dann brauchte man keine getrennten Duschen mehr, nicht wahr?«

Muldoons Miene verdüsterte sich. »Natalie, Sie wissen doch, daß Sie damit nicht durchkommen würden. Zumal Sie sich hier mit dem Falschen streiten.«

»Und wer ist dann der Richtige?«

Er zuckte die Achseln. »Die amerikanische Zivilisation, Die ganze Welt. Teufel, ich weiß es nicht. Ich bin nur der arme Wicht, der Sie für die D-Mission empfohlen hat.« Nun sah er sie, wie sie glaubte, etwas wohlwollender an. »Natalie, hören Sie auf meinen Rat. Die Hauptsache ist, daß Sie sich im Rotationssystem befinden. Nur das zählt; das und Ihr voller beruflicher Einsatz. Und ich weiß, daß Sie sich engagieren werden. Wir brauchen Sie im Programm, Natalie. Sie sind ein Element, das uns bisher gefehlt hatte. Sie wären erstaunt, wenn Sie wüßten, wie oft Ihr Name bei uns genannt wird. Und ich weiß auch, was Sie als Leiterin der Kommunikation während Apollo-N geleistet haben.«

Sie zuckte die Achseln. Das war ein Auftrag, für den sie keinen Lorbeer wollte. »Sie brauchen mich im Programm, aber nicht unbedingt in einem Raumschiff zum Mars.«

Er wühlte in den Papieren auf dem Schreibtisch, bei denen es sich um Listen mit Besatzungsaufstellungen handelte. »Vielleicht stimmt das. Vielleicht sind Sie wirklich nützlicher für das Programm - für die wissenschaftlichen Ziele -, wenn Sie hier in Houston bleiben, anstatt auf dem Mars herumzustolpern. Haben Sie es schon einmal von dieser Warte betrachtet? Natalie, Sie sind unzufrieden mit der Teilnahme am Dauertest. Teufel, ich verstehe das; an Ihrer Stelle würde mir das auch stinken. Aber versetzen Sie sich einmal in meine Lage: das Cockpit, in beziehungsweise an dem ich seit Jahr und Tag sitze, ist dieser verdammte Schreibtisch«, sagte er sehnsüchtig, fast verzweifelt. »Zwei Stunden auf dem Mond waren zuwenig für ein ganzes Leben.«

»Und vielleicht zwei Stunden zuviel für Ihre Frau.« Sie konnte einfach nicht an sich halten.

Er warf die Unterlagen auf den Schreibtisch. »Verdammt, York, wieso müssen Sie immer so ätzend sein?«

»Es tut mir leid, Joe.« Sie schüttelte den Kopf. »Es liegt wohl daran, daß ich.«

»Hören Sie zu«, sagte er unwirsch. »Niemand weiß, was geschehen wird. Sie erfüllen einfach Ihre Pflicht. Tun Sie, was diese Arschlöcher dort draußen auch tun, aber tun Sie es doppelt so oft und doppelt so gut. Und verschaffen Sie sich einen Wettbewerbsvorteil - zum Beispiel durch Ihre GeologenAusbildung. Machen Sie sich unentbehrlich. Und wer weiß, wo wir 1986 stehen?«

Für einen kurzen Moment verspürte sie ein eigenartiges Gefühl der Freude - sogar der Zuversicht. Er hat recht. Ich bin nun schon so weit gekommen, und vielleicht werde ich auch noch die letzten Hürden überwinden. Ich kann es schaffen.

Doch Muldoon widmete sich schon wieder den Unterlagen auf dem Schreibtisch.

York war wieder auf sich allein gestellt: sie stand draußen in der Dunkelheit, und die Aussichten für die Mission - ihre Karriere, ihr ganzes Leben - waren wieder einmal auf bloße Spekulationen und das >Prinzip Hoffnung< reduziert. Ihre Zuversicht verflog so schnell, wie sie gekommen war.

Sie verließ Muldoons Büro.

Juni 1981

Firmensitz von Columbia Aviation, Newport Beach

Nach dem Aufstehen kam Lee gleich in die Gänge. Jennine servierte ihm zwei Tassen stark gesüßten Kaffees. Bis er die erste geleert hatte, war die zweite so weit abgekühlt, daß er sie in einem Zug leerte, während er zum schwarzen Thunderbird im Hof ging.

Seine erste Aufgabe bestand darin, jemanden zu finden, der sich mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe befaßte. Er verbrachte den ganzen Tag damit, durch das Werk zu streifen.

Auf dem Firmengelände von Columbia standen ein paar alte, abbruchreife Fabrikgebäude. Der große Windkanal zwängte sich durch den Komplex. Die Anlagen waren noch ausreichend für die kleinmaßstäblichen Versuche, mit denen Columbia sich hauptsächlich befaßte. Dennoch platzte das Werk schon aus allen Nähten.

Was Lee brauchte, war ein geräumiges Büro.

Schließlich fiel sein Blick auf die Kantine; sie war die einzige Räumlichkeit, die hundert und mehr Menschen faßte.

»Das ist es. Bella, ich möchte, daß Sie die Essensausgabe schließen und die verdammten Servierwägelchen wegschaffen. Ich will Reißbretter und Schreibtische dort unterbringen.« Mit zusammengekniffenen Augen sah er nach oben. »Zuwenig Licht. Sorgen Sie dafür, daß ein paar Oberlichter in die Decke gebrochen werden. Und lassen Sie die Stromversorgung überprüfen; wir brauchen genug Saft für die Computer.«

»Ja, Sir, JK. Aber.«

»Was haben Sie denn immer mit Ihrem >aber

»Wo sollen wir dann essen?«

Lee fuchtelte mit der Hand. »Die ganzen gottverdammten USA sind mit McDonalds übersät. Es wird schon niemand verhungern.«

»Ja, Sir, JK.«

Er ließ den Blick durch die Kantine schweifen, mit dem verbeulten Tresen, dem verschrammten Boden und dem Geruch nach Tomatensauce. Hier würde er das Entwicklungszentrum einrichten. Und er würde ein strenges Regiment führen. Er hatte bereits verfügt, daß die Arbeitszeit während der Formulierung des Angebots von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends gehen würde. Und die Arbeit hier würde nur den Kern einer gewaltigen Anstrengung des ganzen Unternehmens darstellen. Gruppen von Ingenieuren würden in Labors und Windkanälen Daten erstellen, um die Behauptung zu stützen, daß Columbia in der Lage sei, dies zu tun, diese noch nie dagewesene Maschine zu bauen.

Doch hier war der Brennpunkt: es war in diesem großen schmutzigen Raum, wie ihm mit zunehmender Erregung bewußt wurde, wo das Mars-Exkursionsmodul entwickelt werden würde.

Er durchforstete die Organisation und zog jeden von seiner eigentlichen Arbeit ab, von dem er annahm, daß er ihm bei der Formulierung des Angebots von Nutzen sein könnte. Und wenn jemand protestierte, genügte in der Regel schon die Nennung von Canes Namen, um den Renegaten zur Raison zu bringen. Das war Art Canes Unternehmenskultur, sagte Lee sich. Er hatte vielleicht Zweifel am Sinn der Angebotsabgabe gehegt, doch wo sie sich nun dafür entschieden hatten, spannte er das ganze Unternehmen für diese Aufgabe ein. Das Motto lautete >alles oder nichts<, und Cane erwartete von der Belegschaft, daß sie Lee nach besten Kräften unterstützte.

Während der ersten Woche versuchte Art Cane, Partner zu gewinnen: potentielle Zulieferer, die Columbias Bewerbung unterstützten. Ein Angebot für einen Kontrakt dieser

Größenordnung galt erfahrungsgemäß nur dann als seriös, wenn der Bewerber eine Koalition von Zulieferern um sich geschart hatte.

Auf Canes Empfehlung flogen Lee und Bob Rowen nach Culver City, dem Firmensitz von Hughes Aircraft. Hier hatte Cane sich die Hörner abgestoßen und verfügte noch immer über ein paar Kontakte zu dieser Firma. Cane arrangierte für sie ein Treffen mit einem Vizepräsidenten namens Gene Tyson. Der Zufall wollte es, daß noch keiner der anderen Bewerber um den MEM-Auftrag an Hughes herangetreten war. Hughes als Experte für Steuerungs- und Stabilisierungssysteme wäre der ideale Partner für Columbia.

Doch nachdem Lee und Rowen in Culver eingetroffen waren, ließ Tyson sie drei Stunden lang warten, und nachdem sie ihr Anliegen schließlich vorgetragen hatten, wurden sie von Tyson und seinen Assistenten unter Gelächter aus dem Büro hinauskomplimentiert.

Gene Tyson war ein dicker Mann mit weichen Gesichtszügen, der von einer penetranten Duftwolke umgeben war. Er brachte Lee förmlich auf die Palme. Väterlich legte er Lee den Arm um die Schulter, als er ihn zur Tür brachte. »Hören Sie auf meinen Rat«, sagte Tyson. »Art Cane ist ein toller Hecht. Aber, JK, ich glaube, ihr vergeudet nur eure Zeit. Ganz zu schweigen von meiner. Ihr habt keine Chance, den Zuschlag zu erhalten - nicht den Hauch einer Chance. Ihr seid doch nur ein paar Laborfritzen.«

Also flog Lee nach Newport zurück. Er kochte vor Wut - und war zutiefst besorgt. Wenn nicht einmal Hughes ihr Angebot ernst nahm, wer, zum Teufel, dann? Und ohne Partner befanden sie sich vom Start weg im Nachteil.

Doch je intensiver er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, daß diese scheinbare Schwäche sich durchaus in eine Stärke verkehren ließ.

»Sehen Sie es mal so«, sagte er zu Art Cane. »Zum Teufel mit ihnen. Zum Teufel mit Hughes. Zum Teufel mit dem Rest. Wir schaffen es auch allein. Wir präsentieren uns der NASA sozusagen als Trainer und nicht als Mannschaft. Das ist es doch, was sie brauchen. Wenn Columbia sich erst einmal als Trainer etabliert hat, können wir uns die verdammten Spieler Sogar aussuchen. Soll der Kunde die Entscheidung treffen, wenn er dazu bereit ist; wir dürfen ihn nicht drängen.«

Art Cane schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückt, JK. Verschwinden Sie aus meinem Büro.«

Nachdem die Kantine ihrer neuen Bestimmung zugeführt worden war, nahm Lee an einem Tisch auf einem Podest Platz. Er ernannte seine leitenden Angestellten und intelligente Mitarbeiter wie Bob Rowen und Julie Lye zu Gruppenleitern. Doch er behielt immer den Überblick und versuchte Probleme schon im Ansatz zu erkennen.

Das Konzept für das Columbia-MEM nahm schnell Gestalt an.

Lee wollte etwas, das in den Augen des NASA-Prüfungsgremiums ohne großen Aufwand zu bauen war. Also basierte das MEM im wesentlichen auf der Konzeption, die Lee skizziert hatte, als er seinerzeit mit Ralph Gershon in die Mojave-Wüste hinausgefahren war. Das Gerät sah aus wie die Apollo-Kommandokapsel, ein neun Meter hoher Kegel mit einem neun Meter breiten Hitzeschild an der Basis. Die Ingenieure konzentrierten sich nun auf dieses Konzept. Das MEM mit der kegelförmigen, hitzebeständigen Hülle bestand in Anlehnung an die Mondfähre aus zwei Teilen: einer Landestufe für die Landung auf dem Mars, welche als Plattform für eine obere Aufstiegsstufe dienen sollte, die nach Abschluß der Mission in den Orbit zurückkehrte.

Lee schärfte seinen Leuten ein, sich mit Innovationen zurückzuhalten. »Ihr dürft euch austoben, wenn wir den gottverdammten Auftrag gewonnen haben, aber nicht vorher.« So ließ er zum Beispiel keine Änderungen an der äußeren Form der Kommandokapsel zu. Die Steigung des Kegels war schon vor Jahren in Windkanalversuchen des NASA-eigenen Arnes Laboratory ermittelt worden. Das Ergebnis hatte sich bei allen darauffolgenden Apollo-Missionen bewährt, und er würde nicht zulassen, daß einer von seinen Leuten es nun in Frage stellte.

Nach Lees erstem Entwurf sollte das MEM auf fünf teleskopartigen Beinen landen. Fünf aus dem Grund, damit das MEM auch beim Bruch eines Beins noch stabil blieb. Das Triebwerk der Landestufe, die Rakete, mit der das MEM die letzten paar Kilometer des Abstiegs zur Marsoberfläche bewältigen sollte, ragte aus der Grundfläche des MEM. Die Treibstofftanks waren um das Triebwerk herum gruppiert. Dann gab es noch Schächte für Oberflächenoperationen, die Platz für Luftschleusen und Ausrüstung boten. Ein Mars-Rover war auch noch an Bord.

Auf der Spitze der Landestufe saß ein kleinerer Kegel; die Kabine der Aufstiegsstufe. Hierbei handelte es sich um eine Glaskuppel, die eine Rundumsicht ermöglichen sollte. Während des Abstiegs zur Oberfläche und des Wiederaufstiegs in den Orbit würde die Besatzung sich in dieser Kabine aufhalten. Sie bot gerade Platz für vier Personen nebeneinander auf Beschleunigungsliegen. Allerdings waren die Liegen zusammenklappbar, damit die Piloten in der Lage waren, den Landeanflug im Stehen auszuführen.

Der Rest der Aufstiegsstufe bestand aus einem Zylinder, der auf der gedachten Hochachse der MEM-Landestufe aufgespießt war. Wenn die Aufstiegsstufe vom Mars abhob, würde sie wie ein Kojak-Lolli aussehen, sagte Lee sich, ein gläserner Lolli auf einem Stiel aus Treibstofftanks und einem Raketentriebwerk, der einen Kegelstumpf zurückließ: die versengte und geköpfte Landestufe.

Das war jedenfalls das Skelett der Marsfähre, und die Arbeitsgruppen formten es nun zu einem Körper, indem sie die Subsysteme entwickelten.

Das ECLSS12 war Jack Morgans Schöpfung. Es verfügte über Molekularsiebe für die Rückhaltung von Kohlendioxid und ein Filtersystem für die Wasser-Wiederaufbereitung. Die Energieversorgung wurde durch Brennstoffzellen für die Landestufe und separate, kleinere Zellen für die Aufstiegsstufe gewährleistet. Im Bereich Lenkung und Steuerung waren Trägheitsrichtgeräte vorgesehen sowie Radarsysteme für Rendezvous und Landung, weiterhin Steuertriebwerke und kardanisch aufgehängte Haupttriebwerke, um Schubvektorsteuerung zu ermöglichen. Was die Kommunikation betraf, so ragten Antennen aus den Konstruktionsmodellen der Aufstiegsstufe: S-Band für eine Bildübertragung zum Orbiter und eine Sprechverbindung zur Erde, VHF für Sprechverbindung zum Orbiter sowie Verbindungen von EVA zum MEM.

Lee hielt seine Leute an, überall Anleihen zu nehmen. Zum Beispiel bei den Details für die Subsysteme: sie bauten Brennstoffzellen ein, die schon bei der Apollo-Mondfähre verwendet worden waren, und von Gemini übernahmen sie ein L-Band-Rendezvous-Radar. Und was den Treibstoff betraf, sollte man da Stickstofftetroxid/Aerojet 50 nutzen, mit dem Grumman die Mondfähre befeuert hatte? Dieser Treibstoff war hypergolisch - das heißt, er zündete beim Kontakt mit dem Oxidator von selbst, wodurch ein separates Zündsystem überflüssig wurde -, doch hatte er auch einen geringen

Wirkungsgrad und war korrosionsfördernd, ganz zu schweigen von der toxischen Wirkung. Schließlich war das MEM kein Gefahrguttransporter. Es hatten auch Versuche mit Gemischen auf Fluor-Basis stattgefunden, waren jedoch nicht sehr weit gediehen, weil Fluor ein schwierig zu handhabender Stoff war. Was sollte man sonst verwenden?

Die Konstruktion wich immer mehr von Lees ursprünglichen Vorgaben ab.

Zum Beispiel diese Glaskuppel auf der Aufstiegsstufe. Sie hätte der Besatzung zwar ein horizontales Blickfeld von dreihundertsechzig Grad und ein vertikales von hundertfünfunddreißig Grad ermöglicht - als ob sie mit dem Hubschrauber zur Marsoberfläche hinabgeflogen wären. Wenn die Kuppel jedoch aus Verbundglas bestand, wäre sie zu schwer, und leichtere Alternativen wie Plexiglas würden sich im Sonnenlicht, dessen Einstrahlung auf den Mars besonders intensiv war und das zudem einen hohen UV-Anteil hatte, verfärben und spröde werden. Zumal, wie Jack Morgan sagte, zuviel Glas das Umweltüberwachungssystem überlasten würde. Also wurde die schöne Kuppel zugunsten kleiner, schießschartenartiger Sichtfenster gestrichen, wie sie schon von der Mondfähre bekannt waren.

Und die fünf Teleskopbeine wurden auf sechs erhöht, um dem Raumschiff mit der großen Grundfläche eine bessere Landedynamik zu verleihen. Um die Beine gegen übermäßige Belastungen bei der Landung zu schützen, wurde das Innere mit einem Wabenkern aus Aluminium ausgefüllt, der bei einem harten Aufsetzen gestaucht wurde und so die Kräfte neutralisierte.

Es war eine aufregende Zeit, geprägt von Pioniergeist.

Lee schenkte sich selbst auch nichts; er war ständig im Einsatz, kontrollierte den Fortgang des Projekts, bündelte Kräfte, verglich den Soll- mit dem Ist-Zustand und strich vieles, das er für unbrauchbar erachtete. Manchmal erinnerte er sich nicht mehr, wann er zuletzt geschlafen oder etwas gegessen hatte. Und manchmal war es nur der Druck in der Blase oder im Darm, durch den er sich seiner Daseinsform als Mensch überhaupt noch bewußt wurde.

Es war noch dunkel, wenn er morgens aus dem Haus ging, und schon dunkel, wenn er abends zurückkehrte.

Es war unglaublich. Er sah nicht einmal die blühenden Apfelbäume im Garten. Und seine Kinder - Bert und Gerry, beide im schulpflichtigen Alter - sah er kaum länger als für ein paar Minuten am Tag.

Jennine widmete er etwas mehr Zeit, doch den größten Teil der Freizeit verbrachte er mit Essen oder - falls er in der glücklichen Lage war, sich zu entspannen - mit Schlafen.

Wo er nun darüber nachdachte, machte er sich doch ein wenig Sorgen wegen Jennine. Sie hatte sich im Lauf der Jahre an sein gewaltiges Arbeitspensum gewöhnt. Obwohl sie nichts von Flugzeugen verstand und sich auch nicht dafür interessierte, schien Jennine doch zu begreifen, daß diese Hyperaktivität wie ein Strohfeuer war; sie würde nicht ewig anhalten, und dann hätte sie ihn wieder für sich allein. Für eine Weile zumindest.

Diesmal wirkte sie jedoch nicht so gelassen, obwohl er nicht genau wußte, was ihr zu schaffen machte.

Sie beide wurden eben älter, sagte er sich. Das war das eine. Und mit den Jungs hatte sie sicher auch alle Hände voll zu tun.

Der Druck, der durch das MEM erzeugt wurde, würde auch wieder verschwinden. Sie würde ihn zurückbekommen. Aber was, wenn wir gewinnen?

Dann wird der Druck eben nicht verschwinden. Nicht wahr, JK? Nicht vor 1986. Nicht bevor die Aufstiegsstufe vom Mars abhob und alles gelaufen war.

Doch wie immer mußte er wieder an die Arbeit denken und vergaß darüber alles andere.

Er verfolgte zwei Hauptziele. Das eine betraf die Einhaltung des Termins für die Angebotsabgabe, und das andere bestand darin, das Gesamtgewicht des MEM in dem Rahmen zu halten, der in der Aufforderung zur Angebotsabgabe spezifiziert worden war.

Zunächst beauftragte er Bella, eine Art Kalender zu erstellen, den er überall im Werk aushängte und ständig aktualisieren ließ. NOCH SECHSUNDVIERZIG TAGE BIS ZUR ANGEBOTSABGABE! UND ROCKWELL LIEGT NOCH IMMER VOR UNS! Lee war mächtig stolz darauf. »So einen Kalender hatten sie auch in When Worlds Collide. Erinnern Sie sich, Bella? Wo sie ein Raumschiff bauten, um damit die Erde zu verlassen?«

»Ja, Sir, JK.«

Das Gewicht stellte sie tatsächlich vor die größten Probleme.

Lee wußte aus Erfahrung, daß die Vorgaben der Lastenhefte in der Praxis kaum einzuhalten waren. Je intensiver die Ingenieure sich mit den Subsystemen beschäftigten, desto umfangreicher und komplexer wurden sie. Das ließ sich anscheinend nicht vermeiden. Also führte Lee fortan eine Liste mit Prognosen für das Gewicht aller Komponenten und Subsysteme.

Jeden Morgen zitierte Lee die Gruppenleiter in sein Büro. Dieser Vorgang, den er >durch den Wolf drehen< nannte, war ihm noch vom Strategischen Bomberkommando geläufig. Exakt um sieben Uhr fünfundvierzig wurden die Türen verschlossen; die Stühle wurden an die Wand geschoben, und Kaffee gab es auch keinen, damit die Leute die Sitzung nicht als gemütliches Beisammensein mißverstanden. Dann legte jeder Mitarbeiter das Hauptproblem des Tages dar und präsentierte Lösungsvorschläge.

Auf diesen Sitzungen verteilte Lee Aufstellungen mit dem Gewicht aller Komponenten, aus denen hervorging, in welchem Maß die aktuelle Konstruktion den Grenzwert überschritt. Er verzichtete aber darauf, Gewichtsvorgaben für die einzelnen Subsysteme zu machen - es ging ihm nämlich um den optimalen Synergieeffekt für das gesamte Raumschiff -, doch hielt er seine Leute jeden Tag dazu an, das Leergewicht des Schiffs zu verringern.

Dennoch wurde das Gewicht nicht schnell genug reduziert, und bald wurde das Gewichtsproblem zu seiner Hauptsorge.

Es kam nicht darauf an, ob sie am Tag der Angebotsabgabe etwas über dem Grenzwert lagen. Wenn sie den Zuschlag erhielten, würde sowieso noch jede Menge Detailarbeit anstehen. Doch im Moment hatte es den Anschein, als ob das Columbia-MEM nicht einmal die groben Vorgaben erfüllte.

Die NASA hatte die Gewichtsbeschränkung verlangt, weil das Schiff die neue, auf chemischer Technik basierende Gravitationsschleuder-Systemkonfiguration aufnehmen sollte. Deshalb waren die Vorgaben viel stringenter als bei den früheren Entwürfen auf Nuklearbasis.

Insgeheim befürchtete Lee, daß sie vielleicht zu streng seien, als daß sie zu realisieren wären.

Durch eine Intervention von Lees engstem Verbündeten wurde dieses Problem schließlich akut.

Jack Morgan nahm Lee beiseite. Morgan machte ein langes und für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernstes Gesicht. »JK, ich glaube, wir stecken in Schwierigkeiten.«

Morgan unterbreitete Lee die Zahlen, die er für die Umweltüberwachungs- und Lebenserhaltungssysteme des MEM erstellt hatte. Er präsentierte ihm Daten, die bereits als Arbeitsgrundlage für Apollo gedient hatten und welche die Voraussetzungen definierten, unter denen ein Mensch für einen Tag auf dem Mars zu überleben vermochte: Nahrung,

Bekleidung, Luftvorrat, Entsorgung, Privatsphäre, EVA-Gebrauchsgegenstände.

» Sehen Sie hier. Und hier.« Morgan präsentierte Lee eine Reihe von Optionen mit unterschiedlicher Gewichtsverteilung der ECLSS-Elemente. »Es ist ausgeschlossen, vier Leute für dreißig Tage auf der Oberfläche am Leben zu erhalten. Das wären hundertzwanzig Mann-Tage. Es haut einfach nicht hin. Das ist eine Nummer zu groß für uns.«

Lee verspürte einen Anflug von Panik. Es hatte wirklich den Anschein, daß sie mit der Konstruktion überfordert waren.

Schlagartig wurde er sich des Schlafmangels bewußt, der nicht eingehaltenen Mahlzeiten und des Adrenalins, das er verfeuert hatte; er fühlte sich krank und ausgebrannt.

Komm schon, JK. Reiß dich zusammen. Wenn es für dich ein Problem ist, dann ist es auch eins für Rockwell, McDonnell und all die anderen Arschlöcher. Du mußt einen Weg finden, das in einen Vorteil für uns umzumünzen.

Morgan schaute ihn besorgt an. »Alles in Ordnung, JK? Sie sehen irgendwie.«

»Spielen Sie jetzt nicht den Doktor, Jack.«

»Mein Freund, so, wie Sie sich verschleißen, werden Sie eines Tages einen Doktor brauchen. Das ist mein Ernst, JK.«

»Sie sind also nicht imstande«, fuhr Lee unbeirrt fort, »hundertzwanzig Mann-Tage auf dem Mars zu erbringen. Na schön. Wieviel würden Sie denn schaffen?«

»Vielleicht fünfundsiebzig Prozent«, sagte Morgan nach einer Bedenkpause. »Sagen wir neunzig Tage.«

Scheiße. Weniger, als ich mir erhofft hatte. »Dann würden unsere vier Leute also für wie lange auf dem Mars bleiben -für dreiundzwanzig Tage?«

»Damit würde die Verweildauer auf dem Mars um ein Viertel verkürzt werden, JK. Ich glaube nicht, daß die NASA das akzeptieren wird.«

Lee schüttelte den Kopf. »Nein, wird sie nicht. Aber es muß noch einen anderen Weg geben«, sagte er nachdenklich. »Neunzig Manntage, ojemine! Und was, wenn wir nur drei Leute nehmen würden? Dann wären die dreißig Tage kein Problem.«

Morgan schüttelte spontan den Kopf. »Das ist unmöglich. In der Aufforderung zur Angebotsabgabe ist ausdrücklich von vier Leuten die Rede. Nachdem die NASA schon so viel Geld investiert hat, um ihre Leute zum Mars zu schicken, will sie vierundzwanzig Vierstunden-EVA-Zyklen ablaufen lassen. Sie wollen, daß jeweils zwei Leute sich jeden Tag so lange wie möglich auf der Marsoberfläche aufhalten. Sie wollen ein Schichtsystem mit einem >roten< und >blauen< Team.«

»Das >rote< Team und das >blaue< Team können sich mal gegenseitig im Arsch lecken«, sagte Lee unwirsch. »Das ist nicht der einzige Schwachpunkt in dieser beschissenen Aufforderung zur Angebotsabgabe.«

Lees Gedanken jagten sich.

Drei Leute anstatt vier. Wenn das möglich wäre, sagte er sich, hätte das Einsparungen zur Folge, die nicht nur auf die Vorgaben für das MEM selbst durchschlugen, sondern auf das ganze Programm. So müßten zum Beispiel nur drei Viertel des Lebenserhaltungssystems zum Mars und zurück befördert werden. Und dabei würde die Effizienz der OberflächenAktivitäten gar nicht oder nur geringfügig verringert werden.

Genau das würde er der NASA beweisen müssen!

Wenn er das schaffte, sagte er sich mit zunehmender Erregung, würden ihre Erfolgsaussichten sich deutlich verbessern.

Der Anflug von Panik verschwand, und Lee fühlte sich wieder stark und vital. Er verspürte einen erneuten Adrenalinstoß. Er packte Morgan am Arm. »Dann müssen wir uns nur noch überlegen, wie wir drei Personen in ein

Vierundzwanzigstunden-EVA-Schichtmuster integrieren. Hören Sie, Jack. Dieses Problem müssen Sie für mich lösen.«

Als Simulator war das kaum zu bezeichnen: es handelte sich lediglich um einen Raum im Raum, der von einem der größeren Columbia-Labors abgeteilt worden war. Er verfügte zwar über ein rudimentäres Lebenserhaltungssystem - Nahrung und Wasser -, doch war der Raum nicht von der Außenwelt abgeschlossen.

Aus dem Erste-Hilfe-Kurs, den Morgan bei Caltech leitete, heuerte er drei Leute an, die gegen Bezahlung für einen Monat dort ausharren sollten.

Jeden Tag absolvierten die Probanden ein simuliertes EVA: sie legten Übungs-Raumanzüge und mit Bleigewichten gefüllte Tornister an und simulierten Experimente auf der Marsoberfläche. Dann erklommen die Probanden eine Leiter, um die Rückkehr ins MEM zu simulieren und sich gegenseitig den Marsstaub in Form von Talkumpuder abzusaugen.

Die Teilnehmer experimentierten mit Arbeits- und SchlafRhythmen und versuchten, die Schichten auf der Oberfläche zu optimieren.

Die Versuchsanordnung war primitiv, aber effektvoll. Nach einem Monat waren die Probanden zwar etwas gelangweilt und ziemlich erschöpft, befanden sich jedoch in einem guten Allgemeinzustand. Ihre Kondition war sogar besser als zu Beginn der Simulation. Die Erschöpfung war normal; die richtige Besatzung hätte den ganzen Rückflug - sieben Monate

- Zeit, um sich zu erholen.

Morgan notierte das für Lee, und dieser war hochzufrieden mit den Ergebnissen. Nicht genug damit, daß seine Drei-MannIdee wie eine Bombe im Prüfungsausschuß einschlagen würde

- er würde ihnen auch detaillierte Vorschläge zur

Ablauforganisation des Marsaufenthalts um die Ohren hauen: Schichtzyklen, die Notwendigkeit, Arbeits- und SchlafRhythmen schon vor der Ankunft auf dem Mars festzulegen, die Definition von Erholungsphasen und so weiter.

Wie Phönix aus der Asche. Der Triumph schien zum Greifen nahe.

Während der Termin unaufhaltsam nahte, nahm Lee die ProbePräsentationen der jeweiligen Gruppen ab.

Allmählich entstand vor dem geistigen Auge ein Bild vom Ablauf der Ereignisse. Er, Xu, Rowen, Lye, Morgan und ein paar andere würden auf einem Podium in irgendeinem Hotel oder Konferenzzentrum einem Auftrieb von NASA-Ingenieuren gegenüb ersitzen. Sie würden sechzig Minuten haben, um ihr Konzept zu präsentieren.

Je länger er indes den Präsentationen lauschte, desto klarer wurde ihm auch, daß es keinen Sinn hatte, in einer Stunde fünf bis sieben Referenten vorzuschicken. Eine einzige Person mußte die gesamte Präsentation übernehmen und jeden Aspekt des Angebots abhandeln, jedes verdammte Subsystem. Die anderen würden sich in Bereitschaft halten, um Fragen zu den jeweiligen Fachgebieten zu beantworten.

Nun nahm er Unterlagen mit nach Hause - Manuskripte, Dokumente, Notizen - und lernte jeden Aspekt des Systems, das er vorstellen würde, auswendig. Er las das Zeug sogar noch im Bett.

Wenn Jennine dann aufwachte und irgend etwas vor sich hinbrabbelte, stellte er erschrocken fest, daß es schon vier Uhr morgens war oder zu einer anderen nachtschlafenden Zeit. In einer Stunde mußte er schon wieder raus. Mit neuem Fleiß an die gleiche.

Doch er war energiegeladen. Er glaubte es selbst nicht. Die Tage verflogen nur so. Er hatte das Gefühl, ihm wären Flügel gewachsen.

Schließlich stellte er sich ein Feldbett ins Büro. Damit hatte er wieder viel Zeit gespart.

Lee bekam einen Anruf von Art Cane.

»Ich mache mir allmählich Sorgen wegen der Kosten, die ihr mir verursacht. Wenn wir den Zuschlag nicht erhalten, geht uns der Arsch auf Grundeis. Was macht übrigens mein Zwei-Millionen-Etat?«

»Wir kommen damit hin, Art.«

Das war eine ausgemachte Lüge. Lee wußte nur zu gut, daß er die Zwei-Millionen-Grenze längst überschritten hatte und daß er am Ende das Drei- oder Vierfache benötigen würde.

Was Art in Lees Augen so liebenswert machte, war gerade auch sein Mißtrauen gegenüber elektronischen BuchhaltungsSystemen. Er bestand darauf, die Zahlen jeden Monat selbst schriftlich von Hand zu überprüfen und die Salden zu berechnen. Er analysierte und interpretierte sie mehr oder weniger von Hand. Wie zu der Zeit, als er die Firma gegründet hatte.

Deshalb hinkte Cane der aktuellen Entwicklung mindestens um einen Monat hinterher. Und wenn er ein wenig trickste, wäre Lee in der Lage, die Buchungen und Zahlungen um einen Monat hinauszuschieben, so daß er eine Gnadenfrist von insgesamt zwei Monaten hatte.

Das genügte Lee. In zwei Monaten wäre die Sache nämlich unter Dach und Fach. Wenn er den Vertrag erst einmal in der Tasche hatte, würde keine Krämerseele mehr nach den Kosten fragen. Und wenn er den Zuschlag nicht erhielt, würde Art ihm sowieso das Fell über die Ohren ziehen. Wie dem auch sei, das

Wichtigste war, daß er jetzt über die benötigten Ressourcen verfügte.

»Ich habe gerade einen Anruf von McDonnell-Douglas erhalten«, sagte Cane.

»Ach ja? Und?«

»Sie wollen gemeinsam mit uns ein Angebot für das MEM abgeben. Was halten Sie davon, JK? Ich möchte, daß Sie darüber nachdenken.«

Dann erging Cane sich in der Schilderung von Details.

Lee überlegte angestrengt.

Bei objektiver Betrachtung rangierte ein solches Angebot von McDonnell gleich hinter einem vergleichbaren Vorschlag von Rockwell. McDonnell hatte Mercury und Gemini gebaut, die ersten beiden Generationen bemannter amerikanischer Raumschiffe sowie die dritte Stufe der Saturn V. Dadurch empfahlen sie sich als gute und vertrauenswürdige Partner. Zumal Lee wußte, daß es zahlreiche Stimmen in der NASA gab, die mit Rockwells Leistungen bei Apollo unzufrieden waren und dies auch immer wieder zum Ausdruck brachten. Diese Fraktion innerhalb der NASA, die nach Lees Dafürhalten auch Vertreter in den Prüfungsausschuß entsenden würde, hätte gegen eine Wiederbelebung der bewährten Partnerschaft mit McDonnell sicher keine Bedenken.

Aus welchem Blickwinkel man die Sache auch betrachtete, sie hatte Hand und Fuß.

Lee fiel Cane ins Wort. »Kein Interesse«, sagte er.

Art Cane verschlug es die Sprache.

»Hören Sie«, sagte Cane schließlich. »Sie wissen, daß ich Ihnen diesen Handel nicht aufzwingen werde. Das ist nicht mein Stil, JK.«

»Das weiß ich, Sir. Aber es ist unsere Bewerbung. Scheiß auf McDonnell. Vielleicht engagieren wir sie später als Zulieferer. Wer braucht die schon?«

»JK.«

»Ich brauche Ihre Rückendeckung, Art.«

»Teufel, Lee«, sagte Cane in brummigem Baß, »Sie wissen doch, daß Sie meine volle Unterstützung haben. Lassen Sie mich aber bloß nicht hängen.«

»Sie wissen, daß ich Sie nicht hängen lasse, Art. Und nun gehen Sie aus der Leitung. Ich habe zu arbeiten.«

Montag, 6. Juli 1981

Trainingsgebäude für Raumflugbesatzungen,

Jacqueline B. Kennedy-Raumfahrtzentrum

Natalie York und Ralph Gershon saßen nebeneinander im Doppelkegel-Simulator Nummer Drei des Mars-ExkursionsModuls. York schwitzte im engen Druckanzug. Das Innere der MEM-Kabine war dem Original authentisch nachgebildet, doch von außen war dieser Bewegungssimulator eine ungeschlachte Maschine, deren schwere weißgestrichene Hydraulik die Kabine fast völlig verbarg.

»In Ordnung, Ralph, wir geben euch Zündung plus eins auf der Prüfanlage«, sagte der Leiter der Simulation.

York sah, daß die Leuchtplatten der Anzeigen, Meßgeräte und Skalen zum Leben erwachten. Zuckende Nadeln und flackernde Bildschirme zeigten Triebwerkstemperatur, Kammerdruck sowie Treibstoff- und Sauerstoffmengen an.

Gershon saß links, auf dem Pilotensitz, und York rechts neben ihm. Die großen rechteckigen, auf Augenhöhe eingelassenen Kabinenfenster vermittelten der Kabine den Anschein eines Flugzeugcockpits. Das grüne Glühen der Instrumentenbeleuchtung durchdrang die Kabine; York hatte förmlich den Eindruck, sich unter Wasser zu befinden.

Nun sah York rote Schlieren vor dem Fenster - eine simulierte Marslandschaft, lachsrosa und sanft geschwungen, füllte die Scheibe aus. Die Landschaft wirkte wie Form-Gips, der von einer computergesteuerten Kamera bestrichen wurde. Der Himmel war schwarz und sternenleer - wohl eine schlichte Leinwand. Orangefarbene Lichteffekte simulierten die Lichtreflexe der Schubdüsen des Doppelkegels in der dünnen oberen Marsatmosphäre.

»Die Brennphase war gut«, sagte der Versuchsleiter. »Die Restgeschwindigkeit beträgt dreißig Prozent, und das Nick-Manöver ist auch erfolgreich verlaufen.«

»In Ordnung«, sagte Gershon.

Anzeigen flackerten, und Akronyme liefen über den Monitor vor York.

»Wir haben den Resttreibstoff der vorderen Retros abgelassen«, meldete sie Gershon. »Rekonfiguration der OMS-und Reaktionssteuerungssysteme nach Brennschluß ausgeführt. Außenstromaggregat aktiviert. Zwei von drei APUs laufen. Das ist normal.«

Gershon betätigte einen Schalter. »Versuchsleiter, ich stelle beim künstlichen Horizont eine starke Abweichung von den Lage- und Bahndaten fest. Ich werde das Gerät manuell zentrieren. Haben Sie ein Problem damit?«

»Kein Problem, Ralph. Wir sind damit einverstanden.«

»Eintritts-Schnittstelle«, sagte York. »Wir sind in der Atmosphäre, Ralph. Hundertachtundfünfzigtausend Fuß. Nase um vierzig Grad nach oben gerichtet.«

» Schau’n wir mal, welche Überraschung sie nun für uns haben«, sagte Gershon.

»Du wirst allmählich paranoid, Ralph.«

»Sag nur.«

Nun rollte der Form-Gips schneller an den Fenstern vorbei.

»Reibungshitze«, sagte York. Die Sensoren zeigten an, wie die Unterseite des Raumschiffs sich erhitzte.

Der auf Rockwells aktueller Studie basierende Doppelkegel war die fortschrittlichste MEM-Konfiguration der Luft- und Raumfahrtindustrie. Er tauchte mit der Unterseite voran in die Atmosphäre ein und flog dann wie ein normales Flugzeug weiter. Deshalb war nur die Unterseite mit hitzebeständigen Kacheln verkleidet, die eine Wärmesenke darstellten und die Energie der spärlichen Luftmoleküle des Mars absorbierten.

»Stellt euch auf den Abbruch der Funkverbindung ein«, sagte der Versuchsleiter trocken. »Wir sehen uns auf der anderen Seite, Leute.«

»Hoffentlich«, sagte Gershon.

Vor Yorks Fenster verdichtete sich pinkfarbenes Plasma.

»Wie kitschig«, grunzte Gershon.

»Mir gefällt’s«, murmelte York.

York und Gershon überflogen die Systemanzeigen und glichen sie mit den Checklisten ab, die an den Konsolen klebten. Nun wurde die Simulation zur Routine, fast schon langweilig.

York wußte aber auch, daß, wenn es sich um den Ernstfall gehandelt hätte, nun Bremskräfte auf sie wirken würden, während das Raumschiff immer tiefer in die Marsatmosphäre hineinstieß. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Diese Simulation, die eher für Ingenieure als für Astronauten entwickelt worden war, war ziemlich primitiv: es handelte sich nicht einmal um eine Bewegungssimulation, sondern um ein Schattenspiel, einen Abklatsch der Wirklichkeit. Dennoch entwickelte die Simulation in dieser statischen Kabine eine solche Dynamik, daß die Phantasie angeregt wurde und ihr eine Vorstellung davon vermittelte, wie es sein würde, aus dem Orbit auszuscheren und auf die Oberfläche des Mars hinabzusteigen.

Plötzlich überkam sie der kindische Wunsch, das hier wäre die Realität. Daß sie sozusagen im Schnelldurchgang die noch vor ihr liegenden Jahre des Trainings und der Ungewißheit hinter sich brachte.

Ach, wie sehr ich mir das wünsche.

Selbst wenn ich mit Ralph Gershon vorliebnehmen müßte, sagte sie sich.

»Hundertdreißigtausend Fuß. Übergang zur aerodynamischen Steuerung.«

»Rog«, sagte Gershon und betätigte den Steuerknüppel und die Pedale.

Der Doppelkegel war bei diesem computergenerierten Flug schon so tief in die Atmosphäre eingetaucht, daß der Druck den Einsatz der vorderen Bremsraketen überflüssig machte. Die Atmosphäre war so dicht, daß sie den Steuerflächen des Doppelkegels Widerstand entgegensetzte.

Im Moment, so wurde York sich bewußt, war der Doppelkegel ein Zwitter aus Raumschiff und Flugzeug.

»Dynamischer Druck zehn Kilogramm pro Quadratmeter«, sagte York. »Hundertzwanzigtausend Fuß.«

»Verstanden«, sagte Gershon.

Nun waren die letzten Retros abgeschaltet. Das Raumschiff hatte sich in einen Gleiter verwandelt, wobei nur noch die aerodynamischen Steuerflächen die Einhaltung des Gleitpfads gewährleisteten.

Das Glühen vor den Fenstern erreichte nun seine maximale Intensität und durchlief das Spektrum von Rosa über Gelb bis hin zu Blauweiß. Der Farbübergang war nicht fließend, sondern erfolgte durch den Filterwechsel des Computers abrupt.

Gershon betätigte den Steuerknüppel und die Pedale, die wiederum das altmodische aerodynamische Steuerungssystem des Doppelkegels betätigten. »Das Schiff reagiert ziemlich träge.« Er schob den Knüppel nach vorn. »Ich versuche zu landen. Voller Ausschlag der Höhen- und Querruder nach unten. Das Heck kommt zu weit hoch. Ich habe kein Gefühl mehr für das Schiff. Scheißgerät. Da haben wir’s. Overshoot. Gut, bringen wir das Ding wieder hoch. Sinkgeschwindigkeit beibehalten. Steuerknüppel ran. Höhen- und Querruder rauf, Auftrieb wegnehmen, Hinterteil wieder absinken lassen. Scheiße. Wo bleibt denn die Reaktion. Ach. Na endlich. Der Kahn wälzt sich ja wie ‘ne Sau im Schlamm.«

York wußte, daß der Doppelkegel im Vergleich zu einem richtigen Flugzeug ein schwerfälliges und unhandliches Gerät war. Das Fliegen des Doppelkegels glich eher dem Führen eines Boots: man mußte die Steuerflächen schwenken und warten, bis die dünne Luft der neuen Konfiguration Widerstand entgegensetzte und das Schiff die gewünschte Richtung einschlug.

»Hundertdreitausend Fuß«, rief sie. »Auf geht’s«, sagte Gershon. »Erste Kehrrolle.«

In der Vorstellung des Elektronengehirns drehte der Doppelkegel sich jetzt um achtzig Grad nach rechts. York sah die Landschaft an sich vorüberziehen; der Form-Gips schien zu zittern, als die Aufnahme wegen eines Defekts der Kamera verwackelt wurde.

Der Doppelkegel sollte eine Reihe von S-Kurven in der oberen Marsatmosphäre vollführen. Der Flugpfad war eine Frage der Energie-Einteilung: das Raumschiff mußte beim Erreichen des Landepunkts die Orbital-Energie aufgezehrt haben, andererseits in jedem Punkt der Trajektorie über genug Energie verfügen, um diesen Landepunkt auch zu erreichen. Also mußte das Schiff den durch die bikonische Form erzeugten Auftrieb und die durch den Abstieg erzeugte kinetische Energie nutzen, um die Hitze abzuführen und den Landepunkt zu erreichen.

»Overshoot«, murmelte Gershon. »Fünfundachtzig Grad. Sechsundachtzig. Rollen nach links, um das zu kompensieren. Kommen Sie, Versuchsleiter. Wollen Sie uns Schwierigkeiten machen? Rollen nach links. Gut. Alles klar. Erste Rolle abgeschlossen. Weiter. Zweite Kehrrolle.« Gershons Stimme war angespannt, und die Bewegungen waren hektisch und mechanisch.

Er nimmt diese Spiele zu ernst, sagte York sich.

An diesem Punkt würde der Doppelkegel mit einem Vielfachen der Mars-Schallgeschwindigkeit fliegen. Mit nachglühenden Triebwerken würde er am Marshimmel seine Bahn ziehen, und die tote, öde Landschaft, die seit einer halben Milliarde Jahre im Dornröschenschlaf lag, würde von einem Überschallknall nach dem andern widerhallen.

Das wäre gewiß eine spektakuläre Phase der Mission, sagte sie sich. Der Traum eines jeden Piloten.

Vielleicht, sagte York sich melancholisch, hätte die auf Eis gelegte Raumfähre ein ähnliches Flugvergnügen bereitet. In langgezogenen Kurven aus dem Orbit auszuscheren und in großer Höhe über die Wüste hinwegzuziehen, wäre doch etwas anderes gewesen, als in einer Apollo mit dem Arsch voran ins Meer zu klatschen. Durch die Streichung des Shuttles haben wir viel versäumt.

»Einundsechzigtausend Fuß«, las sie ab.

»Rager. Reduziere Luftbremse auf fünfundsechzig Prozent. Gib mir die Luft-Daten.«

»Rog.« York legte einen Schalter um. Natürlich tat sich nichts. Ein richtiger Doppelkegel indes hätte nun eine Anzahl von Staudrucksonden ausgefahren, um die Messungen des dynamischen Drucks und der Luftgeschwindigkeit zu bestätigen.

»Sieht gut aus«, sagte Gershon. »Beenden dritte Rolle.« Er grinste York an. »He, vielleicht kriegen wir diesen Scheiß doch noch geregelt.«

»Vielleicht. Fünfzigtausend Fuß.«

»Bereit für vierte Rolle.«

Der Form-Gips, der nun nicht mehr von Plasmaschwaden verhangen war, drehte sich erneut.

»Die Rolle ist gleich beendet. Komm schon, Baby. mach schon. Verdammt.«

Jetzt kommt’s, sagte York sich. Jede Simulation hatte nämlich ihre Tücken. Sie bekam Magenkrämpfe.

Der künstliche Horizont rotierte. Gershon bearbeitete die Kontrollen und ging die Notfall-Checklisten durch. »Die Steuerflächen greifen. Aber nicht genug. Verdammt noch mal. Was ist hier los?«

York schaute aus dem Fenster. Gershon war nicht imstande, das Rollen abzustellen, und die Landschaft war nun fast um neunzig Grad geneigt; der Computer hatte wohl beschlossen, den Doppelkegel kopfüber aufzuhängen.

Der Versuchsleiter brach die Funkstille. »Empfehle Abbruch«, sagte er ungerührt.

»Leck mich«, sagte Gershon und arbeitete weiterhin die Listen durch, kontrollierte die Instrumente und legte Schalter um.

Das tut ein Pilot also in einer solchen Situation, sagte sich York. Er geht das Handbuch durch. Gefragt sind logisches Denken und schnelles Handeln. Versuch A. Wenn das nicht klappt, Versuch B. Wenn das nicht klappt, Versuch C.

Die reliefartige Landschaft stand nun exakt über ihnen, und die virtuellen Krater und Canyons hingen wie ein rotes Dach über ihnen.

Mit Schrecken wurde York sich bewußt, daß erst ein paar Sekunden vergangen waren, seit das Problem zum erstenmal aufgetreten war. Sie hatten also eine Frist von ein paar Sekunden, um die Ursache eines möglicherweise komplexen und multiplen Störfalls zu ermitteln.

Unter diesen Voraussetzungen war es aussichtslos.

Wenn etwas schiefging, mußte man sofort aussteigen. Oder man würde sterben. Das war eine ganz einfache Gleichung.

»Ralph, wir müssen abbrechen.«

Gershon beachtete sie nicht, sondern arbeitete stur weiter.

Die Landschaft drehte sich weiter und kam sichtlich näher. Der überschallschnelle Doppelkegel drohte ins Trudeln zu geraten.

»Abbruch«, forderte sie Gershon erneut auf. »Mein Gott, Ralph, wenn wir erst ins Trudeln geraten, sind wir erledigt.«

Der vor dem Fenster wirbelnde virtuelle Marshimmel bewirkte in der Kabine ein regelrechtes Blitzlichtgewitter. Sie hatte die streiflichtartige Vorstellung einer Kamera auf einem Ausleger, der über Form-Gips rotierte.

Wenn das Wirklichkeit wäre, dann würde der Kopf gegen den Helm hämmern, und die Corioliskraft würde die Trommelfelle zum Platzen bringen. Wenn das Wirklichkeit wäre, würde das Schiff zerbrechen, und ich würde es vielleicht sogar noch bei vollem Bewußtsein erleben.

»MEM, wir empfehlen den Abbruch. Wir empfehlen.«

»Ralph! Mein Gott! Ralph!«

Die Kabine erzitterte, ein lautes Knirschen ertönte, und eine weiße Staubwolke wallte auf.

Die Landschaft erstarrte.

»Willkommen auf dem Mars«, sagte der Versuchsleiter trocken. »Wir berechnen gerade die Größe des Kraters, den ihr geschlagen habt.«

»Leck mich doch im Arsch«, sagte Gershon, nahm den Helm ab und schleuderte ihn durch die virtuelle Kabine.

Die beiden stiegen aus dem Simulator. Von außen sah er aus wie die Nase eines Flugzeugs, ein abgerissenes Cockpit, von dessen Rückseite Drähte und Kabel baumelten.

Die Techniker grinsten sie an. »He, Ralph, Sie haben die Kamera zerstört. Sie ist auf den Form-Gips geknallt. Was sagen Sie dazu?«

Gershon lachte nicht. Er drehte sich zu York um und wies mit einem behandschuhten Finger auf ihr Gesicht. »Das war der letzte Flug, bei dem Sie mir Befehle erteilt haben!«

Sie war eher belustigt als betroffen; solche Ausbrüche hatte sie schon öfter erlebt. Im Grunde kam sie mit Gershon ganz gut aus. Auf seine bärbeißige Art schien er sie bei solchen Übungen auch als gleichrangig anzuerkennen, obwohl er einmal ihr Ausbilder gewesen war. Dennoch platzte ihm des öfteren der Kragen.

»Befehle? Ich? Sie sind doch der Pilot, Ralph.«

»Dann vergessen Sie das auch nicht«, knurrte er und ließ sie stehen.

Phil Stone kam zu ihr. Er trug einen hellblauen Overall und hatte die Hände in den Taschen vergraben. »Sie dürfen das nicht persönlich nehmen.«

»Tu ich auch nicht«, sagte York achselzuckend und streifte sich die Handschuhe ab. »Gleich wird er die Techniker anpöbeln. Und dann den Versuchsleiter. Und dann Sie. bis hinauf zum Direktor der NASA. Ich war eben die erste. Er haßt es, zu versagen.«

»Er hat nicht versagt«, sagte Stone. »Dieser Störfall war nicht zu beheben.«

»Das Überschall-Trudeln.«

»Ich habe ein Buch über Überschall-Trudeln geschrieben«, sagte er. Doch sie vermutete, daß der Aufhänger irgendeine Kriegsgeschichte war. »Ich habe es mitbekommen. Aber zu diesem Zeitpunkt war ohnehin nichts mehr zu machen.«

»Was ist denn geschehen?«

»Wollen Sie denn nicht bis zum >Nachspiel< warten?« Das >Nachspiel< war die Abschlußbesprechung, bei der die Übung gnadenlos verrissen wurde.

»Eine kurze Zusammenfassung würde mir schon genügen.«

»Die Bugdüsen des Reaktionssteuerungssystems haben plötzlich gefeuert. In dem Moment, als ihr in die vierte Kehrrolle gegangen seid. Die Steuerflächen waren dem zusätzlichen Drehmoment nicht gewachsen.«

»Aber dieses Feuern wurde von den Instrumenten nicht angezeigt«, sagte sie nach einer Weile. »Zumal es völlig ausgeschlossen ist, daß das Reaktionssteuerungssystem zu diesem Zeitpunkt aktiviert wurde. Wir hatten nämlich den Resttreibstoff abgelassen.«

»Das glauben auch nur Sie.« Er grinste. »Eins nach dem andern, nicht?«

»Mein Gott.« Sie steckte die Handschuhe in den Helm. »Manchmal glaube ich, diese Kameraden wollen, daß wir versagen.«

»Nein. Aber ihr müßt, wenn es sein muß, hundertmal versagen, damit ihr es im entscheidenden Moment richtig macht. Aus diesem Grund seid ihr hier. Bei einer Simulation ist noch niemand ums Leben gekommen. Zumal es sich hier in erster Linie um eine Erprobung der bikonischen Konstruktion und nicht um einen Testflug für die Piloten handelte.«

York wußte, daß das stimmte. Die Doppelkegel-Simulation war nämlich so unbeliebt, daß nur ausgesprochene SimulatorFreaks damit arbeiteten, Leute, die um jeden Preis Zeit im Simulator schinden wollten, um eine bessere Plazierung im Rotationssystem zu erhalten.

Leute wie Natalie York und Ralph Gershon.

»Und ich glaube auch nicht, daß er jemals fliegen wird«, fuhr Stone fort. »Es gibt einfach zu viele Fehlerquellen. Der

Prozentsatz der Doppelkegel-Bruchlandungen, die in den Simulationen gebaut werden, ist ein Witz.«

»Leider sieht Ralph das nicht so.«

»Er ist vielleicht der Beste, den wir haben«, sagte Stone leise. Es wunderte sie, das ausgerechnet von Stone zu hören.

»Er hat nicht aufgegeben«, sagte Stone. »Er hat alles versucht, um das Schiff abzufangen. Wenn jemand imstande gewesen wäre, das MEM zu retten, dann er.«

»Sie haben sich übrigens auch ganz gut gehalten«, sagte er. »Ein Abbruch war die zweitbeste Option.«

»Und was war die beste?«

»Was Ralph getan hat. Kommen Sie mit.« Er klopfte ihr auf den Rücken. Den Druck der Hand spürte sie trotz des dicken Anzugs. »Vor dem >Nachspiel< spendiere ich Ihnen noch einen Kaffee.«

Sie verließen das Trainingsgebäude.

Mittwoch, 12. August 1981

Firmensitz von Columbia Aviation, Newport Beach

Am Abend vor der Präsentation flogen sie nach Newport News: Lee, Morgan, Xu, Rowen, Lye und all die anderen -sogar Art Cane, der beschlossen hatte, Lees Präsentation persönlich zu leiten und somit das Engagement der Firma noch einmal zu betonen.

Sie quartierten sich in einem Hotel in der Nähe von Langley ein, wo die Präsentationen stattfinden sollten. Morgan suchte die Bar auf und kippte sich hochprozentigen Rum hinter die Binde.

Lee indes ging mit Kästen voller Dias auf sein Zimmer.

Am Tag zuvor hatte er für Cane noch einmal eine ProbePräsentation durchgeführt und mit Schrecken festgestellt, daß er noch immer um fast zwanzig Minuten überzog. Deshalb wollte er nun noch ein paar Dias aussortieren.

Gegen halb vier Uhr morgens klopfte Jack Morgan an die Tür. Er war rappelvoll und machte einen Schnappschuß von Lee, der an einem mit Dias übersäten Schreibtisch saß. »Um Himmels willen, JK, lassen Sie den Mist liegen und gehen Sie ins Bett. Wenn Sie’s jetzt noch nicht drauf haben, dann schaffen Sie’s bis nachher auch nicht mehr.«

Lee fügte sich. Er räumte die Dias weg und legte sich ins Bett. Er machte sogar das Licht aus und lag im Dunklen da.

Doch hatte er die Dias deutlicher vor Augen, als wenn er direkt davor gesessen hätte.

Nachdem er vielleicht für eine halbe Stunde so dagelegen hatte, stieg er aus dem Bett, duschte und rasierte sich und ging wieder an die Arbeit.

Als der telefonische Weckdienst sich meldete, blickte er aus dem Fenster. Der Planet hatte sich weitergedreht, und es war wieder heller Tag.

Eine halbe Stunde vor Beginn der Columbia-Präsentation ging Lee zur Rezeption hinunter, um sich mit den anderen zu treffen. Bob Rowen hatte einen klobigen tragbaren Computer dabei, im dem die ganze Columbia-Präsentation gespeichert war. Sie war segmentiert und mit Indices versehen, was Lee in die Lage versetzte, schnell auf jede Frage zu reagieren.

Lee begrüßte die anderen, wobei er versuchte, Zuversicht und Sicherheit auszustrahlen.

Doch plötzlich krampfte sich ihm der Magen zusammen. Gleich würde er sich übergeben.

Jack Morgan hatte Lee beobachtet und bugsierte ihn nun auf eine Toilette, wo er eine dünne, braune Flüssigkeit erbrach: das war der Kaffee.

Morgan sagte nichts, aber Lee wußte auch so, was er dachte. In den letzten zehn Wochen hatte er von Adrenalin, Kaffee und einem gelegentlichen Imbiß gelebt. Geschlafen hatte er in dieser Zeit fast überhaupt nicht.

Morgan sagte ihm, er solle die Hose runterlassen. Dann setzte er ihm eine Spritze mit Vitamin B-12 und noch einem Zeug. Aber es wirkte und brachte Lee wieder auf die Beine. Nach ein paar Minuten war er imstande, sich den anderen als Strahlemann zu präsentieren.

Sie betraten den Ballsaal, wo die Präsentation stattfinden sollte.

Die Mitglieder des MEM-Prüfungsausschusses saßen in mehreren Reihen gestaffelt vor dem Podium: es handelte sich um fünfundsiebzig hochrangige NASA-Vertreter.

Lee kannte viele der Kommissionsmitglieder vom Sehen. Er sah Hans Udet aus Marshall und Gregory Dana aus Langley -die Intimfeinde saßen stocksteif nebeneinander -, und dann ortete er Ralph Gershon, der sich im rückwärtigen Bereich des Raums plaziert hatte. Gershon nickte Lee grinsend zu.

Joe Muldoon saß in der Mitte der ersten Reihe. Er leitete die Sitzung. Obwohl Muldoon nun ein hohes Tier war, sagte Lee sich, stand der blaue Nadelstreifenanzug, in den er sich gezwängt hatte, ihm immer noch nicht zu Gesicht.

Im Raum knisterte es förmlich vor Spannung.

Als die Columbia-Truppe Platz nahm, ging die Gruppe, die vor ihnen an der Reihe war, nach vorn. Es war McDonnell, deren Angebot für eine Zusammenarbeit Lee abgelehnt hatte. Und zu McDonnells Partnern gehörte Hughes, die wiederum Columbias Avancen zurückgewiesen hatten.

Der Kontrast zwischen den beiden Gruppen stach Lee ins Auge. Der McDonnell/Hughes-Kader bestand aus dynamischen Männern im mittleren Alter, mit zurückgekämmtem Haar und souveränem Auftreten. Da war zum Beispiel Gene Tyson von Hughes, der wie eine ganze Parfümerie roch und den Eindruck machte, als ob er gerade der Titelseite eines Lifestyle-Magazins entstiegen sei. Lee hingegen hatte seinen eigenen Diaprojektor mitgebracht, und sein ganzer Rückhalt bestand aus Kollegen, die noch halbe Kinder waren, und einem Doktor mit einem Kater.

Lee hatte McDonnells Bericht bereits zu Gesicht bekommen. In diese Studie waren viele Millionen Dollar investiert worden. Sie basierte auf dem Doppelkegel-Konzept, einer Variante des Themas, mit dem auch Rockwell sich befaßte. Die Studie war fundiert und so umfangreich, daß niemand bei Columbia Zeit gefunden hatte, sie durchzulesen.

Tyson kam zu Lee herüber. »Ach, JK. Es überrascht mich, Sie hier zu sehen.«

»Wir sind zufällig vorbeigekommen«, sagte Lee. »Da haben wir spontan etwas zusammengewürfelt und wollen mal schau’n, was dabei rauskommt.«

Tyson lachte, klopfte Lee auf die Schulter und ging davon.

Nun schritt Art Cane gemessen und würdevoll zum Podium. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er erläuterte kurz, weshalb seine Firma sich um diesen Auftrag bewarb, und erwähnte ihre Tradition und Unternehmensphilosophie.

Anschließend ging Lee nach vorn. Er lächelte die Leute im Gremium an und nickte ihnen zu. Nachdem er Cane kurz und förmlich die Hand gegeben hatte, stellte er sich ans Pult und rief das erste Dia auf.

Der Raum wurde verdunkelt und das Dia auf die Leinwand projiziert.

Donnerstag, 24. September 1981

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

Phil Stone und Adam Bleeker schauten sie unverwandt an.

Die drei befanden sich in einem Konferenzraum, den man dem Auswahlkomitee für die Ares-Landezone zur Verfügung gestellt hatte. Die Wände waren mit Abbildungen vom Mars förmlich tapeziert: Fotos des Mariner-Orbiters, Karten des Geologischen Instituts der USA, Falschfarbendarstellungen der Stratosphäre und geologische Karten. Die Tischreihen waren mit weiteren Grafiken, Bildern und Aktenordnern bedeckt.

York entrollte ein Plakat und heftete es über Karten und Fotos an die Wand. Es handelte sich um eine schlichte Vierfarbenkarte mit vielen Fähnchen.

»Der Mars«, sagte sie. »Mit allen Details, die Sie im Moment wissen müssen. Dies ist eine geologische Karte des Planeten, die auf der Grundlage von Mariner-Daten erstellt wurde.« Das stimmte allerdings nicht, denn diese Karte war Kinderkram und allenfalls geeignet, dem Betrachter einen groben Überblick zu verschaffen. Ganz nützlich, wenn man den Mars bombardieren will, aber für Studienzwecke völlig ungeeignet. »Also. Was fällt Ihnen auf?«

Stone grinste. »Ich sehe sieben kleine Sternenbanner und sieben kleine Flaggen mit Hammer und Sichel und zu jedem Fähnchen einen Kommentar.«

»Zu den Fahnen kommen wir noch. Zuerst widmen wir uns der Geologie. Beschreiben Sie einfach, was Sie sehen.«

Bleeker zuckte die Achseln. »Nord und Süd unterscheiden sich voneinander«, sagte er artig. »Die obere Hälfte der Karte ist rosa und die untere gelb. Mehr oder weniger.«

»Richtig. Die Geologie gründet sich auf die Prämisse, daß ein Planet weder eine homogene Kugel noch ein chaotischer Brocken ist. Ein Planet besteht aus einzelnen Stücken -sogenannten geologischen Einheiten. Jede Einheit wurde zu einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte Art und Weise geformt. Sie hat drei Dimensionen, und wir Geologen sind immer bestrebt, unter die Oberfläche zu blicken und die dreidimensionale Struktur zu rekonstruieren, die sich der direkten Betrachtung entzieht. Die Beziehungen zwischen den Einheiten geben uns Aufschluß über die Altersstruktur, die Prozesse, die sie geformt haben und wie weit sie sich unter der Oberfläche erstrecken.«

Stone schaute verstohlen auf die Uhr.

»Widmen Sie mir auch Ihre volle Aufmerksamkeit, meine Herren?«

Stone und Bleeker sahen sich an wie ertappte Sünder.

»Sie tun nur Ihre Arbeit, Natalie«, sagte Bleeker in aller Gemütsruhe, »und wir sind froh, daß Sie den Ausschuß für die Auswahl der Landezone leiten.«

»Ich leite ihn nicht. Ich gehöre ihm nur an.«

»Wie auch immer. Aber während des einjährigen Flugs zum Mars werden wir uns nur mit diesem Kram befassen. Hat das nicht noch solange Zeit?« Wie immer klang Bleeker ruhig, überlegt, vernünftig und farblos.

Ein Jahr? Ja, aber ich werde euch nicht das Händchen halten oder Denkanstöße geben. Ich werde Lichtminuten entfernt sein...

Und dieser Kamerad würde voraussichtlich zum MissionsSpezialisten des Ares-Flugs ernannt werden. Mein Gott.

Phil Stone brachte Bleeker mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Machen Sie weiter, Natalie. Die Wissenschaft ist wichtig. Sie haben unsere Aufmerksamkeit.«

»In Ordnung«, sagte sie. »Die Sonden zeigen uns, daß der Mars zwei typische Landschaftsformen aufweist. Das gelbe Gebiet im Süden ist mit Kratern übersät und scheint sehr alt zu sein. Und der rosa Bereich im Norden besteht aus glatten, jungen Ebenen. Der Planet beult sich am Äquator aus, so daß der Großteil des Südens über Normalnull liegt und der Großteil des Nordens darunter.«

»Sie sagen >alt< und >jung<«, bemerkte Stone. »Was bedeutet das?«

»>Jung< bedeutet vielleicht eine halbe Milliarde Jahre. Die Ebenen sind vulkanischen Ursprungs - erstarrte Lava-Felder. Und das alte kraterübersäte Gebiet ist drei bis vier Milliarden Jahre alt. Fast so alt wie der Planet an sich.«

»Dann kommen wir zu den Flaggen«, sagte Bleeker. »Ich schätze, diese sieben Hammer-und-Sichel-Fahnen markieren die Stellen, für welche die Sowjets sich interessieren.«

»Ja. Sie haben recht.«

»Das wäre also geklärt«, sagte Stone gemütlich. »Werfen wir mal einen Blick auf die amerikanische Auswahl. Diese zwei weißen Streifen oben und unten auf der Karte - ich nehme an, das sind die Polarkappen.«

»Ja.«

»Aber ich sehe dort keine Flaggen.«

»Nein. Die hohen Breiten kommen für uns nicht in Frage.« Ein von der Erde anfliegendes Raumschiff würde automatisch in eine Parkbahn gehen, die ziemlich genau entlang des Äquators verlief. Wollte man aus dem Orbit ausscheren, um zu den Polen zu gelangen, würde das zu viel Energie kosten. »Aber das ist sehr bedauerlich, weil die Pole nämlich interessant sind.«

»Woraus bestehen die Kappen? Aus Wassereis?«

»Vielleicht. Der Orbit des Mars ist elliptischer als die Erdumlaufbahn, so daß es dort ausgeprägte Jahreszeiten gibt. Im Süden gibt es kurze, heiße Sommer und lange, kalte Winter. Zumal die Kappen vermutlich eine unterschiedliche Zusammensetzung haben. Wir glauben, daß die Kappe im

Norden aus Wassereis besteht. Aber die südliche Kappe besteht wahrscheinlich aus Kohlendioxid - also aus Trockeneis.«

»Die Pole geben uns viele Rätsel auf.« Sie durchquerte den Raum und trat vor die Vergrößerung eines Fotos. Sie zeigte ein dickes Band, das ein bräunliches Terrain durchzog.

»Was ist das?« fragte Bleeker. »Sieht aus wie geschmolzene Schokolade.«

»Bei diesen Bändern handelt es sich um neun bis zwölf Meter starke Ablagerungen, die sich auf einer Länge von mehreren hundert Kilometern um die Pole ziehen. Sie bestehen aus einem Gemisch aus Staub und Eis, das von den Mars-Winden abgelagert wurde. Die Bänder sagen uns, daß der Ablagerungsprozeß variiert. Die Zyklen umfassen vielleicht Jahre oder sogar Jahrtausende. Was ist aber die Ursache für diese Variation? Es gibt drei mögliche Mechanismen. Zuerst die exzentrischen Änderungen des Marsorbits.«

»Wodurch ist das bedingt?« fragte Stone.

»Mars befindet sich viel näher am Jupiter als die Erde. Die Masse des Jupiter beeinflußt die Umlaufbahn des Mars. Oder vielleicht liegt es auch daran, daß die Achsneigung des Planeten sich ständig ändert.«

»Das wäre plausibel«, sagte Stone. »Die überschwere südliche Hemisphäre wirkt sich auf das Trägheitsmoment des Mars aus. Der Planet muß taumeln wie ein Spielzeugkreisel.«

Sie lächelte. »Zumindest in geologischen Zeitaltern.«

»Und was ist der dritte Mechanismus?«

»Daß die Wärmeleistung der Sonne aus irgendwelchen Gründen schwankt.«

Bleeker runzelte die Stirn. »Das müßte sich aber auch auf das Erdklima auswirken.«

»Das ist richtig. Und wegen dieser Schichtung sollten wir auch eines Tages zu den Polen fliegen. Der Mars ist wie ein staubiger Spiegel, Phil, Adam. Beim Blick in diesen Spiegel lernen wir gleichzeitig etwas über die Erde.«

Die beiden ließen sich das für einen Moment durch den Kopf gehen.

York war zufrieden mit sich. Selbst wenn sie ihnen nichts Neues erzählte, sondern nur ihre Selbstgefälligkeit ins Wanken brachte und sie zum Nachdenken über die Bedeutung des bevorstehenden Flugs anregte, hätte sie schon etwas erreicht.

Sie schaute wieder auf die Vergrößerung der Polarregion. Die Aufnahme war viel schlechter als die Bilder, die von moderneren Sonden übermittelt wurden und die sich auf die Kartierung der äquatorialen Landezone beschränkt hatten. Wegen der Besonderheiten des Mars-Programms wußte man paradoxerweise viel weniger über den Planeten, als man sonst vielleicht in Erfahrung gebracht hätte.

Und es lag in den Händen dieser beiden Männer, der Mission zum Erfolg zu verhelfen.

»Ich vermute«, sagte Adam Bleeker, »daß wegen der Probleme mit den hohen Breiten auch der Ort nicht in Frage kommt, den Sie so weit im Süden markiert haben, Natalie.«

»Vermutlich. Aber es gibt noch einen interessanten Ort. Amphitrites Patera - ein alter Vulkan, der viel älter ist als die Vulkanplateaus der nördlichen Hemisphäre. Wir wissen noch nichts Genaues über seine Entstehung. Vielleicht wurde der Vulkanismus durch die gewaltigen Einschläge ausgelöst, welche die massiven Einschlagkrater im Süden verursachten. Sie sehen diese senffarbenen Punkte im Mittelpunkt der südlichen Hemisphäre: das sind Argyre und Hellas - große Einschlagbecken, die über drei Milliarden Jahre alt sind. Hellas übertrifft alles, was wir bisher auf dem Mond entdeckt haben -es ist noch größer als beispielsweise das Mare Imbrium. In Hellas ist auch die sowjetische Mars 9-Sonde gelandet.«

Stone stieß einen Pfiff aus. »Das kommt also dabei raus, wenn man in nächster Nähe des Asteroidengürtels Quartier bezieht.«

Argyre war mit einem Sternenbanner markiert.

»Wollen Sie damit sagen, daß wir Argyre anpeilen sollen?« fragte Bleeker.

»Es wäre zumindest eine Möglichkeit. Argyre ist sehr alt und sehr tief. Aber die Becken sind von konzentrischen Kreisen -Bergketten - umgeben, die eine Landung erschweren würden.

Wie Sie sehen«, fuhr sie fort, »ist in der westlichen Hemisphäre am meisten los. Dieses purpurne Gebiet, das sich hinauf nach Norden erstreckt, ist der Tharsis-Buckel: er erhebt sich im Durchschnitt mehr als acht Kilometer über das umliegende Terrain. Und bei diesen roten Punkten handelt es sich um die großen Schildvulkane.« Sie zeigte auf die entsprechenden Stellen. »Ascraeus, Pavonis und Arsia Mons; und hier, im Nordwesten, befindet sich Olympus Mons: am Fuß beträgt der Durchmesser etwa sechshundert Kilometer, und die Caldera hat immer noch einen Durchmesser von achtzig Kilometern. Olympus ist so hoch, daß er über die Atmosphäre hinausragt. Er ist von orographischen Wolken umhüllt, die dadurch entstehen, daß die Luft an den Hängen emporströmt.«

»Sicher«, sagte Bleeker, »aber ich habe gehört, daß Olympus von der Oberfläche aus betrachtet gar nicht so spektakulär sein soll.«

Sie zuckte die Achseln. »Schon möglich. Sehen Sie hier.« Sie suchte ein ganz bestimmtes Bild. Schließlich hatte sie es gefunden und gab es den Astronauten. Das Bild zeigte einen großen Vulkan aus der Vogelperspektive. Der Schlot wurde von einer scharfen, markanten Klippe umlaufen. »Das ist eine Computerdarstellung auf der Basis der Mariner-Daten. Der Blick fällt von schräg oben auf das Objekt.«

Stone wies auf die Klippe. »Wie hoch ist das?«

»Der Steilhang? Etwa fünf Kilometer.«

»Mein Gott. Eine fünf Kilometer hohe Klippe?«

»Glauben Sie’s oder lassen Sie’s bleiben.«

Beide Männer starrten auf das Bild der Klippe. Bleeker hob in gespielter Resignation die Hände.

Sie unterdrückte ein Grinsen. Astronauten waren leicht zu beeindrucken, wenn man es nur richtig anstellte.

»Wie ich sehe, haben Sie diese großen Vulkane auch mit Flaggen markiert«, sagte Stone.

»Ja. Olympus Mons ist der jüngste und gleichzeitig der größte. Die jüngsten Lavaströme auf dem Mars stammen von ihm. Aber Olympus ist etwa dreißig Kilometer hoch.«

»Zu hoch für eine Luftbremse«, sagte Bleeker. »Deshalb scheiden die anderen Tharsis-Vulkane wohl auch aus.«

»In Ordnung«, sagte Stone. »Östlich von Tharsis sehe ich einen gezackten blauen Streifen entlang des Äquators. Ich vermute, das ist das Mariner-Tal.«

»Ja. Valles Marineris. Die Schluchten sind viertausend Kilometer lang, sechseinhalb Kilometer tief und annähernd zweihundert Kilometer breit. Wir wissen jedenfalls, daß das Valles-System nicht durch Wasserkraft ausgewaschen wurde. Viele Canyons sind >Sackgassen<. Also ist auch kein Wasser hinein- oder herausgeflossen; vielmehr handelt es sich hier um eine geologische Verwerfung, wie etwa das Rift Valley in Afrika.«

»Es hat den Anschein, als ob das Tal eine Verlängerung des Tharsis-Buckels wäre«, sagte Bleeker.

»Ja. Und das ist sicher kein Zufall. Als der Buckel sich aufwölbte, taten sich vielleicht Risse und Spalten in der Oberfläche auf und Magma strömte aus. Das muß Erdbeben und Auffaltungen zur Folge gehabt haben.«

»Es wäre also möglich, Valles Marineris als Landezone auszuwählen«, sagte Stone.

»Schon möglich«, sagte York. »Diese Flagge markiert eigentlich einen Seitenarm namens Condor Chasma. Die Schichtung der Wände erteilt uns Aufschluß über die Entstehung des Canyons.«

»Aber ich möchte wetten, daß es ein ziemlich schwieriges Gelände für eine Landung ist.«

»Nein. Die kleineren Schluchten sind teilweise ein paar Kilometer tief. Wenn man den Ort für ein paar Monate untersuchen und eine Drohne einsetzen würde.«

»Die Zeit haben wir aber nicht«, sagte Stone. »Gut, Natalie. Das reduziert die Auswahl auf zwei Orte. Das Gebiet zwischen den alten Vulkanen in der südlichen Hemisphäre und die vulkanischen Ebenen im Norden.«

»Ja. Das Gebiet in der östlichen Hemisphäre« - auf der Tharsis gegenüberliegenden Seite des Mars - »heißt Nilosyrtis Mensa. Ein solches Gelände bezeichnen wir als >gefrittet<.« Sie zeigte ihnen das Schwarzweißbild einer pockennarbigen Oberfläche.

»Toll«, sagte Stone. »Das sieht aus wie geschmiedetes Kupfer.«

»Wir vermuten, daß diese waschbrettartige Landschaft die Folge eines Erosionsprozesses der älteren, südlichen Hemisphäre ist.«

»Ein verdammt ungünstiger Landeplatz«, sagte Bleeker.

»Ja, und man brauchte lange Traversen, um das Gelände systematisch zu kartieren.«

»In Ordnung. Dann scheidet das also auch aus.«

»Die letzte Flagge markierte den westlichen Ausläufer des Tharsis-Buckel s, an der Grenze zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre. Sie steckte in der Mitte eines grünen Streifens, der sich von Nord nach Süd durch die Valles zog.

Dieser grüne Streifen bildete zusammen mit dem blauen Band der Valles ein Kreuz auf dem Äquator.

Dies ist eine Region, die von fließendem Wasser geformt wurde. Jedenfalls hat es den Anschein. Es gibt dort Kanäle, die von Valles Marineris ausgehen und durch die nördlichen Ebenen verlaufen.«

Stone lächelte. »Dann sind das also die berühmten, vom Wasser geprägten Merkmale, von denen Sie uns im Singing Wheel erzählt haben.«

»Dieses Gebiet befindet sich am Äquator«, sagte sie. »Wir haben hier eine Mischform aus jungen und alten geologischen Typen. Und das ist wichtig für uns. Gemischtes Gelände ist in der Regel komplex und zerklüftet. Doch diese Landschaft wäre für eine Landung gut geeignet. Und wenn es irgendwo Wasser gibt, dann dort. Vielleicht unter der Oberfläche. Und wo Wasser ist.«

»Ist vielleicht auch Leben.« Stone erhob sich vom Stuhl und ging zur Karte hinüber. Er trat so dicht heran, daß er die Beschriftung neben dem Fähnchen erkannte. »Mangala Vallis. Was bedeutet das?«

»Die größeren Valles sind jeweils mit dem Namen des Planeten in verschiedenen Sprachen benannt worden. Hier, östlich von Marineris, haben wir sogar ein Ares-Tal.«

»Und Mangala?«

»Sanskrit. Die älteste Sprache der indoeuropäischen Gruppe.«

»Dann ist Mangala vielleicht das älteste Wort für Mars in der westlichen Welt.« Stone lächelte. »Das gefällt mir.« Er blieb vor der Karte stehen und drehte sich zu York um. »Dann haben Sie der Auswahlkommission also Mangala Vallis untergejubelt. Aus rein operativen Gründen natürlich. Ein Ort, den Sie zufällig besser kennen als sonst jemand. Nicht wahr, York?«

Er grinste, und Bleeker auch.

»Noch immer scharf auf meinen Platz, Natalie?« fragte Bleeker launig.

Ihr lief es kalt den Rücken hinunter. Die Kerle haben mich durchschaut.

Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Wenn Bleeker weiß, daß ich ihn im Visier habe, wird er die Geologie vielleicht etwas ernster nehmen.

Und er müßte sich nur noch einen Ausrutscher erlauben...

Sie rollte die Karten zusammen. »Was sagen Sie dazu? Ich lasse Ihnen das Manuskript meines Beitrags im nächsten Journal of Geophysical Research zukommen. Er handelt von Mangala. Ich wünsche eine spannende Lektüre.«

»Was nun?« fragte Stone. »Sind wir fertig?«

»Schön war’s. Das war erst der Anfang - der angenehme Teil. Nun kommen wir zur Klimatologie des Mars. Wir stellen sie der Klimatologie der Erde gegenüber und.«

Nörgelnd setzten die Burschen sich wieder.

So verging der Tag, und im kleinen Raum wurde es immer wärmer.

Oktober 1981

Insgesamt fünf Firmen gaben ein Angebot für die Produktion des Mars-Exkursionsmoduls ab: Rockwell, McDonnell, Martin, Boeing und JK Lees Firma, Columbia.

Die Arbeit des MEM-Prüfungsausschusses war langwierig und kompliziert. Es war alles eine Frage der Gewichtung der Kriterien; Ralph Gershon hatte so etwas noch nie gesehen. Es gab Unterausschüsse zur Beurteilung der administrativen Kapazität des Anbieters, der >Geschäftsmethoden< und der technischen Qualifikation« Gershon saß selbst in drei Unterausschüssen. Und jeder Unterausschuß bewertete die

Angebote anhand eines Punktschemas mit ein paar hundert Kriterien.

Für Gershon ergab das alles keinen Sinn. Würde der Zuschlag wirklich auf der Grundlage dieser Zahlen erfolgen? Wenn man die Entscheidungsfindung zu einem mechanischen Prozeß degradierte, wäre es eines Tages auch möglich, die NASA durch einen Computer zu ersetzen.

Es war offensichtlich für Gershon, daß Columbia in diesem Wettbewerb die plausibelste Strategie verfolgte. Die NASA und die großen Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie hatten fast ein ganzes Jahrzehnt mit Studien, Vorschlägen und Beurteilungen von exotischen Marsfähren vergeudet, ohne je zu konkreten Ergebnissen zu gelangen. Lees Leute indes waren unkonventionell vorgegangen, hatten sich gar nicht erst mit den ausgelutschten Konzepten aufgehalten und statt dessen ein Gerät präsentiert, das so aussah, als ob es in ein paar Jahren flugfähig sei.

Leider war Intuition bei der Beurteilung des Angebots kein relevantes Kriterium. Obwohl Columbia die technische Konzeption kompetent vermittelt hatte - wobei man die Problematik des >menschlichen Faktors< hervorragend gelöst hatte -, stellte Columbias Status als kleiner Hersteller von Experimentalgerät ein Handikap dar. Man traute Columbia schlicht und einfach nicht zu, ein komplettes Raumschiff zu liefern.

Die ersten Beurteilungen plazierten Rockwell auf Platz Eins, Boeing und McDonnell lagen gleichauf auf Rang Zwei, und Columbia war weit abgeschlagen.

Gershon erhob auf der Abschlußsitzung Einwände gegen die Beurteilung: »Verdammt, Sie haben doch die Ergebnisse der Simulationen vorliegen. Ich reiße mir selbst den Arsch auf beim Versuch, einen Doppelkegel zum Fliegen zu bringen. Wir müssen dem Bewerber den Vorzug geben, der am ehesten in der Lage ist, ein flugfähiges Gerät zu bauen.«

Joe Muldoon sprang ihm bei. Also wurden die Beurteilungen einer Revision unterzogen, woraufhin Columbia etwas besser abschnitt.

Dennoch folgte Muldoon im für Tim Josephson bestimmten Abschlußbericht der Empfehlung der Kommission: >Rockwell International wird als der geeignete Auftragnehmer für das Mars-Exkursionsmodul betrachtet.«

Nachdem sein Auftrag nun beendet war, kehrte Gershon nach Cape Canaveral zurück, um an der ersten A-Klasse-Mission von Ares zu arbeiten - einem unbemannten Probeflug der modernisierten Saturn VB.

Nach ein paar Tagen wurde er erneut ins JSC bestellt, um seine Unterschrift unter den MEM-Abschlußbericht zu setzen. Gershon hatte die Schnauze voll von dem ganzen Kram.

Muldoon fing ihn ab.

»Wo soll’s denn hingehen?«

»Es ist doch vorbei, oder? Kommen Sie, Joe. Sie wissen genauso gut wie ich, daß Columbias Vorschlag der einzige war, der innerhalb einer vertretbaren Frist in die Praxis umzusetzen gewesen wäre. Und nun haben wir sie abgelehnt.«

»Natürlich weiß ich das. Aber es ist noch nicht vorbei.«

»Machen Sie Witze? Wir haben gerade den Abschlußbericht unterschrieben, um Himmels willen. Columbia hatte nie eine Chance.«

»Sie lernen schnell, mein Junge, aber Sie müssen trotzdem noch viel lernen. In diesem Spiel ist ein unterzeichneter Abschlußbericht erst der Auftakt für die Verhandlungen.«

»Was soll das nun schon wieder heißen?«

»Ich möchte, daß Sie etwas für mich erledigen.«

Ein paar Tage später flatterte ein langes Telegramm auf JK Lees schlachtschiffgrauen Schreibtisch.

Er rief Jack Morgan zu sich und schob ihm das Telegramm über den Tisch zu.

Morgan las den Text sorgfältig durch, wobei er Lee aus dem Augenwinkel beobachtete.

Absender des Telegramms war Ralph Gershon, einer der Astronauten im Prüfungsausschuß. Hauptsächlich handelte es sich um Fragen zu Columbias Angebot. Es ging ordentlich zur Sache, und die erste Frage war geradezu ein Hammer. Die Unternehmens-Geheimsprache lautete im Klartext: Wie sollte ein beschissener Haufen von Amateuren wie der von Columbia wohl die Entwicklung eines komplexen Raumschiffs wie des MEM auf die Reihe kriegen?

»Das war es wohl«, sagte Morgan und warf Lee einen Blick zu. »Wir sind draußen.«

Morgan hatte Lee noch nie so niedergeschlagen erlebt wie in den paar Monaten, die seit der Präsentation des MEM nun schon vergangen waren. Nachdem die Anspannung sich gelegt hatte und der Schlafmangel und die anderen Entbehrungen sich bemerkbar machten, war Lee in eine starke Depression verfallen. Zumal inzwischen ans Licht gekommen war, daß Lee den Etat überzogen hatte. Das hatte böses Blut in der Firma gemacht. Während der MEM-Übung hatte Morgan sich ernstliche Sorgen wegen des Raubbaus gemacht, den Lee mit seiner Gesundheit trieb. Ganz zu schweigen davon, was er seiner Familie zumutete. Nachdem die Sache mit dem MEM sich nun erledigt hatte, wußte Morgan, daß Lee verstärkt auf seine Gesundheit achten mußte. Vielleicht würde er mit Jennine sprechen, damit sie ihn zur Vernunft brachte.

Doch Lee lehnte sich gemütlich zurück. Er machte einen agilen, gelösten Eindruck und hatte wieder dieses Funkeln in den Augen, das Morgan als Signal für Lees Hyperaktivität zu deuten gelernt hatte.

»Teufel, nein«, sagte Lee nachdrücklich. »Haben Sie es noch nicht kapiert? Diese verdammte Nachricht besagt, daß wir nach wie vor im Rennen sind. Sonst hätten sie uns wohl kaum diese Fragen gestellt.«

»Und was werden Sie nun tun?«

»Ihnen die Antworten geben. Was sonst.« Lee hackte auf die Taste der Sprechanlage. »Bella. Ich möchte, daß Sie ein paar Anrufe tätigen. Trommeln Sie so schnell wie möglich die MEM-Gruppenleiter zusammen. Und buchen Sie für uns alle einen Flug nach Houston. Für - lassen Sie mich überlegen -zwei Tage.«

»Aber heute ist Sonntag, JK.«

»Sie fangen schon wieder mit Ihrem >aber aber aber< an«, sagte Lee. »Ich hatte Ihnen das doch schon einmal gesagt.«

»Ja, Sir, JK.«

Morgan war entgeistert. »Das ist doch nicht Ihr Ernst. Das hat es noch nie gegeben, daß ein Bewerber während des laufenden Auswahlverfahrens persönlich vorstellig wird.«

»Gibt es vielleicht ein Gesetz, wonach das verboten ist?«

»Gewiß ein ungeschriebenes.«

Lee zog die Augenbrauen hoch. »Das tangiert mich nicht mal peripher.«

Nach der Visite der Columbia-Delegation am JSC wurde die Beurteilung noch einmal revidiert, und die Vorsitzenden des Prüfungsausschusses leiteten das Angebot an Tim Josephson in Washington weiter.

In Anlehnung an das Bewertungsschema sprachen Muldoons Leute sich nach wie vor für Rockwell aus, nur daß Columbia inzwischen auf dem dritten Platz rangierte.

Der NASA-Direktor lauschte aufmerksam.

Dann bedankte Josephson sich beim Gremium und bat Joe Muldoon, Ralph Gershon und ein paar andere, noch etwas zu bleiben.

»Sagen Sie mir die Wahrheit«, verlangte er in einem Ton, den Gershon als leidenschaftslos und typisch bürokratisch empfand. »Gibt es noch andere Faktoren außer denjenigen, die vom Prüfungsausschuß berücksichtigt wurden und die ich bei meiner Entscheidung in Betracht ziehen sollte?«

»Teufel, ja«, sagte Muldoon. »Sie sollten sich das Angebot von Columbia noch einmal ansehen, Tim.«

»Und weshalb?«

»Weil es meiner Meinung nach in technischer Hinsicht am substantiellsten ist. In einigen Punkten ist es vielleicht noch etwas unausgegoren, doch unterm Strich ist es das fundierteste Angebot von allen. Die Hilfe kompetenter Zulieferer wird das organisatorische Handikap von Columbia auf jeden Fall neutralisieren.«

Gershon mußte ein Grinsen unterdrücken. Nachdem er Muldoon, Josephson und den Rest der Truppe in den letzten paar Tagen bei der Arbeit beobachtet hatte, war er zu dem Schluß gelangt, daß die Leitung einer Organisation viele Parallelen zum Fliegen eines Flugzeugs aufwies. Gewiß, man mußte die Instrumente im Blick haben; doch die Rohdaten, auch wenn man sie noch so gründlich interpretierte und analysierte, waren eben nur eine Einflußgröße von vielen. Wenn man Entscheidungen zu treffen hatte, bei denen es um Leben und Tod ging, mußte man sich letztlich doch auf den >siebten Sinn< verlassen, bei dem Daten, Erfahrung und das Gefühl für ein Schiff auf rätselhafte Art verschmolzen.

Und genau das taten Tim Josephson und Joe Muldoon nun, sagte er sich. Sie hatten das Gefühl, daß das Angebot von

Columbia das richtige war, und das bedeutete vielleicht in letzter Minute einen Sinneswandel zu JK Lees Gunsten.

Dennoch fiel es Josephson schwer, die Schlußfolgerungen der formalen Bewertung zu ignorieren. Vor zwei Jahrzehnten hatte Jim Webb sich schon einmal über die Empfehlung des Prüfungsausschusses hinweggesetzt, als er Rockwell den Zuschlag für Apollo erteilte. Und seitdem waren die Gerüchte über Korruption und geheime Absprachen nicht mehr verstummt.

Als Gershon nach Cape Canaveral zurückflog, hing die Sache noch immer in der Schwebe.

Lees Depressionen wurden immer schlimmer. Obwohl sein unorthodoxer Besuch in Houston erfolgreich gewesen war, besagten die Gerüchte aus Washington nur eins: daß Rockwell den MEM-Kontrakt bereits in der Tasche hatte. Teufel, sagte er sich, das war von Anfang an klar. Wie konnte ich mich überhaupt dazu versteigen, mitbieten zu wollen?

Am Tag nach der Rückkehr aus Houston - es war zehn Uhr morgens - schaute er aus dem Fenster des Büros. Er spielte mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen und etwas Zeit mit Jennine zu verbringen. Und mit seinem Sohn Bert, dessen Baseball-Schulmannschaft an diesem Abend ein Spiel hatte. Vielleicht wäre es gut, wenn Lee sich mal wieder blicken ließe.

Dann rief Joe Muldoon an.

»Wäre es Ihnen möglich, heute nach Houston zu kommen?«

Lee war konsterniert. »Ich weiß nicht. Die Flüge.«

»Heute abend wäre gut. Ich würde mich freuen, mit Ihnen zu reden. Kommen Sie in mein Büro im JSC.«

Vielleicht wollte Muldoon es Lee persönlich sagen, auch wenn er deshalb extra nach Houston fliegen mußte.

Lee dachte an Bert und das Spiel. Diese Option erschien ihm attraktiver.

Er verständigte Bella und bat sie, ihm einen Flug nach Houston zu reservieren.

Er erreichte das JSC am späten Nachmittag. Während des Flugs und der Fahrt vom Flughafen hatte er sich seelisch und moralisch schon auf die Hinrichtung vorbereitet.

Muldoon führte ihn ins Büro und schloß die Tür. Dann gab er ihm die Hand und sagte grinsend: »Glückwunsch. Ich wollte es Ihnen persönlich sagen. Sie haben den Zuschlag für das MEM erhalten.«

Zum erstenmal im Leben verschlug Lee es die Sprache.

»Darf ich es meinen Leuten sagen?«

Muldoon schaute auf die Uhr, eine massive AstronautenBreitling. »Wir dürfen es nicht publik machen, solange die Börse noch geöffnet ist. ach, zum Teufel damit!«

Er gestattete Lee zwei Telefonate.

Lee telefonierte von Muldoons Büro aus. Er zog auch in Erwägung, Jennine anzurufen.

Dann rief er Art Cane an.

Und dann klingelte er bei Gene Tyson bei Hughes durch und rieb es ihm genüßlich unter die Nase.

Muldoon lud Lee an diesem Abend zum Essen und zu ein paar Bierchen ein. Lee ließ sich ordentlich vollaufen und amüsierte sich prächtig.

Doch um fünf Uhr stand er schon wieder auf, verfolgte die Morgennachrichten im Fernsehen und packte die Reisetasche.

Er schaute flüchtig in den Spiegel an der Wand. »Mein Gott«, sagte er laut. »Ich werde ein Raumschiff bauen, das drei Amerikaner zum Mars bringt.«

Dann holte eine Nachricht ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

Eine Saturn VB war explodiert. Er sah das Bild einer weißen, mit orangefarbenen Einsprengseln durchsetzten Wolke, und die Feststoff-Booster jagten auf einer erratischen Bahn durch den Himmel, wobei sie eine Rauchfahne hinter sich herzogen.

Die Kommentatoren sagten, das würde das Ares-Programm um Jahre zurückwerfen.

Mein Gott. Hastig band Lee sich die Krawatte und stürmte aus dem Raum.

New York Times,

Dienstag, 15. Dezember 1981

.Heute sind die letzten Überreste des tragischen Apollo-N-Weltraumflugs in einer unterirdischen Deponie des NASA-Weltraumbahnhofs Cape Canaveral in Florida begraben worden.

Ich habe mich mit Aaron Raab vom Jacqueline B. KennedyRaumfahrtzentrum über die Probleme unterhalten, die sich in diesem Zusammenhang ergeben. Raab wurde 1946 in Tulsa, Oklahoma, geboren. Er trat im Juli 1967 in die NASA ein - ein paar Monate nach einer anderen Tragödie, wo in der auf der Startrampe stehenden Apollo 1 ein Feuer ausbrach und die Astronauten Grissom, White und Chaffee verbrannten.

Gleich nach der Apollo-N-Katastrophe schulterte Raab die schwere Bürde als >Trümmer-Manager<.

Nachdem das Bergungsschiff die Apollo-N-Kommandokapsel nach Port Canaveral gebracht hatte, wurde die Fünf-Tonnen-Kapsel, mit der die NASA-Astronauten Dana, Jones und Priest zur Erde zurückgekehrt waren, bis zur letzten Schraube zerlegt. Die Einzelteile wurden für Untersuchungszwecke in verschiedenen Lagerhallen ausgebreitet. Unter Raabs Leitung wurden die jeweiligen

Baugruppen der Kommandokapsel in der ursprünglichen Konfiguration relativ zueinander angeordnet, um den Untersuchungsbeamten die Arbeit zu erleichtern. Der von Präsident Reagan eingesetzte Untersuchungsausschuß wachte derweil mit Argusaugen über den ganzen Vorgang. Die Komponenten blieben fast für ein ganzes Jahr so liegen. Nachdem die Untersuchung abgeschlossen und die Berichte geschrieben waren, führte die NASA nämlich eine interne Untersuchung durch.

Es wurde erstaunlich wenig Gerät eingesetzt, um die Komponenten zu bewegen: ein leichter Kran, ein Gabelstapler und zwei Pritschenwagen.

Weil die Kommandokapsel aus dem Salzwasser des Ozeans geborgen worden war, mußten ein paar Bauteile mit Korrosionsschutz behandelt werden, damit sie nicht rosteten. Besondere Maßnahmen waren erforderlich, um die Stimmenrecorder der Apollo-N zu konservieren. Kurze Zeit nach der Bergung wurden die Recorder zum JohnsonRaumfahrtzentrum in Houston geschickt, wo Sie von IBM restauriert und von einer Arbeitsgruppe ausgewertet wurden. Leiter der Gruppe war ein weiblicher Astronaut namens Natalie York.

Die letzte Ruhestätte der Kommandokapsel ist vielleicht bizarr, aber praktisch. Das Raumschiff liegt nun tief unter der Erde im Silo einer Minuteman-Rakete, in einer ruhigen Ecke von Cape Canaveral. Der Ort umfaßt ein Silo (Komplex 31) und vier gewölbeartige, unterirdische Geräteräume.

Es war nicht einfach, den Silo seiner neuen Bestimmung zuzuführen. Der Silo-Komplex wurde seit zehn Jahren nicht mehr genutzt und war dementsprechend heruntergekommen. Die Geräteräume beherbergten noch immer eine umfangreiche elektronische Ausrüstung für Raketenabschüsse, die Raabs Team erst fortschaffen mußte, bevor sie die Trümmer von

Apollo-N einzulagern vermochten. Die Geräteräume selbst befanden sich in einem schlechten Zustand und mußten für eine langfristige Lagerung umgebaut werden. Obwohl es keine Umweltschutzauflagen gab, mußten die unterirdischen Anlagen zumindest wasserdicht gemacht werden; man stellte nämlich fest, daß in den späten Sechzigern der Boden von Komplex 31 durch einen Rohrbruch etwa einen Meter hoch unter Wasser gesetzt worden war. Also wurden die Wasserrohre abgesperrt, bevor die Wrackteile von Apollo-N dort eingelagert wurden.

Die Trümmer wurden von NASA-Kameramännern gründlich dokumentiert. Die ganze Operation lief unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ab, wobei die Wrackteile rund um die Uhr bewacht wurden, um morbide Souvenirjäger abzuschrecken.

>Wir haben die Komponenten in der Kammer systematisch geordnet<, sagte Aaron Raab mir. >Wir haben die Baugruppen nach Funktion und Lagererfordernissen sortiert. Zunächst haben wir die größeren Komponenten eingelagert. Alles, von dem wir glaubten, daß es später noch gebraucht würde, haben wir in einem leicht zugänglichen Bereich deponiert. Die Mitarbeiter der Qualitätskontrolle von Cape Canaveral haben alles in offiziellen Logbüchern verzeichnet. So kennen wir den genauen Lagerort jedes Teils.<

Jeden Besucher der Gruft wird wohl ein mulmiges Gefühl beschleichen, doch stellt das Inventar einen Fundus dar, auf den Wissenschaftler jederzeit zurückgreifen können. Allerdings ist laut Aussage von Raab nicht geplant, die Kammern in regelmäßigen Abständen zu öffnen, um den Zustand der Wrackteile zu ermitteln.

Heute war ich dabei, wie Aaron Raab die letzten Bauteile der Kommandokapsel am dafür vorgesehenen Ort niedergelegt hat. Dann wurde ein zehn Tonnen schwerer Betondeckel mit

Stahlrohren gesichert, die anschließend über der Gruft verschweißt wurden.

Ein Jahr nach der Havarie hat Apollo-N endlich die letzte Ruhestätte gefunden.

Januar 1982 Washington, DC

Anfangs hatte Bert Seger sich noch für den neuen Posten in Washington begeistert. Schließlich war er zum Inspektor der NASA befördert worden und erwartete, in seiner Eigenschaft als Führungskraft im Büro für Bemannte Raumfahrt auch ein Wörtchen mitzureden. Als er indes die neuen Organigramme studierte und sah, daß er sich fernab der Berichtswege der Hauptakteure wie Joe Muldoon befand, begriff er, daß man ihn aufs Abstellgleis geschoben hatte. Er hatte Sinekure, war weggelobt worden, damit er bei den Apollo-N-Untersuchungen nicht im Weg war.

Er fühlte sich einfach nicht wohl im Hauptquartier. Er hatte ein paar Aufträge und führte auch ein paar Projekte durch, die zwar den Tag ausfüllten, aber nicht ihn selbst. Oft saß er stundenlang allein im Büro, las Zeitung und wartete darauf, daß das Telefon klingelte.

Er machte ausgedehnte Spaziergänge durch Washington.

Er fand Lieblingsbänke in den weitläufigen Parkanlagen und schlenderte durch Museen. Die Beschaulichkeit und die Zeitlosigkeit der Museen hatten es ihm angetan.

Die Abende waren nicht besser.

Fay war mit den Jungs in Houston geblieben, und Seger flog jeden Freitag nach Hause. Fay wollte nicht umziehen, weil die Jungs gerade eingeschult worden waren, und Seger akzeptierte das widerstrebend.

Wenn er sich sonntags beziehungsweise montags für den Rückflug nach Washington rüstete, stellte Fay ihm einen kleinen Blumenstrauß zusammen. Jeden Tag steckte er sich ein anderes Blümchen ins Knopfloch, doch am Wochenende waren sie verwelkt, und überhaupt war es nicht dasselbe.

Er hatte einfach zu viel Zeit zum Grübeln.

Immer wieder ließ er jenen Flug Revue passieren - und das, was er in all den Jahren bis zum Start von Apollo-N getan hatte.

Hätte er während des Flugs etwas anders machen sollen; hatte er etwas übersehen, das Jones, Priest und Dana vielleicht gerettet hätte? Und in welchem Maß war er für die Schlamperei und Nachlässigkeit in der langjährigen Entwicklung verantwortlich, die schließlich zur Zerstörung der Nuklearrakete geführt hatte?

Er fand keine Antworten. Im Rückblick fielen ihm tausend Dinge ein, die er hätte anders machen können. Doch hatte es keinen Sinn, sich zu quälen; im nachhinein war man nämlich immer schlauer. Er hatte sein Bestes gegeben, in jedem Abschnitt seiner Laufbahn.

Doch das war auch kein Trost. Es ist in meiner Schicht passiert.

Im Flur des Apartments, das er zur Miete bewohnte, hing ein kleines messinggerahmtes Foto. Es zeigte drei in Raumanzüge gehüllte Astronauten. Für Bert - In Ihren Händen.

Seger verließ die Wohnung nie, ohne einen Blick auf das Foto geworfen und die Inschrift gelesen zu haben.

Er machte ein katholisches Kirchlein ausfindig, das nur ein paar Blocks vom Hauptquartier entfernt war und besuchte es fortan regelmäßig. Er ging drei- bis viermal pro Woche zur

Messe. Das alte Ritual versetzte ihn zurück in die Kindheit und spendete ihm Trost.

Er war betroffen - geradezu schockiert - von der Armut im Umfeld der Kirche. Welch ein Kontrast zum wenige Blocks entfernten NASA-Hauptquartier. Und das in der Hauptstadt der reichsten Nation der Erde.

Allmählich wurde ihm bewußt, daß er sich schon zu lang im Schneckenhaus der NASA verkrochen und das einzige Ziel der Organisation, den Flug zum Mars, geradezu besessen verfolgt hatte. Er hatte Scheuklappen vor den Augen gehabt. Und das galt vielleicht auch für den ganzen Verein.

Er erinnerte sich, wie schockiert er wegen des Aufmarschs der Atomkraftgegner in Cape Canaveral gewesen war.

Die Welt außerhalb des JSC hatte sich weiterentwickelt. Seger hatte das Gefühl, daß der schützende NASA-Kokon zerfiel und er von einem grellen Licht beschienen wurde.

Er ging in die Bibliotheken und las alte Zeitungen durch -Blätter, von denen er damals nur die Sportseite und die Berichte über die NASA gelesen hatte. Bei der Betrachtung der körnigen Mikrofiche-Bildschirme glaubte er in eine lang zurückliegende Zeit einzutauchen. Doch das war die Welt, in der er gelebt hatte, die Geschichte seines Landes.

Seger kam es so vor, als ob die Vereinigten Staaten auseinanderfielen.

Das Land steckte in einer tiefen Rezession. Reagan verbreitete eine Art simplizistischen Optimismus. Seger hatte indes den Eindruck, daß die Kluft in der Gesellschaft immer breiter wurde. Amerika spaltete sich: diejenigen, die ohnehin schon im Überfluß lebten, rafften in blinder Gier immer mehr Geld zusammen, und die Armen - vor allem die Farbigen in den Innenstädten - gerieten in einen Strudel aus Drogen, Kriminalität, Obdachlosigkeit und fehlender Ausbildung.

Und dann sah Seger, daß Reagan auf der Talsohle der Rezession die Rüstungsausgaben massiv erhöhte. Und dazu gehörten auch Mittel für Atomwaffen. Im nächsten Jahr sollten Marschflugkörper in Mitteleuropa stationiert werden, obwohl sich in diesen Ländern starker Protest regte. Und hier hatte es noch stärkeren Protest gegeben, las er.

Die Menschen hatten wieder Angst. Ein Vertreter des Verteidigungsministeriums hatte die Bevölkerung auf die Schutzfunktion eines Bunkers im Garten hingewiesen, wenn die Bombe platzte. Man muß nur Klappspaten an die Leute ausgeben, und dann werden sie das schon schaffen.

Seger ging bis zum Störfall im Atomkraftwerk von Three Mile Island zurück. Angesichts der - administrativen und technischen - Parallelen zwischen diesem Desaster und dem Zwischenfall mit Apollo-N lief es ihm kalt den Rücken hinunter.

Nachdem er solcherart seinen geistigen Horizont erweitert hatte, empfand er die Berichterstattung über die NASA auch als besorgniserregend. Die Äußerungen der Journalisten zeugten von Skepsis, Zorn, Verachtung und Ressentiments. Er erinnerte sich, daß Eisenhower vor einer weiteren Zunahme der militärischen und wirtschaftlichen Macht gewarnt - und sich damit gegen die Fortsetzung des Raumfahrtprogramms ausgesprochen - hatte, weil eine Technokrate dem Geist des individualistischen Amerika zuwiderlief. Wollte man der Nation diese Entwicklung aufzwingen, wäre das Scheitern schon vorprogrammiert. Dennoch war Kennedy dieses Risiko eingegangen. Und Seger hatte den Eindruck, daß das Land nun den Preis dafür zahlte.

Das Weltraumprogramm war, wie ihm nun bewußt wurde, die Wurzel allen Übels. Welchen Sinn hatte es überhaupt? Die viel beschworene Übertragung von Innovationen auf andere Bereiche war Makulatur, weil besagte Innovationen früher oder später sowieso erfolgt wären. Allmählich begriff er, daß die NASA nur aus dem Grund zum Mars fliegen wollte, um ihre Existenz zu rechtfertigen und die Personalstärke beizubehalten, die nach der Einstellung der Mondflüge nämlich viel zu hoch war.

Allerdings wäre die Verwendung des NASA-Etats für >irdische< Projekte auch sinnlos gewesen. Seger war sicher, daß das Geld irgendwo versickert wäre, ohne daß es einen konkreten Nutzen gestiftet hätte. Doch darum ging es auch gar nicht. Das Raumfahrtprogramm glich einer wuchernden Pflanze, die ihre gesamte Energie in eine marsrote Blüte steckte, während die Gesellschaft, in der sie verwurzelt war, vermoderte.

Das war einfach unanständig. Genauso wie das ehrgeizige zivile Nuklearprogramm und die Aufrüstung.

Nun war die Mars-Mission in Segers Augen fast schon Blasphemie.

Er spürte eine neue Klarheit der Gedanken, während er sich mit diesen Ideen befaßte. Eine neue Entschlossenheit.

Er wußte natürlich, daß das eine Auswirkung des Apollo-N-Traumas war. Dieses einschneidende Erlebnis würde ihn wohl für den Rest seines Lebens prägen. Vielleicht befand er sich sogar in einem leichten Schockzustand. Doch das war egal. An der Wahrheit gab es nichts zu deuteln, wie auch immer sie sich manifestierte, und er hatte nun das Gefühl, die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten. Zum erstenmal in seinem Berufsleben sah er das Weltraumprogramm aus der ungetrübten Perspektive eines Außenstehenden.

Diese neue Wahrnehmung empfand er als großen Trost.

Als er das nächstemal die Messe besuchte, fragte er den Priester, ob er die Predigt halten dürfe.

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 313/11:33:22

313/11:33:22CDR . Ich für mein Teil möchte diese Fernsehübertragung nutzen, um unsere Dankbarkeit gegenüber all jenen zum Ausdruck zu bringen, die uns den Weg bereitet haben. Zunächst einmal waren es die Anstrengungen von geschichtlichen Persönlichkeiten, von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, deren Leistungen es uns nun ermöglichen, einen Vorstoß in die Tiefen des Sonnensystems zu wagen. Dann danken wir dem amerikanischen Volk, das den Willen bekundet hat, dieses große Forschungsabenteuer fortzusetzen. Weiterhin danken wir vier Regierungen und Kongressen für den Mut, den Willen des Volkes in die Praxis umzusetzen. Es entspricht sicher der Wahrheit, wenn ich sage, daß Amerika nach den Mondlandungen fast eine Abkehr von der Raumfahrt vollzogen hätte. Politischer Mut und Weitsicht waren erforderlich, um uns dorthin zu bringen, wo wir heute stehen. Und wir danken der NASA und den Firmen, die das Raumschiff gebaut haben: die Saturn-Raketen, das

Missionsmodul, die Apollo und das MEM. Unser Flug zum Mars mag Ihnen wie ein gemütlicher Ausflug erscheinen. Ich möchte Ihnen versichern, daß das

Gegenteil der Fall ist. Die Saturn VB-Trägerrakete, die uns in die Umlaufbahn brachte, ist ein überaus kompliziertes Stück Maschinenbau. Jedes Teil hat perfekt funktioniert. Dieser Schalter, auf dem meine Hand liegt - ich hoffe, Sie sehen ihn -, hat allein auf dieser Schalttafel über dreihundert Gegenstücke, und in der Kommandokapsel und im MEM gibt es noch viel mehr. Dann gibt es Myriaden Unterbrecher, Hebel, Regelstäbe und sonstige Bedienelemente. Die MS-II, die große Raketenstufe am hinteren Ende der Ares-Mehrstufenrakete, hat bisher tadellos funktioniert; und das muß auch so bleiben, denn sonst kämen wir nicht mehr zur Erde zurück. Wir hatten bisher volles Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Ausrüstung, und wir vertrauen auch weiterhin darauf, daß die Ausrüstung sich bewährt. Doch das ist nur möglich, weil viele Menschen daran mitgearbeitet haben: die amerikanischen Männer und Frauen, die diese Maschinen in den Fabriken montiert haben. Die Mitarbeiter der Qualitätssicherung, die die Montage und die Erprobung nach der Montage mit äußerster Sorgfalt kontrolliert haben. Die Astronauten, die vor uns ins All geflogen sind und die Ares-Baugruppen im Orbit

zusammengebaut haben. Und das Personal im Lyndon B. Johnson-

Raumfahrtzentrum, welches das Management übernommen, die Mission geplant, die Flüge überwacht und die Besatzungen ausgebildet hat. Diese Operation hat Ähnlichkeit mit einer Nachrichtensendung im Fernsehen: auf dem Bildschirm sind nur wir drei zu sehen, doch hinter den Kulissen stehen noch Tausende weitere -Hunderttausende. Und jeder einzelne von ihnen hat mit vollem Einsatz gearbeitet.

313/11:35:10 MMP [UNHÖRBAR]

313/11:35:12 CDR Und jeder einzelne von ihnen hat mit vollem Einsatz gearbeitet. Diesen Menschen gilt unser besonderer Dank, und auch allen Menschen, die uns heute nacht sehen und hören. Und wir gedenken den Besatzungen, den Astronauten, die im Verlauf des Raumfahrtprogramms ihr Leben gelassen haben. In dieses Gedenken schließe ich sowohl Russen als auch Amerikaner ein. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich um jeden Toten trauere und daß dieser Preis zu hoch war. Aber durch ihr Opfer haben diese tapferen Männer und Frauen diese Mission erst ermöglicht. Gott segne Sie. Und nun wird Ralph Ihnen etwas zeigen: die Markierung, die wir auf der Oberfläche des Mars zurücklassen wollen. Ralph?

313/11:35:45 MMP Da ist sie. Ich werde sie in die Kamera halten. Ich hoffe, Sie sehen sie. Wenn ich sie vielleicht etwas drehe. Für alle, die sie nicht sehen, werde ich die Markierung nun beschreiben. Es handelt sich um eine Diamantscheibe ähnlich einer Münze. Sie hat einen Durchmesser von etwa einem Zoll und eine Stärke von ungefähr drei Millimetern. Es ist ein EinkristallDiamant. Mit einem Excimer-Laser wurde eine Botschaft in den Diamanten gefräst. So entstanden eine Graphitschicht und eine darüberliegende Diamantschicht. Die Markierung besteht aus Diamant, weil er der dauerhafteste Werkstoff ist, den wir kennen. Er wird das MEM und andere Geräte um Millionen Jahre überdauern. Wie Sie wissen, ist dies der erste und vorerst auch letzte Flug zum Mars. Aber für Menschen, die vielleicht nach uns zum Mars fliegen, ist die Markierung wie eine Zeitkapsel; und sie ist auch eine Botschaft an zukünftiges Leben auf dem Mars, an intelligente Wesen, die sich eines Tages vielleicht dort entwickeln werden. Die Markierung hat Ähnlichkeit mit einem Mikrofiche. Die Informationen sind so klein, daß ich sie mit bloßem Auge nicht erkenne. Die Markierung enthält Grüße von allen Nationen der Erde, eine Karte des uns bekannten Sonnensystems und Informationen zum biologischen Aufbau des Menschen. Im Diamant

eingeschlossen sind Gesteinsproben von der Erde und vom Mond sowie

menschliches Gewebe. Und darüber

hinaus trägt das Artefakt eine Liste mit den Namen aller vierhunderttausend Amerikaner, die am Projekt Ares

mitgearbeitet haben. Wir halten es für angemessen, einen solchen Gegenstand als Andenken an unsere Mission auf dem Mars zurückzulassen.

313/11:37:07 CDR In Ordnung. Natalie, ich glaube, Sie sollen die Leute nun über die Rufzeichen informieren, die wir für den Rest der Mission verwenden werden.

313/11:37:11 MSP Vielen Dank. Ich weiß, daß der WeltraumJargon die Leute manchmal arg verwirrt.

313/11:37:15 CDR Heißes Mikro.

313/11:37:17 MSP Das verwirrt die Leute. Und mich schon ganz und gar. Nehmen wir zum Beispiel den Raumfahrer->Kalender<. Wir zählen die Tage von dem Moment an, als wir mit der Saturn VB-Rakete vom Jacqueline B. Kennedy-Raumfahrtzentrum gestartet sind. Deshalb haben wir heute MET 313 Tage - das heißt, die Zeitdauer der Mission beträgt dreihundertdreizehn Tage. Wir haben die Erde vor mehr als dreihundert Tagen verlassen. Für Sie hingegen ist wie gehabt Dienstag, der 28.

Januar 1986. Und die Sache mit den Rufzeichen ist noch so ein Problem. Wie kommt’s, daß Raumschiffe manchmal Rufzeichen haben - Namen wie Eagle und Columbia bei Apollo 11 -, und daß Houston uns dann wieder nur >Ares< ruft? Die Antwort ist die, daß wir mit Rufzeichen arbeiten, wenn mehrere Raumschiffe an einem Flug beteiligt sind und im Funkverkehr auseinandergehalten werden müssen. Und das gilt auch für diesen Flug, wenn wir in ein paar Monaten den Mars erreichen und im MEM dort landen. Anders als bei den ApolloMissionen haben wir die Schiffe noch nicht benannt, weil bisher keine Veranlassung dazu bestand. In unserer Eigenschaft als Besatzung sagten wir uns, auf dem langen Flug zum Mars hätten wir noch genug Zeit, uns Namen auszusuchen.

313/11:38:18 MMP Genau. Das tun wir, anstatt uns Videos reinzuziehen.

313/11:38:25 CDR [UNHÖRBAR]

313/11:38:28 MSP Heute werde ich Ihnen also sagen, welche Namen wir ausgesucht haben. Ich weiß, daß viele Schulkinder uns zuhören und hoffe, das wird den Geschichtsunterricht etwas lebendiger gestalten. Ihr sollt erkennen, daß die Erforschung des Mars im Grunde eine Fortsetzung der großen

Forschungsreisen ist, von denen in den Schulbüchern berichtet wird. Phil, wenn Sie.

313/11:38:46 CDR Sicher. Wir haben beschlossen, unser Raumschiff nach berühmten Segelschiffen von Entdeckern zu benennen. äh. um daran anzuknüpfen, was Natalie gerade gesagt hat. Und ich freue mich besonders über den Namen, den wir dem Missionsmodul - dort werden wir während der Reise leben - gegeben haben. Im Missionsmodul hatten wir nämlich die Venus erforscht, während wir an diesem Planeten vorbeiflogen. Wir haben beschlossen, es nach dem Schiff zu benennen, mit dem Captain James Cook im Jahre 1769 nach Tahiti gesegelt ist, um den Venusdurchgang zu beobachten: Endeavour. - Ralph.

313/11:39:17 MMP Genau. Dann hätten wir noch die Apollo, mit der wir den Rückflug zur Erde antreten werden. Sie haben wir auf den Namen Discovery getauft. Diesen Namen trugen gleich zwei Schiffe: das Schiff von Henry Hudson, der im Jahre 1610 eine Nordwest-Passage zwischen dem Atlantik und dem Pazifik suchte, und das Schiff, mit dem Cook Hawaii, Alaska und die Westküste von Kanada erkundete. Und nun zurück zu Natalie.

313/11:40:00 MSP Und nun zum MEM, dem Exkursionsmodul. Es wird das erste Raumschiff sein, mit dem Menschen auf der Oberfläche des Mars landen. Wir benennen es nach einem berühmten Schiff der amerikanischen Kriegsmarine, das in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine lange und erfolgreiche Forschungsreise im Atlantischen und Pazifischen Ozean unternommen hat. 313/11:40:19 CDR Ja.

313/11:40:21 MSP Wir taufen das MEM auf den Namen Challenger.

Auszug aus der technischen Luft-Boden-Stimmentranskription von Ares, NASA, Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Januar 1986, pp. 1367ff. Akte Ares, Geschichtliches Forschungsamt der NASA, NASA-Hauptquartier, Washington, DC.

Montag, 11. Januar 1982

George C. Marshall-Raumfahrtzentrum,

Huntsville, Alabama

Der Konferenzraum war fast vollbesetzt, doch in der ersten Reihe war ein Stuhl für Udet reserviert worden. Er nahm Platz und schlug die Beine übereinander.

Gregory Dana stand auf dem Podium und rückte die Brille mit den dicken Gläsern zurecht. Gleich würde er sprechen. Es

hatte Udet nicht überrascht, daß Dana zum Leiter des Untersuchungsausschusses ernannt worden war.

Ein Bild wurde auf eine Leinwand hinter Dana projiziert. Es zeigte die Saturn VB ein paar Minuten vor dem Start auf der Rampe 39B in Cape Canaveral. Die wuchtige MS-IC, die erste Stufe, schimmerte weiß im Sonnenlicht. Aus dem Gerät wuchsen breite Heckflossen, und die vier Feststoff-Booster klebten an der Stufe. Das Gebilde sah aus wie der Säulenstumpf eines antiken Tempels. Die zweite Stufe hockte als kompakter, elfenbeinfarbener Zylinder auf der MS-IC, und auf der Spitze thronte eine silbergraue, unbemannte ApolloKapsel aus Grobblech.

Schläuche führten vom großen, komplexen Startturm zur Rakete und versorgten beide Flüssigkeits-Raketenstufen mit Flüssigsauerstoff und Treibstoff. Anschließend wurden die zweite Stufe mit flüssigem Wasserstoff und die erste Stufe mit RP-1 - Kerosin - betankt. Dampffahnen wehten um den oberen Abschnitt der Rakete. Als sie sich schließlich auflösten, erkannte Udet das Glitzern von Eis auf dem Metall und der Isolierung.

Ein stahlblauer Himmel hing über der Rakete und der hitzeflimmernden Startrampe.

Udet wurde bei diesem Anblick warm ums Herz. Obwohl er schon viele Raketen gesehen hatte, betrachtete er solche großartigen Fluggeräte - diese heroischen Maschinen -, die von Menschenhand aus den Rohstoffen der Erde geformt worden waren und zu anderen Planeten geschossen wurden, noch immer mit kindlichem Staunen.

Zumal in diesem Fall das Gefühl der Ehrfurcht dadurch gesteigert wurde, weil er wußte, was der Stufe AS-5B04 in wenigen Sekunden widerfahren würde.

Udet schaute sich um. Joe Muldoon saß neben Dana auf der Bühne. Er leitete die Konferenz. Viele Führungskräfte der

NASA schienen anwesend zu sein, Delegierte aus Marshall, aus Houston und dem NASA-Hauptquartier, darunter Berater von Tim Josephson. Außerdem waren die Unternehmen stark vertreten, deren Systemkomponenten heute einer kritischen Beurteilung unterzogen wurden.

Auf der Tagesordnung stand eine Zusammenfassung des vorläufigen internen Berichts der NASA, der sich mit den Problemen beschäftigte, die vor einem Vierteljahr beim Start der Saturn VB-Stufe AS-5B04 aufgetreten waren. Die endgültige Version des Berichts hing davon ab, wie das Publikum und die NASA-Hierarchie auf den Inhalt der Kurzfassung reagierte.

Es herrschte eine Atmosphäre der Anspannung, Besorgnis und Resignation.

So kurz nach der Apollo-N-Tragödie bedeutete ein neues Desaster, der erstmalige Verlust einer Saturn, für die NASA selbst eine Katastrophe. Udet hörte das Gemurmel. Wem, zum Teufel, sollen wir es denn diesmal in die Schuhe schieben?

Dana begann mit seiner dünnen, brüchigen Stimme zu sprechen. Der ohnehin schon wie ein Ladestock dasitzende Udet versteifte sich noch mehr.

»Sechs komma sechs Sekunden vor dem Start wurden die mit Kerosin betriebenen F-IA-Haupttrieb werke der Saturn sequentiell gezündet und auf Vollschub hochgefahren, während die gesamte Struktur noch fest mit der Startrampe verbunden war. Der Schub der Haupttriebwerke drückte die SaturnBaugruppe gegen den Widerstand der Haltebolzen, mit denen sie an der Startrampe verankert war, nach oben. Als die Haltebolzen brachen, wurde der >Dehnung< der Rakete überhaupt kein Widerstand mehr entgegengesetzt.«

Auf der Leinwand hinter Dana wallten Wolken aus Rauch und Dampf an der Basis der Saturn-Rakete auf. Dann zündeten die vier Feststoff-Booster, und feurige Lohen schlugen aus den

Triebwerkstrichtern. Die Kamera wurde durch die akustische Energie, die von der Rakete erzeugt wurde, zu Schwingungen angeregt - weil der Film aber keine Tonspur hatte, lief die Startsequenz in gespenstischer Stille ab.

Das Bild erstarrte. Die Rauchwolken blähten sich nicht weiter auf, sondern verwandelten sich in scheinbar massive weißgraue Kuppen, die wie schmutziges Eis wirkten.

Die Gesichter der versammelten Menschen leuchteten im Schein des gefrorenen Raketenlichts.

Ein Zeiger wies auf einen verschwommenen weißen Fleck an der Grundfläche der MS-IC, direkt unter dem >A< der Aufschrift >USA< auf der Hülle des Zusatztriebwerks.

»Null komma sechs acht sieben Sekunden nach dem Start«, sagte Dana, »zeigen die fotografischen Daten das Ausströmen von Dampfschwaden aus der unteren Hülle der MS-IC, direkt oberhalb des Triebwerksverkleidung.« Dana blickte über die Schulter und rümpfte die Nase. »Das ist deutlich zu sehen. Die beiden Kameras auf der Startrampe, die das Leck normalerweise lokalisiert hätten, waren außer Betrieb. Aus Computeranalysen der Filme von anderen Kameras geht aber eindeutig hervor, daß der Dampf an der Stelle der MS-IC ausströmte, wo die Zuleitung vom Sauerstofftank den Treibstofftank verläßt.«

Die MS-IC enthielt zwei große kryogenische Tanks, wobei der Sauerstofftank sich über dem Treibstofftank befand. Mächtige Saugleitungen beförderten den Flüssigsauerstoff durch den Kerosintank in die fünf großen F-IA-Triebwerke an der Basis der Rakete, wo er dann entflammte. Dana wollte damit sagen, daß irgendein Problem an dieser Zuleitung aufgetreten sei.

Der Film lief erneut ab; diesmal in extremer Zeitlupe. Der Rauch wallte mit der Behäbigkeit eines Gletschers um die

Saturn auf. Weiße Pfeile zeigten auf die Dampf Schwaden an der Grundfläche der MS-IC.

»Von null komma acht drei sechs bis zwei komma fünf null eins Sekunden nach dem Start wurden drei weitere Stöße registriert. Die multiplen Stöße in dieser Sequenz traten mit einer Frequenz von vier Hertz auf, was ungefähr der Frequenz der strukturellen Belastungsdynamik und der daraus resultierenden Verformung der Rakete entspricht.«

Diese verdammte >Dehnung

»Sie sehen auch die rautenförmigen Schockwellenfronten im Abgasstrom der F-1A, ein weiteres Symptom für die Resonanz der Mehrstufenrakete. Drei komma drei sieben fünf Sekunden nach dem Start war der Dampf zum letztenmal unterhalb der Booster zu sehen. Dann vermischte er sich mit den Raketenabgasen und der Atmosphäre. Andere Dämpfe in diesem Bereich wurden als schmelzendes Eis von der Basis der MS-IC oder als Raketenabgase identifiziert, die sich in den Schalldämpfungs-Wasserbecken der Startrampe in Dampf verwandelt hatten.«

Nun lief der Film wieder mit normaler Geschwindigkeit ab.

Die Saturn kippte vom Startturm weg und drehte sich wie vorgesehen auf den Rücken. Udet erkannte zwischen den vier gleißenden Trichtern der Feststoff-Booster das fahle, fast unsichtbare Feuer der Kerosin-Sauerstoff-Haupttriebwerke.

»Zu diesem Zeitpunkt«, fuhr Dana fort, »meldete die Telemetrie erstmals eine signifikante Reduzierung des Brennstoffflusses zu den Haupttriebwerken der MS-IC.«

Das Bild erstarrte erneut. Das Publikum geriet durch den abrupten Abbruch des hypnotischen Flusses der Startsequenz in Wallung. Ein Pfeil wies auf die fünf Trichter des Haupttriebwerks.

»Das erste sichtbare Anzeichen für den Schubabfall beim Haupttriebwerk wurde auf einer Vergrößerung des Films achtundfünfzig komma acht acht Sekunden nach dem Start entdeckt. Auf dieser Darstellung ist es als Eintrübung der Abgaswolke des rechten Triebwerkstrichters der F-1A zu erkennen - genau hier.

Auf dem nächsten Bild des von derselben Kamera stammenden Films ist der Schubabfall bereits ohne Vergrößerung zu erkennen.« Der Triebwerkstrichter war dunkel angelaufen, und seine vier Pendants waren auch in Mitleidenschaft gezogen. »Ungefähr zur gleichen Zeit zeigte die Telemetrie eine Differenz zwischen den Drücken in den Brennkammern des Haupttriebwerks. Der Druck in der Kammer rechts außen war am niedrigsten; das war also die Ursache für die Abnahme des Brennstoffdurchflusses.

Zweiundsechzig Sekunden nach dem Start versuchte das Steuersystem die Kräfte zu kompensieren, die durch den uneinheitlichen Schub der Haupttriebwerke verursacht wurden.«

Der Film lief langsam weiter. Die Haupttriebwerke stockten oder erstarben, doch aus den Feststoff-Boostern schlugen unverändert feurige Lohen. Enorme Kräfte wirkten auf die Mehrstufenrakete ein, während die Booster den Ausfall der Haupttriebwerke zu kompensieren versuchten.

Eine Lageänderung der Mehrstufenrakete war für das bloße Auge zunächst nicht zu erkennen, doch Udet wußte, daß die Saturn zu diesem Zeitpunkt schon um ihr Leben kämpfte.

Dana räusperte sich und rückte die Brille zurecht. Die Bewegungen waren sparsam und präzise; fast schien er um Entschuldigung zu heischen. »Die Analysen haben ergeben, daß die primäre Ursache für den Defekt zu diesem Zeitpunkt bei den Speiseventilen lag, die in die Unterseite des Sauerstofftanks der MS-IC eingelassen sind. Durch sie fließt der Sauerstoff in die Haupttriebwerke. Tests haben gezeigt, daß unter bestimmten Bedingungen die Ventil-Konstruktion ins >Flattern< gerät und den Sauerstofffluß absperrt, was einen Totalausfall aller F-IA-Triebwerke zur Folge hat. Wie wir es hier beobachtet haben. Die Frequenz des potentiellen Flatterns liegt im Bereich der Frequenz der Start->Dehnung< und der Schwingungen, die durch Instabilitäten beim Brennen der Feststoff-Booster auftreten.«

Udet massierte sich die Nasenwurzel und versuchte die Gereiztheit zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. Das wissen wir schon. Meine Arbeitsgruppe in Marshall und die Auftragnehmer haben diese Primärursache binnen einer Stunde nach dem Defekt unabhängig voneinander ermittelt. Aufgrund der >Dehnung< hatte die Saturn vom Start weg mit drei bis vier Hertz vibriert. Dann waren bei einem der Booster Längsschwingungen mit etwa der gleichen Frequenz aufgetreten. Solche Oszillationen waren zuvor auch schon beobachtet worden. Diesmal hatten die Schwingungen jedoch fast gleichzeitig eingesetzt. Deshalb induzierte diese Frequenz, wie sich später herausstellte, stehende Wellen im Ventilsystem, das den Flüssigsauerstoff zu den Haupttriebwerken beförderte.

Das wissen wir längst, und wir arbeiten bereits an der Lösung des Problems. Ist das alles, was Sie uns zu sagen haben, Doktor Dana?

Doch nun legte Dana erst richtig los und sagte, daß schon ein paar Tests, die während der Konstruktionsphase der MS-IC erfolgt waren, die Möglichkeit einer Resonanzkatastrophe aufgezeigt hätten. Dennoch sei das bei der Konstruktion der Stufe nicht berücksichtigt worden. Er wies sogar auf die Probleme hin, die beim Flug der Apollo-N aufgetreten waren, als die Rakete wegen ähnlicher Resonanzeffekte ins Taumeln geraten war.

Die Bezugnahme auf die Apollo-N-Havarie machte Udet klar, in welche Richtung der Bericht zielte.

Das war lächerlich; jeder, der sich der Komplexität eines Raumschiffs wie der Saturn - mit Millionen beweglicher Teile - bewußt war, wußte auch, daß es unmöglich war, bei der Konstruktion jedes vorstellbare Problem auszuschließen. Dazu hatte man weder die Zeit noch die Ressourcen; der realistische Ansatz bestand darin, die Risiken abzuwägen und einen Kompromiß zu finden zwischen dem, was vertretbar war und was geändert werden mußte. Wenn man auf die perfekte Rakete warten wollte, konnte man ewig warten!

Udet war zum Umfallen müde. Er war bereits achtundsechzig Jahre alt. Und manchmal - vor allem nach von Brauns Tod -fragte er sich, ob der Kampf die Mühe überhaupt noch wert war, ob er noch die Kraft hatte, die Amerikaner von der Notwendigkeit der großen Raketen zu überzeugen, die er für sie baute.

Udet war in Wernher von Brauns Fußtapfen getreten, als dieser vor einem Jahrzehnt in den Ruhestand gegangen war. Er hatte sogar Wernhers Büro im neunten Stock der MarshallZentrale geerbt. Dennoch gab Udet sich nicht der Illusion hin, er sei ein gleichwertiger Ersatz für Wernher. Die Amerikaner hatten von Braun regelrecht vergöttert: er rief bei ihnen denselben Reflex hervor, sagte Udet sich gehässig, wie Fernsehprediger und Autohändler. Zumal es den Anschein hatte, als ob seine Vergangenheit - eine mögliche Verstrickung in Kriegsverbrechen während der Zeit in Peenemünde -Wernher nicht tangierte.

Wie dem auch sei, Wernher war nun tot. Und Udet befand sich in einer ganz anderen Situation. Er wußte, daß er die Aura des typischen preußischen Aristokraten ausstrahlte, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, das abzustreifen. Die Amerikaner vertrauten Udet nicht und unterstellten ihm ständig Übles, was sie bei von Braun nie getan hatten.

Und er hatte mitansehen müssen, wie Gregory Dana in der Hierarchie der NASA aufgestiegen war. Der Umstand, daß er der Vater des verlorenen Helden James war und daß sein anfangs geschmähter Missions-Modus nun als Grundlage für das neue Mars-Programm diente, hatte Dana fast in den Rang eines Volkshelden erhoben.

Und nun verriß Dana mit leidenschaftsloser Stimme Udets Lebenswerk, wie ein gnadenloser Staatsanwalt.

Udets dunkler, gnomenhafter Zwilling.

»Etwa achtundsiebzig Sekunden nach dem Start entwickelte sich eine Dynamik, die dann in kürzester Zeit zum Abbruch des Flugs führte. Die telemetrischen Daten, welche durch die visuellen Beweise der Fotos gestützt werden, zeigen mannigfaltige Aktionen der Flugsysteme, während die Saturn gegen die Kräfte der Zerstörung ankämpfte.

Nach achtundsiebzig komma neun Sekunden brach die untere Strebe zwischen Booster Vier und der MS-IC. Vielleicht wurde sie auch abgeschert. Dieser Vorgang wurde offenbar durch die enorme Scherbelastung verursacht, der die Rakete nach dem Ausfall der Haupttriebwerke unterlag. Daraufhin schaukelte Booster Vier um die obere Befestigungsstrebe. Aus diesen Bewegungen resultierten die abweichenden Gier- und Nick-Werte der übrigen drei Zusatztriebwerke.

Nach neunundsiebzig komma eins vier Sekunden wurde ein um den gesamten Umfang der MS-IC verlaufendes Muster aus weißem Dampf beobachtet. Dies markierte das strukturelle Versagen des Treibstofftanks der MS-IC, das in der Abtrennung der unteren Kuppel des Tanks kulminierte. Das Ausströmen großer Mengen RP-1 aus dem Tank erzeugte einen plötzlichen Vorwärtsschub von etwa fünfzehnhundert Tonnen, wodurch der Treibstofftank durch den Triebwerksmantel in

Richtung der S-II geschoben wurde. Ungefähr zur selben Zeit drang der schlenkernde Booster Vier in den unteren Teil des Flüssigsauerstofftanks der MS-IC ein. Diese Struktur versagte nach achtundsiebzig komma eins drei sieben Sekunden, was durch den in diesem Abschnitt ausströmenden weißen Dampf ersichtlich wird.«

Jedes einzelne der auf der Leinwand erscheinenden Bilder wurde von Dana trocken und analytisch kommentiert. Die Aufnahmen waren durch die Entfernung und den ausströmenden Dampf unscharf; dennoch war deutlich zu sehen, wie der halb losgerissene Booster sich in die Flanke der ersten Stufe bohrte.

Dann füllte gleißende Helligkeit das Bild aus.

»Innerhalb weniger Millisekunden entzündete der aus der Unterseite des geborstenen Tanks strömende Treibstoff sich mit explosiver Wucht. In diesem Punkt der Trajektorie war die mit Mach eins komma neun zwei und in einer Höhe von sechsundvierzigtausend Fuß fliegende Saturn bereits in einen Feuerball gehüllt. Das Reaktionssteuerungs-System des Apollo-Raumschiffs fiel ebenfalls aus, und es kam zu einer hypergolischen Verbrennung des Treibstoffs. Die rötlichbraune Farbe dieser Verbrennung ist am Rand des Feuerballs sichtbar. In diesem Punkt explodierte auch die zweite Stufe und fachte den Feuerball mit weiteren fünfhundert Tonnen Brennstoff und Sauerstoff an. Die einer starken dynamischen Belastung ausgesetzte Rakete war mittlerweile in mehrere große Sektionen zerbrochen, die aus dem Feuerball hervorstießen. Aus dem Film geht hervor, daß es sich bei diesen Sektionen um die Instrumentenkapsel mit einer Vielzahl durchtrennter Kabel handelt sowie um das Haupttriebwerk der ersten Stufe, aus dem noch immer Dampf austritt.«

Die oberen Sektionen der Saturn explodierten nicht. Sie hatten sich bereits von der zerbrechenden Rakete gelöst und wirbelten durch die Luft, die bei dieser Geschwindigkeit so hart wie Stein war. Die Luft schlug die Saturn gleichsam kurz und klein.

Nun erschien auf der Leinwand das Bild, das schon seit Tagen über die Mattscheiben flimmerte: ein orangefarbener Feuerball hing über Florida, und die vier Feststoff-Booster jagten auf erratischen Bahnen durch den Himmel, wobei sie weiße Rauchwolken wie erstarrte Blitze hinter sich herzogen.

Dana war aber noch nicht fertig: »Hundertzehn Sekunden nach dem Start veranlaßte der Sicherheitsbeauftragte die Zerstörung der Booster. Wäre dies ein bemannter Flug gewesen, hätte der Rettungsturm die Apollo-Kommandokapsel nach dem Ausfall der Haupttriebwerke von der Rakete abtrennen müssen. Hätte das Rettungssystem jedoch versagt -wofür ein paar Systemkomponenten sprechen, die später aus dem Atlantik geborgen wurden -, wäre die Kapsel dem Feuerball möglicherweise unbeschadet entkommen. Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß eine Explosion in der Kapsel selbst stattfindet oder daß sie durch Hitze und Feuer signifikant in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn die Kapsel beschädigt würde, dann wohl eher durch die hohen Kräfte beim Aufprall auf das Wasser als durch die Explosion selbst.«

Nun wurden zum erstenmal Unmutsäußerungen im Publikum laut.

Reflexartig erhob Udet sich.

»Ich verwahre mich gegen den Ton der letzten Äußerungen. Es handelt sich um reine Spekulationen. Die AS-5B04 war Gott sei Dank nicht bemannt, und wenn sie es doch gewesen wäre, hätten wir keinen Grund zu der Annahme, daß das Rettungssystem versagen würde, zumal ich keinen Sinn darin sehe, derart detailliert und in aller Öffentlichkeit Hypothesen über das Schicksal der Besatzung eines bemannten Raumflugs anzustellen.« Die Lichtreflexe des orangefarbenen Feuerballs -dessen Standbild noch immer auf der Leinwand zu sehen war -spielten über seine Brille und seine Wangen.

»Soll ich darauf antworten, Gregory?« fragte Joe Muldoon in seiner Eigenschaft als >Moderator<.

Dana bekundete mit einem Achselzucken seine Zustimmung.

Muldoon wandte sich dem Publikum zu, wobei die Konturen des hageren Gesichts sich im Schein der Lampe abzeichneten. »Hans, ich glaube nicht, daß wir in der Lage sind, diese Sache zu beschönigen. Wir müssen sehr wohl die Weiterungen für das bemannte Raumfahrtprogramm erörtern. Und wir müssen uns der Tatsache stellen, daß es schon bei früheren VB-Tests Anzeichen für destabilisierende Schwingungen beim Brennen der Feststoff-Booster gegeben hat.«

»Der Verlust der AS-5B04 wurde nicht durch den Defekt eines Feststoff-Boosters verursacht!« schrie Udet.

»Dennoch sind Probleme bei den Boostern aufgetreten, und sie haben zum Verlust der Rakete beigetragen«, sagte Muldoon. »Das haben wir doch gesehen. Überhaupt habe ich den Eindruck, daß die ganze Konstruktion schon von der Konzeption her riskanter ist als die alten FlüssigbrennstoffKonfigurationen. Bedenken Sie, daß sogar Saturn V-Starts erfolgreich waren, bei denen wir ganze Triebwerke verloren hatten. Wenn man aber auf einem dieser verdammten FeststoffBooster reitet, stellt sich nicht die Frage, ob die Post abgeht, sondern nur, in welche Richtung. Niemand von uns will den Einsatz der modernisierten Saturns einstellen; es geht nur darum, daß wir die Konsequenzen der Kompromisse, die wir bei der Konstruktion eingegangen sind, offen diskutieren. Wenn wir nicht mit offenen Karten spielen, wird der Kongreß uns nämlich das Fell über die Ohren ziehen.«

Muldoon ließ den Blick über die versammelten Delegierten schweifen. »Ihr wißt, in welcher Lage wir uns befinden, Leute; das Haushaltsdefizit ist in diesem Jahr so hoch, daß jedes

Programm - einschließlich Ares - Gefahr läuft, vom Haushaltsausschuß gestrichen zu werden. Sie mögen nun einwenden, es sei ungerecht, daß man bezüglich unserer Fehler aus einer Mücke einen Elefanten macht, während andere Behörden noch viel größere Böcke schießen und nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden -, doch unsere Behörde steht nun einmal im Rampenlicht. Sie müssen das als Tatsache akzeptieren. Also müssen wir uns eine blütenweiße Weste bewahren. Fragen könnt ihr zum Schluß stellen, Leute; ich will das hier erst noch zu Ende bringen.«

Udet, der noch immer stand, wagte keine Widerrede. Kompromisse. Ihr redet von Kompromissen. Das Programm ist doch ein einziger Kompromiß. Für die Saturn VB haben wir von Anfang an nur die Hälfte der beantragten Mittel bekommen. Die Hälfte! Ohne Kompromisse würdet ihr jetzt nicht ins All fliegen. Und dann lamentiert ihr über die Konsequenzen, über den Verlust einer einzigen Rakete!

Er hielt das nicht mehr aus. Entschuldigungen murmelnd, drängte er sich an den neben ihm sitzenden Leuten vorbei, bis er den Gang erreicht hatte. Dann stakste er in den hinteren Bereich des Raums.

Mein Gott. Sind wir wirklich schon auf das Niveau dümmlicher Schuldzuweisungen gesunken? Ich verlange nur -und mehr habe ich nie verlangt -, daß ihr mir das Werkzeug gebt, das ich brauche, um meine Arbeit zu erledigen. Um den Traum zu verwirklichen. Auch mit der Hälfte der Ressourcen werde ich noch Lösungen für euch finden. Aber für Wunder bin ich nicht zuständig; ich vermag keine hundertprozentige Sicherheit und Zuverlässigkeit zu garantieren. Wann werdet ihr das endlich begreifen?

Es schien ein weiter Weg bis zur Tür. Alle wichen seinem Blick aus.

Danas gleichmütige Präsenz auf dem Podium war wie eine schwärende Wunde in Udets Seite.

Samstag, 5. Juni 1982 Newport Beach

Die Ereignisse trieben dem Höhepunkt entgegen.

Es war ihr Hochzeitstag. Obwohl JK ihr Blumen und ein Kärtchen mitbringen würde und ihr schon am Morgen einen Kuß auf die Wange gegeben hatte, wußte Jennine aus Erfahrung, daß es seine Sekretärin Bella war, die solche Ereignisse in seinem Terminkalender vermerkte und auch die Karte und den übrigen Kram besorgte. JK selbst verschwendete keinen Gedanken daran.

An diesem Abend wollten sie ausgehen. Das machten sie vielleicht zweimal im Jahr. Doch JK kam nicht nach Hause. Das war nicht ungewöhnlich. Als Jennine ihn im Büro anrief, war Bella am Apparat. Sie setzte ihr höflich auseinander, daß er nicht in der Firma war. Im Klartext hieß das: er ist mit den Jungs einen bechern gegangen. Und so war es dann auch. JK kam nach elf stockbesoffen nach Hause und parkte den Wagen undiszipliniert in der Einfahrt.

»Du solltest in diesem Zustand nicht mehr fahren«, sagte Jennine. Sie haßte den nörgelnden Tonfall, der sich bei ihr in solchen Momenten immer einstellte.

»O Gott, das Essen. Schatz, es tut mir leid«, lallte JK. »Ich hab’s glatt vergessen. Wir holen’s morgen nach. In Ordnung?«

Nein, du Idiot. Es ist nicht in Ordnung. Überhaupt habe ich das Gefühl, daß es nie in Ordnung war.

Sie ging zu Bett.

Nach einer Stunde legte er sich zu ihr. Er streichelte ihr zärtlich das Gesicht, fuhr übers Nachthemd und legte ihr die Hand auf die Brust.

Doch sie wandte sich ab. Sie war viel zu angespannt und verärgert. Nicht nur, daß sein Atem nach Schnaps stank; er roch aus jeder Pore nach Alkohol.

Immerhin war er bei ihr. Bei diesem Gedanken beruhigte sie sich und glitt in den Schlaf ab. Immerhin ist er bei mir. Vielleicht gelingt es mir morgen, ihn zu überreden, wenigstens einmal früher nach Hause zu kommen.

Bevor sie einschlief, klingelte das Telefon. JK reagierte sofort. »Lee.«

Sie hatte die Entwicklung von Columbias MEM-Programm mitverfolgt. Weil JK Arbeit mit nach Hause nahm und dort auch regelmäßig Geschäftsbesprechungen anberaumte - wobei er sie fast nie vorher informierte -, verfolgte sie das Programm gezwungenermaßen mit.

Einmal nahm JK sie nach Boston mit, wo die Firma Avco den Hitzeschild des MEM herstellte. Es war ein faszinierender Ort. Die Beschichtung des Hitzeschilds bestand aus wärmeabsorbierendem Epoxidharz, einer Substanz, welche die Avco-Ingenieure >Avcoat 5026-39< nannten. Eingeschlossen war das Epoxidharz in einem Wabenkern aus Titan, der mit der Unterseite der Kapsel verklebt wurde. Das Epoxidharz wurde mit einer Spritzpistole in die einzelnen Zellen gepumpt. Diese Arbeit mußte von Hand erfolgen, wobei die Techniker insgesamt zweihunderttausend Waben zu befüllen hatten. Falls eine Röntgenuntersuchung eine Luftblase an den Tag brachte, wurde die entsprechende Zelle mit einem Zahnarztbohrer entkernt und mit einer neuen Füllung beschickt.

Jennine beobachtete den Vorgang durch eine Glasscheibe. Die mühselige Handarbeit mutete geradezu mittelalterlich an. Und sie fragte sich, was für ein Gefühl es wohl war, an etwas zu arbeiten - es mit den Fingerspitzen zu berühren und zu formen -, von dem man wußte, daß es eines Tages vielleicht auf dem Mars landete.

Avco würde die Erprobung des Hitzeschilds schrittweise intensivieren: anfangs würde man ihn mit Flammenwerfern bestreichen und zuletzt einem raketengetriebenen Eintritt in die Erdatmosphäre unterziehen.

Daß JK sich die Mühe machte, ihr Einblicke in seine Arbeit zu gewähren, war jedoch die Ausnahme und nicht die Regel. Meistens mußte sie auf ihn verzichten oder stumme Dienerin bei seinen Geschäftsbesprechungen spielen.

Jennine hatte JK im Jahre 1955 geheiratet.

Damals hatte er als Flugzeugingenieur bei Caltech gearbeitet, dem in Pasadena angesiedelten California Institute of Technology.

Die Hochzeit fand in einer katholischen Kirche in der Nähe von Jennines Elternhaus in New Orleans statt. Sie hatte ihre Stelle als Rechtsanwaltsgehilfin in einer großen Kanzlei aufgegeben und war JK tausend Meilen weit gefolgt, um ihm in privater wie beruflicher Hinsicht eine Stütze zu sein. So war das eben üblich im Jahre 1955.

Als Hochzeitsgeschenk spendierten Jennines Eltern ihnen für ein paar Wochen einen Mietwagen. Sie fuhren damit nach Vermont, um den Altweibersommer zu genießen. Immer, wenn es Herbst wurde, dachte sie an diese Flitterwochen zurück.

Nach den Flitterwochen flogen sie in den Westen, und dann fuhr JK mit ihr nach Pasadena, wo er ein kleines Haus gemietet hatte.

Bei der Ankunft warteten schon ein paar von JKs Kollegen auf sie. Zunächst glaubte sie, es handele sich um eine Art

Begrüßungsfeier. Doch weit gefehlt; wie sich herausstellte, war im Windkanal von Caltech eine Panne aufgetreten.

Also hatte JK ihr einen Kuß gegeben, sich ins Labor verzogen und sie mit dem ganzen Gepäck in der Einfahrt stehenlassen. Als JK nach Hause kam, wurde es schon dunkel.

Die Flitterwochen in Vermont lagen nun siebenundzwanzig Jahre zurück, und Jennine und JK waren seitdem nicht mehr zusammen in Urlaub gefahren.

Und dieses verdammte Mars-Programm war das schwierigste Projekt, an dem JK bisher gearbeitet hatte. JK war von Haus aus Techniker und auch ein guter Manager - sagte Jennine sich -, wenn er mit relativ kleinen Gruppen arbeitete und ein überschaubares Projekt leitete. Doch nun hatte er einen Auftrag von nationaler Bedeutung, bei dem es sich noch dazu um das wohl komplexeste Bauprojekt aller Zeiten handelte.

Hinter den ohnehin schon komplexen Arbeitsabläufen bei Columbia standen all die Zulieferer, mit denen Columbia zusammenarbeitete: Honeywell (und nicht Hughes, wie JK genüßlich bemerkt hatte) arbeitete an der Stabilisierung und Steuerung, Garrett Corporation an der Innenausstattung der Kabine, Rocketdyne, eine Tochtergesellschaft von Rockwell, lieferte die Hauptantriebssysteme, Pratt & Whitney entwickelten die Brennstoffzellen und so weiter.

JK wollte die mannigfaltigen unkoordinierten Änderungen vermeiden, womit Rockwell sich in den Sechzigern bei der Entwicklung von Apollo selbst behindert hatte. Deshalb hatte er einen Kontrollmechanismus implementiert, der eventuelle Änderungen dokumentierte. Und das hatte wiederum zu Konflikten mit den Astronauten - einschließlich Joe Muldoon - geführt, der sich seit den Tagen von Apollo in dieser Hinsicht als federführend betrachtete.

Und so ging das immer weiter.

Einmal zeigte JK ihr ein PERT-Diagramm für die MéM-Entwicklung: ein Projektplan, in dem alle Aufgaben in ihrer logischen Verknüpfung dargestellt waren. Dabei handelte es sich um einen scheinbar banalen, umfangreichen Computerausdruck mit vielen Kästchen und einem Gewirr aus Verbindungslinien.

»Und was machst du damit?«

JK lachte nur und tat so, als ob er den Plan in den Papierkorb werfen wollte. »Nichts! Hab gar nicht die Zeit, ihn durchzulesen!«

Das Projekt glich einem Ungeheuer, und JK versuchte es niederzuringen.

Sie sah, daß die Sache Lee an die Substanz ging. Doch wenn er Entspannung suchte, dann nicht bei ihr. Statt dessen ging er mit Bob Rowen, Jack Morgan oder anderen Kumpels in Newport Beach in irgendeine Kaschemme. Dann kam er in den frühen Morgenstunden stockbesoffen nach Hause und schlief den Rausch aus. Daß er ein Alkoholiker war, glaubte sie aber nicht; das Trinken war nur ein weiterer Beleg dafür, daß JKs Leben nicht in geordneten Bahnen verlief, sondern zwischen Extremen pendelte.

Und am nächsten Morgen - Kater oder nicht - schüttete er zwei Tassen stark gesüßten Kaffees hinunter und setzte sich wieder an den Schreibtisch.

Die Nacht war so still, daß sie sogar die Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.

»JK, Sie sollten lieber herkommen«, wisperte Julie Lye mit insektenhafter Stimme. »Ich führe gerade den Drucktest am Sauerstofftank durch. Es ist eine katastrophale Panne aufgetreten. Ich stehe vor der Testgrube. Wir hatten sie mit sieben Tonnen Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff gefüllt. Und nun stecken bloß noch ein paar Titansplitter in den Wänden.«

»In Ordnung. Ich bin gleich da.« JK leierte Instruktionen herunter, während er die Hose suchte. Nun beschrieb Lye ihm den Hergang der Explosion. Es genügte ein Blick auf die Verteilung der Bruchstücke, um die Stärke der Explosion zu bestimmen, die den Tank zerfetzt hatte. Dann wären weitere strukturelle Tests erforderlich, wobei man die Tanks mit Wasser unter Druck setzen würde und nicht mit Stickstoff. Auf diese Art sollte ermittelt werden, ob das Versagen eine mechanische Ursache - zum Beispiel eine defekte Schweißnaht - hatte, oder ob eine chemische Reaktion des Brennstoffs erfolgt war. Anschließend würde Lye sich mit dem Hersteller der Tanks in Verbindung setzen, einem in Indianapolis ansässigen Unternehmensbereich von General Motors. Der Hersteller müßte dann identische Versuche durchführen, um zu ermitteln, ob das Teil durch die Lieferung beschädigt worden war oder ob ein Materialfehler vorlag.

Er erteilte noch Anweisungen, als er das Schlafzimmer verließ. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel und stürmte aus dem Haus, ohne sich von Jennine verabschiedet zu haben.

Sie lag da und versuchte krampfhaft einzuschlafen. Es funktionierte nicht.

Sie hatte das Gefühl, daß etwas in ihr zersprang - als ob sie einer von JKs gottverdammten Brennstofftanks wäre, der unter maximalem Druck stand.

Sie stieg aus dem Bett und ging barfuß ins Bad. Dort hatte sie ein paar Flaschen mit Beruhigungsmitteln deponiert.

Sie warf einen Blick in den Spiegel und sah eine Frau mit hängenden Schultern und ergrauendem, strähnigem Haar. Das Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht.

Sie stopfte die Pillen wie Gummibärchen in sich hinein. Sie hatte den Eindruck, das Bild im Spiegel, das die Pillen in den

Mund stopfte, sei jemand anders - vielleicht eine Frau im Fernsehen. Sie fühlte überhaupt nichts.

Schließlich warf sie die leeren Flaschen in den Müll und legte sich wieder ins Bett.

Selbst nach dieser radikalen Maßnahme wollte der Schlaf sich nicht einstellen.

Nach einer Weile griff sie nach dem Telefon und wählte Jack Morgans Privatnummer. Wie durch ein Wunder war er zu Hause und ließ sich nicht in irgendeiner Pinte vollaufen. Sie sagte ihm, was sie getan hatte.

Gegen sechs Uhr morgens stürmte JK ins Haus. Das Haar war zerzaust, die Krawatte fehlte und das Hemd hing über die Hose.

Jack Morgan saß auf dem Bett. Er war nur mit Schlafanzug und Bademantel bekleidet und rubbelte Jennines Glieder. »Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt? Ich habe Sie schon vor einer Stunde angerufen.«

JK erzählte vom Sauerstofftank, von kontaminiertem Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff und dergleichen, doch Jack schaute ihn nur grimmig an.

JK verstummte bei diesem Blick und versuchte die Regie zu übernehmen. »Haben Sie schon das Krankenhaus verständigt? Der Magen muß ausgepumpt werden.« Das war typisch JK. Erst zu spät kommen und dann alles an sich reißen wollen.

»Der Magen muß nicht ausgepumpt werden«, erwiderte Jack schroff. »Aber sie wird sehr lange schlafen. Und dann muß sie zur weiteren Beobachtung ins Krankenhaus eingeliefert werden.« Mit einem Kopfnicken wies er auf den Nachttisch. »Die Nummer liegt dort.«

JK machte einen unsteten und verwirrten Eindruck. Er setzte sich aufs Bett. Dann nahm er Jennines Hand und massierte, wie

Jack es getan hatte, den Unterarm. Er hatte zwar warme Hände, doch sie zitterten, und die Berührung war entweder zu fest oder zu leicht. Sie rang sich ein Lächeln ab, wodurch sein Selbstvertrauen etwas stieg. Die Massage wurde gleichmäßiger.

»Das ist eine verteufelte Sache«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Eine verteufelte Sache.«

»Hören Sie zu«, sagte Jack Morgan. »Sie müssen endlich aufwachen, JK. Sie müssen sich mehr um Ihre Familie kümmern. Und um sich selbst auch. Sonst wird Jennine Sie verlassen, und niemand wird ihr deshalb einen Vorwurf machen. Und ich werde sie sogar von hier wegbringen.«

JK war am Boden zerstört. Ihm wurde bewußt, daß er das wirklich nicht hatte kommen sehen.

»Ach so«, sagte er. »Dann war das wohl ein Hilfeschrei, huh.«

Ach, JK. Psychologengeschwätz. Sie schloß die Augen und dachte an das Gesicht im Spiegel, an den stetigen Fluß der Pillen, die sie schluckte. Entspreche ich wirklich schon diesem Klischee?

JK massierte ihr für eine Weile stumm den Arm. Und dann laberte er sie mit der Geschichte vom defekten Tank voll. »Erstaunlicherweise explodierten die Tanks nur, wenn sie mit Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff gefüllt waren«, sagte er. »Also wußten wir, daß irgendeine chemische Reaktion ablaufen mußte. Aber die Tanks explodierten nur hier in Newport. Wir haben identische Versuche bei den Herstellern durchgeführt, und dort ist es nicht passiert.

Also mußte es am Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff selbst liegen. Wir verfolgten seine Herkunft zurück. Er stammt von einer großen Raffinerie, die von der Luftwaffe betrieben wird. Nun rate mal, was wir gefunden haben? Der Stoff, mit dem wir in Newport arbeiteten, stammte aus einem späteren Los als der

Stoff in Indianapolis. Unser Stoff war reiner. Das IndianapolisLos war mit winzigen Wasseranteilen verunreinigt. Also haben wir in Newport neue Laborversuche durchgeführt. Wir fanden heraus, daß zu reiner Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff - mit einem Reinheitsgrad von über neunundneunzig Prozent -korrosionsfördernd ist! Er greift Titan an! Mit einem Spritzer Wasser, wie beim Indianapolis-Los, läßt das Problem sich aber beheben. Wie dem auch sei, zum Teufel mit dem Zeug. Wir werden wohl auf Sauerstoff-Methan als Treibstoff umsteigen. Der Wirkungsgrad geht in Ordnung, er ist ungiftig, und er ist für Monate im Weltraum lagerfähig, obwohl er nicht einmal hypergolisch ist.«

Jennine hörte stumm zu. JK hatte noch immer ihren Arm in der Hand. Er hatte sich in die Geschichte hineingesteigert und schwadronierte nun von der technischen Detektivarbeit und dem ganzen anderen Kram. Sie spürte, daß er den Arm nur noch mechanisch rubbelte.

Sie dachte an das gewaltige Projekt, an die Teile des MarsRaumschiffs, die aus allen Staaten der USA in die Montagehallen in Newport transportiert wurden: Treibstoffund Sauerstofftanks aus Buffalo und Boulder, Instrumente aus Newark und Cedar Rapids, Ventile aus San Fernando, Elektronik aus Kalamazoo und Lima. Und wahrscheinlich hinterließ jedes einzelne Teil eine unsichtbare Spur aus Alkoholmißbrauch, Herzanfällen und Ehescheidungen.

Sie sagte sich, daß JK wirklich imstande sein müßte, sich in ihre Lage zu versetzen.

Das ist der ultimative Härtetest, JK. Das ist ein Vernichtungstest. Nichts anderes als ein Vernichtungstest.

Dienstag, 10. August 1982

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

»Sie werden mich also nicht fliegen lassen.«

Joe Muldoon lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück, wobei dieser unter seinem Gewicht knarrte. Ein leerer Pappbecher stand auf dem Schreibtisch, der inmitten des hochwertigen Briefpapiers und der ledernen Schreibunterlage deplaziert wirkte. Nun griff er sich den Becher und zerdrückte ihn in einer schnellen Bewegung. »Sie sehen das falsch, Natalie. Deshalb möchte ich es Ihnen auch persönlich erklären, ehe Sie es hintenrum erfahren.«

»Ich weiß das zu schätzen. Aber Sie lassen mich trotzdem nicht fliegen.«

»Sie sind nicht die einzige am JSC, die eine Enttäuschung verkraften muß. Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: weil wir die verdammte Saturn VB verloren haben und weil man uns den Etat noch mehr gekürzt hat - verdammt, Natalie, dafür, daß das Land schon seit einem Jahr in der Rezession steckt, kann ich wohl nichts -, müssen wir das Programm straffen. Und wir müssen die Frist für den Marsflug einhalten. Die Besatzung der ersten E-Klasse-Mission wird nun eine Mission fliegen, die wir als D-Plus bezeichnen und in der die Ziele der ursprünglichen D- und E-Klasse-Missionen gebündelt werden. Und.«

»Also hat die D-Mission, mein Weltraum-Dauertest, sich erledigt. Joe, ich-weiß besser über den Mars Bescheid als jeder andere im Astronauten-Büro. Und trotzdem lassen Sie mich nicht fliegen.«

Muldoon riß sich sichtlich zusammen. »Natalie, Sie müssen mir glauben. Das ist nichts Persönliches. Zumal ich glaube, daß es kein großer Verlust für Sie ist. Gerade weil Sie so viel wissen, werden Sie uns hier unten viel mehr nützen, als wenn

Sie im niedrigen Erdorbit in einer Blechbüchse rumhängen und zusehen würden, wie der Lack verblaßt. Ich brauche Sie hier, Natalie, mit Ihrer Expertise über den Mars. Damit wir nicht vergessen, weshalb wir überhaupt dorthin fliegen.«

Sie ließ sich das durch den Kopf gehen und versuchte, den Zorn zu unterdrücken. »In Ordnung. Ich habe wohl keine andere Wahl. Aber ich werde weiterhin trainieren, auch im Simulator, und ich werde jede Gelegenheit nutzen, um mehr Flugerfahrung zu sammeln. Und wenn Sie mir nun sagen, ich soll das sein lassen, dann werde ich auf Nimmerwiedersehen durch diese Tür verschwinden; Mars-Experte hin oder her.«

Er hob die Hände. »Genug! Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als ein neuer Verdacht sie beschlich. »Gleichberechtigung«, sagte sie.

»Hä?« Er wirkte verwirrt.

»Das Gesetz für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es ist im Juni verabschiedet worden.« Sie spürte, wie eine irrationale Wut in ihr aufstieg. »Das politische Klima hat sich geändert. Ist das der Grund, weshalb Sie glauben, auf mir rumhacken zu können?«

»Verdammt, Natalie, damit hat das nichts zu tun!« Sichtlich ungehalten beugte er sich vor. »Wissen Sie, Ihnen und den anderen Frauen wäre viel mehr gedient, wenn sie nicht ständig mit solchen Neurosen kokettieren würden.«

Sie funkelte ihn an. Muldoon saß in soldatischer Haltung auf dem Stuhl und musterte sie mit einem nachdenklichen Ausdruck in den blauen Augen. Sie erkannte, daß er es wirklich gut mit ihr meinte und daß er von der Richtigkeit seiner Aussagen überzeugt war.

Sie traute sich nicht, noch etwas zu sagen.

Später wollte sie sich in dem schäbigen Apartment, das sie in Timber Cove zur Miete bewohnte, betrinken, was ihr aber nicht gelang.

Ihr Leben ging den Bach runter. Mit vierunddreißig war sie schon ziemlich alt für eine Wissenschaftlerin, die sich mit Feldforschungen befaßte, und ihre akademische Laufbahn war wohl auch nicht mehr zu retten. Das Engagement im Raumfahrtprogramm - die Zeit, die sie in Simulationen und Überlebenstraining investiert hatte -, war zu Lasten der Forschung gegangen, und sie wußte auch, daß sie mit den Veröffentlichungen, deren Qualität und Quantität von Jahr zu Jahr abnahmen, bei einer Rückkehr an die Universität keinen Blumentopf gewinnen würde.

Und wofür hatte sie das alles auf sich genommen? Sie hatte die einzige Chance - so vage sie auch gewesen war - verloren, echte Weltraum-Erfahrung zu sammeln.

Der Mars war weiter entfernt als je zuvor.

Es sah so aus, als ob sie es verbockt hätte, als ob sie in ihrem Leben einen Fehler nach dem andern gemacht hätte.

Mike Conlig war längst Geschichte. Und sie war noch immer allein, obwohl sie mit diesem Zustand eigentlich zufrieden war.

Doch sie vermißte Ben schrecklich.

Montag, 6. Dezember 1982

Firmensitz von Columbia Aviation, Newport Beach

Der MEM-Simulator in Newport war ein klobiges Gerät, das nur wenig Ähnlichkeit mit dem gefälligen Design des endgültigen Raumschiffs aufwies. Der in einer Ecke der Montagehalle aufgestellte Simulator sah aus wie ein Auto nach einem Crashtest. Er war von Großrechnern flankiert.

Ralph Gershon stieg aus dem Simulator. Er war stinksauer. »Das abgefuckte Teil ist eine Zitrone«, sagte Gershon. »Eine große, dicke Zitrone, JK.«

JK Lee wartete an der Luke auf ihn. Sein rundes Gesicht war sorgenvoll zerfurcht. »Mein Gott. Sprechen Sie mit mir, Ralph.«

»Schauen Sie«, sagte Gershon, »der Simulator soll das echte Gerät abbilden - das ist doch der Witz bei der ganzen Sache. Und dann sieht es gar nicht gut aus, wenn der linke Steuerknüppel hier sitzt, wenn er beim echten Gerät dort drüben plaziert wäre. JK, konstruktive Änderungen müssen Sie auch beim Simulator berücksichtigen.«

»Teufel, das weiß ich auch, Ralph. Aber was soll ich denn machen? Die MEM-Konstruktion ist dermaßen im Fluß, daß sich immer ein paar hundert Änderungen auf einmal ergeben, und da ist es ausgeschlossen, den Simulator jedesmal auf den neuesten Stand zu bringen.«

»Das ist aber noch nicht alles«, sagte Gershon, streifte die Handschuhe ab und stopfte sie in den Helm. »Das Ding an sich ist Murks. Die Änderungen, die schon eingeflossen sind, sind nämlich nicht aufeinander abgestimmt.« Er sah den gequälten und angespannten Ausdruck in Lees Gesicht und fühlte einen Widerstreit zwischen der Sympathie für den Mann und dem Zorn, der ihn gepackt hatte. »Sehen Sie, JK, ich muß mich in dieser Sache an Cane wenden. Das ist meine Aufgabe, verdammt. Es ist unmöglich, sich mit einem derart schlechten Simulator auf einen Einsatz vorzubereiten, zumal der Simulator selbst in meinen Augen eine große Gefahr für das Projekt darstellt.«

Lee zog ihn vom Simulator weg und zündete sich eine Zigarette an. »Mein Gott, sagen Sie mir doch, was los ist. Die Änderungen sind mein Alptraum, Ralph. Die Änderungen sind noch mein Tod.« Er skizzierte das Bild einer ganzen Industrie, die den Weg zum Mars ebnete. Die gesamte Nation konzentrierte ihre handwerklichen und wissenschaftlichen Anstrengungen auf ein einziges Problem, und hier zeichnete das Ergebnis dieser Anstrengungen sich bereits ab. »Wir betreten in vielerlei Hinsicht Neuland«, sagte Lee. »Da ist es nicht verwunderlich, daß nichts auf Anhieb klappt. Uns flattern jede Woche tausend Änderungswünsche aus dem ganzen Land ins Haus. Und bei jeder Änderung muß die Peripherie der jeweiligen Komponente auch geändert werden. Und ich sage Ihnen auch, wer in dieser Hinsicht die Schlimmsten sind.« Er beäugte Gershon. »Ihr Nasen im Astronauten-Büro.«

Gershon lachte. Es überraschte ihn nicht, das zu hören.

Die Astronauten hatten noch immer großen Einfluß, sowohl offiziell als auch inoffiziell. Schließlich riskierten sie ihr Leben. Lee versuchte, sie wie alle anderen in seinen >Änderungswunsch-Prozeß< zu integrieren, damit alles seine Ordnung hatte. Jedoch war er sich auch der Notwendigkeit bewußt, daß diese Gruppe ihm gewogen blieb. Deshalb hatte er auf demselben Gang, wo sein Büro lag, ein >Separee< für die Astronauten eingerichtet. Der Raum verfügte über eine Dusche und ein paar Feldbetten, so daß die Raumfahrer hier ein Refugium hatten und Zuflucht vor der Presse fanden. Und er hatte sie auch schon zu sich nach Hause eingeladen, wo Jennine sie großzügig bewirtete und wo er ihnen Honig ums Maul schmierte und sie förmlich in den Himmel hob. Die Astronauten betrachteten JK Lee fortan als den größten Glücksfall, der dem Raumfahrtprogramm seit der Erfindung des Klettverschlusses beschieden war.

Jedenfalls solange, sagte Gershon sich, bis er ihren nächsten Änderungswunsch ablehnte.

Nun erregte etwas in einem anderen Bereich der Werkstatt Lees Aufmerksamkeit. Er ging zum Maschinenführer einer Sechs-Tonnen-Revolverdrehbank hinüber, der dünne Scheiben von einer komplizierten Aluminiumstruktur abschälte. Das Ding hatte die Ästhetik eines Kunstwerks, und Gershon war in seiner Eigenschaft als Experte für MEM-Systeme nicht in der Lage, das Objekt zu identifizieren oder seine Funktion zu bestimmen. Lee nahm die Konstruktionszeichnung, die dem Werktätigen als Vorlage diente. Dann rief er Gershon zu sich; Lee war erregt, und der offenbar peinlich berührte Maschinenführer vermied es, Gershon in die Augen zu sehen. Gershon tat der Mann leid.

»Sehen Sie sich das an«, sagte Lee und wedelte Gershon mit der Zeichnung vor dem Gesicht herum.

»Was ist denn damit?«

»Unsere Unternehmenspolitik sieht vor, daß Zeichnungen mit über einem Dutzend Änderungen neu gezeichnet werden müssen. Auf dieser Zeichnung erscheinen aber über hundert Änderungen, um Himmels willen. Und es kommt noch besser.« Er nahm die Komponente in die Hand, die der Maschinenführer bearbeitet hatte. »Das Ding hier ist Schrott! Das weiß ich jetzt schon! Ehe es überhaupt fertig ist!« Er warf das Werkstück auf den Boden, wo es scheppernd aufprallte.

Der irritierte Maschinenführer wischte sich die Hände an einem Lappen ab und hielt Ausschau nach dem Vorarbeiter.

Lee stakste verkrampft davon; Gershon klemmte sich den Fliegerhelm unter den Arm und folgte ihm.

Lee wirkte hager, und die Haut war so straff, als ob sie von Drähten unter dem Fleisch gespannt wäre. Seine Haltung war gebeugt. Lee wurde von Nervosität und Adrenalin schier verzehrt.

Gershon hielt sich schon seit geraumer Zeit in Newport auf und verfolgte die Entwicklung des MEM. Er hatte sich den Jungs von den Biowissenschaften als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt, war durch Luken gekrabbelt und Leitern in Sandkästen mit marsrotem Sand hinabgestiegen.

Er hatte viele Stunden in bemalten Sperrholz-Attrappen des Raumschiffs verbracht und sich vorzustellen versucht, daß dies real sei, daß er sich ganz allein in den Weiten des Sonnensystems befand und mit einem Raumschiff auf dem Mars landen wollte. Wie seinerzeit Pete Conrad.

Er wollte zum besten Kenner des MEM avancieren. Bald würde er dieses Ziel erreicht haben.

Er hatte erkannt, daß dieser Ort, die Firma Columbia Aviation, auf Hochtouren lief und von der erbarmungslosen, zerstörerischen Energie von JK Lee angetrieben wurde. Doch unter diesem Druck und in Anbetracht der Komplexität des Projekts hing ständig das Damoklesschwert des Scheiterns über der Firma.

Dennoch rückte Gershon nicht von dem Standpunkt ab, den er schon bei der Aufforderung zur Angebotsabgabe vertreten hatte: daß nämlich die Columbia-Vision des MEM - inspiriert und umgesetzt von JK Lee - am ehesten geeignet war, ein Fluggerät zu bauen, mit dem Menschen in ein paar Jahren zum Mars flogen.

Gershon hatte strenge Maßstäbe an Columbia angelegt. Doch er wollte auch, daß das Projekt ein Erfolg wurde. Er wollte zum Mars fliegen, verdammt, und nicht JK Lees Skalp an die Wand nageln.

Während er noch diesen Gedanken nachhing, stolperte er über einen Draht, der über den Boden gespannt war. Und als er den Blick senkte, sah er noch mehr Drähte, lose Bauteile und verstreute Ausrüstung: Teile des Raumschiffs, die von der Springflut der Spezifikationsänderungen mitgerissen worden waren und nun wie Wrackteile auf dem Boden verstreut lagen.

Montag, 22. Februar 1983 Luftwaffenstützpunkt Ellington, Houston

Gershon ging mit dem Fliegerhelm unter dem Arm um das Trainingsgerät herum. Natalie York begleitete ihn. Ihr Haar wurde von der Brise zerzaust, und die Augen verbargen sich hinter einer Sonnenbrille.

Ralph Gershon konnte nicht an sich halten. »Das ist das MLTV? Heilige Scheiße«, sagte er.

Der Astronaut Ted Curval aus Phil Stones Erstbesatzung fungierte heute als ihr Vorgesetzter. »Sie üben heute am Marslandungs-Trainingsgerät Nummer Drei. Hammerhart, was?« sagte er grinsend.

Beim Marslandungs-Trainingsgerät handelte es sich um einen Gitterrohrrahmen auf sechs Landebeinen. In der Mitte sah Gershon eine nach unten gerichtete Düse, um die sich ein paar Treibstofftanks gruppierten. Die Düsen für die Reaktionssteuerung klebten wie metallische Beeren an den vier Ecken des Gitterrohrrahmens. Dann gab es noch zwei große Hilfsraketen, die ebenfalls nach unten gerichtet waren. Das Cockpit enthielt einen teilweise mit Aluminium ummantelten Schleudersitz. Auf eine Seite war mit großen Lettern ein NASA-Logo gepinselt; darüber befand sich eine schwarze, mit einer Schablone gezeichnete >Drei<. Das Ding war etwa drei Meter hoch, und die Füße beschrieben einen Kreis mit einem Durchmesser von fast vier Metern. Weil das Gerät nicht verkleidet war, hatte man einen freien Blick auf die Innereien: Düsen, Raketen, Treibstofftanks, Rohrleitungen, Kabelbäume und so weiter. Irgendwie wirkte das Ding obszön, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte.

Im Licht der tiefstehenden Morgensonne warf der Vogel einen langen Schatten auf dem weitläufigen Rollfeld.

»Scheiße« betonte Gershon erneut und drehte sich zu Curval um. »Das Teil sieht aus wie ein Gerät aus einem abgefuckten Zirkus.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, sagte Curval. »Aber von allen Fluggeräten, die wir haben, kommt diese Kiste einem MEM am nächsten. Wenn Sie ein MEM fliegen wollen, mein Junge, müssen Sie lernen, mit diesem Ding klarzukommen.« Curval grinste fröhlich, lachte ihn geradezu aus.

Ted Curval war einer der Alten Köpfe. Er verfügte über das klassische Astronautenprofil: als Marineflieger hatte er

angefangen, war später sogar als Ausbilder tätig gewesen und hatte inzwischen viel Weltraumerfahrung gesammelt. Also befand Curval sich im Auswahlverfahren für Ares gegenüber Gershon im Vorteil, zumal er bereits echte MLTV-Einsätze geflogen war. Wogegen Gershon es trotz aller Bemühungen und des Aufenthalts bei Columbia bisher nur in die stationäre Anlage von Langley geschafft hatte, wo ein MEM-ähnliches Modell an Trossen von der Decke hing.

Also gehörte Curval zu Phil Stones Besatzung und würde demnächst zum Mars fliegen. Und Ralph durfte als Zaungast zusehen.

Aber egal. Mit dem heutigen Tage würde Ralph Gershon seine Referenzen um MLTV-Erfahrung bereichern. Zum Teufel mit Ted Curval und all den anderen arroganten Arschlöchern.

Was Gershon betraf, so war die Sache erst entschieden, wenn der Vogel am 21. April 1985 von der Startrampe abhob.

Gershon stülpte sich den Helm über den Kopf und flankte in den Gitterrohrrahmen des MLTV. Geschmeidig glitt er auf den Sitz. »Toll. Paßt wie angegossen.«

Curval trat vor. »He, Gershon.«

Gershon schnallte sich gerade an. »Der Sitz ist ein Weber Null-Null, stimmt’s?«

»Kommen Sie da runter, Mann. Sie sind unvorbereitet. Sie dürfen nicht.«

»Und die Düse dort drüben ist ein General Electric CF-700-2V-Turbofan. Kommen Sie schon, Ted, ich kenne mich mit der Ausrüstung aus. Ich bin hergekommen, um das Ding zu fliegen und nicht, um mir Ihr Genöle anzuhören.« Er schaute auf die Steuerkonsole. Sie war mit ein paar Instrumenten bestückt, einem Monitor und zwei Kopfbügelmikrofonen. Wie bei den Simulationen.

Er blinzelte; die Augen schmerzten beim Blick ins grelle Sonnenlicht. Auf der Plexiglas-Windschutzscheibe sah er feine Linien, die dort eingeätzt waren - eine mit Zahlen versehene Strichplatte.

Plötzlich verstärkte der Schmerz sich. »Au.« Er schlug den Arm vors Gesicht. Die Augen juckten unerträglich und tränten obendrein.

»Zuerst«, sagte Curval trocken, »sollten Sie das Visier schließen. Sie werden von Wasserstoffperoxid eingenebelt, das aus den Steuerdüsen austritt. Wissen Sie wirklich, was Sie tun, Mann?«

Gershon klappte das Visier herunter und kniff die Augen zusammen. »Es ist mein Hals, den ich mir breche, Ted. Was kümmert Sie das denn?«

»Gut«, sagte Curval schließlich. »Gut, Sie haben gewonnen.«

Curval ging zusammen mit York zum Führungsfahrzeug und kletterte in den Aufbau. Wenig später hörte Gershon Curvals Stimme im Kopfhörer. »In Ordnung, Ralph. Wir bringen das MLTV nun auf fünfzig Fuß Höhe, umkreisen zweimal den Block und fliegen wieder nach Hause. Eine leichte Übung. Damit Sie ein Gefühl für das Gerät bekommen. Und dann erhalten Sie eine Augenspülung. Haben Sie das verstanden?«

»Sicher.«

Gershon aktivierte das Triebwerk, das hinter seinem Rücken aufbrüllte. Staub wurde vom Boden aufgewirbelt und legte sich auf das Helmvisier. Die Steuerdüsen spien Dampf, als ob es sich beim MLTV um eine Dampfmaschine handelte, um das Werk eines viktorianischen Ingenieurs, der seine Phantasie von einem Fluggerät Wirklichkeit hatte werden lassen.

Die Landebahn fiel nach unten weg. Der Steigflug war ebenso kurz wie rasant. Das MLTV hatte Ähnlichkeit mit einem geräuschvollen Aufzug.

»Juhuuu!« jubelte Gershon. »Jetzt geht die Post ab!«

Von den vier Pendants des MLTV Nummer Drei waren während des letzten halben Jahrs zwei Exemplare abgestürzt. Die Piloten hatten sich mit dem Schleudersitz gerettet. Die Absturzursache war bislang ungeklärt. Allerdings waren Senkrechtstarter schon aufgrund ihrer Konzeption instabil, weshalb man wohl eine gewisse Quote an Bruchlandungen einkalkulieren mußte. Die NASA hoffte indes, daß diese Abstürze kein Indikator für Konstruktionsfehler des MEM selbst waren. Wie dem auch sei, das MLTV mußte einer Flugerprobung unterzogen werden. Allerdings war niemand erpicht, sein Leben dafür zu riskieren, wo der Marsflug sich noch in weiter Ferne befand.

Niemand außer einer Person, die Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um ins Auswahlverfahren zu kommen.

Nachdem Gershon das MLTV auf eine Höhe von knapp zwanzig Metern gebracht hatte, verlangsamte er den Aufstieg.

Das Funktionsprinzip des eigentümlichen Fluggeräts war klar ersichtlich. Es ritt quasi auf dem Abgasstrahl des Triebwerks. Stabilisiert wurde das Gerät durch die vier PeroxidSteuertriebwerke, wobei die am Rahmen montierten

Vernierraketen richtungsabhängig feuerten. Er mußte die Reaktionssteuerung nicht einmal betätigen, um das Fluggerät zu stabilisieren, weil die Raketen nämlich selbsttätig feuerten, mit klackenden Elektromagneten und zischenden Gasstößen.

Er experimentierte mit den Kontrollen. Das MLTV hatte eine Dreihundertsechzig-Grad-Gierkapazität, was bedeutete, daß das Gerät in beiden Richtungen um die Hochachse zu rotieren vermochte. Er jubelte, als die Welt sich um ihn drehte. Außerdem gab es eine Nick- und Rollkontrolle, was dem Gerät eine perfekte Manövrierfähigkeit verlieh. Jedoch wirkte der Schub der Triebwerksdüse nicht senkrecht nach unten, so daß er aufgrund der Abweichung von der Vertikalen Kapriolen über dem Rollfeld schlug.

»He, machen Sie langsam«, schrie Curval ihm ins Ohr.

.und genau so mußte man ein MEM auch fliegen. Doch er mußte aufpassen, nicht zu stark abzukippen, weil das MLTV sonst instabil wurde.

Das Licht der tiefstehenden Sonne blendete ihn. Die Augen tränten noch immer, wodurch das Ablesen der Instrumente erschwert wurde.

Etwa hundert Fuß über dem Boden kam er zum Stillstand und betrachtete das Führungsfahrzeug.

»Sie sollten lieber runterkommen und eine Augenspülung vornehmen lassen, Ralph«, sagte Curval.

»Wie lange reicht der Treibstoff der Kiste?«

»Vielleicht für sieben Minuten.«

»Und wie lange würde eine Landesequenz dauern?«

»Ralph.«

»Sagen Sie’s mir.«

»Drei, vier Minuten.«

Er sah auf die Uhr; er war erst seit zwei Minuten in der Luft. Noch reichlich Zeit.

Er zog das MLTV senkrecht hoch.

»Ralph, schwingen Sie Ihren Arsch hier runter!«

»Ich werde nur auf eine Art runterkommen, und zwar mit einem angetriebenen Abstieg.«

»Dafür sind Sie nicht ausgebildet.«

»Ich habe über fünfzig Simulationen gemacht. Kommen Sie schon, Mann. Ich weiß, was ich tue. Die Kiste läuft wie ein Uhrwerk. Ich möchte sie reinbringen.«

Curval hörte sich an, als ob er erstickte. »Gottverdammt, Sie Arschloch, wenn Sie das Gerät zerstören, werde ich Sie regreßpflichtig machen.«

Gershon grinste nur. »Sicher.« Was konnte Curval schon tun? - Nichts, solange Gershon hier oben war und Curval dort unten festsaß.

Gershon stieg auf dreihundert Fuß. »Ist das hoch genug, um den Abstieg einzuleiten?«

Er hörte, wie Curval nach Luft schnappte. »Suchen Sie den Knopf für die automatische Steuerungssequenz.«

Gershon fand den Knopf und drückte ihn. Der Schub wurde zurückgenommen, und das MLTV kippte ab. Dann brüllte das Triebwerk erneut auf, und das Übungsgerät stabilisierte sich wieder.

»In Ordnung«, sagte Curval. »Folgendes: das Geheimnis des MLTV besteht darin, daß es zwei unabhängige Antriebssysteme hat. Die Turbofan-Düse drosselt nun den Schub, um zwei Drittel Ihres Gewichts zu neutralisieren. Wenn alle Systeme ausfallen würden, würden Sie nicht einmal mit einem Drittel Ge fallen - wie auf dem Mars. Haben Sie das verstanden? Die Düse wirkt der Schwerkraft entgegen, um die Verhältnisse auf dem Mars zu simulieren.«

»Sicher.«

»Aber Sie fallen eben nicht, weil die beiden WasserstoffPeroxid-Hubraketen unter Ihrem Arsch gerade gefeuert haben, um Sie oben zu halten. Und mit Hilfe dieser Hubraketen, die das Landesystem des MEM emulieren, müssen Sie die Landung durchführen. Sie landen, indem Sie den Schub der Raketen drosseln. Sie gehen sozusagen auf dem eigenen Abgasstrahl runter.«

»In Ordnung.«

»Sie haben noch zwei Kontrollen, Ralph. Die Lageregelung zur Rechten und die Schubregelung zur Linken. Möchten Sie die beiden mal ausprobieren?«

»Sicher.«

Die Kontrollen kannte Gershon noch von den Simulationen. Die Lageregelung erfolgte mittels einer Rasterschaltung; beim Betätigen des Schalters feuerten die Bremsraketen, und das ML TV neigte sich in Schritten von jeweils einem Grad. Die Schubregelung bestand aus einem Kippschalter; wenn Gershon ihn umlegte, feuerten die Auftriebsraketen und verliehen dem MLTV eine Delta-vau von dreißig Zentimetern pro Sekunde.

Nach dem Übergang vom antriebslosen in den angetriebenen Flug verschlechterten die Flugeigenschaften des MTLV sich merklich; Gershon hatte den Eindruck, das Gerät steckte in einer viskosen Suppe. Wegen der effektiven Schwerkraft von einem drittel Ge mußte er den Vogel dreimal so steil runterziehen wie zuvor, um eine Bahnänderung vorzunehmen. Wenn er einmal in Bewegung war, ließ er das Trägheitsmoment wirken, bis er die nächste Bahnänderung vornahm. Das MLTV reagierte träge auf die Steuerbefehle. Er mußte sich das jeweils einfachste Flugmanöver schon im voraus überlegen.

Dieser Flug - das Balancieren auf einer Rakete - war schwieriger als erwartet, und auch schwieriger als alle Lagen, mit denen er bisher in den Simulationen konfrontiert worden war. Er mußte erkennen, daß die ganze fliegerische Routine, die er mühsam erworben hatte, in diesem Fall nutzlos war.

»In Ordnung, Junge. Sie haben einen Computer an Bord, auf dem nun ein PGNS-Programm abläuft«, verkündete Curval. Bei diesem PGNS-Programm handelte es sich um ein Lenkungs- und Navigations-Softwarepaket. »Als SimulatorExperte sind Sie gewiß befähigt, mit Hilfe des Computers zu landen. Sie müssen nur die Koordinaten eingeben und die Raketen feuern lassen.«

»Ich weiß Bescheid. Kommen Sie schon, Ted. Mir geht der Sprit aus. Lassen Sie mich das Ding runterbringen.«

»Gut. Zuerst peilen Sie durch die Windschutzscheibe einen Landeplatz an. Dann erscheint eine Zahl auf dem Bildschirm.«

Gershon schaute nach draußen und sah in einer Entfernung von vielleicht zwölfhundert Metern eine fette >Drei< auf dem Rollfeld. Er hielt es für angemessen, mit dem MLTV Nummer Drei mitten in dieser Markierung zu landen.

Mit der Lage- und Bahnregelung richtete er das MLTV auf, bis die Markierung auf der Strichplatte, mit der er das Ziel aufgefaßt hatte, mit der Zahl auf dem Computermonitor übereinstimmte. »Achtunddreißig«, meldete er Curval.

Das MLTV schwebte auf das Ziel ein. Das PGNS-Programm berechnete nun eine Flugbahn, die ihn zur >Drei< brachte beziehungsweise in eine Position direkt über ihr.

»Ich bin zwar kein Mathematiker«, sagte Curval, »aber die Grundlagen sollten Sie schon kennen, Ralph, um die Logik dieses Vorgangs zu verstehen.«

»Na schön.«

»Das PGNS basiert im Grunde auf dem gleichen System wie die alte Mondfähre. Zur Ausrüstung des MLTV gehören auch ein Computer und ein Radar, mit dem Sie den angetriebenen Abstieg bewerkstelligen. Der Computer ermittelt nun Ihre gegenwärtige Position und Geschwindigkeit sowie den ZielVektor - der dicht über dem Boden endet - und bestimmt eine schöne Kurve zwischen beiden Punkten, der Sie dann folgen. Alle paar Sekunden aktualisiert der Computer die Daten und berechnet eine neue Kurve. Wenn Sie dann die Strichplatte mit den Zahlen abgleichen, die auf dem Monitor ausgegeben werden, erscheint der berechnete Landepunkt direkt hinter der Markierung.«

»Ich habe verstanden.« Er glitt über das Rollfeld.

»Wollen Sie einen anderen Landepunkt wählen, betätigen Sie einfach die Lage- und Bahnregelung und richten das Fenster neu aus. Das PGNS führt dann eine Neuberechnung durch. Sie können die Lage- und Bahnregelung auch sperren und in den Gleitflug gehen. Und die Sinkgeschwindigkeit ändern Sie, indem Sie.«

»Ich weiß Bescheid, Ted. Ich.«

Nun schaltete Natalie York sich ein. »Ralph. Hier ist Natalie. Ich glaube, Sie sollten hochziehen.«

»Hä? Wieso denn?«

»Sie kommen zu schnell rein. Und zu niedrig.«

Er überflog die spärlichen Instrumente, ohne daß ihm irgendwelche Unregelmäßigkeiten aufgefallen wären. Es stimmte wohl, daß er schnell und niedrig reinkam, doch das war Absicht; er wußte nämlich, daß Curvals Gebabbel ihn viel Zeit gekostet hatte, und der Treibstoff wurde knapp. »Was ist Ihr Problem, York?«

»Ich befürchte, Sie überlasten das PGNS.«

»Kommen Sie schon. Hier oben läuft alles wie geschmiert.«

»So einfach ist es leider nicht, Ralph«, wandte sie ein und hielt ihm einen Vortrag über optimale Polynome, Kurven höherer Ordnung und anderen Kram, der Gershon zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus ging.

Er hörte gar nicht mehr hin.

Er schwebte über dem Rollfeld ein. Das PGNS arbeitete einwandfrei, und er mußte die Steuerung kaum betätigen.

Plötzlich überkam ihn das Gefühl, etwas Großes geleistet zu haben. Er hatte einen Erfolg zu verbuchen. Dazu bin ich also auch in der Lage, Ma. Ich habe eine weitere Sprosse auf der beschissenen Leiter zum Mars erklommen.

Er überließ die Landung der Automatik. Er hatte Curval gezeigt, was für ein toller Hecht er war und wollte seine Geduld nicht überstrapazieren. Vielleicht gelang es ihm, Curval zu überreden, das MTLV aufzutanken und ihn wieder hochzuschicken. Beim nächstenmal würde er versuchen, den Landeplatz ein paarmal zu ändern.

Diese große alte >Drei< füllte das Blickfeld aus, wobei sie aus seiner Perspektive spiegel verkehrt erschien. Sie wirkte leicht verschwommen durch den Staub, den die Raketen und Düsen aufwirbelten.

Nun kippte das MLTV nach hinten, um die Geschwindigkeit aufzuzehren. Er überprüfte die Zahlen; die Daten auf dem Bildschirm änderten sich synchron mit der Peilung auf der Plexiglasscheibe.

Das MLTV sackte durch, als die Hilfsdüsen plötzlich den Schub drosselten.

Das war vielleicht doch etwas heftig.

York quatschte ihm noch immer die Ohren voll, wobei sie ihn beim Nachdenken störte. Er verfolgte die Flugbahn und versuchte, sich den Landepunkt bildlich vorzustellen.

Sie hatte recht - irgend etwas stimmte nicht. Er ging zu schnell runter.

Es verstrichen wieder ein paar Sekunden, während er auf eine Einflüsterung des Instinkts hoffte. Ja: die Flugbahn beschrieb eine enge Kurve, die den Boden vielleicht hundert Meter vor der >Drei< tangieren würde.

Was nun? Vielleicht funktionierte das PGNS nicht exakt, oder vielleicht mußten diese verdammten Strichplatten am Fenster neu kalibriert werden. Wenn er noch in der Luft zum Stillstand kam, das Ziel aber verfehlte, würde er es eben mit der abgefuckten Ausrüstung begründen.

Nur daß er nicht zum Stillstand kam. Die Hubraketen setzten aus, und er stürzte dem Boden entgegen.

York und Curval riefen etwas.

Er sah, wie der Boden förmlich unter ihm explodierte und eine hohe Auflösung mit einer unerfreulichen Detailfülle erlangte, wobei Schmutz, Staub und Unebenheiten im Beton das Licht der Morgensonne reflektierten.

Er drückte auf den Knopf, um die Automatik auszuschalten.

Er vergeudete erst gar keine Zeit mit dem Versuch, die Lage des MLTV zu korrigieren; statt dessen gab er Schub auf die Turbofan-Düse und zog das Fluggerät hoch. Er fühlte den Druck der Beschleunigung; knackige zwei Ge, die ihn davor bewahrten, den Beton zu küssen.

Er ging auf eine Höhe von vielleicht hundert Fuß. Dann drosselte er den Turbofan und legte eine weiche Landung hin.

York rannte auf das MLTV zu.

Techniker in weißen Schutzanzügen umringten das Gerät. Ralph Gershon war inzwischen ausgestiegen. Das Haar war vom Helm plattgedrückt worden, und das Gesicht war verschwitzt. Die Augen waren gerötet, was sie auf die Dosis Peroxid zurückführte, die er abbekommen hatte.

»Gershon, Sie Arschloch«, begrüßte Curval ihn. »Ich sagte Ihnen doch, wenn Sie das Gerät zerstören.« Curval baute sich vor Gershon auf. Die schaufelartigen Hände hatte er zu Fäusten geballt. Er schickte sich an, Gershon durchzukauen und auszuspucken.

In gewisser Weise war sein Zorn berechtigt, sagte York sich; wenn Gershon, dieser Tausendsassa, sich umgebracht oder ein eminent wichtiges Gerät wie das MLTV zerstört hätte, wäre das ein schwerer Rückschlag für das gesamte Programm gewesen. Also gelangte York zu dem Schluß, daß Gershon einen Anschiß brauchte und hörte sich das für ein paar Minuten an.

Dann trat sie vor und schob sich zwischen die beiden Männer. »Eigentlich«, sagte sie, »war es gar nicht Ralphs Schuld.«

Nun wandte der noch immer wütende Curval sich ihr zu.

»Es lag am Landeprogramm. Ich glaube, es ist mit einem Virus verseucht, Ralph. Es hätte Sie beinahe umgebracht.« Sie drehte sich zu Curval um. »Das beweisen wir, indem wir Ralphs Flugbahn ein paarmal in den Simulationen ablaufen lassen.«

»Was, zum Teufel, verstehen Sie denn vom Programmieren?« fragte Curval.

Sie seufzte. »Teuflisch wenig. Aber ich bin doch die verklemmte Streberin; erinnern Sie sich? Das ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber in Mathematik bin ich so bewandert, daß ich die Funktionsweise von Routinen wie dem PGNS kenne.

Sehen Sie.« Mit den Händen imitierte sie den Abstieg des MLTV. »Das PGNS versucht, zu jedem Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit eine ideale Kurve zwischen der momentanen Position und dem Ziel zu ermitteln. Zauberei ist das nicht. Nur Mathematik. Und die unterliegt nun mal Beschränkungen.

Die Kurven, die das Programm verwendet, sind Polynome. Kurven mit Schnörkeln. Je höher die Ordnung des Polynoms, desto verschnörkelter die Kurve. Die Anzahl der Kurven ist endlich; als ob man aus einer bestimmten Anzahl von Kurven eine Art Kennfeld zusammenstellen wollte. Je komplizierter die Daten sind, mit denen man das Programm füttert, desto verschnörkelter wird die Kurve, die aus den Datenpunkten resultiert. Soweit klar?«

»Und wieso ist das so schlimm?« fragte Gershon, wobei er sich dümmer stellte, als er war. »Und wieso muß ich darüber Bescheid wissen?«

Sie mußte an sich halten. »Weil das Programm nicht weiß, wo der Boden ist. Es ist schließlich kein menschlicher Pilot, Ralph, sondern ziemlich dumm. Die Leistung des PGNS beschränkt sich darauf, zwei Punkte im Raum durch eine Kurve zu verbinden. Wie die Kurve aussieht, interessiert das Programm nicht. Und wenn der Verlauf der Kurve Sie zufällig unter die Erde befördert und dann wieder an die Oberfläche.«

Curval stieß einen Pfiff aus. »Weil Ralph also tief und schnell flog.«

».war das PGNS nur in der Lage, Polynome höherer Ordnung zu berechnen. Eine Kurve mit lauter Schnörkeln.«

»Hubschrauber-Erfahrung«, murmelte Gershon. Dieser Gedankensprung verwirrte York. »Huh?«

»Hubschrauber-Erfahrung. Das ist ein schöner Vogel und leicht zu fliegen. Aber die Routine, die man als Pilot eines Flugzeugs erworben hat, nützt einem dabei überhaupt nichts.« Offensichtlich hatte er ihr nicht zugehört. Oder vielleicht hatte er sich aus ihren Ausführungen auch nur das herausgepickt, was er noch nicht wußte und hatte dann schon den nächsten Schritt auf dem Weg zum Mars gemacht. »Wenn das MEM solche Flugeigenschaften hat, befinden Leute mit Hubschrauber-Erfahrung sich im Vorteil. Das steht mal fest.«

»Und Sie verfügen wohl über derartige Erfahrung?«

»Nein. Aber das wird sich bald ändern.« Er klemmte sich den Helm unter den Arm und stapfte über das Rollfeld zum MLTV zurück. Der kleine Mann strahlte eine unerschütterliche Entschlossenheit aus.

Curval kratzte sich am Hinterkopf. »Was für ein Tag. Was für ein Arschloch.«

Schon möglich, sagte York sich. Aber auf mich wirkt er wie ein Arschloch, das schon bald zum Mars fliegen wird.

November 1983 Newport Beach

Als er das flache Feldsteingebäude betrat, das den Managern von Columbia als Büro diente, spürte Gershon sofort die gespannte Atmosphäre.

Das Abnahmezeugnis war ein Meilenstein in der Entwicklung eines Raumschiffs, der Moment, wo das Schiff offiziell die Vertragsbedingungen erfüllte und Eigentum der Regierung der Vereinigten Staaten wurde. Und weil Raumschiff 009 das erste für eine bemannte Mission konzipierte MEM war - für den D1-Flug, wo das Schiff die Raumtüchtigkeit unter Beweis stellen sollte -, stand Columbia Aviation unter einem enormen Erwartungsdruck.

Ein Dutzend hochrangiger NASA-Vertreter und etliche Leitende Angestellte von Columbia waren an dem Projekt beteiligt: Chaushui Xu, Bob Rowen, Julie Lye und andere. Leute, mit denen Gershon sich vertraut machen mußte.

Doch der Abnahmetest verzögerte sich.

JK Lee, der heute als Konferenzleiter fungieren sollte, war noch nicht am Arbeitsplatz erschienen. Dem Vernehmen nach hatte er sich schon seit Freitag nachmittag nicht mehr blicken lassen. Und nun war Montag morgen, und jeder wußte, daß Lee normalerweise auch am Wochenende arbeitete. Gershon war leicht beunruhigt. Das sah Lee überhaupt nicht ähnlich.

Gershon zapfte an einem der allgegenwärtigen Automaten einen Becher Kaffee und zog eine Tüte Erdnüsse.

Es war noch kein einziger Probeflug erfolgt, und das MEM-Programm krankte jetzt schon an Verzögerungen, Pannen und

Budgetüberschreitungen. Columbia geriet ins Kreuzfeuer der Kritik: von der NASA, vom Kongreß und von Zulieferern.

Gershon wußte, daß Joe Muldoon so unzufrieden mit der in seinen Augen laschen Durchführung des Projekts war, daß er eine >Tiger-Team<-Revision angeordnet hatte. Diese Technik hatte die NASA bei der Luftwaffe abgekupfert. Das von Phil Stone angeführte >Tiger-Team< hatte ungehinderten Zutritt zum Werksgelände von Columbia und war befugt, die gesamte Ablauforganisation zu kontrollieren. Gershon wußte, daß das >Tiger-Team< auch heute hier war, trotz des Abnahmetests. Der Abschlußbericht stand kurz vor der Fertigstellung. Dies und der Abnahmetest erfolgten zusätzlich zur regulären Qualitätssicherung. Zu diesem Zweck weilten vierhundert NASA-Mitarbeiter in Newport und schauten der Belegschaft von Columbia über die Schulter. Das verstärkte den Druck auf JK Lee und seine Leute, die ohnehin schon aus dem letzten Loch pfiffen.

Endlich erschien JK Lee, mit schlampig gebundener Krawatte und einem Stapel Unterlagen unter dem Arm. Gershon hatte den Eindruck, daß sein linker Arm steif war. Lee legte die Unterlagen auf das Rednerpult an der Stirnseite des Raums und begrüßte zunächst ein paar der NASA-Vertreter.

Dann trat er ans Pult und bat um Aufmerksamkeit.

»Wir beschäftigen uns heute mit der Abnahmeprüfung für Raumschiff 009«, sagte er. »Es geht um die Herstellung der Einsatzbereitschaft, die Checkout-Prozeduren und die Triebwerkskopplungs-Prozeduren in Cape Canaveral. Wir sollten vermeiden, uns in Konstruktionsänderungen zu verzetteln; wir behandeln den spezifischen Checkout dieses Raumschiffs in seiner aktuellen Konfiguration.«

Er schaute in die Runde. »Ich möchte auch nicht, daß auf dieser Sitzung olle Kamellen durchgekaut werden. Wir wissen sehr wohl, daß das Schiff nur langsame Fortschritte macht. Das will ich auch gar nicht beschönigen. Wir haben noch nicht einmal die Versuchsreihen abgeschlossen, so daß der Abnahmetest im Grunde nur vorläufig ist. Aber ich arbeite daran.«

Darob wurden Unmutsäußerungen laut, doch niemand stellte Lee persönlich zur Rede.

Gershon nahm die umfangreichen Unterlagen zur Hand.

Unter Lees Leitung arbeiteten die Anwesenden die MängelListe ab. Die meisten Probleme waren geringfügig und schon in früheren Sitzungen diskutiert worden. Lee versuchte, die einzelnen Punkte schnell abzuhandeln, wobei er Diskussionen erst gar nicht zuließ und dafür sorgte, daß die Gruppe ihre Energie in die Erstellung eines Maßnahmenkatalogs für jedes Problem investierte.

Dennoch war die Liste so umfangreich, daß Gershon sich auf einen langen Tag einstellte; und vielleicht würden sie es heute gar nicht mehr schaffen.

Lee war heute gut in Form, sagte Gershon sich. Er war zwar überdreht, hakte die Punkte auf der Tagesordnung aber zügig ab. Erregte irgend etwas den Unmut der Anwesenden, entschärfte er die Situation mit einem Scherz. Er schuf eine entspannte Atmosphäre, die ein konstruktives Arbeiten ermöglichte.

Trotzdem schien Lee Probleme mit dem linken Arm zu haben. Er rieb sich ständig am Ellbogen, und es fiel ihm auch schwer, für längere Zeit zu stehen.

Zum Mittagessen war ein Büffet angerichtet. Gershon lud sich einen Teller voll und schlang das Essen hinunter. Dann lud Lee ihn zu einer Werksbesichtigung ein. Gershon folgte der Einladung. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es politisch klüger gewesen, wenn Lee sich bei den hohen Tieren von der NASA eingeschmeichelt hätte. Gershon hatte Columbia über die Jahre auch kritisch betrachtet. Doch hatte Lee offenbar nicht den Gefallen vergessen, den Gershon ihm erwiesen hatte, indem er ihn bei der Aufforderung zur Angebotsabgabe für das MEM bevorzugt behandelte.

Sie betraten den sogenannten Reinraum. Hier wurden die vier Testgeräte unter antiseptischen Bedingungen montiert. Lee und Gershon mußten sich in eine Liste eintragen und weiße Kittel sowie Plastikhauben und -überschuhe anziehen. Der Vorarbeiter ersuchte sie, den markierten Pfaden zu folgen und sich doch bitte vom Raumschiff fernzuhalten.

Der weißgetünchte, in hellem Licht erstrahlende Raum erstreckte sich in alle Richtungen. Das Personal arbeitete an großen Geräten. Die Besucher vernahmen leises Murmeln, metallisches Klirren und surrende Maschinen. Große Winden und Kräne hingen vom verstärkten Dach, bereit zur Aufnahme schwerer Lasten.

Der Reinraum erinnerte Gershon eher an das Atelier eines Bildhauers als an eine Fabrik; die Arbeitsabläufe wirkten keineswegs routiniert. Weil vom MEM nur eine Kleinserie produziert wurde, erweckte die Werkshalle eher den Eindruck eines Experimentallabors.

Und inmitten dieser Szenerie nahmen vier konische Körper Gestalt an, als ob sie sich aus einer superkonzentrierten Lösung herauskristallisierten. In Gershons Augen sahen die silbrigen, von Düsen und Fenstern durchbrochenen Körper aus wie religiöse Artefakte, wie aufgereihte Pyramiden.

Dies hier war die Manifestation von Lees Leistung, sagte Gershon sich. Inmitten des Management-Chaos - und laufender Änderungen, unbequemer Kunden, konstruktiver Probleme und Budgetüberschreitungen - schlüpfte JK Lee in die Rolle eines Zauberers und schuf in einer Werkshalle in Newport Beach vier Mars-Raumschiffe.

Jeder dieser Kegel verkörperte eine Botschaft: Dies ist ein bemanntes Raumschiff. Der KVP - der Kontinuierliche Verbesserungsprozeß in der dritten Dimension - wird ihre sichere Rückkehr gewährleisten.

Lee grinste. »Das habe ich bei einem Automobilhersteller geklaut«, sagte er und rieb sich erneut den Arm. Er wirkte abgespannt und müde, und es gebrach ihm an der Energie und Vitalität, die Gershon sonst immer bei ihm wahrgenommen hatte. Vielleicht sog der Abnahmetest ihm die ganze Energie aus dem Körper.

Sie verhielten vor einem der glänzenden Raumschiffe. »Raumschiff 009«, sagte Lee. »Das Objekt des heutigen Abnahmetests und das erste MEM, das eine Besatzung tragen wird. Toll, nicht?«

Das neun Meter hohe MEM türmte sich wie ein Metallzelt vor Gershon auf. In der schimmernden, hitzebeständigen Hülle klafften noch viele Lücken, und er sah die Subsysteme im Innern - als ob es sich um ein Schnittmodell gehandelt hätte.

Er betrachtete den Aufbau des Schiffs. Entlang der Achse des MEM verlief die schlanke Röhre der Aufstiegsstufe - ein Raumschiff im Raumschiff -, mit der eckigen Kabine an der Spitze. An der Grundfläche des MEM saß der massive HalbTorus, der als Wohnmodul während des Aufenthalts auf dem Mars diente. Von dort schlängelte der Zugangstunnel sich zur Aufstiegsstufe an der Spitze der Stufenrakete. Und dem Wohnmodul gegenüber waren die Treibstoff- und Oxidatortanks montiert, die gleichzeitig als Gegengewicht fungierten: große Kugeln für die Landestufe und kompakte Zylinder für die Aufstiegsstufe, die wie Beeren einer asymmetrischen Traube gruppiert waren.

Eine Laufbühne auf Rädern stand neben dem MEM. Von der Bühne führten Stege ins Innere des MEM, und Gershon sah Arbeiter in weißen Overalls, die bäuchlings an Kabelbäumen,

Schalttafeln und Rohrleitungen arbeiteten. Sie wirkten wie Würmer, die in der leuchtenden Maschine herumkrochen.

Gershon ging in die Hocke, um einen Blick ins Innere des Wohnmoduls zu werfen. Er sah die großen Schränke, in denen die Mars-Schutzanzüge und die EVA-Ausrüstung verstaut werden würden. Die lindgrünen Wände des Wohnmoduls waren mit vierundzwanzig Schalttafeln und fünfhundert Schaltern besetzt. Überall waren Warnlampen plaziert. Da und dort quollen Drähte aus einer Schalttafel, doch ein paar der Schalttafeln und Lampen waren bereits funktionsfähig. Das glühende Licht zauberte Reflexe auf die Experimentiertische und die wissenschaftliche Ausrüstung.

Gershon wäre in der Lage gewesen, den Aufbau des Schiffs mit verbundenen Augen zu skizzieren. Nachdem er so viele Jahre bei Columbia und so viele Stunden in verschiedenen Simulatoren zugebracht hatte, kannte er die Position jedes verdammten Schalters. Er durfte mit Fug und Recht sagen, die Hälfte der Schalttafeln, die er von seinem Standort aus sah, selbst konstruiert zu haben.

Es roch nach Kabeln, Schmierstoffen, Ozon und Metall. Obwohl das MEM noch unvollendet war, wirkte es jetzt schon unvergleichlich lebendiger als jeder Simulator. Es war wie das Cockpit eines fabrikneuen Flugzeugs.

Und es war behaglich. Ein solches Versteck hätte Gershon sich als Kind gewünscht, eine Kombination aus Werkstatt, Funkstation und Clubhaus.

Es würde ihm nichts ausmachen, hier für einen Monat auf dem Mars auszuharren, sagte er sich; nicht im geringsten.

Sofern er überhaupt die Gelegenheit dazu bekam.

Die Anwesenden gerieten in Wallung, und Gershon straffte sich, um die Ursache hierfür zu ermitteln.

Jack Morgan kam mit einem Dokument in der Hand auf Lee und Gershon zu. »JK! Haben Sie das schon gesehen?«

Gershon identifizierte das Dokument als Zusammenfassung des vorläufigen Berichts, den Phil Stones >Tiger-Team< über das MEM-Programm verfaßt hatte.

Es handelte sich um eine Fotokopie mit dem Vermerk >Vertraulich<; Gershon vermutete, daß ein Sympathisant innerhalb der NASA Columbia diesen Bericht zugespielt hatte.

Lee überflog den Inhalt. »Mein Gott«, sagte er. »Mein Gott.«

Jack Morgan stand daneben, wobei er die Hände rhythmisch zu Fäusten ballte.

Gershon hatte den Eindruck, daß Lee zitterte. Er rieb sich ständig den linken Arm, als ob er an Schmerzen litte. »Hört euch das an. >Der Fortschritt und die Perspektiven des Programms überzeugen mich nicht. Ich vermag auch keinerlei Anzeichen für eine zukünftige Leistungssteigerung zu erkennen.< Blöder Schwanzlutscher! >Meine Leute und ich haben jegliches Vertrauen in die Kompetenz von Columbia Aviation als Organisation verloren. Ich hege starke Zweifel an Columbias Absicht und Entschlossenheit, den Auftrag ordnungsgemäß auszuführen.. .<«

Jack Morgans Zorn schien sich durch die Beobachtung von Lee zu verflüchtigen. »JK, was haben Sie denn mit Ihrem Arm?«

Lee fuchtelte mit beiden Armen herum. »Vergessen Sie meinen Arm! Hören Sie zu: >Meines Erachtens sollte die NASA drastische Maßnahmen in Betracht ziehen, einschließlich der Möglichkeit, den Auftrag anderweitig zu vergeben.««

Morgan runzelte die Stirn und faßte Lee am rechten Ellbogen. »Hören Sie mir zu, Arschloch. Sie kommen jetzt mit in mein Büro.«

Lee wollte sich losreißen, doch Morgan ließ nicht locker und bedeutete Gershon mit einem Kopfnicken, den anderen Arm zu ergreifen.

Zögernd nahm Gershon Lees knochigen Ellbogen.

Dann bugsierten Morgan und Gershon JK Lee aus dem Reinraum hinaus, vorbei an den glotzenden Technikern. Die drei hatten noch immer die Schutzkleidung an.

Lee fuchtelte mit dem Bericht herum und brüllte wie ein alttestamentarischer Prophet: »>Es ist mir nicht zuzumuten, weiterhin mit einem Auftragnehmer zusammenzuarbeiten, der die Regierung bei einem MultiMilliarden-Dollar-Projekt von nationaler Bedeutung in die Bredouille bringt. < Zum Teufel mit dir, Mr. Phil abgefuckter Stone!«

Nachdem sie Morgans Büro betreten hatten, baute dieser ein tragbares EKG auf.

Lee beäugte das Gerät. »Was soll das?«

»Krempeln Sie die Ärmel hoch, JK.«

»Mein Herz ist in Ordnung.« Lee ließ sich auf Hände und Füße nieder und machte zu Gershons Erstaunen Liegestütze. »Sehen Sie!« rief Lee und schaute zu Morgan hoch, wobei er sich fast den Hals verrenkte. »Wenn ich eine Herzattacke hätte, wäre ich schon tot.«

Jack ignorierte Lees Sprüche. Er bückte sich, packte Lee beim Schlafittchen und stellte ihn wieder hin. Dann drückte er Lee auf einen Stuhl und befestigte die EKG-Elektroden.

Lee hielt noch immer den Stone-Bericht in der Hand. »Seht euch das an! Er hat sogar eine Liste von Leuten erstellt, die gefeuert werden sollten! Sie und ich sind auch dabei, Jack! -Schwanzlutscher!«

Morgan betrachtete die EKG-Kurve und schaute dann Lee an. »Sie müssen ins Krankenhaus.«

»Hühnerkacke«, pöbelte Lee. »Ich stecke mitten in einem abgefuckten Abnahmetest.« Er stand auf und wollte zur Tür hinaus.

Morgan verstellte ihm einfach den Weg und nickte Gershon zu. »Rufen Sie Mr. Cane an«, trug er ihm auf. »Sagen Sie ihm, er müsse mit Lee reden.« Dann drehte er sich um und schrie einen Assistenten an, er solle die Sanitäter holen.

Ohne sich über die möglichen Folgen seines Handelns im klaren zu sein, griff Gershon zum Telefon.

Lee zitierte weiter aus dem Bericht: »Schaut euch einmal diesen Scheiß an. Versäumte Fristen. Verspätet eingereichte Zeichnungen. Budgetüberschreitungen. Ja, ja. Aber begreifen die denn nicht, wie komplex diese Sache ist? Oder welches Chaos ihre Leute hier verursachen, wenn sie wieder mal auf einer Änderung bestehen? Es bringt überhaupt nichts, sich nur die Papiere anzusehen, sondern man muß einen Blick auf die verdammte Hardware werfen. Sicher, wir liegen im Zeitplan zurück. Aber das ist doch ein Witz.« Er schaute Morgan flehentlich an. »Es ist eine Hexenjagd, Jack. Genau das ist es. Eine abgefuckte Hexenjagd.«

Gershon hielt Lee den Hörer hin. »Art Cane möchte Sie sprechen.«

Art Cane befahl ihm, das Werksgelände zu verlassen.

Zwei Sanitäter rannten den Gang entlang. Sie hatten einen Rollstuhl dabei.

JK Lee schaute sich verwirrt um. Er trug noch immer die Überschuhe und die Plastikhaube aus dem Reinraum.

Die Sanitäter ignorierten seinen schwachen Protest, setzten ihn in den Rollstuhl und transportierten ihn eilends ab.

Mit zitternden Händen zündete Morgan sich eine Zigarette an.

Gershon merkte, daß er selbst auch zitterte. »Mein Gott«, sagte er zu Morgan. »Das habe ich nicht gewußt.«

Morgan nahm die Plastikhaube ab. »Wirklich? Teufel, JK ist nicht der einzige, der bei diesem verfluchten Programm fast draufgegangen wäre. Haben Sie noch nicht davon gehört? Es wird als das Ares-Syndrom bezeichnet.«

Es war doch ein Herzanfall gewesen; es erwischte Lee, kurz nachdem die Sanitäter ihn ins Krankenhaus gebracht hatten.

Als Lee nach ein paar Tagen wieder zu sich kam, ließ er sich zuerst ein abhörsicheres Telefon ins Zimmer stellen. Dann rief er in der Firma an.

Er stach in ein Wespennest.

Die endgültige Version von Phil Stones >Tiger-Team<-Bericht war - sofern eine Steigerung überhaupt möglich war - noch vernichtender als die Version, die ihnen im Sommer zugespielt worden war. Und es kursierten wilde Gerüchte in der Presse, wonach die NASA einen anderen Auftragnehmer für das MEM suchen wollte.

Schließlich war der Punkt erreicht, wo die Spekulationen ihrerseits Spekulationen zu gebären schienen - Lee hatte sogar schon Artikel über die Anzahl der Artikel gesehen, die zu den MEM-Problemen erschienen waren. Lee hatte den Eindruck, daß seine Leute mehr Zeit mit der Auswertung des Pressemülls sowie der Gerüchte in der NASA und in der Firma selbst verbrachten als mit dem Raumschiffbau.

Was Lee betraf, so war das alles nur heiße Luft; die NASA war nämlich gar nicht in der Lage, Columbia fallenzulassen, wenn sie an der für 1986 geplanten Landung auf dem Mars festhalten wollte.

Dennoch mußte Columbia irgendwie reagieren.

Art Cane setzte in Lees Abwesenheit eine weitere interne Revision an.

In den folgenden Tagen analysierte ein hochkarätiges Team das gesamte Programm und befragte Hunderte von Leuten. Die ganze Sache war vertraulich; die benutzten Räume wurden sogar auf Wanzen untersucht. Diese Maßnahmen sollte die Belegschaft eigentlich beruhigen, doch Lee war sicher, daß sie den Leuten höllisch Angst machen würde.

Zumal die ersten Ergebnisse dieser Revision keinen Deut günstiger ausfielen als Stones Schlußfolgerungen.

Der zur Hilflosigkeit verurteilte Lee kochte vor Wut. Es gibt überhaupt nichts auszusetzen an dem gottverdammten Programm. Sie nehmen meine Firma ohne jeden Grund auseinander. Das ist wirklich eine Hexenjagd.

Und das alles geschah, ohne daß Lee die Möglichkeit zum Eingreifen gehabt hätte. Seine Leute sorgten sich um ihre eigene Position und um Lees Zukunft.

Also rief Lee Jack Morgan an und sagte ihm, er wolle aus dem Krankenhaus entlassen werden.

Damit war Morgan natürlich nicht einverstanden. Lee lag gerade einmal zwei Wochen im Krankenhaus.

Morgan besuchte ihn dort und brachte auch gleich Jennine mit, damit sie ihn zum Bleiben überredete.

»JK, du wirst noch für mindestens zwei Wochen hierbleiben müssen, vielleicht sogar für einen Monat.«

Lee war wütend. Der Zorn über den Verrat seines Körpers schien wie Stickstoff-Tetrachlorkohlenstoff durch die Adern zu rinnen. Die flüchtige Substanz zerfraß ihn förmlich. Er stieg aus dem Bett und machte Liegestützen. »Seht ihr?« keuchte er. »Um Himmels willen, was ist nur los mit euch? Seht ihr denn nicht.«

Jennine schrie auf. Sie preßte die Hände auf die Wangen, so daß das Gesicht nur noch ein schmales, feuchtes Band war.

»Hör auf. Hör auf, JK!«

Sie schlossen einen Kompromiß. Drei Wochen nach dem Herzanfall wurde er entlassen.

Bestandteil der Abmachung war, daß er noch für mindestens zwei Wochen zu Hause blieb und auch dort nur arbeitete, wenn es unbedingt sein mußte.

Er versuchte fernzusehen. Es lief ein deprimierender Streifen namens Der Tag danach, der von einem Atomangriff auf Lawrence, Kansas, handelte. Jeder empfahl ihm, sich den Film anzusehen.

Nach einer Stunde feuerte er die Fernbedienung in die Ecke. Jason Robards mochte er eh nicht leiden.

Nach zwei Tagen hielt er die Isolation nicht mehr aus und holte den Thunderbird aus der Garage.

Jennine versuchte erst gar nicht, ihn aufzuhalten. Sie sah nur zu, wie er aus dem Haus ging. Er vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen. Bei dem verletzten Ausdruck in ihren Augen bekam er Gewissensbisse.

In der Firma herrschte Chaos. Es war noch schlimmer, als er erwartet hatte. Die NASA-Leute tummelten sich noch immer auf dem Werksgelände, und Art Cane sprang im Dreieck; er war überzeugt davon, den MEM-Kontrakt zu verlieren.

Also versuchte Lee, wieder die Regie zu übernehmen.

Zuerst warf er alle Außenstehenden raus - die NASA-Leute und den Rest -, deren Anwesenheit er als nicht zwingend erforderlich für den Fortschritt des MEM erachtete. Dafür brauchte er gerade einen Tag. Die NASA-Größen waren damit natürlich nicht einverstanden, aber er warf sie trotzdem raus.

Dennoch grämte er sich ein wenig, weil Art Cane diese Maßnahme nur verhalten unterstützte.

Dann verbrachte er ein paar Tage mit der Durchsicht der beiden Revisionsberichte und strich die Passagen, welche politisch motiviert beziehungsweise irrelevant waren, von

Ahnungslosigkeit kündeten oder einfach nur dumm waren, rot an. Am Schluß war fast der ganze Text rot eingefärbt.

Die Revisoren - sowohl die internen als auch die externen -hatten sich darauf gestürzt, was er als >leichte Beute< bezeichnete: Fristversäumnisse, theoretische und praktische Probleme. Für Lee waren Zeitpläne schön und gut - es waren eben Prognosen, die von der Führung verlangt wurden und um deren Realisierung man sich auch bemühte -, doch Tatsache war, daß Columbia die Hälfte der Zeit nicht wußte, was man hier überhaupt baute, welche Schlußfolgerungen aus den aktuellen Testergebnissen zu ziehen waren oder welche Änderungen die Konstruktionsgruppen in Marshall, Houston oder sonstwo sich wieder einfallen ließen. Bei einem Programm wie dem MEM war es im Grunde unmöglich, sich an einen Zeitplan zu halten. Lee war sicher, daß die Verzögerungen gewiß nichts mit der Kompetenz seiner Leute zu tun hatten; sie waren eher ein Maßstab für die inhärente Komplexität der Arbeit, die sie hier zu bewältigen versuchten.

Columbia baute ein Raumschiff, um Himmels willen; man mußte nur durch den Reinraum gehen und sich die vier im Werden begriffenen Versuchsgeräte anschauen, um zu wissen, daß Lee trotz des Rauschens im Blätterwald auf Erfolgskurs war.

Nach ein paar Tagen ging er zu Art Cane und knallte ihm die zwei dicken Revisions-Berichte auf den Schreibtisch. Jeder Absatz war von Lee redigiert worden. Entweder hatte er die Textstellen unter Verwendung von Korrekturzeichen ergänzt oder als irrelevanten Scheiß markiert, wobei er die jeweiligen Passagen einfach durchgestrichen hatte.

Mit skeptischer Miene blätterte Cane die Wälzer durch. Doch er akzeptierte Lees Vorlage und sagte ihm, er solle die Kommentare zu den Berichten noch einmal formell abfassen.

Als nächstes versammelte Lee alle Werksangehörigen, die am MEM-Programm beteiligt waren - inzwischen fast tausend Leute - in der alten Kantine. Der Raum diente noch immer als Konferenzraum, und die Wände waren mit Netzplänen und anderen Grafiken tapeziert. Lee vergrößerte ein Foto des ersten MEM-Raumschiff 099 -, so stark, daß es die Wand hinter ihm ausfüllte. Die große silberne Pyramide machte sich gut als >Wandgemälde<. Lee stellte sich vor seinen Leuten auf einen Tisch, stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick über das Meer aus gramvollen Gesichtern schweifen.

»Ich weiß, daß ihr eine schwere Zeit durchmacht, Leute. Ein paar Besserwisser behaupten, bei uns wüßte die rechte Hand nicht, was die linke tut. Wir haben gewiß Fehler gemacht. Doch nun beheben wir sie. Und tief im Innern weiß ich - und ihr wißt es auch -, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Und ich weiß auch, daß mit dem Raumschiff alles in Ordnung ist. Wenn die NASA im April fliegen will.« - das Zieldatum für die D1-Mission, dem ersten bemannten Flug -, »dann werden wir bereit sein.

Ich möchte, daß Sie alles andere vergessen und nur auf diesen ersten Flug hinarbeiten. Wir werden uns auf dieses eine Raumschiff konzentrieren und es zum Fliegen bringen. Wenn dieser Flug nämlich ein Erfolg wird, glaubt mir, dann läuft auch der Rest des Programms wie geschmiert. Das geht dann ruckzuck.

Und noch eins.« Er schaute in die Runde. Die Gesichter der Leute wirkten durch die gleichmäßige Ausrichtung zu ihm irgendwie jünger, und er verspürte plötzlich einen starken Beschützerinstinkt. »Noch eins. Ich weiß, daß ich mir keine besseren Mitarbeiter wünschen könnte. Und nun laßt uns wieder an die Arbeit gehen und Geschichte schreiben.«

Das war Routine für Lee, die Variation einer Ansprache, wie er sie schon bei vielen Projekten gehalten hatte, um seine

Mitarbeiter zu motivieren. Bei der B-70 hatten die Leute ihm sogar zugejubelt.

Doch diesmal jubelte niemand; die Leute nickten nur mit dem Kopf. Und als er fertig war, machten sie einfach kehrt und gingen wieder an die Arbeit.

Er kletterte von dem wackligen Tisch herunter, wobei Jack Morgan ihm Hilfestellung gab. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er fühlte sich isoliert und irgendwie verwundbar.

Vielleicht war es wieder das Herz.

Zum Teufel damit! Er stützte sich leicht auf Jack Morgan und unternahm eine Werksinspektion. Er wies auf Probleme hin, raunzte Techniker an und machte den Gruppenleitern Feuer unter dem Hintern.

Dienstag, 8. November 1983

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

Joe Muldoon war kein glücklicher Mann.

Er hatte eine Entscheidung zu treffen, und heute war der Tag, wo er sie treffen mußte.

Er hatte die Namen der dreiköpfigen Ares-Besatzung - des Kommandanten, des Missions-Spezialisten und des Piloten des Mars-Exkursions-Moduls - auf einen Zettel geschrieben, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

CDR: Stone. MSP: Bleeker. MMP: Curval.

Ares sollte in weniger als achtzehn Monaten starten, und die NASA stand vor dem Problem, eine Besatzung auszuwählen. Die Öffentlichkeit war noch nicht informiert, und die NASA gab diesen Druck nun an Joe Muldoon weiter, der schließlich für die Auswahl der Besatzung zuständig war.

Im wissenschaftlichen Lager regte man sich darüber auf, daß alle drei Astronauten, die als Erstbesatzung für den Mars-Flug

vorgesehen waren, aus den Reihen des Militärs stammten. Adam Bleeker, der in den von York geleiteten Geologiekursen gute Leistungen erbrachte und dem von allen Seiten Intelligenz, Kompetenz und Erfahrung als Astronaut bescheinigt wurde, war in den Augen der Eierköpfe dennoch eine Fehlbesetzung als Missions-Spezialist. Die Akademie der Wissenschaften und das Geologische Institut der USA betonten immer wieder, daß die NASA mit Natalie York über eine exzellent qualifizierte Mars-Expertin verfügte, aber einfach nicht bereit sei, sie bei der Mission zu berücksichtigen. Und die anderen Wissenschaftler im Astronauten-Korps, die Geochemiker, Geophysiker und Biowissenschaftler, waren auch übergangen worden.

Es war genau das gleiche wie bei Apollo, sagten sie.

York hatte gezeigt, daß sie auch unter Druck gute Arbeit leistete - zum Beispiel als Capcom bei Apollo-N -, und sie hatte eine eindrucksvolle Bilanz im Simulator vorzuweisen. Sie wäre für den Flug wohl geeignet.

Muldoon wußte, daß er der wissenschaftlichen Lobby den Wind aus den Segeln nehmen würde, wenn er York zur Missions-Spezialistin ernannte. Zumal, so sagte er sich, eine Ernennung von York auch den günstigen Nebeneffekt hätte, ein paar andere Interessengruppen ruhigzustellen - die Minderheitenvertreter -, die sich schon die ganze Zeit darüber beschwerten, daß die NASA angeblich nur Männer weißer Hautfarbe ins All schickte.

Also aktualisierte er die Namensliste unter diesen Gesichtspunkten:

CDR: Stone. MSP: York. MMP: Curval.

Doch York war eine Anfängerin.

Er erinnerte sich, was York beim Vorstellungsgespräch gesagt hatte. Wir müssen einen Wissenschaftler zum Mars schicken. Aber ein toter Wissenschaftler auf dem Mars würde uns nicht viel nützen. Es handelte sich hier nicht um eine lustige Landpartie, sondern um eine langfristige WeltraumMission mit dem Einsatz ebenso komplexer wie störanfälliger Technik.

Wenn er sich vor Augen führte, was sie hier überhaupt taten, kam die Sache ihm manchmal richtig irreal vor. Sie wollten drei Menschen in einem labberigen Ensemble aus Blechbüchsen auf eine fünfundsechzig Millionen Kilometer weite Reise schicken. Und dann hegten sie auch noch die Hoffnung, daß die Erzeugnisse des Maschinenbaus, die in Lees Klitsche in der Provinz zusammengeschraubt wurden und die Erfahrung, die man binnen einer Generation mit Flügen in der Erdatmosphäre gesammelt hatte, hinreichend seien, um der Besatzung eine sichere Landung auf der Oberfläche eines fremden Planeten zu ermöglichen.

Die Größe - die Kühnheit - des Projekts war schier überwältigend. Dabei war er immerhin schon auf dem Mond spazierengegangen.

Vielleicht gingen sie wirklich zu weit - und zu schnell, wie viele Leute sagten.

Er tat das mit einem Achselzucken ab. Wie dem auch sei, sie würden zum Mars fliegen.

Was Muldoon betraf, so war es besser, einen Menschen auf den Mars zu schicken, als wissenschaftliche Forschungen mit ungewissen Resultaten zu betreiben. Von seinem Standpunkt aus wurden die Erfolgsaussichten dadurch maximiert, indem er seine drei besten Flieger hochschickte: Leute, die den extremsten körperlichen Belastungen, die der Heimatplanet zu bieten hatte, gewachsen waren. War nur zu hoffen, daß das auch für den Mars reichte.

Obwohl er durchaus von York beeindruckt war, hatte er dennoch Bedenken. Diese Intensität. Beim Eintritt in die NASA hatte sie einen Groll gegen die ganze Welt gehegt, und soweit er es zu beurteilen vermochte, war dieser Groll in der Zwischenzeit nur noch stärker geworden. Dieses gottverdammte Zusammenziehen der Augenbrauen. Sie würde ihre Kameraden binnen eines Monats in den Wahnsinn treiben.

York war einfach noch nicht soweit. Es war eine Schande.

Er strich die Liste durch.

Zumal es auch gar nicht die Besetzung des MSP war, die ihm im Moment die größten Sorgen bereitete, sondern der MMP.

Er hörte von den Missions-Controllern und anderen viel Schlechtes über Ted Curvals Leistungen.

Curval war einer der besten Testpiloten, mit denen Muldoon bisher zusammengearbeitet hatte. Und Phil Stone, sein Kommandant, verhielt sich ihm gegenüber äußerst loyal. Doch es haperte an Curvals Einstellung.

Curval war unglaublich arrogant. Er betrachtete seine Ernennung als selbstverständlich und schien die Ansicht zu vertreten, es genüge, die Leute mit seiner Anwesenheit zu beglücken, während des Trainings Faxen zu machen und dann ins MEM zu steigen, wenn es soweit war. Null Problemo. So entsprachen zum Beispiel die Leistungen im Simulator nicht den Erwartungen der Simulationsleiter.

Muldoon hatte Stone schon darauf angesprochen; er war der Ansicht, daß es Stone als Kommandanten der Besatzung oblag, Curval zur Raison zu bringen.

Jeder wußte, wie schwierig es war, die Beherrschung eines Systems zu erlernen, das um Größenordnungen komplexer war als alle Raumschiffe, die bisher geflogen waren. Das enthob Curval aber nicht der Verpflichtung, sich zusammenzunehmen. Nur daß Curval keinerlei Anzeichen der Besserung zeigte, ganz zu schweigen von der Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Besserung.

Insgeheim verglich Muldoon Curval mit einem anderen guten Piloten: Ralph Gershon.

Muldoon beobachtete Gershon schon seit einer Weile. Der Mann übernahm bereitwillig jeden Auftrag, der ihm erteilt wurde. Muldoon hatte Gershons Leistungen im Simulator verfolgt und vernommen - ironischerweise von Ted Curval selbst -, mit welcher Entschlossenheit Gershon versucht hatte, ans Marslandungs-Trainingsgerät heranzukommen und daß er das Gerät nun virtuos beherrschte. Darüber hinaus hatte er viel Zeit in Newport Beach verbracht und sich an der langwierigen Entwicklung des MEM beteiligt.

Gershon brachte sich allmählich selbst in eine Position, wo er sich automatisch als MEM-Pilot qualifizierte.

Dessen war er sich wohl bewußt - wahrscheinlich arbeitete er sogar darauf hin -, doch ein Fehler war das nicht. Damit bewies Gershon nämlich, daß er das System durchschaut hatte und sich an die Spielregeln hielt.

Der Kontrast zum selbstgefälligen Curval war augenfällig. Muldoon schätzte Gershons Potential als Pilot zwar nicht ganz so hoch ein wie das von Curval, doch Curval zeigte keinerlei Anzeichen, daß er sich des Potentials überhaupt bewußt war, das er besaß.

Zumal die Ernennung von Gershon auch eine andere Fraktion der Minderheiten-Lobby ruhigstellen würde. Amerikas erster Schwarzer im Weltall. Andererseits war Muldoon nicht bereit, sich bei seiner Entscheidung von solchen Erwägungen leiten zu lassen. Wenn der Eindruck aufkam, daß Gershon unverdient bevorzugt wurde - wenn er bei dieser Mission Leuten vorgezogen wurde, die besser qualifiziert waren -, dann würden Muldoon sofort hundert Kündigungen auf den Schreibtisch flattern. Und Muldoon würde sie bündeln, seine eigene Kündigung obendrauf legen und Josephson zusenden. In dieser Hinsicht würde er keine Kompromisse eingehen.

Was ihm viel mehr Sorgen bereitete, war der Umstand, daß Gershon als Astronaut ein Anfänger war. Und dann stellte sich natürlich auch die Frage nach Gershons Belastbarkeit - was auch ein Grund dafür war, weshalb er trotz der langen Zugehörigkeit zur NASA noch immer nur dem >Bodenpersonal< angehörte.

Gershon war in Vietnam gewesen.

Das war ein anderer Krieg gewesen als die Waffengänge, von denen die Alten sangen. Gershon war ein Einzelgänger, ein Junggeselle, der vielen Kollegen zu wild und exzentrisch war -vor allem den älteren Semestern, die auf ihre Weise erzkonservativ waren.

Das stempelte Gershon zum Risikofaktor. Letztlich kam es jedoch darauf an, daß Gershon das MEM wahrscheinlich noch in Situationen landete, wo viele Piloten entweder abbrechen oder sogar eine Bruchlandung verursachen würden.

Und wenn Muldoon ihn für die anstehende D1-Mission einteilte und ihm erlaubte, das MEM im Erdorbit einer Flugerprobung zu unterziehen, würde er seine Fähigkeiten vielleicht unter Beweis stellen und den Makel des Anfängers verlieren.

Muldoon notierte drei Namen.

CDR: Stone. MSP: Bleeker. MMP: Gershon.

Das sah gar nicht so schlecht aus. Die Besatzung bestand nach wie vor aus lauter Piloten - und zwar Kampfpiloten. Gershon wies brillante Züge auf, die Curval abgingen und die vielleicht zwischen Erfolg und Mißerfolg entschieden, wenn die Mission auf dem fünfundsechzig Millionen Kilometer entfernten Mars auf des Messers Schneide stand. Außerdem wußte Muldoon, daß er sich darauf verlassen konnte, daß Gershon - im Gegensatz zu Curval - jede Arbeit übernehmen würde, die im Rahmen der Mission anfiel, einschließlich der Drecksarbeit. Wie der Geologie.

Zumal Stone und Bleeker, beides ruhige und nervenstarke Vertreter, Gershon gewiß stabilisieren würden.

Also Gershon.

Damit würde er die quengelnden Wissenschaftler bestimmt nicht besänftigen, doch über deren Kritik mußte er erhaben sein. Bleeker war ein guter Mann, und er hatte keinerlei Veranlassung, ihn fallenzulassen.

Obendrein zog er ins Kalkül, daß mit der Ernennung des Anfängers Gershon Natalie York endgültig aus dem Rennen war; vor allem, wenn Gershon bei der Dl-Mission Erfahrung sammelte. Ein Anfänger beziehungsweise Novize in der Besatzung war schon genug; zwei waren seiner Ansicht nach geradezu lachhaft.

Er griff zum Telefon und beauftragte Mabel, ihn mit Stone, Bleeker, Gershon und Curval zu verbinden.

Er fragte sich, ob er York auch anrufen solle. Dann gelangte er zu dem Schluß, das sei nicht erforderlich.

Donnerstag, 12. Juli 1984 Cheney-Palouse Scabland, Macall,

Bundesstaat Washington

Es war noch nicht einmal zehn Uhr, und die Sonne brannte schon auf Phil Stones Kopf und Rücken. Er spürte, wie der Schweiß sich unter dem Kragen und der leichten Fliegerhaube sammelte und das Hemd unter dem schweren Tornister tränkte.

Er hatte den Eindruck, daß der Boden nur aus schwarzem Fels bestand, und die Hitze, die der wolkenlose Himmel wie ein Hochofen abstrahlte, traf ihn mit voller Wucht. Im Umkreis von Meilen gab es nichts außer Felsen, spärlichem Gras und Geröll.

In einem Plastikbeutel, der an Stones Gürtel baumelte, befanden sich Luftbildaufnahmen des Gebiets und ein paar topographische Karten des Geologischen Instituts der USA.

Nun entfaltete er eine Karte und ließ den Blick schweifen. Er versuchte, die Landmarken, die er sah, auf den Fotos und Karten wiederzufinden. Die Fotos waren retuschiert worden, so daß die Auflösung der Qualität der Aufnahmen entsprach, die Mariner vom Mars gemacht hatte.

Die Landschaft war einmalig. Sie wirkte wie das Werk eines Bildhauers und bestand aus Hügeln und Canyons, von denen ein paar direkt in den Fels gefräst waren. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Ich weiß nicht, wo wir sind«, gestand er. »Es ist verdammt schwierig. Vom Boden aus wirkt die Gegend ganz anders.«

Adam Bleeker, der neben Stone ging und ebenfalls mit Helm, Tornister und Mars-Stiefeln bepackt war, blieb stehen. Bleeker zog einen zweirädrigen Karren mit der Bezeichnung MET13. Bleeker beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf die Knie. Sein blondes Haar schien im Sonnenlicht zu lodern. »Ich habe eine Vorstellung, wo wir sind«, sagte Bleeker müde.

»Was?«

»Etwa anderthalb Kilometer östlich von der Bahnlinie. Ich habe gerade das Pfeifen einer Lokomotive gehört.«

Natalie Yorks Stimme ertönte im Kopfhörer. »Wiederholen Sie bitte, EVA14 Zwei; ich habe nicht verstanden.« York spielte Capcom im vergleichsweise komfortablen Zelt.

Bleeker richtete sich auf. Er schaute Stone kurz in die Augen und formte mit den Lippen einen lästerlichen Fluch.

»Roger, Natalie«, sagte Stone. »Auf der Marsoberfläche braucht man eine gute Kondition. Wir haben einen hohen Flüssigkeitsbedarf.«

»Dann trinkt was, ihr Babies.«

Bleeker fluchte stumm, doch Stone bedeutete ihm, damit aufzuhören. »Sie hat recht, verdammt noch mal. Komm weiter.« Er griff hinter den Kopf, wo zwei kurze Plastikschläuche aus dem Tornister ragten. Er führte einen Schlauch zum Mund und sog daran; schaler Tang floß über die Zunge.

Bleeker saugte auch Wasser aus seinem Tornister, machte eine Mundspülung und spie die Brühe dann auf den felsigen Boden. Es zischte; das Wasser verlief und verdunstete schnell.

»Probier mal den Tang«, sagte Stone.

»Bei Tang muß ich ständig furzen.«

»Ja, aber du mußt das Kalium ersetzen, das du durchs Schwitzen verlierst. Ist gut fürs Herz.«

»Seid ihr beiden Helden in der Lage, weiterzumachen?«

»Ach, halt die Klappe, York«, sagte Stone.

Sie strafften sich und marschierten weiter.

Dann kamen sie an ein breites, langgezogenes Bett aus Geröll und Lehm. Der felsige Untergrund stach wie schwarze Knochen durch die Lehmdecke. »Wir sind auf etwas gestoßen, das wie Löß aussieht, Natalie«, sagte Stone. »Ablagerungen in einem Flußbett.« Er merkte, daß er keuchte und sah, daß Bleeker, der sich mit dem schweren MET abmühte, so stark schwitzte, daß sein T-Shirt schon durchnäßt war. »Ich glaube, wir sollten ein SEP15 aufstellen.«

»Roger, EVA Eins.«

Ich geh dir gleich >Roger<. Im Zelt sitzen und Wissenschaftler spielen war viel angenehmer, als sich über dieses vulkanische Schlachtfeld zu schleppen. Zumal diese Übung noch schlimmer war als der wirkliche Einsatz: der Mars-Anzug hätte nämlich eine Klimaanlage.

»Adam, bilde mal die Vorhut. Geh in dieser Richtung, den Löß hinauf.«

»In Ordnung.« Bleeker stellte das MET ab, schulterte den Tornister und stapfte mit den blauen Mars-Stiefeln durch den Löß.

Stone kramte ein Paar Handschuhe aus dem MET. Die aus schwerem Gewebe bestehenden und mit Draht verstärkten Textilien sollten die Druckhandschuhe simulieren, die sie auf dem Mars würden tragen müssen. Nachdem er die Handschuhe übergestreift hatte, holte er das SEP aus dem Karren. Das SEP - eine Kollektion wissenschaftlicher Instrumente - hatte die Form einer Hantel und auch das entsprechende Gewicht. Es sollte ihnen ein Gefühl für das Gewicht vermitteln, welches das Originalteil in der Mars-Schwerkraft hatte.

Bleeker hatte inzwischen etwa dreißig Meter zurückgelegt. »Hierher«, rief er. »Hier kommt man besser voran.«

Stone ging in seine Richtung. »Also, Natalie, ich baue nun das SEP auf.«

»Rog.«

Es war anstrengend, mit den steifen Handschuhen die Hantel am Griff zu packen und sie vom Körper wegzuhalten. Nach vielleicht zehn Metern blieb er stehen und setzte das SEP ab.

»Das ist doch nur Sperrholz, Phil«, sagte Bleeker und lachte.

»Verdammt noch mal«, schrie Stone, »mußtest du so weit gehen?«

»Das weißt du doch.«

Bleeker hatte natürlich recht; auf dem Mars würden sie sich mit den SEPs so weit vom MEM beziehungsweise vom Marsrover entfernen müssen, bis sie sicher waren, daß der von den Fahrzeugen aufgewirbelte Staub die Geräte nicht mehr beeinträchtigte.

Er streifte die Handschuhe ab und schleuderte sie in die ungefähre Richtung des MET, ohne sich zu vergewissern, wo sie gelandet waren.

Bleeker stieß einen Pfiff aus. »Meinst du, das war korrekt, Skipper?«

»Melde mich doch.«

Er schaffte die SEP-Attrappe zu Bleeker und setzte sie ab. Gemeinsam bauten sie die Instrumente auf.

Die Montage des SEP glich dem Aufbau eines Grills. Lösen Sie die Schrauben. Nehmen Sie die Kartons aus den StyroporVerpackungen. Stampfen Sie die Erde fest - was im Kiesbett gar nicht so einfach war - und stellen Sie die Instrumente auf. Achten Sie darauf, daß die Instrumente in die richtige Richtung weisen und daß sie den richtigen Abstand haben. Und sehen Sie zu, daß Sie sie nicht verschmutzen - gottverdammt!

Das fertige SEP glich einem Stern mit vielen Zacken. Die Stromversorgung für das Radioisotop stand in der Mitte, und die Instrumente waren im Kreis darum angeordnet. Sie waren durch dünne orangefarbene Kabel miteinander verbunden. Das Seismometer war diese silbrige Farbdose. Ein stummelartiger meteorologischer Sensor ragte in die Luft - das SEP würde den Astronauten während des Aufenthalts auf dem Mars auch als Wetterstation dienen, und diese spinnenartige Skulptur mit einer Blattgoldauflage war ein Magnetometer. An der Vorderseite der Baugruppe waren zwei stereoskopische Kameras montiert. Gekrönt wurde das ganze Ding von einer filigranen S-Band-Antenne, die auf eine imaginäre Erde gerichtet war.

Die SEPs würden an mehreren Punkten aufgebaut werden, während die Astronauten die Traversen vervollständigten. Die SEPs würden noch Daten übertragen, lange nachdem Stone und seine Besatzung zur Erde zurückgekehrt waren. Sie wären eine Art Denkmal für die Mission. Und wo Stone nun auf die aus Sperrholz und Pappkarton bestehende Attrappe des SEP hinabschaute, war er stolz auf seine Leistung. Er hatte das Gefühl, einen Auftrag erfolgreich ausgeführt zu haben.

»In Ordnung, Natalie, das SEP ist installiert«, sagte er. »Was nun?«

»Rog. Gemäß der Checkliste müßte einer von euch nun das CELSS aufbauen und der andere Proben nehmen.«

»Ist es noch nicht Zeit zum Mittagessen?« fragte Bleeker mit kläglicher Stimme.

Stone lachte. »Ich tue dir einen Gefallen, Adam. Du baust das CELSS16 auf, und ich sammle die gottverdammten Proben.«

Sie trotteten zum MET zurück, und Stone saugte noch ein wenig von dem faden Tang aus dem Tornister.

Ich würde viel lieber die Olympiade gucken und mir ein paar kühle Bierchen reinziehen, sagte er sich. Doch dazu hatte er keine Zeit. Er hatte den Eindruck, daß er seit dem Eintritt in die NASA überhaupt keine Freizeit mehr gehabt hatte.

Stone half Bleeker dabei, den Bausatz des CELSS-Modells aus dem MET zu wuchten. Das CELSS war ein kleines aufblasbares Treibhaus. Verpackt hatte es die Form einer Scheibe. Stone und Bleeker legten die Scheibe auf den Boden, und Bleeker pumpte das Treibhaus mit einem Blasebalg auf. Bald hatte die Scheibe sich zu einer über einen Meter hohen Kuppel aufgebläht.

Dabei geriet Bleeker noch mehr ins Schwitzen. »Mein Gott, Phil, es ist eine Knochenarbeit, die verdammte Pumpe mit diesen Stiefeln zu betätigen.«

»Möchtest du vielleicht ein paar Steine einsammeln?«

»Nein, nein«, sagte Bleeker. »Dann bleibe ich lieber im Gemüsegarten.«

Er holte einen Aluminiumspaten aus dem MET und kratzte lustlos auf dem Boden herum. Später würde er einen kleinen Bewässerungsapparat in der Kuppel aufstellen und Setzlinge pflanzen - Sojabohnen und Kartoffeln. Das Konzept war, daß die Pflanzen durch die luftdurchlässige Hülle des Treibhauses die kohlendioxidreiche Mars-Luft aufnahmen und die Kunststoff-Kuppel einen Großteil der Sonnenwärme speicherte. Die - wenn auch spärlichen - Ergebnisse der sowjetischen Sonden besagten, daß im Marsboden außer Phosphor und Wasser alles enthalten war, was die Pflanzen zum Gedeihen brauchten. Also würde Bleeker den Boden mit einem entsprechenden Nährstoffzusatz anreichern.

Bei diesem CELSS handelte es sich nur um ein Experiment; der Anbau von Gemüse war bei der ersten Expedition nicht vorgesehen. Es sollte nur der Nachweis erbracht werden, daß Pflanzen überhaupt auf dem Mars gediehen, wobei diese Erkenntnisse dann als Grundlage für zukünftige Missionen dienen würden - und sogar für die erste ständige Kolonie, die allerdings noch in den Sternen stand.

Außerdem würde Ares ein Langfrist-Experiment mit der Bezeichnung ISPP17 mitführen. Die Besatzung würde Geräte aufstellen, die Sauerstoff aus verdichteter Mars-Luft zogen, sowie Wasserstoff und Sauerstoff aus unterirdischen Reservoirs. Falls es möglich war, den Treibstoff und den Oxidator für den Rückflug auf dem Mars zu produzieren, wäre man in der Lage, das Gewicht und die Kosten zukünftiger Schiffe um weit mehr als die Hälfte zu reduzieren.

Stone brach in nördlicher Richtung auf und zog das MET hinter sich her.

»In Ordnung, Natalie. Ich verlasse nun diese Lößschicht und betrete etwas, das wie ein Kiesbett aussieht. Ich sehe

Schichten. Stromlinienförmige Rillen. Es sieht so aus, als ob hier Wasser geflossen wäre.«

»Wieso nimmst du nicht ein paar Proben?« rief York.

»Rog.«

Er suchte eine halbwegs ebene Stelle aus und stellte das Kalibrierungs-Gnomon auf. Dann ging er um das Gnomon herum und fotografierte es von allen Seiten. Anschließend führte er die mechanischen Tests durch. Er drückte eine unter Federspannung stehende Platte auf den Boden und trieb eine zylindrische Sonde in den Boden. Die Bodenprobe steckte er in einen Zerkleinerer, der wie ein Nußknacker aussah. Die Daten gab er sofort an Natalie York durch.

Nachdem er die Stelle gründlich dokumentiert hatte, nahm er Oberflächenproben. Er löste das Material mit Zangen, Rechen und Schaufeln und versuchte, mit dem Hammer ein Stück aus einem Felsen herauszubrechen.

Die Landschaft erstaunte Stone. Er machte nun schon seit einem Jahr allmonatlich eine geologische Exkursion und war inzwischen recht bewandert in dieser Disziplin. Doch eine solche Landschaft hatte er noch nicht gesehen.

Das EVA-Training fand überwiegend in den hochgelegenen Wüsten im Westen der USA statt. In Nevada waren anderthalb Quadratkilometer Wüste so hergerichtet worden, daß sie der Marsoberfläche aus der Perspektive der sowjetischen Sonden entsprach. Man hatte sogar eine Attrappe der MEM-Landestufe aufgestellt. In einem Schacht des MEM befand sich ein MarsRover in Originalgröße, der auch über alle Funktionen des echten Geräts verfügte. Das war mal eine Simulation nach Stones Geschmack: in einem Rover mit Allradantrieb durch ein Gelände zu brettern, das die Illusion einer Marswüste vermittelte.

Doch wußte er immer noch nicht, worum es heute überhaupt ging. In welchem Zusammenhang stand diese Gegend im

Staate Washington, durch die sie diesen beschissenen Golfwagen der Apollo-Klasse zogen, mit den Lagen, die sie vielleicht auf dem Mars bewältigen mußten?

Nach einer guten halben Stunde hatte er das MET mit sorgfältig ausgewählten und ebenso wertlosen Proben des Staates Washington vollgeladen. »In Ordnung, Natalie, ich glaube, wir sind hier fertig.«

»Gut gemacht, Phil. Wir machen noch einen Spürhund aus dir. Aber ich habe noch immer nichts von der Morphologie des Geländes gehört.«

Er stieß ein Knurren aus und wischte sich mit der staubigen Hand den Schweiß von der Stirn. »Gönn mir mal ‘ne Pause.«

»Komm schon, Phil. Wenn ein Geologe sich ein umfassendes Bild von einem Ort machen will, genügt es nicht, nur Proben zu nehmen. Das müßtest du eigentlich wissen. Sag mir, was du siehst.«

Stone setzte sich wieder in Bewegung. Der Tornister drückte auf die Schultern, doch bei näherer Betrachtung erkannte er nun ein Muster, eine Logik, die der Formation der Landschaft zugrunde lag. Über dieser Erkenntnis vergaß er die Unbilden des Marschs.

»Ich sehe unterschiedliche Merkmale: nackten Fels,

Sedimente und Ablagerungen. Rückstände von fließendem Wasser.«

»Gut.«

»Das Land ist ziemlich wertlos. Ist vielleicht noch als Weideland zu gebrauchen; hier wächst nicht viel, und auf dem nackten Fels gedeiht schon gar nichts. Das Gestein ist wohl Basalt. Vulkanischen Ursprungs. Die Makroformen im Fels sind überwiegend Kanäle. Die Kanäle verlaufen gerade: es gibt kaum Krümmungen. Sie sehen wie verbreiterte und vertiefte Flußbetten aus. Vielleicht durch Vergletscherung? Große

Eiszungen haben Täler gegraben, vertieft und das Erdreich bis auf den Fels abgetragen.«

»Laß die Spekulationen, Phil. Die gottverdammten ApolloAstronauten haben auch die ganze Zeit spekuliert und die Leute nur verwirrt. Beschränke dich auf Beobachtungen.«

»Sicher.« Testpiloten auf dem Mars, die sich noch dazu in Spekulationen ergingen - Natalies schlimmster Alptraum. »Ich sehe Anzeichen von Kanal-Anastomose. Und isoliertes Hochland zwischen den Kanälen.«

Der beim CELSS wartende Bleeker schaute skeptisch auf. »Anasto-was?« rief er.

Stone stellte sich Yorks Gesicht bei dieser Bemerkung vor. Daß Bleekers Kenntnisse in Geologie recht dürftig waren, wunderte ihn nicht. Der Mann stand unter starkem Druck; Bleeker nahm nämlich nicht nur an Exkursionen wie dieser teil, die als flankierende Maßnahme für die Lande-Mission dienten, sondern er bereitete sich auch auf die D1-Mission im Erdorbit vor, die im nächsten Monat stattfinden sollte.

Andererseits müßte Bleeker das doch wissen, sagte Stone sich; schließlich war er als Oberflächen-Spezialist für die Lande-Mission auserkoren.

»Anastomose, du Arschloch. Das steht alles in deinem Geologiebuch für Kinder im Vorschulalter. Wo ein Kanal sich verzweigt und einen Durchstich zu einem anderen Kanal geschaffen hat. Sieh mal, wie die Kanäle dort drüben sich verzweigen und wieder vereinigen. Und schau mal dorthin, zu diesem isolierten Hochland. Es ist von den neuen Kanälen abgetrennt worden.«

Das isolierte Hochland glich einem steinernen Tisch, der mitten in der Ebene stand.

»Ja. Ich sehe es. Und wodurch wurde der Durchbruch verursacht?«

»Phil.«

»Schon gut, Natalie. Stell mir nicht solche Fragen, Adam. Ich soll doch nicht spekulieren.« Handelt es sich vielleicht doch um Vergletscherung. Muß so sein. Was, zum Teufel, hätte die Landschaft sonst so verwüsten sollen? Ein Lavastrom vielleicht?

»Weitere Makroformen?« fragte York.

Stone erklomm einen Felsen, wobei ihm der schwere Tornister gegen den Rücken schlug. Er ließ den Blick schweifen. »Noch mehr Hochland, das aus den Sedimenten gefräst wurde. Es sieht aus wie.«

»Wie?«

»Glatt. Stromlinienförmig.« Wie Inseln in einem ausgetrockneten Fluß. »Dann sehe ich noch Kiesbänke. Sie sind vielleicht sechs bis neun Meter hoch. Sehen aus wie Sandbänke. Sie scheinen hinter Löß oder Fels aufzutreten. Wie Schwänze. Der Fels weist Kanäle auf. In Längsrichtung. Die Kanäle verlaufen an den Inseln und Kiesbänken vorbei.«

Er erreichte ein Bett mit Lehm und Sand. »Hier ist noch mehr Löß, glaube ich. Ich sehe.«

»Was?«

»Wellen. Erstarrte Wellen im Löß. Wie kleine Dünen. Die Dünen sind geschichtet. Sieht aus wie ein ausgetrockneter Fluß.« Er ging über den Fels. »Ich sehe Narben im Gestein. Kreisförmig, ein paar Zoll tief, Breite von dreißig Zentimetern aufwärts. Bogenkanten, glaube ich.« Von Steinen geschlagen, die von der Strömung mitgerissen wurden. »Der Abschnitt sieht aus wie ein Flußbett«, sagte er. »Ja. Das ist die Topographie eines ausgetrockneten Flußbetts - allerdings vergrößert. Kanäle, Bänke und Inseln. Geformt von fließendem Wasser im großen Maßstab.«

Aufgeregt schaute er sich um; mit einemmal sah er die Geologie mit anderen Augen - mit Natalie Yorks Augen: die tief eingeschnittenen, durchbrochenen Kanäle, die mächtigen

Lößablagerungen, die isolierten Inseln. »Mein Gott. Ist es das, Natalie? Ist es das, was du uns zeigen wolltest? Wurde diese Gegend von einer Flut geformt?«

»Du spekulierst schon wieder, Stone.«

»Ach, komm schon, York.«

»In Ordnung. Du hast recht, Phil. Jedenfalls ist das die bevorzugte Hypothese.«

Bleeker wandte sich vom halb fertigen CELSS ab und ging zu Stone hinüber. »Was ist?«

»Im späten Pleistozän - vor vielleicht zwanzigtausend Jahren - waren große Teile Idahos und West-Montanas von einem großen See bedeckt. Er hieß Missoula und hatte eine Ausdehnung von vielen tausend Quadratkilometern. Begrenzt wurde der See von einem Eisdamm. Schließlich brach der Damm, und eine riesige Flutwelle wälzte sich über dieses Gebiet. Dutzende Millionen Kubikmeter pro Sekunde, vielleicht das Tausendfache der Fracht des Amazonas.«

»Mein Gott«, sagte Stone.

»Ja. Die Flüsse vermochten die Wassermassen nicht mehr aufzunehmen und traten über die Ufer; die Täler wurden verbreitert und vertieft, und es entstanden Hunderte von Querverbindungen zwischen den Kanälen, wobei das Erdreich bis auf den Fels abgetragen wurde. Auf einer Fläche von vielen tausend Quadratkilometern wurden die Oberflächen-Strukturen vernichtet und der Basaltuntergrund freigelegt. Und eine vergleichbare Fläche wurde unter Ablagerungen begraben.

Zurück blieben Hunderte in den Fels gefräster Katarakte, Becken und Canyons sowie Spitzkuppen, Hochland und über zehn Meter hohe Kiesbänke.

Dies ist das Scabland, Phil. Es gibt nur wenige Gebiete auf der Erde, wo die Auswirkungen großmaßstäblicher, katastrophaler Überflutungen so deutlich zu sehen sind.«

Bleeker schob die Pilotenhaube zurück und kratzte sich am blonden Schopf. »Das ist faszinierend, Natalie. Aber ich wüßte nicht, was das mit uns zu tun hat.«

»Gut. Phil, ich habe dir noch einen Stapel Fotos gegeben. Sie sind in der linken Seitentasche von Adams Tornister.«

Stone kramte in Bleekers Tasche und brachte einen mit Folie umhüllten Stapel mit Schwarzweiß-Fotos zum Vorschein. Er schaute sie sich an und zeigte sie dann Bleeker.

Kraterüb er säte Ebenen: die Bilder stammten offensichtlich vom Mars. Doch hier war ein Kanal, der tief in ein Gelände eingeschnitten war, das wie die rauhe, uralte Landschaft der südlichen Hemisphäre aussah. Hier war ein Kraterkomplex, der von Anastomose-Kanälen durchzogen wurde. Hier war ein Krater mit einer stromlinienförmigen Insel, die wie eine Kiesbank aussah; und >flußabwärts< vom Krater gab es Erosionsmarken, die parallel zur Insel verliefen.

Stone wußte nicht so recht, was er damit anfangen sollte. »Willst du damit sagen, der Mars sei von einer Sintflut heimgesucht worden - wie dieses Scabland im Staate Washington?«

York zögerte. »Ich glaube das jedenfalls. Und viele meiner Kollegen vertreten diese Ansicht auch, seit die Aufnahmen von Mariner vorliegen. Ich studiere das Gebiet, das du auf den Fotos siehst, seit 1973. In dieser Hinsicht dürfte ich wohl die führende Expertin sein. Die Analogie zwischen den Merkmalen des terrestrischen Scablands und der Mars-Morphologie ist meines Erachtens zu deutlich, als daß es sich um einen Zufall handeln könnte.«

»Aber es gibt auch Gegenstimmen«, provozierte Stone sie.

»Ja«, räumte sie ein. »Manche sagen, die Merkmale des Mars->Scablands< seien zu groß, um von Wasser geformt worden zu sein. Schumm ist zum Beispiel ein Vertreter dieser Schule.«

»Wer?« fragte Bleeker.

»Schumm sagt, die Marskanäle müßten durch SpannungsFaktoren in der Planetenoberfläche entstanden sein. Risse, die später vielleicht durch Vulkanismus und Windtätigkeit modifiziert wurden.«

»Scheint ein ziemliches Arschloch zu sein«, sagte Stone und betrachtete die Bilder. »Ich stehe auf deiner Seite, Natalie.«

»Wenn diese Marskanäle durch Fluten entstanden«, sagte Bleeker, »woher, zum Teufel, ist dann das ganze Wasser gekommen? Und wohin ist es abgeflossen?«

»Ich wette, dafür hat sie auch schon eine Theorie«, murmelte Stone.

»Ich habe nicht verstanden, EVA Eins.«

»Mach weiter, Natalie.«

»Unterirdische wasserführende Schichten. Unten wurden sie von massivem Fels begrenzt - vielleicht fünfzehn Kilometer stark - und oben von einer dicken Eiskappe im Regolith. Was auch immer Tharsis angehoben hat - ein Konvektionsprozeß im Mantel vielleicht -, muß die Verwerfung verursacht haben, die dann zur Überflutung führte. Der Druck des Wassers war schließlich stärker als der Druck des Gesteins. Und dann mußte nur noch ein Riß in der Eiskappe auftreten, damit das Wasser unter hohem Druck an die Oberfläche strömte.«

»Mein Gott«, sagte Stone. »Im Marsgestein eingeschlossene Ozeane. Wie sollen wir deine Theorie bestätigen, Natalie?«

»Was wir brauchen, sind drei Leute, die mit einem MEM auf dem Mars landen und ein paar Kernbohrungen niederbringen.«

Nun erkannte Stone die Stoßrichtung. Er betrachtete noch einmal die Fotos. »Welches Gebiet ist auf diesen Fotos abgebildet?«

»Das ist einer der größten Abflußkanäle. Es ist Mangala Vallis, Phil. Das Mars-Scabland: eure Landezone.«

Stone grinste. Hat sie es doch wieder einmal geschafft. Mangala Vallis. Wofür Natalie York, die Vorsitzende des Ausschusses für die Auswahl der Landezone und potentielle Mars-Astronautin zufällig die weltweit führende Expertin ist.

Und Adam Bleeker kennt noch nicht einmal den Begriff >Anastomose<. Ich hoffe nur, der Junge schaut ab und zu mal über die Schulter.

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 349/11:14:03

Zwanzig Tage vor dem Einschwenken in den Orbit war der Mars auf die Größe einer Scheibe angewachsen. Am Terminator sah sie bereits mit bloßem Auge Spalten und Löcher in der Oberfläche: Krater und Canyons, die das Licht der Sonne reflektierten.

Der Wiedererkennungseffekt war erstaunlich. Fast hatte sie das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein. Sie sah die große Spalte der Valles Marineris - eine Wunde, die noch aus einer Entfernung von einer Million Meilen zu sehen war -, die aus Wassereis bestehende Polkappe im Norden, die wegen des bevorstehenden Winters angeschwollen war und die großen schwarzen Calderas der Tharsis-Vulkane.

Der Mars war wirklich eine kleine Welt, sagte sie sich. Einige wenige Merkmale - Tharsis, die Marineris-Canyons, Syrtis, die große vereiste Senke von Hellas im Süden -, die im Verhältnis zum Volumen des Planeten überproportioniert waren, dominierten die Krümmung.

Grundsätzlich entsprach der Mars ihren Erwartungen. Er hatte große Ähnlichkeit mit den Photomosaik-Globen am JPL. Aber sie stellte auch erstaunliche Unterschiede fest. Die vorherrschende Farbe auf dem Mars war nicht Rot, sondern

Braun; die Oberfläche changierte in Tönungen aus Bronze, Ocker und Rostbraun. Es bestand ein deutlicher Kontrast zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre, wobei das jüngere Terrain im Norden der Äquatorlinie eine hellere Färbung aufwies, die fast bis in den gelben Bereich ging. Weil Ares den Planeten nicht parallel zum Einfall der Sonnenstrahlen anflog, wies der Mars dem Raumschiff fast nur die Nachtseite zu. Die Ockerfärbung schien intensiver zu werden, wenn das Sonnenlicht im spitzen Winkel einfiel. Diese Merkmale verliehen der kleinen Kugel eine markante Rundung. Der Mars glich einer kleinen Orange und war - auch bei einer 360°-Peilung - neben der Sonne das einzige Objekt am Himmel, das nicht nur als Lichtpunkt erschien.

Im bisherigen Verlauf der Mission - im Leerraum zwischen den Planeten, wo es außer der Sonne und den Sternen nichts zu sehen gab -, war York oftmals von schweren Depressionen befallen worden. Die dumpfe, öde Routine des LangstreckenFlugs hatte ein übriges bewirkt. Sie hatte sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, bei der Erledigung ihrer Aufgaben >auf Autopilot geschalten< und die Gesellschaft der Kameraden gemieden. Sie vermutete, daß die anderen ähnlich litten, doch schienen sie Mittel und Wege gefunden haben, damit klarzukommen: Gershon vertiefte sich in die Technik des Schiffs, und Stone widmete sich den >Bonsai<-Erbsen.

Sie hatte jetzt schon Angst vor dem Rückflug; vor dem geistigen Auge erschien er wie eine hohe schwarze Barriere.

Doch das lag noch in weiter Ferne. Nun kletterte sie erst einmal aus der Grube hinaus und näherte sich dem warmen, ockerfarbenen Licht des Mars.

In der Freizeit betrachtete sie fast nur noch die immer größer werdende Kugel und identifizierte immer mehr Landmarken, die noch kein Mensch mit bloßem Auge gesehen hatte - als ob sie immer größere Teile des Mars für sich beanspruchte.

Montag, 6. August 1984 MEM-Raumschiff 009, Niedriger Erdorbit

Während sie sich auf die Zündung vorbereiteten, spielte Bleeker Born in the USA auf dem Bord-Kassettenrecorder ab. Bruce Springsteens Stimme übertönte das Klicken und Surren der MEM-Ausrüstung.

»Treibstofftanks für das Aufstiegs-Antriebssystem unter Druck«, sagte Bleeker.

»Rager«, erwiderte Gershon.

»Aufstiegszuleitungen sind geöffnet, Absperrventile sind geschlossen.«

Ted Curval mimte heute den Capcom. »Iowa, hier spricht Houston. Weniger als zehn Minuten. Alles sieht gut aus. Nur noch ein Hinweis. Wir wollen Rendezvousradar-Umschaltung in den LGC-Modus auf der Oberfläche bei neunundfünfzig. Wir nehmen an, die Steuerung ist im Modus Autopilot.«

»Stop«, sagte Gershon, »Tasten-Rückstellung, Abbruch bei Abbruch Stufen-Rückstellung.«

Bleeker drückte auf die Knöpfe. »Rückstellung.«

»Unsere Empfehlung für die Flugführung ist PGNS«, sagte Curval. »Ihr habt Freigabe für Zündung.«

»Rog. Wir sind Nummer Eins auf der Startbahn.«

Während hundertsechzig Kilometer über der Erde Gershon und Bleeker die Checkliste für die Zündung abarbeiteten, befanden MEM und Apollo sich im Formationsflug. Die vom Kommandokapsel Bob Crippen gesteuerte Apollo glich einem mit Juwelen besetzten silbernen Spielzeug, das sich gegen den leuchtenden Teppich der Erde abhob. Und das MEM war ein großer glänzender Kegel, der mit einer Höhe von neun Metern Apollo zum Zwerg degradierte, welche von abgestoßenen Mars-Hitzeschilden und gewellter Folie umgeben war.

Die sechs Landebeine waren ausgefahren. Doch MEM 009 würde nirgendwo landen.

Gershon stand neben Bleeker in der engen Kabine der MEM-Aufstiegsstufe. Er vermochte sich kaum zu rühren in dem orangefarbenen Druckanzug. Vor Gershon befand sich eine Konsole mit Skalen, Schaltern und Instrumenten. Außerdem gab es zwei manuelle Regler; einen pro Person. Die Wände waren mit Unterbrechern bestückt, und auf dem Boden verliefen un-verkleidete Kabelstränge und Rohrleitungen. Die Kabine hatte je ein Dreiecksfenster zu beiden Seiten der Hauptkonsole. Sie waren mit spinnenförmigen Markierungen versehen, die bei der Landung auf dem Mars als Leitsystem dienen sollten. Blaues Erdlicht schien durch die Fenster und zauberte Farbtupfer auf die Konsolen.

Hinter Gershon befanden sich drei Beschleunigungsliegen, von denen zwei hochgeklappt waren. Bei einem LandungsFlug wäre noch ein drittes Besatzungsmitglied an Bord: der Missions-Spezialist, der während des einmaligen Flugs des MEM den Status eines Passagiers hatte.

Die Einrichtung der Kabine war funktionell und folgte reinen Nützlichkeitskriterien; die Wände waren überwiegend unlackiert, so daß die blanken Nieten zu sehen waren, und die Kabelbäume waren von Hand verdrillt worden, als ob ein Heimwerker sich daran versucht hätte.

Das MEM war ein Experimental-Raumschiff: in Tausenden von Mannstunden in mühseliger Handarbeit hergestellt, basierte es auf konservativen Entwürfen, die sich schon im Einsatz bewährt hatten. Die scheinbar primitive Konstruktion war das Merkmal der Raumfahrt-Technik, über das die Leute sich am meisten wunderten, weil sie optisch ansprechende Massenware gewöhnt waren. Mit Star Trek hatte dieses Gerät nicht die geringste Ähnlichkeit.

Doch für Gershon war das MEM real, beinahe irdisch.

In einem von Menschenhand geschaffenen Schiff auf dem Mars zu landen: für Gershon, den begeisterten Raumfahrer, war das eine wundervolle Vorstellung.

Natürlich nur, solange die Mutter auch funktionierte.

»Noch zwei Minuten«, gab Curval von unten durch. »T minus zwei Minuten.«

»Roger«, sagte Bleeker und stellte die Musik ab.

Beim Blick auf die Konsole erkannte Gershon, daß die Aufstiegsstufe nun hochgefahren war und keinen Strom mehr aus den Batterien der unteren Stufe sog. Gleich würde sie sich in ein autonomes. Raumschiff verwandeln.

In diesem Test, der einen Start von der Marsoberfläche simulierte, sollte die MEM-Konfiguration sich teilen. Die Röhre der Aufstiegsstufe mit den klobigen Treibstofftanks sollte sich von der Landestufe lösen.

Gershon wußte, daß die Ingenieure bei Columbia und Marshall dieser Phase der Mission mit Bangen entgegensahen. Es gab eine Vielzahl möglicher Fehlerquellen. So bestand die Gefahr, daß die Zündung der Aufstiegsstufe erfolgte, während der Triebwerkstrichter noch in der Landestufe des MEM steckte. Was, wenn es zu einem Rückschlag kam, einem Überdruck, noch bevor die Aufstiegsstufe sich von der Landestufe gelöst hatte.?

Nun, gleich würden sie es wissen.

»Steuerung durch PGNS«, sagte Bleeker. »Ansprechempfindlichkeit minimal, ATT-Regelung, Modus Autopilot.«

»Auto«, bestätigte Gershon.

»Eine Minute«, sagte der Capcom.

»Habe Steuerung auf Abbruchregelung geschaltet.«

Gershon aktivierte die Zündung. »Hauptschalter an.«

»Rog.«

»Ihr habt Freigabe, Iowa«, sagte Curval.

»Rager. Macht die Startbahn frei.«

Bleeker drehte sich zu ihm um. »Bist du bereit?«

»Sicher.«

»Die Mutter wird uns einen kräftigen Tritt geben.« Damit sprach Bleeker auf den Drill an. »In Ordnung, Ralph. Bei fünf Sekunden drücke ich auf TRENNUNG STUFE und TRIEBWERK ZÜNDEN. Und du drückst auf WEITER.«

»Rager.«

»Los geht’s! Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fünf.«

Am Fenster vor Gershons Gesicht driftete der leuchtend blaue Horizont der Erde vorbei, wobei die Wolken als komplexe, räumliche Skulptur über dem Meer hingen.

Auf dem Computermonitor vor Gershon erschien eine >99<, die Aufforderung zum Weitermachen. Er warf einen Blick auf Bleeker.

Bleeker legte den Schalter für die Zündung um. »Triebwerk bereit für Aufstieg.«

Gershon drückte auf den Knopf mit der Aufschrift WEITER.

Plötzlich ertönte ein Knall, und der Boden der Kabine erbebte. Pyrotechnische Schneider kappten die Schrauben, Bolzen, Kabel und Wasserschläuche, welche die obere und untere Stufe des MEM miteinander verbanden.

Ein Gewicht legte sich auf Gershons Schultern.

»Triebwerk der ersten Stufe steigt auf«, sagte Bleeker. »Auf geht’s!« Er lächelte. »Schön.«

Nach der ebenso unerwarteten wie unglaublichen Aufnahme in die Mars-Besatzung hatte Gershon sich darüber gefreut, daß er am Dl-Testflug teilnehmen sollte, auch wenn sein erster Flug ins All nicht unbedingt die glorreichste Mission des MEM-Versuchsprogramms war. Dieses Prädikat gebührte wohl der verbliebenen E-Mission, bei der es darum ging, mit einem verbesserten MEM in die Erdatmosphäre einzutreten und in der Salzwüste nahe des Luftwaffenstützpunkts Ellington zu landen. Mit diesem Auftrag war eine erfahrene Besatzung unter dem Kommando von John Young betraut worden. Doch die D1, eine elftägige Flugerprobung im Erdorbit, war gewiß der wichtigere Test. In einem unerprobten Raumschiff würde die Besatzung jede Phase der Marslandung üben, mit Ausnahme des Eintritts in die Atmosphäre und des raketengestützten Abstiegs. Des weiteren würden sie viele Notfallprozeduren proben, von denen vielleicht das Überleben künftiger Missionen abhing.

Gershon und Bleeker hatten sich mit dem MEM schon über hundertfünfzig Kilometer von Apollo entfernt. In einem Raumschiff, an das anzudocken noch niemand versucht hatte. Dessen Hitzeschild zu schwach war, um eine Rückkehr auf die Erde zu ermöglichen. Und zu allem Überfluß fand der Flug auch noch im niedrigen Erdorbit statt, wo Kommunikation und Navigation die Besatzung vor größere Probleme stellte als beispielsweise bei einem Mondflug.

Wenn sie diesen Flug erfolgreich beendeten, würde das MEM die Zulassung als bemanntes Raumschiff erhalten. Und dann müßte nur noch der Mars-Hitzeschild einem Test unterzogen werden. Es war ein Raumflug für Genießer, ein Flug für echte Testpiloten.

Außerdem hatte Gershon sich gern in die Mission vertieft, weil er so der Aufmerksamkeit entkam, die seine Ernennung als Mars-Astronaut erregt hatte. Der erste schwarze Mann im All: der erste Bruder auf dem Mars. Er lernte zwar, damit umzugehen, aber es war dennoch ausgesprochen lästig. Zumal es dabei nicht einmal um seine Person ging.

Was ihn betraf, so war er einzig und allein Ralph Gershon und keine Marionette.

Dennoch erwies die Mission sich als Rohrkrepierer: vom Start weg nichts als Probleme.

Es fing schon vor dem Start an. Gershon hatte gesehen, wie JKs Leute von Columbia sich die Haare rauften beim Versuch, Raumschiff 009 in der Montagehalle von Cape Canaveral durch die Endkontrolle zu bekommen. Es hatte Zeiten gegeben, da Gershon vom Scheitern des Projekts überzeugt gewesen war.

Nachdem sie schließlich doch in den Orbit gegangen waren und den Kopplungstunnel zwischen Apollo und MEM geöffnet hatten, war Gershon in einen Schneesturm aus Fiberglas geraten. Es war aus der Isolierung der Tunnelwandung ausgetreten. Gershon und Bleeker hatten die ersten Stunden im MEM damit verbracht, den Müll abzusaugen. Am Ende klebte das Zeug im Haar, an den Wimpern und im Gesicht, so daß sie aussahen wie gerupfte Hühner.

Anschließend waren Bleeker und Gershon durchs ganze MEM gekrabbelt und hatten die Subsysteme umfangreichen Tests unterzogen. Und bei jedem dieser Tests waren Probleme aufgetreten, die eine Diagnose und einen erneuten Test erforderten.

Dann war ein eigenartiger, säuerlicher Geruch aus dem Umweltüberwachungs-System des Wohnmoduls gedrungen, als dessen Ursache sie schließlich ein Stück Isolierung ausmachten, das hinter einer Verkleidung verschmorte. Bei der elektrischen Anlage waren ein paar Störfälle aufgetreten, die den Ausfall ganzer Instrumentenkonsolen zur Folge hatten. Dann führte das Trägheitsrichtgerät sich - bildlich gesprochen - auf wie ein Schwein und wälzte sich in der Metallkugel, so daß es ständig aus der Arretierung sprang. Obendrein ließen die Antennen des MEM sich nicht mehr ausrichten, so daß die Verbindung zu Apollo und zur Erde zeitweilig unterbrochen war.

Dieser Verdruß hatte das Verhältnis zwischen Besatzung und Bodenstation erheblich belastet. Während sie sich mit dem Raumschiff herumärgerten, hatte Bleeker zu seinem Leidwesen erfahren, daß Houston sich weigerte, Kompromisse bei den wissenschaftlichen und PR-Elementen des Flugplans zu schließen - die, was Bleeker und Gershon betraf, im Vergleich zu den konstruktiven Zielen der Mission ziemlich weit unten rangierten. Also zeigte Bleeker ein für seine Verhältnisse ausgesprochen resolutes Verhalten und legte sich mit den Flugleitern an. Er ließ Fernsehübertragungen platzen und strich ganze Abschnitte aus dem Flugplan.

Als der Capcom der Besatzung eröffnete, die Flugleiter wollten die Kommandokapsel im Sturzflug runterholen, hielt Gershon das nur bedingt für einen Witz.

Schließlich war Gershon der Probleme so überdrüssig, daß er eine Flasche in Form einer Zitrone aus dem Proviantraum holte und sie vor der Kamera zwischen den Fenstern des MEM aufhängte. Damit wollte er die Wertschätzung der Besatzung für das Schiff zum Ausdruck bringen.

Im Moment hörte Gershon nur das dumpfe Rasseln der sich öffnenden und schließenden Kugelventile des AufstiegsTriebwerks. Das Geräusch hatte etwas Tröstliches und gab ihm die Gewißheit, daß die Mission planmäßig verlief.

Die Erde entfernte sich von Gershon, während die Aufstiegsstufe sich dem Rendezvous mit der New Jersey näherte, der im Weltraum wartenden Apollo. Der Aufstieg verlief so glatt, daß Gershon sich in einem gläsernen Aufzug wähnte.

Er hatte nicht viel zu tun. Weil das Triebwerk der Aufstiegsstufe keinen Reservemotor hatte - es mußte funktionieren -, war es so einfach wie möglich konstruiert und bestand nur aus zwei beweglichen Teilen: Kugelventile, die Treibstoff und Oxidator in die Brennkammer leiteten. Das mit Sauerstoff und Methan beschickte Triebwerk verfügte weder über ein Drosselventil noch über eine Starterklappe; wenn man den Hauptschalter umlegte, sprang das Triebwerk an und brannte für etwa zehn Minuten. Das genügte, um die Besatzung vom Mars wegzubringen und in eine Parkbahn zu gehen.

Gershon beugte sich in den Gurten nach vorn. Durchs Fenster sah er die abstürzende Landestufe. Der stumpfe Kegel, in dessen Mitte ein tiefes Loch klaffte, schleppte die gekappten Kabel und Schläuche nach.

Die Isolierfolie war vom Abgasstrahl der Aufstiegsstufe zerrissen worden, und Gershon sah kreisförmig wegdriftende Fetzen.

JK Lee stand im Leitstand an der Rückseite des MOCR und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Auf allen Bildern, die in den letzten Tagen vom MEM zur Erde geschickt worden waren, erkannte man deutlich die kleine Plastikzitrone, die unter dem Richtteleskop schwebte. Er wußte dieses Symbol durchaus zu deuten: es handelte sich um eine Botschaft von der Besatzung - wahrscheinlich von Ralph -, die für ihn bestimmt war.

Doch das berührte ihn nicht und tat seiner Hochstimmung keinen Abbruch. Nein, Sir! Natürlich hatte die Besatzung Probleme, doch damit hatte sie rechnen müssen; schließlich ging es bei diesem Testflug darum, Fehler aufzuspüren. Es enttäuschte ihn, daß Ralph Gershon das nicht begriff. Für Lee war nur wichtig, sein Schiff dort oben im Orbit zu beobachten, Pannen hin oder her; sein Schiff, das wider Erwarten doch noch rechtzeitig ausgeliefert worden war.

Lee fühlte einen großen Triumph. Es kam ihm so vor, als ob er, um diesen Tag zu erleben, gegen alles und jeden hatte kämpfen müssen - die NASA-Führung, die Zulieferer, die Astronauten, halb Columbia, sogar gegen seinen eigenen, treulosen Körper. Doch er hatte es geschafft, und die Manifestation dieser Leistung befand sich nun dort oben im Orbit, erschien überlebensgroß auf den Bildschirmen an der Stirnseite des MOCR und auf den Fernsehbildschirmen in der ganzen Welt. Welch ein Sieg! Lee hatte das Gefühl, den größten Triumph seiner Laufbahn errungen zu haben. Dahinter würde sogar der Moment zurücktreten, wo ein anderes seiner Babies, die im Reinraum zu Newport das Licht der Welt erblickt hatten, die Teller der Landebeine auf den Mars selbst stellte.

Ralphs abgefuckte Zitrone interessierte ihn nicht im geringsten.

Er brach in Gelächter aus, ohne sich um die Reaktion der Leute zu scheren und holte die nächste Zigarette aus der Packung.

»Sechsundzwanzig Sekunden«, sagte Bleeker. »Wir werden leicht nach vorn kippen. Ein sehr glatter, sehr ruhiger Flug.«

Gershon bereitete das MEM auf das Nickmanöver vor. Im Glauben, es befände sich fünfzehnhundert Meter über der Oberfläche des Mars, sollte das MEM sich der Programmierung gemäß leicht aufrichten, um sich im MarsOrbit mit dem Rest des Ares-Verbunds zu treffen.

Der Horizont wanderte nach rechts aus.

Gershon, auf dem ohnehin schon ein Gewicht lastete, wurde in den Gurten nach vorn gerissen.

Das Manöver hatte zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden. Doch das Nicken selbst war ihm heftiger erschienen, als er erwartet hatte.

Und das Nicken hielt an; hinter dem Fenster rollte die Wolkendecke der Erde nach oben und verwandelte sich von einem Boden in eine Wand.

»Was, zum Teufel, ist das?« sagte Bleeker.

»Heißes Mikro, Adam«, rief Ted Curval.

Sie wissen selbst nicht, was geschieht, wurde Gershon sich bewußt.

Die leuchtende Landschaft zog nun über seinem Kopf hinweg, und Schatten wanderten über die Unterbrecherbänke. Dampf, der aus den Düsen der Lagekontrollsteuerung austrat, waberte vor dem Fenster.

Doch die Automatik übernahm nicht wieder die Kontrolle. Die Rotation beschleunigte sich.

»Mein Gott«, sagte Bleeker sarkastisch. »Das ist das reinste Karussell. Mir fliegen noch die Augen aus dem Kopf.«

Ein orbitaler Sturzflug: Gershon erkannte, daß Bleeker recht hatte.

Bald rotierte das MEM mit einer Umdrehung pro Sekunde, und die Erde raste an den Fenstern vorbei. Sonnenlicht schien stroboskopartig in die Kabine, blendete die Männer und raubte ihnen die Orientierung.

Die Instrumentenkonsole verschwamm vor Gershons Augen. Nun mußt du mal was für dein Geld tun, Junge.

Er legte eine Reihe von Schaltern um und versuchte, das Problem methodisch einzugrenzen. Vielleicht hatte ein Steuertriebwerk sich nicht abgeschaltet; diese Möglichkeit prüfte er zuerst. Worum auch immer es sich handelte, er mußte die Drehbewegung schleunigst abstellen; sonst bestand die Gefahr, daß die Lenkungssysteme völlig blockierten. Er mußte auf manuelle Steuerung gehen, bevor das eintrat.

Er packte den Steuerknüppel und aktivierte die Lagekontrollsteuerung, wobei er die Erde als Bezugspunkt nahm. Er versuchte, dem Taumeln der Aufstiegsstufe entgegenzuwirken und die Iowa zu stabilisieren.

Zunächst verstärkte die Rotation sich noch; es war, als ob die Steuertriebwerke keine Wirkung zeigten. Ihm wurde schwindlig. Er und Bleeker legten hektisch Schalter um. Wenn sie das MEM nicht bald unter Kontrolle brachten, bestand die Gefahr, daß sie ohnmächtig wurden; und dann wäre Apollo unmöglich in der Lage, an die rotierende Iowa anzudocken. Doch bis Apollo überhaupt eintraf, wäre das Schiff wohl schon auseinandergebrochen.

Endlich gelang es ihnen, das Haupttriebwerk und die Abbruchregelung zu deaktivieren. Nun, wo die Automatik abgeschaltet war, wirkte die Lagekontrollsteuerung dem Nicken entgegen.

Bleeker schaltete das Triebwerk der Aufstiegsstufe ab. Die Rotation verlangsamte sich.

Mit Hilfe des künstlichen Horizonts ermittelte Gershon, wann die Stufe sich wieder stabilisierte; das Trommelfell war durch die Achterbahnfahrt gerissen.

Bleeker klang angespannt, als ob er sich gleich in den Helm erbrechen würde. »Mein Gott. Du hattest recht, Ralph. Dieses Schiff ist ein Seelenverkäufer.«

Gershon konzentrierte sich auf den Erdhorizont; langsam bekam er wieder einen klaren Kopf. »Nein«, sagte er. »Ein Seelenverkäufer ist zwar heruntergekommen, aber noch einsatzbereit. Dieses Ding hingegen ist gefährlich.«

Von der Bodenstation aus informierte Curval sie, daß Bob Crippen bereits mit Apollo vom hohen Orbit abstieg, um sie zu bergen.

August 1984 Houston; Newport Beach

JK Lee hielt sich für den Rest der Mission im MOCR auf, bis zu dem Moment, wo Bleekers Besatzung mit der Kommandokapsel zur Erde zurückkehrte.

Art Cane erwartete ihn vor Gebäude 30.

»Art!« Grinsend ging Lee zu seinem Chef. »Ich wußte gar nicht, daß Sie hier rausfahren würden.«

Cane, der hemdsärmlig in der schwülen Hitze von Houston stand, sah aus wie ein alter Baum, der das Laub verloren hatte. »Das hatte ich zuerst auch nicht vor. Steigen Sie in den Wagen, JK.«

Beim Fahrzeug, das auf dem Parkplatz vor Gebäude 30 abgestellt war, handelte es sich um eine gemietete StretchLimousine mit einer Bar im Fond. Es war angenehm kühl im Wagen. Lee stieg ein. Er war froh, der Hitze entronnen zu sein und zündete sich eine Zigarette an.

Cane nickte dem Fahrer zu, und das Fahrzeug fuhr sanft an.

Lee musterte Cane. »Solche Extravaganzen sehen Ihnen gar nicht ähnlich, Art.«

Cane zuckte die Achseln und lockerte die Krawatte. »Ich bin ein alter Mann, JK. Was soll ich sagen? Ich verkrafte die texanische Hitze nicht und brauche eine Klimaanlage.« Cane faltete das Jackett auf dem Schoß akkurat zusammen und legte dann die Hände darauf. »Sehen Sie, JK. Sie wissen doch, unter welchem Druck wir stehen.«

»Sicher.«

»Dieses gottverdammte >Tiger-Team<. Und der Abnahmetest von 009, die Verzögerungen bei der Auslieferung des Vogels nach Cape Canaveral und die Probleme mit den Treibstofftanks. Und nun die Schwierigkeiten im Orbit.«

»Aber das haben wir doch alles im Griff, Art«, sagte Lee und berichtete in aller Ausführlichkeit, daß die Rotation des MEM auf einer falschen Schalterstellung in der Kabine beruht hatte. »Als das Aufstiegstriebwerk feuerte, sagte der Schalter der Abbruchregelung, es solle die Kommandokapsel für ein Notfall-Andockmanöver anpeilen. Nur daß die Apollo zu diesem Zeitpunkt noch meilenweit entfernt war.« Er lachte. »Also geriet das MEM ins Taumeln und suchte krampfhaft nach dieser alten Kommandokapsel.«

Cane hob den Arm. Die Haut war so schlaff, daß die Hand Lee an eine Hühnerkralle erinnerte. »Ja«, sagte er. »Aber es war kein Fehler der Besatzung, oder? Ich meine, sie glaubte, daß der Schalter in der richtigen Stellung war. Wir hatten den Schalter falsch markiert. Also war es unser Fehler und nicht der ihre.« Er schüttelte den Kopf. Durch das eingefallene Gesicht wirkte er noch älter, als er ohnehin schon war. »Mein Gott, JK, wieso, zum Teufel, haben Sie eine solche Gurke freigegeben? Die Besatzung hätte dabei umkommen können.«

»Ach, kommen Sie, Art. So schlimm war es nun auch wieder nicht. Das Problem ist schnell behoben. Alle Probleme, die wir bisher hatten, waren schnell behoben. Schließlich geht es bei diesen Testflügen darum, Fehler aufzuspüren. Ich nehme die Dl-Unterlagen, Transkripte und Testergebnisse mit nach Newport Beach, und auf dieser Grundlage werden wir die letzten Schwachstellen im Gerät ausmerzen.« Der Flug seiner Maschine hatte ihn wieder aufgerichtet und ihm neue Kraft verliehen; er war geradezu enthusiastisch. »Und nicht nur das, auf der Grundlage dieser Erkenntnisse will ich einen neuen Rekord aufstellen. Ich will, daß 010 beim Checkout das Schiff mit der geringsten Mängelquote ist, das jemals an Cape Canaveral ausgeliefert wurde. Wieso auch nicht, zum Teufel? Wir werden Geschichte schreiben, Art. Wo ich die Dl nun hinter mir habe, mache ich mit Volldampf weiter.«

Cane schnitt ihm das Wort ab. »Hören Sie mir zu, JK. Es gibt ein paar Dinge in diesem Geschäft, von denen Sie keine Ahnung haben. Ich spreche nicht von spezifischen Problemen. Ich spreche von.« - er machte eine wischende Handbewegung - »einem kumulativen Effekt.«

Lee war ebenso beunruhigt wie verwirrt. »Kumulativ?«

»Eins kommt zum andern. Es ist eine Frage des Images. Es hat schon viele Kommentare zur Leistung der Apollo-Technik gegeben - wobei es sich immerhin um bewährtes Gerät handelte, das die Astronauten sicher wieder nach Hause brachte. Und vergleichen Sie das nun mit den Problemen des MEM. Vielleicht hätte doch Rockwell den Zuschlag bekommen sollen, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Unter solchen Umständen muß man sich seiner Sache hundertprozentig sicher sein. Da nützt es auch nichts mehr, die aufgetretenen Fehler zu beheben. Hat man sich erst einmal in eine solche Lage manövriert, werden alle möglichen Fragen gestellt. Fragen bezüglich der Kompetenz meines Unternehmens.« Lee hörte Frustration und Zorn aus Canes schwacher Stimme heraus. »Wenn sie einen erst als Versager abgestempelt haben, ist man erledigt.«

Er wandte sich Lee zu. Die wässrigen Augen glänzten im vor Zorn und Kummer zerfurchten Gesicht. »Und genau das ist uns nun passiert, JK. Die NASA, der Kongreß, die Presse - sie haben uns - mich - als Versager abgestempelt.«

Der Schmerz, der in seinen Worten mitschwang, ging Lee ans Herz. »Mein Gott, Art, so schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Sie wissen, daß man schon wieder erwägt, uns den Vertrag zu kündigen.«

»Das können sie nicht tun«, sagte Lee. »Das wissen Sie doch. Nicht ohne den Zeitplan über den Haufen zu werfen.«

»Man will einen Großteil der Arbeiten am MEM an Aerojet, Boeing, General Electric, McDonnell und Martin übertragen«, sagte Cane, der zunehmend in Rage geriet. »Und vielleicht drücken sie uns dann noch Projektmanager von Rockwell aufs Auge.«

»Das wollten sie doch schon die ganze Zeit tun«, sagte Lee lachend.

»Das ist kein Witz, verdammt noch mal«, sagte Cane barsch. »Vielleicht wird die NASA es nicht tun. Vielleicht kann sie es nicht. Aber sie spricht davon. Und das ist der Punkt. Gottverdammt, begreifen Sie das denn nicht? Die NASA will uns zeigen - und dem Kongreß und der Presse -, wie ernst sie die ganze Sache nimmt.

Und in der NASA sind schon Köpfe gerollt. Wußten Sie das? Leute, die Faxen gemacht haben, anstatt ein Auge auf uns zu haben.« Er leierte eine Namensliste von Leuten in Marshall und Houston herunter.

»Na und; sehen Sie, Art, diese Leute saßen hauptsächlich in der Verwaltung. Es ist verdammt egal, ob sie gehen oder bleiben. Nur auf die Ingenieure kommt es an. Das wissen Sie doch auch.«

»Aber es kommt überhaupt nicht darauf an, was ich denke. Verstehen Sie das denn nicht, JK? Es handelt sich um eine Absichtserklärung. Für Sie mag das abstrakt erscheinen, wie ein Spiel; aber glauben Sie mir, für die Politiker ist es höchst real. Wir müssen irgendwie reagieren.«

Schlagartig verflog Lees Euphorie, und er wurde sich der Problematik in ihrer ganzen Tragweite bewußt. »O mein Gott, Art. O nein. Das können Sie nicht tun.«

Cane legte Lee die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid, JK. Aber ich muß es tun. Wohin ich sehe, Termin- und EtatÜberschreitungen. Eine schlampige Arbeitsorganisation. Ein Testflug, der fast in einem Fiasko geendet hätte, noch dazu in einem tödlichen Fiasko.«

Lee schaute auf den Hinterkopf des Fahrers und sah die NASA-Straße Eins an den Wagenfenstern vorbeigleiten. Er versuchte sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren: die nach Leder riechenden Sitze, die kühle Luft, die aus den Düsen der Klimaanlage strömte. Doch er war wie betäubt, als ob er wie Adam Bleeker und seine Besatzung in einem Druckanzug isoliert wäre.

»Ich hätte fast mein Leben für dieses gottverdammte Projekt geopfert, Art.« Und meine Ehe. »Sie wissen, daß wir kurz vor dem Ziel sind, nicht wahr?«

»Ja, JK. Ich.«

»So dicht dran.« Er hob Daumen und Zeigefinger. »Und ich bin es gewesen, der Sie überhaupt so weit gebracht hat. Die ganze verdammte Konzeption, das von Apollo abgeleitete Design des MEM, das alles stammte von mir, Art. Und ich bin es gewesen, der das Projekt vorangetrieben hat. Und nun wollen Sie mich abservieren, nur um einem Haufen fauler Säcke in Washington Genüge zu tun, die sogar zu blöd zum Scheißen sind.«

»Das reicht, JK.«

»Und wer soll mich ersetzen? Bob Rowen? Vielleicht Jack Morgan? Oder.«

»Nein. Niemand aus der Firma. JK, ich habe beschlossen, einen professionellen Programm-Manager zu Ihrem Nachfolger zu bestimmen. Ein Top-Mann soll in Ihre Fußstapfen treten.«

»Wer denn? Wem wollen Sie meinen Job geben?«

Cane wandte den Blick ab. »Gene Tyson.«

Lee starrte ihn erst fassungslos an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Tyson: die schleimige fette Ratte von Hughes, die Lee während der Angebotsabgabe für das MEM hohnlachend aus dem Büro hinauskomplimentiert hatte. »Gene Tyson. Wollen Sie mich veräppeln?«

»Gene ist ein fähiger Ingenieur und ein guter Mann.«

»Sicher, Art. Aber er ist kein.«

Cane schaute ihn an. »Kein was? Kein JK Lee?«

»Verdammt richtig. Zumal es sowieso nicht funktionieren würde. Meine Leute würden nicht mit ihm zusammenarbeiten. Sie würden mich nicht.« Verraten.

Cane hustete und wandte den Blick wieder ab. »Tyson hat das Angebot bereits angenommen. Und mit Ihren Leuten habe ich auch schon gesprochen.«

»Ich. das gibt’s doch nicht.«

»Mit Morgan, Xu, Lye, Rowen und.«

»Und sind sie damit einverstanden?«

Cane zuckte die Achseln. »Ich möchte nicht gerade sagen, daß sie sich darüber gefreut hätten. Aber.«

Aber sie haben es akzeptiert. Und die Hurensöhne haben mir kein Sterbenswort gesagt.

»Hören Sie, Art. Tun Sie das nicht. Wir haben ein gutes Schiff gebaut. Und an der Arbeitsorganisation gibt es auch nichts zu beanstanden. Wir müssen nur noch ein paar Feinabstimmungen vornehmen, und dann machen wir einen Durchmarsch zum Mars. Es ist alles in Ordnung, Art. Davon bin ich überzeugt.«

»Das glaube ich Ihnen«, sagte Cane. Seine Stimme war nun härter und kälter. »Das Problem ist nur, JK, daß außer mir kaum noch jemand daran glaubt.«

Lee flog nach Hause und erzählte Jennine, was vorgefallen war. Er spürte einen Anflug von Zorn und Ressentiment. »Ich hoffe, das freut dich. Ich hoffe, das ist eine gute Nachricht für dich.«

Trotz dieser sinnlosen Provokation erschien kein Ausdruck der Verärgerung auf ihrem müden, eingefallenen Gesicht. »Ach, JK.« Sie ging zu ihm hinüber und umarmte ihn.

Nach einer Weile spürte er, wie die Anspannung nachließ. Er erwiderte die Umarmung.

Am nächsten Tag ging er in die Firma. Er parkte den Wagen an der üblichen Stelle, so als ob nichts geschehen wäre.

Als er sein Vorzimmer betrat, war Bella in Tränen aufgelöst. Er traute sich nicht, etwas zu sagen, sondern klopfte ihr nur auf die Schulter.

Im Büro warteten sie schon auf ihn; sie waren vor dem alten, schlachtschiffgrauen Schreibtisch angetreten: Morgan, Xu, Lye, Rowen. Sie machten lange Gesichter, und keiner war in der Lage, ihm in die Augen zu sehen.

Ein Geruch nach süßlichem Rasierwasser durchzog Lees Büro.

Dort - hinter Lees Stahlschreibtisch - stand Gene Tyson.

Lee ging geradewegs auf Tyson zu und reichte ihm die Hand. »Glückwunsch, Gene. Art setzt großes Vertrauen in Sie. Sie haben einen höllischen Auftrag, aber die Leute, die Sie unterstützen, sind die besten ihres Fachs. Ich weiß, daß Sie es schaffen werden.«

Tyson ergriff die Hand. »Ich werde mich an einem SpitzenMann messen lassen müssen. In der Übergangszeit bin ich ohnehin auf Ihre Hilfe angewiesen. JK.« Er schaute sich im Büro um. »Sie müssen hier nicht ausziehen. Das ist nicht nötig. Ich meine.«

»Nein.« Lee ließ Tysons Hand los; er hatte den Schweiß von Tysons weicher Hand an den Fingern. »Nein, das ist schon in Ordnung, Gene. Ich brauche nur einen Tag, um das Büro zu räumen.«

»Natürlich.«

Immerhin hatte Tyson so viel Takt, um das Büro nun zu verlassen.

Nachdem Tyson gegangen war, kam JK sich selbst fehl am Platz vor.

»Verdammt, JK«, sagte Bob Rowen unvermittelt, und sein Mondgesicht unter dem graumelierten Stoppelhaar erweckte den Eindruck, als ob er jeden Moment in Tränen ausbrechen wollte. »Ich wollte nicht, daß es so kommt. Das wissen Sie. Das MEM ist Ihr Schiff.«

Lee legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn sachte. »Nun müssen Sie das Ruder rumreißen, mein Junge«, sagte er leise. »Und ich wüßte niemanden, dem ich das eher zutrauen würde.«

»Wir kennen uns nun schon so lange, JK. Seit der alten B-70.«

»Mein Gott, es ist doch nicht so, als ob ich zum Mars fliegen würde. Ich werde sowieso fast jeden Tag in der Firma sein.« Das stimmte; Cane hatte ihm eine Stabsstelle angeboten, so daß er den Rang eines Vizepräsidenten auch weiterhin innehatte. »Wenn Sie mich brauchen, müssen Sie nur zum Telefon greifen.«

Nun brachen bei Rowen die Dämme. »Ich weiß, JK. O Gott.«

Lee hatte das Gefühl, auch losheulen zu müssen. Wieder so ein Vernichtungsversuch.

Er trat zurück und klatschte in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.

»Kommt schon, Leute. Geht wieder an die Arbeit.«

Seine Leute wollten die Verabschiedung fortsetzen und weitere Lobreden halten.

Er scheuchte sie aus dem Büro.

Nachdem sie gegangen waren, stand er für eine Weile da und betrachtete den wuchtigen Stahlschreibtisch. Das Möbel, das auf einem in den graublauen Unternehmensfarben gehaltenen Teppich stand, sah aus wie das Wrackteil eines Schiffs in der Weite des Meeres.

Er hielt es nicht mehr aus.

Er verließ das Büro und schloß die Tür hinter sich. Dann bat er die schluchzende Bella, seine Sachen zu packen und ihm nach Hause zu schicken.

Draußen wartete Jack Morgan. »Kommen Sie«, sagte Morgan. »Ich mach heute mal blau. Wir fahren zur Baiboa Bay runter und schütten uns mit Lemon Hart zu.«

Lee hielt das für eine ausgesprochen gute Idee. Doch auf dem Parkplatz vollzog sich plötzlich ein Sinneswandel.

»Nein«, sagte er. »Danke, Jack, heute nicht.«

»Hmh?« Die Besorgnis eines Arztes mischte sich in Morgans Verwunderung.

Lee grinste. »Ich bin schon in Ordnung. Es ist nur so, daß.« Morgan klopfte ihm auf die Schulter. »Kein Problem. Dann eben das nächstemal, hmh.«

»Klar.«

Lee ging zu seinem Sportwagen. Er nahm an, daß Morgan verstanden hatte.

Es ist nur so, daß ich den Tag mit Jennine verbringen möchte.

Montag, 13. August 1984

Lyndon B. Johnson-Raumfahrtzentrum, Houston

Der mit einer blauen Kombi bekleidete Bleeker saß auf einem gepolsterten Stuhl vor Muldoons Schreibtisch. Bleeker hatte große und helle Augen, die nach Muldoons Empfinden immer eine gewisse Ruhe ausgestrahlt hatten. Wie Kirchenfenster. Doch nun sah er Fältchen in den Augenwinkeln, und die Farbe war aus Bleekers Gesicht gewichen.

Als Bleeker zu sprechen anhob, war die Stimme angespannt, aber beherrscht. »Sagen Sie’s mir, Joe. Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein. Nein, natürlich nicht. Das wissen Sie doch.« Muldoon tippte auf den dicken braunen Ordner auf dem Schreibtisch. »Ist nur Ärzte-Scheiß. Hören Sie. Möchten Sie einen Drink?« Er öffnete die unterste Schublade des Aktenschranks. »Ich habe eine gute Flasche Bourbon hier, und.«

»Nein danke, Joe. Wenn Sie es mir bitte sagen würden.«

Muldoon öffnete den Ordner. Es handelte sich um den vorläufigen Bericht der flugärztlichen Untersuchung, die nach der D1-Mission bei Bleeker vorgenommen worden war. Er blätterte den Bericht durch, überflog die StoffwechselGrafiken, Strahlungsdosimetrie-Tabellen, gegengezeichnete Formulare und so weiter. Er fragte sich, wo er anfangen sollte. »Teufel, Adam. Sie wissen doch, wie das mit den Ärzten ist. Man verläßt die Praxis nur in zwei Zuständen: gesund oder.«

»Oder am Boden. Und ich bin am Boden. Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Joe?«

Unwirsch schlug Muldoon mit der flachen Hand die Mappe zu. »Adam, Sie haben unzählige Mannstunden im Weltraum zugebracht, in Skylab, Moonlab und zuletzt bei der D1-Mission.«

Bleeker zog den Kopf ein.

»Damit haben Sie sich für eine Teilnahme an der AresMission qualifiziert. Richtig? Wir wissen, daß Sie für Langfrist-Missionen geeignet sind, weil Sie sich in dieser Hinsicht bereits bewährt haben. Obendrein haben Sie noch Erfahrung mit der neuen Technik des MEM gesammelt. Und Sie sind sich über die Konsequenzen eines derart langen Aufenthalts im Weltall im klaren.«

»Wo liegt dann das Problem? Muskelschwund?« Zum erstenmal schien Bleeker beunruhigt. »Ist es das Herz?«

»Nein«, beeilte Muldoon sich zu sagen. »Soweit ich aus diesem Kram schlau werde, ist mit Ihrem Herzen alles in Ordnung. Adam, Ihre Flugtauglichkeit steht hier nicht zur Debatte. Bei Ihnen ist auf den Flügen kaum Muskelschwund aufgetreten, und Sie haben sich schnell wieder erholt.«

»Was dann? Kalziummangel?«

»Das auch nicht. Adam - es ist die Strahlenbelastung.«

»Ich liege noch im Grenzbereich«, sagte Bleeker hastig.

Muldoon bemühte sich, ein Gähnen zu unterdrücken. »Ja, aber für Sie wurden die Regeln geändert. Man muß den Ärzten zugute halten, daß sie ständig dazulernen: die Auswirkungen einer langfristigen, geringen Strahlenbelastung sind bisher kaum erforscht, doch dafür wurden andere Gefahrenpotentiale ermittelt. Haben Sie schon einmal von freien Radikalen gehört?«

Bleeker runzelte die Stirn.

»Freie Radikale sind Bruchstücke von Molekülen. Hoch energetisch. Wie Ionen - aus deren Atomen Ladungen herausgeschlagen wurden -, nur daß sie mehr >Bums< haben. Sie sind stark oxidierend, was bedeutet, daß sie Appetit auf Sauerstoff haben. Sie berauben sogar benachbarte Moleküle ihrer Wasserstoffatome. Und wenn das in den Körperzellen geschieht, ist das unter Umständen schädlich.

Jeder Mensch hat freie Radikale im Körper. Wir brauchen sie für die Stoffwechseltätigkeit. Aber es gibt einen Grenzwert. Im Körper findet ein Wechselspiel zwischen Produktion und Absorption statt, so daß ein Gleichgewicht gewährleistet ist. Wenn man jedoch hochenergetischer Strahlung, Sonneneinstrahlung oder extremen Temperaturen ausgesetzt ist.«

»Entstehen mehr freie Radikale.«

»Richtig. Das Gleichgewicht geht verloren.« Muldoon überflog den Bericht ein zweitesmal. »Diese Babies vermehren sich. Ein freies Radikal kehrt in den Normalzustand zurück, indem es dem Nachbarn ein Elektron stibitzt. Nur daß der Nachbar sich dann in ein freies Radikal verwandelt. Der Körper verfügt zwar über einen Abwehrmechanismus gegen diese Dinger, doch besteht die Gefahr, daß er überwältigt oder lahmgelegt wird. Und die Schäden hängen dann davon ab, welche Körperteile in Mitleidenschaft gezogen werden. Wenn eine DNA-Base beschädigt wird, tritt Krebs auf. Wenn Proteine beschädigt werden, verliert man die Kontrolle über die Körperfunktionen. Und wenn Membran-Lipide perforiert werden, treten innere Blutungen auf.«

Bleeker runzelte die Stirn. »Membran-Lipide, Joe?«

Muldoon versuchte sich verständlich auszudrücken: daß freie Radikale den Alterungsprozeß beschleunigten, daß sie Krebs sowie degenerative Erkrankungen des Herzens, der Leber und der Lunge verursachten; daß der Verlust des Gleichgewichts der freien Radikale eine Vielzahl anderer MikrogravitationsProbleme verursachte wie Störungen des Gleichgewichtsorgans im Ohr, Knochenschwund etc.

»Adam, haben Sie schon mal ein Stück Butter in der Sonne stehenlassen?«

»Wird ranzig«, sagte Bleeker nach kurzer Überlegung.

»Da haben Sie’s. Das sind die freien Radikale.«

Bleeker starrte Muldoon an und zupfte sich scheinbar unbewußt am Ärmel.

Bleeker schien wirklich die Ruhe weg zu haben. Anders hätte er auch kaum den ganzen Atomkriegs-Scheiß verkraftet, für den man ihn ausgebildet hatte, sagte Muldoon sich. Vielleicht lagen die Psychos mit ihrer Vermutung richtig, daß Bleeker an Phantasiearmut litt.

Doch nun erkannte Muldoon, daß unter der Oberfläche sich eine Spannung aufbaute. Wie würde er wohl darauf reagieren, auf die schlimmste Nachricht seines Lebens?

»Schauen Sie, Adam. Sie müssen das einsehen. Sie sind nicht krank. Es ist nur so, daß wegen dieser Studie Grenzwerte verschärft wurden. Und Sie, mit Ihrer langen Verweildauer im Weltraum, haben diese Grenzwerte bereits überschritten. Wäre die Studie über die freien Radikale schon vor ein paar Monaten veröffentlicht worden, hätten Sie wahrscheinlich nicht einmal mehr an der D1-Mission teilnehmen dürfen. Sehen Sie -vielleicht hätten Sie durch die freien Radikale gesundheitliche Schäden davongetragen. Oder auch nicht. Oder etwas anderes.«

»Ich habe mich bewährt, Joe, sowohl im Weltraum als auch auf dem Boden. Sehen Sie nur, wie erfolgreich der D1-Flug war. Ich habe es verdient, an diesem gottverdammten Einsatz teilzunehmen.«

»Ich weiß das, aber.«

»Und ich weiß, was ich von Arztberichten zu halten habe. Sie reden von Risiken. Von Möglichkeiten und Prozentsätzen. Aber nicht von Gewißheiten. Überhaupt wäre es unlogisch. Die Verweildauer der Ares-Besatzung im Weltraum wird meine kumulierten Zeiten sogar noch übertreffen.«

»Aber sie fangen mit niedrigeren Werten an, Adam. Sogar Phil Stone.«

»Joe, die Risiken sind mir egal. Ich will unbedingt fliegen.«

»Auch wenn es Sie das Leben kostet?«

»Auch dann.«

Bleeker hob den Kopf und sah Muldoon wieder mit diesen großen Kirchenfenster-Augen an. Sein Blick war offen und aufrichtig und kündete von unbedingtem Einsatzwillen.

Ich muß ihm die Flausen hier und jetzt austreiben. Er darf sich keine Hoffnungen mehr machen. Und er hatte auch nicht vor, Bleeker von dem Druck zu erzählen, der auf ihn ausgeübt wurde: von den Flugärzten und sogar von Josephson, dem

NASA-Direktor höchstpersönlich. Dahinter würde er sich nicht verschanzen.

»Darum geht es überhaupt nicht, Adam«, sagte er, wobei er versuchte, seiner Stimme einen metallisch harten Klang zu verleihen. »Ich darf nicht das Risiko eingehen, daß Sie auf halbem Weg zum Mars plötzlich krank werden. Ich darf das nicht riskieren. Sie würden sonst den Erfolg der Mission gefährden.«

Der Anflug eines Lächelns erschien auf Bleekers Gesicht. Dann erhob er sich ungelenk, wobei er sich noch immer am Ärmel zupfte. »Ich respektiere Ihre Entscheidung, Joe.«

»Meine Güte. Lassen Sie die Höflichkeiten, Adam. Wir unterhalten uns später weiter. Sie wissen, daß ich auf Ihre Unterstützung angewiesen bin. Wir haben nicht mehr viel Zeit, um die Sache zu regeln. Und später - Teufel, es gibt auch beim Bodenpersonal Karrieremöglichkeiten.« Er stieß ein hohles Lachen aus. »Verlassen Sie sich auf mich. Sie sind noch immer im Spiel, Adam.«

»Sicher. Ich kenne meine Pflichten, Joe. Ich werde tun, was ich kann.«

Das ist ein gottverdammter Job. Er ist der fähigste Mann im Astronauten-Büro, und ich muß ihn rausschmeißen. »Ja. Ich weiß, daß Sie das tun werden.«

Bleeker drehte sich noch einmal zu ihm um. »Übrigens - wer soll mich ersetzen? Haben Sie sich schon entschieden?«

Joe Muldoon zögerte.

Sein schönes Rotationssystem war schon Makulatur, seit er Curval rausgeschmissen hatte, und nun zogen die Ärzte auch noch Adam aus dem Verkehr. Plötzlich fühlte er einen irrationalen Zorn auf die Ärzte, die Verwaltung, die Psychologen und den Rest der Truppe, die ihm seine Kompetenz streitig machten.

Er hatte das Bedürfnis, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen und die Zügel wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Er hatte bereits mit Phil Stone gesprochen, dem AresKommandanten. Stone hatte sich voll hinter Bleeker gestellt. Nachdem er schließlich akzeptiert hatte, daß Bleeker nicht an der Mission teilnehmen würde, hatte Stone indes klare Vorstellungen gehabt, wer in Bleekers Fußtapfen treten sollte.

Nun, Joe, Sie müssen den besten Missions-Spezialisten auswählen. Jemand, der besser ist als Adam. Jemand, der den größten Einsatz gezeigt hat: jemand, der die meiste Zeit im Simulator verbracht hat, der die Erstbesatzung ausgebildet hat und so weiter. Und...

Was?

Und jemanden, der die Dinge, die Mission auf eine Art und Weise betrachtet, wie es alten Hasen wie Ihnen und mir nicht möglich ist. Eine andere Perspektive. Jemand, der sie vielleicht besser zu artikulieren vermag...

Egal, ob Anfänger oder nicht, Phil?

Teufel, ja, Joe. Egal, ob Anfänger oder nicht.

Muldoon mußte grinsen. Er wußte, daß der Kandidat, an den er dachte, lange Zeit mit Ralph Gershon zusammengearbeitet hatte - sowohl im MLTV als auch im Simulator und beim Überlebenstraining. Aber auch nur deshalb, weil sie beide Außenseiter waren und sozusagen eine Schicksalsgemeinschaft bildeten. Dennoch hatten sie ihre Kooperationsfähigkeit unter Beweis gestellt, auch wenn sie wohl nie Busenfreunde werden würden. Die Seelenklempner werden im Dreieck hüpfen, wenn gleich zwei Neurotiker an einem Flug teilnehmen und nur Phil Stone da ist, um zu verhindern, daß sie sich an die Kehle gehen...

Ach, scheiß drauf.

»Ja«, sagte er zu Bleeker. »Ja, ich habe mich entschieden. Aber, Adam.«

»Ja?«

»Sie weiß es noch gar nicht.«

Montag, 13. August 1984 Ramada Inn South/NASA, Houston

Wladimir Wiktorenko hatte sich der Schuhe entledigt und nippte an einer Flasche Whisky. Er war eigens nach Houston gekommen, um tiefere Einblicke ins Ares-Trainingsprogramm zu erhalten. Im Moment lauschte er mit halbem Ohr den Nachrichten und fragte sich, was er mit dem Abend anfangen solle.

Die Nachrichtensprecherin - eine atemberaubend schöne, junge Frau - sagte, soeben habe man die Besatzung für Ares bekanntgegeben.

Wiktorenko verschluckte sich und ließ die Flasche fallen.

Er setzte sich auf und wischte sich den Whisky vom Mund. Er glaubte, sich verhört zu haben.

Mitnichten: nun erschien ein Bild von Natalie - eine offizielle Aufnahme, wobei sie vor einem undefinierbaren Hintergrund saß, dem Fotographen über die Schulter blickte und sich nervös am Modell eines bikonischen MEM festhielt, das längst nicht mehr aktuell war.

Er griff zum Telefon und rief York an.

»Maruschka! Ich hab’s eben gehört! Sie fliegen zum Mars!«

»Das stimmt nicht«, sagte York mit monotoner und emotionsloser Stimme.

»Was? Aber es kam doch in den Nachrichten.«

»Ja. Ich hab’s auch gehört. Aber von der NASA habe ich nichts gehört. Und solange sie sich nicht bei mir melden, weiß ich von gar nichts.«

Wiktorenkos Mund öffnete und schloß sich, ähnlich einem Fisch. Du fliegst zum Mars! Das ist ein Grund zum Jubeln! York blieb stumm.

»Maruschka. Sind Sie allein?«

»Hmmh.«

Natürlich bist du das. »Erteilen Sie mir die Erlaubnis, zu Ihnen zu kommen und mit Ihnen auf den Anruf von der NASA zu warten? Vielleicht hilft Ihnen das.«

»Wenn Sie möchten. Sie müssen aber nicht kommen. Es geht mir gut, Wladimir.«

»Natürlich geht es Ihnen gut.«

Wiktorenko legte auf, holte sechs Fläschchen aus der Minibar und stürmte aus dem Raum.

York saß allein auf der Couch. Im Hintergrund lief das Fernsehgerät. Sie war mit einem Polohemd und einer Hose bekleidet. An den Wänden des Wohnzimmers hingen die alten Mariner-Aufnahmen, und der Tisch war mit Papieren übersät: offensichtlich verfaßte sie gerade eine Abhandlung über die Oberflächenbeschaffenheit irgendeiner Region auf dem Mars.

Wiktorenko stürmte herein. »Ich habe etwas mitgebracht.« Er kramte die Fläschchen aus der Tasche und baute sie in einer Reihe vor dem Fernsehgerät auf.

»Wozu soll das denn gut sein?«

»Für den Fall, daß Sie den richtigen Anruf bekommen. Oder auch den falschen.«

Dann setzte er sich neben sie und nahm ihre Hand. Wortlos verfolgten sie das Geschehen auf dem Bildschirm. Anfangs war ihre Hand noch steif, doch nach ein paar Minuten umklammerte sie seine Hand regelrecht.

Wiktorenko schrak auf, als das Telefon klingelte.

York ließ es ein paarmal klingeln. Dann entzog sie Wiktorenko die Hand und ging zum Telefon. Ihr Gang war langsam und staksig, als ob sie in einem unsichtbaren Druckanzug steckte.

»York.«

Er hörte, wie sie leise schnaufte.

»Ach, hallo, Mama. Nein. Es stimmt nicht. Vielleicht.

Ich habe es auch nur in den Nachrichten gehört. Die NASA hat sich noch nicht bei mir gemeldet. Bis dahin. Nein, ich glaube nicht, daß ich dort anrufen sollte. Sie wissen, wo ich zu finden bin. Ich warte hier, bis - ja, vielleicht solltest du aus der Leitung gehen, Mama. Ich rufe dich an, wenn ich etwas Näheres weiß. Tschüß. Ja, ich dich auch. Tschüß.«

Sie legte auf und drehte sich mit einem Achselzucken zu Wiktorenko um.

Im Fernsehen brachten sie die Wiederholung einer uralten Serie; Wiktorenko vermochte dem Stakkato der Dialoge kaum zu folgen und fand die Handlung billig und überhaupt nicht witzig.

York saß stumm da. Sie zitterte leicht. Er bezweifelte, daß sie die Bilder überhaupt sah, die über die Mattscheibe flimmerten.

Wieder klingelte das Telefon. York stand auf.

»York.«

»Ja, Sir.«

Dann sagte sie für ein paar Sekunden nichts mehr.

»Ja, Sir. Danke. Ich werde mein Bestes tun. Natürlich. Auf Wiederhören.«

Sie legte auf. Wiktorenko wagte nicht, sie nach dem Inhalt des Gesprächs zu fragen.

York ging zum Fernsehgerät, aus dem unablässig das konservierte Gelächter der hirnlosen Komödie drang. Sie nahm eins der Fläschchen, die Wiktorenko mitgebracht hatte, schraubte den Verschluß ab und warf ihn auf den Fußboden. Dann leerte sie die Pulle in einem Zug.

Wiktorenko konnte nicht mehr an sich halten. Er erhob sich vom Sofa und durchmaß den Raum mit weiten Schritten. Dann faßte er York am Ellbogen. »Na? Gute Nachrichten, Maruschka?«

Sie schaute zu ihm auf; in den Augen unter den buschigen Brauen lag ein verletzlicher Ausdruck. »Es ist wahr«, sagte sie. »Wlad, es ist wahr. Das war Joe Muldoon.«

Wiktorenko hätte jubeln und sie herumwirbeln mögen!. Doch sie stand nur da, schaute zu ihm auf und befingerte die leere Flasche. Er beschloß, sich zurückzuhalten und ihre Reaktion abzuwarten.

Sie ging zum Telefon und rief ihre Mutter an. Dann schlug sie vor, auf weitere Anrufe zu warten.

Also setzte Wiktorenko sich wieder auf das Sofa, hielt Yorks zitternde Hand und schaute sich die blödsinnige Komödie im Fernsehen an. Es war eine bizarre Situation.

»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte York nach einer Weile.

»Was?«

Sie machte eine vage Geste. Er hatte den Eindruck, daß sie ihre ganze Selbstbeherrschung aufbot. »Die Ungewißheit. Daß ich keine Kontrolle über mein Leben habe. Mein Gott, nachdem der Dauertest im Weltraum gestrichen wurde, wähnte ich mich weiter vom Mars entfernt als je zuvor. Und nun - aus heiterem Himmel - das.«

Er drückte ihre Hand. »Sie sind nie beim Militär gewesen, Maruschka. So läuft das beim Militär. Dort haben Sie keine Wahl und dürfen nicht selbst über Ihr Leben bestimmen. Vielleicht weist eure zivile NASA doch mehr militärische Züge auf, als manch einer sich eingestehen will.«

Das Telefon klingelte. Es war Adam Bleeker, dessen Posten York übernommen hatte. York sprach kurz mit ihm.

»Wie fühlt er sich?«

Sie zuckte die Achseln.

Sie warteten noch für eine Weile, doch es erfolgten keine Anrufe mehr. Zweifellos übten diese Idioten im AstronautenBüro nun den Schulterschluß und straften York - und wohl auch Gershon - mit Mißachtung, weil sie ihre Kumpels, die bevorzugten Kandidaten, aus dem Rennen geworfen hatten.

»Unglaublich!« entrüstete Wiktorenko sich. »In Rußland würden wir uns einem Kameraden gegenüber nicht so schäbig verhalten. Kommen Sie. Wir gehen essen. Möchten Sie in ein Steakhaus, zum Italiener oder doch lieber zum Mexikaner? Sie sind eingeladen! Ich setze es der Sowjetunion auf die Spesenrechnung, Maruschka!«

Erst zierte sie sich, doch dann nahm sie die Einladung an.

Beim Verlassen der Wohnung kam ihnen auf dem Gang ein dicklicher junger Mann entgegen. Über seiner Schulter leuchtete die Lampe einer Kamera.

»Frau York! KNWS-TV. Wie fühlt man sich als erste Frau auf dem Mars?«

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