Sechstes Buch. Mangala

Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]

Plus 374/14:23:48 Mangala-Basis

Durchs Fenster der Luftschleuse sah Natalie Sterne, die in einen schwarzen Himmel eingebettet waren.

Und dort stand Jupiter hoch am Himmel, der von hier aus ein gutes Drittel heller war als von der Erde aus gesehen. Er war so hell, daß er sogar einen Schatten warf. Und im Osten war ein Morgenstern: das weißblaue Licht des stetig strahlenden Sterns überstrahlte das verwaschene Violett der Mars-Dämmerung. Das war natürlich die Erde. Der Zwillings-Planet stand fast in Konjunktion - er befand sich in derselben Richtung wie die Sonne - und näherte sich dem Punkt der dichtesten Annäherung an den Mars. Im Moment stand die Erde als Sichel am Himmel und wandte dem Mars die Nachtseite zu.

Die Sternbilder selbst entsprachen den vertrauten Mustern ihrer Kindheit. Ernüchtert erkannte sie, daß sie im Grunde nur einen Katzensprung gemacht hatten: die Sterne waren noch immer so weit entfernt, daß diese weite interplanetare Reise im Vergleich dazu wie die ersten Gehversuche eines Kindes anmutete. Und das, obwohl die Menschheit für diese Reise, an deren Ziel die Erde selbst zu einem sternengroßen Punkt geschrumpft war, ihre technischen Möglichkeiten voll ausgereizt hatte.

Und der heutige Tag würde den Höhepunkt dieser Reise markieren, wenn Phil Stone als erster Mensch auf dem Mars spazierenging. Das MEM stand nun schon seit drei Tagen auf der Marsoberfläche. Die Besatzung hatte diese wertvolle Zeit investieren müssen, um sich nach der langen Phase in der Schwerelosigkeit wieder an die Schwerkraft zu gewöhnen.

Wie man ihr vorhergesagt hatte, war York seit dem Start von der Erde etliche Zentimeter gewachsen und ein paar Pfund leichter geworden. Anfangs hatte sie Schwierigkeiten, sich in den engen Räumlichkeiten des MEM zu bewegen; sie lief immer gegen die Wand und vergaß, wo unten war. Und sie hatte die schönsten >Hühnerbeine<. Vorzeitige Alterung, Adam, sagte sie sich. Du hattest recht. Wir sind drei alte Leute, die hier auf der Marsoberfläche festsitzen. Wie dem auch sei, für die ein Drittel der Erdenschwere betragende Mars-Gravitation genügten auch Hühnerbeine.

Nach mittlerweile drei Tagen auf dem Mars war sie noch immer desorientiert, als ob die vom Licht des Jupiter beschienene Landschaft vor dem Fenster nur das Gipsmodell einer Simulation wäre.

Wenn sie nach draußen ging, würde die Landschaft schon real werden.

Stone trat nun auch in die Schleuse. Stone und York trugen Thermo-Unterwäsche sowie ein sogenanntes Kühlungs- und Belüftungs-Oberteil mit wasserführenden Lamellen, die an den Kühler eines Kraftfahrzeugs erinnerten. York hatte den Katheter eingeführt, und Stone hatte den Urinbeutel übergestreift, der wie ein übergroßes Kondom aussah. Die beiden wirkten bizarr, geschlechtslos und irgendwie lächerlich.

»Schöner Anblick«, murmelte Stone. »Ralph behauptet, er würde sogar den Mond mit bloßem Auge sehen.«

»Vielleicht stimmt das. Möglich wäre es jedenfalls.« Der Mond müßte von ihrer Position aus als schwach leuchtender silbergrauer Stern erscheinen, der den Mutterplaneten in geringem Abstand begleitete.

Stone hatte York die Untere Torso-Garnitur mitgebracht - die untere Hälfte des EVA-Anzugs, die Hose mit integrierten Stiefeln. »Komm schon, York; genug herumgetrödelt.«

Sie starrte den Anzug an. Die Situation kam ihr beinahe irreal vor. »Ist es schon soweit, hmh.«

Sie hakte die Ärmel der Kühlweste zwischen Daumen und Zeigefinger ein; dadurch wurde vermieden, daß die Ärmel nach oben rutschten. Sie betrachtete die Hand und das Kunststoffgeflecht auf den Handballen; das war der erste Schritt in der ausgefeilten Ankleide-Zeremonie, und schon bei diesem simplen Handgriff bekam sie Herzklopfen.

Dann stieg sie in die Untere Torso-Garnitur. Die aus mehrlagigem Gewebe bestehende Einheit war schwer und steif, und sie schien sich Stones Bemühungen zu widersetzen, York beim Anlegen zu helfen. Sie war jetzt bereits erschöpft.

Nun schloß sie einen Schlauch an den Katheter an, der zu einem Urinbeutel mit einem Fassungsvermögen von einem Liter führte. Einen Sammelbehälter für Kot gab es jedoch nicht; statt dessen trug sie eine Art Windelhose, welche gemäß Dienstvorschrift >die Darmtätigkeit absorbieren würde, die während eines EVA nicht unterdrückt werden kann<.

York würde versuchen, es zu unterdrücken.

Nun kam der Harte Oberkörperschutz an die Reihe, abgekürzt HUT22. Ihr HUT hing an der Wand der Luftschleuse. Er glich der oberen Hälfte einer Ritterrüstung und verfügte über einen integrierten Lebenserhaltungs-Tornister.

Sie duckte sich unter den HUT und hob die Arme. Dann richtete sie sich auf und wand sich in den HUT. In der Dunkelheit der fabrikneuen Schale roch es nach Kunststoff, Metall und Watte.

Sie steckte die Arme in die Ärmel und schob die Hände hindurch, wobei die Kühlschlangen den Daumen quetschten. Die Schultern wurden schmerzhaft zurückgebogen. Es war ein beschwerlicher Vorgang. Und dabei waren diese Anzüge noch viel unkomplizierter als die alten Mondanzüge; die Apollo-Besatzung hatte die Anzüge auf der Mondoberfläche regelrecht montieren und die Schläuche an die Wasser- und Sauerstofftornister anschließen müssen.

Sie schob den Kopf durch den Helmring. Stone grinste sie an. »Hallo.« Dann zog er den HUT ruckartig herunter, brachte die metallenen Hüftringe der beiden Hälften zur Deckung und arretierte den Bajonettverschluß.

Nun half sie Stone in den Anzug.

York und Stone steckten schon seit fast zwei Stunden in der engen Luftschleuse. Der Druck der Challenger-Atmosphäre betrug siebzig Prozent des Luftdrucks auf Meereshöhe. Sie bestand aus einem Gemisch aus Stickstoff und Sauerstoff, doch um die Flexibilität der Anzüge zu gewährleisten, wurden sie nur mit Sauerstoff mit einem Viertel des Drucks auf Meereshöhe versorgt. Also mußten York und Stone vorab reinen Sauerstoff atmen, um den Stickstoff aus dem Blut zu lösen.

Es war ein beschwerliches Ritual. Zumal die Einsätze auf dem Mars auf drei, maximal vier Stunden begrenzt waren. Die Apollo-Tornister hatten eine Kapazität von sieben Stunden gehabt. Doch der Mars besaß die doppelte Schwerkraft des Mondes, so daß die Marsanzüge proportional leichter sein mußten, was wiederum eine entsprechend geringere Kapazität zur Folge hatte. Und nach jedem EVA mußten die Anzüge einer langwierigen Reinigung unterzogen werden: die Besatzung mußte den Marsstaub absaugen, der stark oxidierend war und die Lunge zerstörte, wenn er in die Challenger gelangte.

Die kurzen EVAs mit der flankierenden Vorbereitung, Reinigung und Dekontaminierung würden fast jeden Tag auf dem Mars ausfüllen. Es würde ein mühsames Tagewerk werden.

York setzte sich die Astronauten-Haube auf, und dann stülpte Stone ihr den Helm über den Kopf und arretierte den Verschluß.

Zum Schluß kamen die Handschuhe; sie hatten eine enge Paßform und schnappten im Ärmelring ein.

Stone legte einen Schalter auf der Brustplatte um. Sie hörte das vertraute leise Summen der Pumpen und Lüfter im Rückentornister und spürte die Sauerstoffbrise im Gesicht. Er klopfte auf den Helm und hob den Daumen vor dem Visier.

Sie nickte und lächelte. Dann hob sie den Arm; am Ärmel war eine Reflektorplatte angenäht, mit deren Hilfe sie die Schaltfläche an der Brust sah. Sie zeigte die Quantität und den Druck des Sauerstoffs und Kohlendioxids an und war darüber hinaus mit diversen Warnlampen bestückt. York sah, daß der Sauerstoffdruck sich stabilisierte.

Stone überprüfte die Funkverbindung. »Hallo, Natalie. Anton Berta Cäsar.« Seine Stimme war leise und blechern und wurde von gedämpften Echos begleitet, die durchs dicke Glas des Helmvisiers drangen.

Sie kontrollierte die Kunststoffröhrchen, die in den Helm hineinragten und saugte Wasser und Orangensaft an. Der O-Saft war in Ordnung, aber das Wasser war zu warm. Doch das war eine Lappalie. Sie regelte den Innendruck des Anzugs kurz aufs Maximum hoch, um ihn auf etwaige Undichtigkeiten zu überprüfen. Dann befestigte sie den Spiralhefter mit der EVA-Checkliste am Ärmelbund.

Nachdem sie die Anzüge durchgeprüft hatten, unterzogen sie sich einer gegenseitigen Musterung. Stones Anzug war schneeweiß mit hellblauen Überschuhen. Das Sternenbanner prangte an den Ärmeln.

»Sind wir soweit?« fragte Stone.

Sie war nun von Challenger isoliert: ein autarkes System, ein Miniaturraumschiff sozusagen. Sie sog kühlen Sauerstoff ein. »Ja. Gehen wir an die Arbeit.«

»Roger.« Er wandte den Blick von ihr ab und rief Gershon, der sich oben in der Aufstiegsstufe befand. »Ralph, wir warten auf grünes Licht für Druckausgleich.«

»Rager, Phil; ihr habt grünes Licht für Druckausgleich.« Gershon würde den Premieren-Ausflug von der Kabine in der Aufstiegsstufe verfolgen.

Stone betätigte einen Schalter an der Wand. York hörte das Geräusch ausströmender Luft, und um das auszugleichen, schien das Geräusch der Atmung anzuschwellen.

»Roger«, sagte Stone. »Alles klar. Wir warten nur noch, bis der Kabinendruck so weit abgesunken ist, daß wir die Luke öffnen können.«

Das Manometer zeigte York, daß der Druck bereits auf hundert Millibar abgefallen war.

»Ich stelle einen sehr niedrigen statischen Druck in eurer Schleuse fest«, sagte Gershon. »Meint ihr nicht, ihr könntet die Luke nun öffnen?«

»Ich versuch’s mal«, sagte Stone.

Der Ausstieg aus der Schleuse erfolgte durch eine dicht über dem Boden eingelassene Luke. Der Öffnungsmechanismus bestand aus einem schlichten Hebel. Stone bückte sich, legte den Hebel um und zog. York sah, daß die dünnwandige Luke sich nach innen wölbte. Aber sie blieb geschlossen.

»Verdammt noch mal.«

»Laß mich mal ran.« Sie ging in die Hocke und packte die Luke an der Ecke, wo sie etwas von der Wand abstand. Durch die mit einem Drahtgeflecht verstärkten Gummihandschuhe hatte sie kaum Gefühl in den Händen. Dennoch gelang es ihr, die Luke ein Stück weit aufzubiegen.

Durch den Spalt zwischen Luke und Rahmen drang ockerfarbenes Licht.

»Ich glaube, ich habe die Dichtung aufgebrochen.«

Stone zog wieder am Hebel, und diesmal ließ die Luke sich mühelos öffnen.

York sah ein leichtes Schneegestöber, als der letzte Rest der Luft in die Marsatmosphäre entwich.

Sie traten zurück, damit die Luke aufschwingen konnte.

Nun erkannte York die >Veranda<, die Plattform, die am oberen Ende des Landebeins der Challenger angebracht war. Diese Plattform würde Stone nun gleich betreten. Sie war mit braunem Pulver überzogen, das durch die Landung aufgewirbelt worden war. Und hinter der Plattform sah sie die Oberfläche des Mars: sie sah aus wie Sand und war von radialen Linien durchzogen, die von Challenger wegführten. Dieses Muster hatte das Abstiegstriebwerk beim letzten Feuern in den Boden gebrannt.

Die Landschaft war so öde, daß sie einem vergleichbaren Terrain auf der Erde gar keine Beachtung geschenkt hätte. Doch dies hier war Mangala Vallis: nun war sie nur noch durch ein paar Meter dünner Marsluft von der Oberfläche getrennt, die sie im Verlauf des bisherigen Berufslebens studiert hatte.

»Natalie«, sagte Stone.

Sie drehte sich um; im Licht der Luftschleuse, das einen Kontrast zur bräunlichen Tönung des Mars bildete, schien sein Anzug weiß zu glühen.

»Wir haben auf der Checkliste etwas vergessen«, sagte Stone. »Wir müssen das hier noch anlegen.« Dann holte er die roten EVA-Eins-Bänder aus einer Anzugstasche. Stone würde in seiner Eigenschaft als Missions-Kommandant auch die erste Exkursion auf dem Mars anführen. York war seine offizielle Stellvertreterin, und Stone würde die roten Bänder an Armen und Beinen tragen, damit man ihn auf den Kameraaufnahmen identifizierte.

Doch nun hielt er ihr die Bänder hin.

»Ich verstehe nicht.«

Er lächelte. »Du verstehst sehr wohl. Streif die Bänder über.«

Sie streckte die Hand aus, und er legte ihr die Bänder auf den Handteller. Durch die dicken Handschuhe spürte sie das Gewicht der Bänder gar nicht.

»Das soll wohl ein Scherz sein.«

»Schau«, sagte er unwirsch. »Ich habe auch nicht von dir verlangt, das gottverdammte MEM zu landen, obwohl du wegen des Notfall-Trainings in den Simulationen durchaus dazu in der Lage gewesen wärst. Deine Aufgabe bei der ersten EVA-Exkursion besteht nur darin, in der Gegend umherzulaufen, ein paar Steine aufzuklauben und den Leuten zuhause darüber zu berichten.«

Bei dem unerwarteten Angebot verspürte sie weder Freude noch Stolz, sondern nur Irritation. Ich drehe schon wieder am Rad. »Das ergibt doch keinen Sinn, Phil. Du läßt die Chance sausen, als erster Mensch auf dem Mars in die Geschichte einzugehen, um Gottes willen. Welches Arschloch tut denn so was?«

»Ich«, sagte er pikiert. »Das ist wichtig, Natalie. Ich hatte es noch vor dem Start mit Joe Muldoon besprochen. Um zukünftiger Missionen willen muß diese Mission - vor allem diese erste Exkursion - ein Erfolg werden. Das rangiert noch vor der Wissenschaft, obwohl du mir da kaum zustimmen wirst. Natalie, es wird lange dauern, bis Menschen wieder zum Mars fliegen. Deshalb schreiben wir hier Geschichte; selbst wenn wir scheitern, werden die Menschen zum Mars hinaufschauen und sich sagen, ja, es ist möglich; wir sind imstande, dorthin zu fliegen und zu überleben. Wir wissen es, weil jemand es uns gezeigt hat.

Schau, ich bin kein Neil Armstrong. Du bist - eloquenter. Und dies ist dein Ort; dein Tal. Dein Planet, verdammt. Du weißt hier besser Bescheid als sonst ein Mensch. Deshalb glaube ich, daß du das besser rüberbringen wirst. Zumal.« »Was?«

Er lächelte - ».ich das Gefühl habe, daß die Menschen mich als >Den Mann, der die Chance sausen ließ, Erster zu sein<, noch länger in Erinnerung behalten werden.«

»Ich hoffe, sie leistet den Anweisungen Folge«, rief Gershon. »So zuverlässig wie immer.«

Sie haben das ausgeheckt, sagte sie sich. Sie haben mir eine Falle gestellt.

»Und nimm das Ding da«, sagte Stone.

Sie streckte die Hand aus, und Stone gab ihr eine kleine, vielleicht münzgroße Scheibe. Es war die Diamantmarkierung. »Ich glaube, du solltest sie deponieren. Für Ben. Und die anderen.«

Dann umfaßte er ihre Hand mit beiden Händen und schloß sie um die Markierung. Er schaute ihr in die Augen.

Er weiß Bescheid, erkannte sie plötzlich. Über Ben und mich. Alle wußten sie Bescheid, die ganze Zeit über.

Sie steckte die Markierung in eine Probentasche am Anzug. Dann streifte sie sich wie in Trance die roten Bänder über Arme und Beine und klappte das goldene Helmvisier herunter.

Stone hielt ihr die Luke auf. Unbeholfen ging York auf die Knie und wandte der Luke das Hinterteil zu. Dann kroch sie rückwärts auf die Plattform.

»Los geht’s! Die Richtung stimmt, Natalie. Komm etwas auf mich zu. Gut, jetzt runter. Roll dich nach links. Zieh den linken Fuß nach rechts - nein, andersrum. Das machst du gut.«

Sie schabte am Lukenrahmen entlang. Kühlschlangen gruben sich ihr ins Bein.

Das Blut hämmerte in den Ohren.

»In Ordnung, Ralph. Ich bin auf der Plattform.« Sie packte die Reling zu beiden Seiten der Plattform.

Sie schaute auf. Die weiße Außenhaut war von der Landung mit Staub überzogen und erhielt nun durch die über dem Mars aufgehende Sonne eine gelbe Tönung. Sie war schon so weit draußen, daß sie die Schleuse in vollem Umfang überblickte. Sie klaffte als Rechteck aus hellem, fluoreszierendem Licht in der Hülle der Challenger. Innerhalb des Rechtecks war Phil Stone in die Hocke gegangen und schaute zu ihr heraus. Er nickte im Helm.

Sie kroch weiter rückwärts über die Plattform, wobei sie das rechte Bein als >Fühler< benutzte. Schließlich stieß sie mit dem Zeh gegen die oberste Sprosse der Leiter.

Sie hielt sich an der Reling fest und richtete sich auf.

Dann tauchte sie in den Schatten der Challenger ein; die aufsteigende Sonne war hinter der Masse des Raumschiffs verborgen, und der Himmel über ihr war noch immer schwarz, obwohl die Sterne bereits verblaßten. Steif drehte sie sich um. Der flache, klare Horizont bildete einen markanten Kontrast zur staubigen und steinigen Ebene. Die einzige Farbe war ein gesprenkeltes Rostbraun, wie eingetrocknetes Blut. Die Schatten waren lang und scharf konturiert.

Die Veränderung des Maßstabs war überwältigend. Sie hatte viele Monate in der Enge des Missionsmoduls zugebracht, wo es nur zwei Maßstäbe für die Entfernung gegeben hatte: ein Meter und - mit Blick auf das Universum - unendlich. Bei der räumlichen Wahrnehmung und der Fläche, die sich um sie ausbreitete, drohte sie die Orientierung zu verlieren; diesen Effekt hatte die Ausbildung nicht berücksichtigt. Für einen

Moment glaubte sie, nach hinten zu kippen, und sie umklammerte die Reling der Plattform.

»Natalie?«

»Ich bin in Ordnung, Phil. Es ist nur.«

»Ich weiß«, sagte Stone. »Ein großer Moment, nicht?«

»Genau.«

»Natalie, hast du schon die MESA rausgeholt?« fragte Gershon.

Die MESA, die Modulare Ausrüstungs-Speicher-Baugruppe, befand sich links neben der Leiter hinter einem Deckel in der Landestufe. York streckte die Hand aus und löste eine Verriegelung, worauf der Deckel wie eine Zugbrücke nach unten schwang. Auf ihm war eine Kamera montiert.

»Ralph, die MESA ist ausgeklappt.«

»Bestätigt, Natalie. Ich schalte die Kamera nun an.«

Die dunkle Linse der Kamera erfaßte sie und folgte jeder ihrer Bewegungen, nachdem Ralph die Servomotoren aktiviert hatte. Sie war verlegen, ohne daß sie einen Grund dafür gehabt hätte.

»Ich warte auf die Aufnahmen. Mann, ich kriege ein Bild. Der Kontrast ist sehr stark - ich sehe nur bunte Schlieren -, und obendrein steht das verdammte Bild auf dem Kopf. Doch ich erkenne ziemlich viele Details, und - jetzt hat sie sich selbst korrigiert. Natalie, ich sehe dich auf der Leiter stehen.«

York nickte in die Kamera. Aber sie sehen mein Gesicht nicht hinter dem Visier.

Sprosse um Sprosse stieg sie die Leiter hinab. Die Abstände zwischen den Sprossen waren ziemlich groß, und im steifen Anzug bestand die beste Art der Fortbewegung darin, sich von einer Sprosse zur nächsten fallen zu lassen.

Die letzte Sprosse befand sich einen Meter über dem Boden. Sie stieß sich von der Leiter ab und ließ sich fallen. Der Fall ging wie in Zeitlupe vonstatten; sie schätzte die Zeit, die sie für die Bewältigung des letzten Meters brauchte, auf fast eine Sekunde. Auf der Erde wäre das doppelt so schnell gegangen.

Die blauen Stiefel landeten auf dem weißen Metall des einen Meter durchmessenden Landetellers der Landestufe. Hier, im Schatten von Challenger, war es noch so dunkel, daß sie kaum die Hand vor Augen sah.

Sie hielt sich mit den behandschuhten Händen an der Leiter fest und versuchte, wieder die unterste Stufe zu erklimmen. Sie mußte sich vergewissern, daß eine Rückkehr möglich war. Doch der Anzug war zu steif, als daß es ihr gelungen wäre, das Bein so hoch zu heben.

»Saublöde Konstruktion.«

»Heißes Mikro, EVA-Eins«, sagte Gershon milde.

Sie ging leicht in die Hocke und sprang. Weil die Beine im Anzug eingezwängt waren, mußte die Kraft für den Sprung von den Zehen und Knöcheln übertragen werden. Obwohl die Mars-Gravitation an ihr zog, schoß sie über die unterste Sprosse hinaus. Sie prallte gegen die Leiter, doch gelang es ihr, die Füße auf die Sprosse zu stellen.

Außer Atem hüpfte sie wieder auf den Landeteller.

Sie überflog die Marsoberfläche.

»In Ordnung. Ich stehe am Fuß der Leiter. Die Landeteller des MEM sind etwa zehn Zentimeter tief in die Oberfläche eingesunken; die Eindrücke sind konturiert. Weil es hier natürlich kein Wasser gibt, beruht die Kohäsion des Bodens wohl auf Elektrostatik.« Keine Analysen, York; sag ihnen nur, wie es aussieht. »Die Oberfläche sieht aus wie ein feinkörniger Sandstrand. Bei näherer Betrachtung indes ist er noch viel feinkörniger als Sand, was auch die gute Haftung erklärt. An manchen Stellen ist er sogar fein wie Puder.« Sie trat sachte gegen den Regolith, wobei sie Furchen im Boden hinterließ. »Ich habe mit dem Zeh Rinnen in den Boden gezogen. Die Oberfläche zerbröselt, wenn ich dagegen trete.

Ich habe den Eindruck, daß es sich beim Oberflächenmaterial um eine Durikruste handelt. Sie besteht aus Staubpartikeln, die durch aufsteigendes Grundwasser zusammengebacken wurden und aus Salzen, die bei der Verdunstung des Wassers ausgefällt wurden.«

Sie sah, daß etwas Marsstaub sich auf dem Landeteller abgelagert hatte, und als sie nun das Bein hob, sah sie, daß auch etwas Staub am Stiefel haftete. »Der Staub klebt in dünnen Schichten an der Sohle und an den Seiten der Stiefel. Er ist also kohäsiv und adhäsiv. Es sieht so aus, als ob er bis zu einer Steigung von ungefähr siebzig Grad haftet...«

»Natalie«, sagte Ralph Gershon, »dreh dich bitte um und schau für eine Minute in die Kamera.«

»Wiederhole das, Ralph.«

»Rager. Ich möchte, daß du in den Erfassungsbereich der Kamera trittst. Natalie, Phil; der Präsident der Vereinigten Staaten befindet sich in seinem Büro und möchte ein paar Worte an euch richten.«

»Es wäre uns eine Ehre, Ralph«, sagte Stone.

Sie überprüfte die Checkliste am Ärmel. Reagan war auf die Minute pünktlich. Schließlich war er auch ein erfahrener Schauspieler.

Sie wandte sich der MESA zu.

Sie stellte sich vor, wie die Bilder von ihr zur Erde gesendet wurden: sie würde als steife, eckige Gestalt auf dem Landeteller erscheinen, wobei ihre Konturen durch die Falschfarbendarstellung mit dem karmesinroten Mars verschmolzen.

Sie nahm eine Hasselblad-Kamera von der MESA-Plattform. Es war eine Fummelei, die Kamera über der Brustplatte zu befestigen.

Sie drehte sich langsam, während die Kamera ein PanoramaMosaik aufnahm. Dann nahm sie eine kleine Filmkamera und befestigte sie an der Brustplatte neben der Hasselblad.

Die Funkverbindung wurde schlechter, als die Stimme eines Houston-Capcoms ertönte. »Sprechen Sie, Herr Präsident. Die anderen halten den Mund!«

Natalie und Phil, ich spreche zu Ihnen über eine Funk-, Verbindung vom Oval Room im Weißen Haus.

Reagans sonore Stimme klang lebhaft und interessiert. Er spielt die Rolle gut, sagte sie sich. Sie straffte sich, als ob sie Haltung annehmen wollte.

Die NASA-Techniker haben mir gesagt, es würde vier Minuten dauern, bis meine Worte Sie erreichen, und noch einmal vier Minuten, bevor ich Ihre Antwort höre. Wir werden wohl kaum ein richtiges Gespräch führen können. Ich möchte nur soviel sagen, während Sie vom Mangala-Tal zu uns sprechen. Unsere Fortschritte im Weltall - wo wir große Schritte für die Menschheit machen - sind ein Tribut an den Teamgeist und die Leistungsfähigkeit der Amerikaner. Und wir dürfen mit Stolz behaupten: wir sind die Ersten, wir sind die Besten; und wir verkörpern diese Tugenden, weil wir frei sind.

Amerika hat seit jeher die größten Leistungen vollbracht, wenn wir Mut zur Größe besaßen. Und zu dieser Größe werden wir zurückfinden. Wir sind imstande, unsere Träume von den Sternen zu verwirklichen und im Weltraum zu leben und zu arbeiten, zum Wohle des Friedens, der Wirtschaft und der Wissenschaft...

York - die auf dem Landeteller in der Realität der glühenden Landschaft stand und das Gewicht des Tornisters auf dem Rücken spürte - hörte sich den Sermon geduldig an.

...Ich werde nun Schluß machen, Natalie und Phil, aber ich möchte, daß Sie uns noch ein paar Minuten Ihrer Zeit widmen.

Bitte erzählen Sie uns, was für ein Gefühl es ist, endlich auf der Oberfläche des Mars zu stehen.

Reagan verstummte, und es zischte im Lautsprecher.

»Danke, Herr Präsident«, sagte Stone. »Wir betrachten es als eine Ehre und ein Privileg, auf dem Mars zu sein und nicht nur die Vereinigten Staaten zu repräsentieren, sondern die gesamte Menschheit. Natalie.«

Natalie, erzähl ihnen, was für ein Gefühl das ist.

Die älteste Frage und gleichzeitig die am schwierigsten zu beantwortende Frage der Welt - und vielleicht auch die wichtigste, sagte sie sich.

Die einzige Frage, auf welche die Apollo-Astronauten keine Antwort gewußt hatten.

Und nun muß ich eine Antwort finden.

Die Sonne stieg am rosigen Himmel empor. Der Mars erschien als eine rotbraun schillernde Schale, die mit dem vom Staub reflektierten Licht gefüllt war. Noch immer fiel strahlend weißes Licht aus der Luke. Es war nicht von dieser Welt.

»Jawohl, Sir. Das MEM steht im Tiefland nördlich von Mangala Vallis. Es ist ein Spätherb st-Morgen - wir befinden uns hier in der nördlichen Hemisphäre des Mars, wo in acht Tagen die Wintersonnenwende eintritt. Der Himmel hat eine ockerfarbene Tönung. Die Landschaft ist von einer lachsrosa Staubschicht überzogen. Der Rote Planet ist im Grunde gar nicht so rot: die vorherrschende Farbe ist ein pastelliges Gelbbraun. Grün und Blau gibt es überhaupt nicht. Falls die Menschen jemals den Mars kolonisieren - nein, es muß heißen wenn -, werden wir viele neue Wortschöpfungen für Brauntöne kreieren müssen.

Ich stehe fast auf dem Marsäquator. Damit Sie ungefähr wissen, wo ich mich befinde: der große Tharsis-Buckel mit den drei mächtigen Schildvulkanen ist ein paar tausend Kilometer östlich von meiner Position gelegen, und Olympus Mons, der größte Vulkan des Sonnensystems, liegt ungefähr genauso weit im Norden.

Die Region, in der wir uns befinden, ist ein Ausläufer von Tharsis. Obwohl die Oberfläche hier scheinbar so flach wie ein Strand ist, stehe ich, wenn ich dem MEM den Rücken zuwende, auf einem Abhang mit einem Gefälle von ein paar Zehntel Grad.«

Sie ließ den Blick über das Panorama von Mangala Vallis schweifen.

»Das MEM steht auf einer Oberfläche, die mit Geröll übersät ist. Die Größe der Felsen schwankt etwa zwischen einem halben und zwei Metern. Die Felsen weisen Blasen auf. Das heißt, in der Gesteinsoberfläche sind Bläschen eingeschlossen, was wiederum bedeutet, daß es sich bei den Felsen wahrscheinlich um Brocken erstarrter Lava handelt. Das Gestein ist durchgehend punktiert und gerillt. Das ist vermutlich durch Winderosion bedingt. Ich sehe auch kleinere Formationen, die wie Kieselsteine aussehen, doch bin ich ziemlich sicher, daß es sich um Zusammenballungen von Durikruste handelt. Zusammengebackene Bruchstücke der Oberfläche. Die Oberfläche kann man eigentlich nicht als Sand bezeichnen; sie ist viel feinkörniger und gleicht eher Puderzucker. Ich bin sicher, daß der Staub das Resultat der langsamen Verwitterung der Felsen ist, die von starker Oxidation begleitet wird. Die Felsen weisen die rotbraune Färbung auf, die für Smektit-Lehm charakteristisch ist.

Ich sehe, daß geologische Prozesse auch heute noch diese Landschaft formen. Die Oberfläche ist eindeutig vom Wind gescheuert worden: die Landschaft ist erodiert, und der Staub unter meinen Füßen ist sicher schon um den ganzen Planeten getragen worden. Vom geologischen Standpunkt wird hier eindeutig eine Ereigniskette abgebildet: Einschlag, Wind, vulkanische Tätigkeit, möglicherweise Überflutungen, wahrscheinlich Grundeis.

Der Mond ist eine alte Welt; wir schätzen sein Alter auf eine Milliarde Jahre oder mehr. Doch wo ich nun hier stehe, ist es offensichtlich für mich, daß der Mars, ebenso wie die Erde, sich noch in einem Entwicklungsprozeß befindet. Er lebt sozusagen noch.«

Dann meldete Natalie sich für lange Zeit nicht mehr.

»Natalie«, sagte Stone sanft. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Ja, alles in Ordnung, Phil.«

Sie stellte sich vor, wie ihre Worte zur Erde und darüber hinaus abgestrahlt wurden; sie wünschte sich, sie könnte sie zurückholen. Mit Worten ist es nicht zu beschreiben. Es wird nie mit Worten zu beschreiben sein.

Aber ich habe mein Bestes getan.

Es war an der Zeit.

»Ich trete nun vom Landeteller hinunter«, sagte sie.

Sie hielt sich mit der rechten Hand an der Leiter fest und beugte sich nach links. Dann hob sie den Stiefel über die Lippe des Landetellers, schob den Fuß etwas nach vorn und senkte ihn ganz vorsichtig in den Staub.

Alle waren still: Stone, Gershwin, die entfernte Erde. Es war, als ob die gesamte Schöpfung sich in diesem Moment auf sie konzentrierte. Sie testete das Gewicht und hüpfte in der geringen Schwerkraft auf einem Bein. Der Mars-Regolith war massiv genug, um sie zu tragen. Doch das hatte sie auch vorher schon gewußt.

Sie stand mit einem Bein auf diesem primitiven Artefakt von der Erde und mit dem anderen auf dem jungfräulichen Boden von Mangala. Sie ließ kurz den Blick über die tote Landschaft schweifen. Das Blickfeld wurde vom Helmvisier begrenzt, und sie sah, wie das pastellige ockerfarbene Licht ihr über Nase und Wangen spielte - über das Gesicht eines Menschen auf dem Mars.

Sie hielt sich an der Leiter fest und stellte den rechten Fuß auf den Boden. Dann ließ sie die Leiter zaghaft los und stand nun freihändig auf dem Mars.

Sie machte einen Schritt nach vorn, und noch einen.

Die Stiefel hinterließen deutliche Spuren mit dem Abdruck des Sohlenprofils. Sie wünschte sich, sie könnte die Schuhe ausziehen und den feinen, pulvrigen Sand des Mars-Strands unter den Füßen spüren.

Der Anzug war schön warm. Sie hörte das Surren der Hochleistungslüfter im Rückentornister. Das Helmvisier gewährte ein Blickfeld von hundertachtzig Grad, so daß sie nicht befürchten mußte, von Klaustrophobie heimgesucht zu werden.

Sie machte noch ein paar Schritte.

Sie hüpfte über die Oberfläche. Die Bewegung auf dem Mars war eine traumartige Synthese aus Gehen und Schweben. Die Fortbewegung war einfach, sogar noch einfacher als in den Simulationen. Doch die Masse der Ausrüstung auf dem Rücken wirkte sich sehr wohl aus, und sie mußte sich nach vorn beugen, um das Gleichgewicht zu bewahren. Weil die Knie im Anzug eingezwängt waren, kam die Kraft für die Bewegung aus den Knöcheln und Zehen. Aber ich habe kräftige Affenzehen, die mich durch den Marsstaub tragen.

Sie hatte das merkwürdige Gefühl, daß die Schemen von Armstrong und Muldoon sie begleiteten - als ob ihr Ausflug ein Nachhall der berühmten Weltraumexpedition dieser Männer wäre. Das war eine Vorstellung, die ihre Leistung irgendwie schmälerte.

Sie drehte sich zur Challenger um. Die pyramidenförmige Silhouette des MEM ragte im Licht der geschrumpften Sonne vor ihr auf. Das auf den sechs Landebeinen ruhende Schiff bot einen bizarren Anblick. Sie befand sich noch immer im Schatten der Challenger. Das Umgebungslicht hatte die Helligkeit eines irdischen Sonnenuntergangs und überzog die Challenger mit einem blaßrosa Anstrich, der hart mit dem aus der Luke fallenden perlgrauen, fluoreszenten Licht kontrastierte. Der von diesem Licht angestrahlte Stone wirkte wie ein Marsmensch.

Die intensive rote Tönung rührte vom Staub her, der in der Luft hing. Sie wußte, daß der Staubgehalt zehnmal so hoch war wie über Los Angeles an einem Smog-Tag. Zumal es hier nicht einmal Regen gab, der den Staub aus der Luft wusch.

Sie entfernte sich nun von der Challenger und ging der Sonne entgegen. Dann marschierte sie an der Grenze des Schattens von der Challenger entlang nach Westen. Das MEM warf einen Schatten in Form eines langen Spitzkegels auf die steinige Oberfläche.

Sie trat aus dem Schatten ins Licht.

Sie drehte sich um. Sonnenlicht beschien ihr Gesicht und spiegelte sich auf dem Helmvisier.

Sonnenaufgang auf dem Mars: der Himmel war anders, die Art, wie das Licht vom Staub gestreut wurde.

Die über der Silhouette von Challenger aufgehende Sonne wurde von einem elliptischen Hof aus gelbem Licht umgeben, der an einem braunen Himmel hing. Es sah unwirklich aus.

Die Sonne hatte hier nur zwei Drittel der Größe, mit der sie sich einem Beobachter auf der Erde präsentiert hätte.

Sie schauderte, obwohl sie wußte, daß die Temperatur im Anzug sich nicht verändert hatte. Die geschrumpfte Sonne und der amorphe Himmel machten den Mars zu einer kalten, isolierten Welt.

Sie drehte sich um, wobei die Kamera einen Schwenk über die Landschaft vollführte. Fast wäre sie bei der Drehung auf dem Marsstaub ausgerutscht.

Sie entfernte sich weiter von der Challenger und zog eine Spur über den jungfräulichen Regolith. Sie hatte das Gefühl, als ob der lange, dünne Kommunikationsstrang, der sie mit der Challenger und dem Heimatplaneten verband, noch dünner würde und vielleicht sogar ausfaserte, so daß sie auf dieser kalten Hochebene strandete.

Je höher die Sonne stieg, desto deutlicher sah sie, daß das Land nicht völlig eben war; die Farben wiesen eine unterschiedliche Schattierung auf. Und im Westen sah sie etwas, das wie niedrige Sanddünen aussah. Doch die Dünen waren unregelmäßiger als terrestrische Sanddünen, was wohl an der geringen Größe der Oberflächenpartikel liegen mußte; im Grunde handelte es sich um Staubverwehungen.

Im Westen sah sie eine Linie, eine schwache Kontur im Sand. Es sah aus wie ein flacher Bergrücken, der von ihr wegstrebte.

Sie entfernte sich immer weiter vom MEM.

Nach vielleicht fünfzig Metern hatte sie den >Bergrücken< erreicht. Es handelte sich um den Rand eines Kraters mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Metern. Die Wände des Kraters waren erodiert, und dahinter befand sich eine tränenförmige Kuppe.

Bei dieser stromlinienförmigen Kuppe mußte es sich um ein Erosionsmerkmal handeln, wie man es auch in irdischen Flußgabelungen fand. Und sie glaubte, eine Schichtung in den Flanken der Kuppe zu erkennen. Es war wie in den Scablands.

Mit steifen Beinen stieg sie in den Krater hinab und wirbelte dabei Staub auf, der an den Beinen und am HUT haftenblieb.

Der Atem ging schneller, wodurch das Helmvisier beschlug.

Im Windschatten des Kraterrands funkelte etwas - etwas, das die Mond-Geister von Armstrong und Muldoon schlagartig bannte, etwas, das ihr das Gefühl vermittelte, der Kreis ihres Lebens habe sich endlich geschlossen. Ich schätze, ich muß wohl doch ins Rampenlicht treten.

Es war Reif.

Sie bückte sich unter Verrenkungen und scharrte dann mit den Fingern im Staub des Kraterbodens, wobei sie Furchen in die Oberfläche zog. Wie ein Kind, das am Strand spielt. An einem planetengroßen Strand. Überall, wo sie schürfte, stieß sie auf die gleiche weiche, pulverige Oberfläche, auf die gleichen Zusammenballungen, die wie Kieselsteine aussahen.

Sie führte den Handschuh zum Gesicht, um die Bodenprobe näher zu betrachten. Es war irgendwie frustrierend. Der Regolith-Brocken war so leicht, daß sie das Gewicht nicht spürte. Wegen des dicken Handschuhs vermochte sie nicht einmal die Textur der Materie zu ertasten. Und die Sonne blendete sie, und das Surren der Pumpen und das Zischen im Kopfhörer übertönten alle Geräusche, welche die Marswinde vielleicht herantrugen.

Die Situation erschien ihr irreal, und sie fühlte sich isoliert. Sie war zwar hier, doch hatte sie noch immer keinen Kontakt zum Mars. Eine geologische Exkursion hätte sie sich aber anders vorgestellt.

York schloß die Finger um die Probe, und die >Kiesel< zerbröselten. Sie waren nur Fragmente einer kreideartigen Durikruste.

Sie ließ den Staub zu Boden rieseln; ein großer Teil blieb jedoch am Handschuh haften und färbte ihn rostbraun.

Nun holte sie die Diamantmarkierung aus der Probentasche des Anzugs und hielt sie in der Hand. Die Münze fing das Sonnenlicht auf und streute es, so daß der zuvor glühende Diamant sich nun als glitzerndes scharlachrotes Juwel gegen den ockerfarbenen Mars abhob.

Sie fühlte eine ebenso plötzliche wie unerwartete Aufwallung von Stolz. Patriotismus war ihr in höchstem Maße suspekt, und vielleicht war diese Expedition, wo sie für ein paar Tage wie Karnickel auf dem Mars herumhüpften, wirklich ein ausgemachter technokratischer Unfug. Dennoch mußte sie einräumen, daß ihr Land, das gerade einmal auf eine zweihundertjährige Geschichte zurückblickte, seinen Bürgern einen Spaziergang auf der Oberfläche zweier fremder Welten ermöglicht hatte.

Und falls irgendeine Katastrophe alles Leben auf der Erde auslöschen sollte, bevor die Menschen wieder zum Mars flogen, würde diese Markierung mit dem Sternenbanner noch immer von der gewaltigen Leistung der Menschheit künden: die Markierung und das Wrack von Challenger sowie drei Mondfähren-Landestufen auf dem Mond.

Wenn ich mir vorstelle, daß wir beinahe nicht hierher gekommen wären; wenn ich mir vorstelle, daß wir das Raumfahrtprogramm nach Apollo eingestellt hätten.

York ließ die Markierung fallen. Sie segelte in der schwachen Schwerkraft ins Loch, das sie ausgehoben hatte. Da funkelte der Diamant nun auf dem Kraterboden.

Dann griff sie wieder in die Tasche. Mit einiger Mühe kramte sie eine silberne Spange im kitschigen Stil der Sechziger hervor: eine Sternschnuppe mit einem langen Kometenschweif.

Für dich, Ben.

Sie ließ die Spange zur Diamantmarkierung in die Senke fallen. Dann füllte sie das Loch mit Staub und strich die Oberfläche glatt.

Die Fußabdrücke, die Armstrong und Muldoon auf dem Mond hinterlassen hatten, waren noch dort - würden es noch für viele Millionen Jahre bleiben, bis Mikrometeoriten-Erosion sie schließlich unkenntlich gemacht hatte. Doch hier war es anders. Die Spuren, die sie heute hinterlassen hatte, würden einige Monate, vielleicht Jahre überdauern; doch am Ende würde der Wind sie mit Staub auffüllen.

In ein paar Jahren wären ihre Fußabdrücke vom Winde verweht, und die Grube, die sie gegraben hatte, wäre nicht mehr aufzufinden.

».Natalie?«

Nun erst wurde ihr bewußt, daß sie die ganze Zeit nichts mehr gesagt hatte.

Sie drehte sich zur Challenger um. Sie hatte sich schon so weit vom menschlichen Artefakt entfernt, daß es wie ein weißes Spielzeug erschien, das sich gegen den glühenden Himmel abzeichnete. Sie sah das perlgraue Innere der Luftschleuse, die in der Mitte des MEM eingelassen war, und darüber war der dicke Zylinder der Aufstiegsstufe mit den traubenförmigen Treibstofftanks.

Über die knackige Durikruste zog sich eine Spur von der Challenger bis zu ihrem Standort. Sie befand sich bereits außerhalb des Staubrings, den die Landerakete des MEM gezogen hatte. Die Spur sah so aus, als ob ein einzelner Mensch bei Ebbe am Strand entlanggegangen wäre; nur daß sie die einzigen Fußabdrücke auf dem ganzen Planeten waren.

Mein Gott, sagte sie sich, wir sind hier. Wir sind zwar aus den falschen Motiven und mit den falschen Methoden hergekommen, doch wir sind hier - und nur darauf kommt es an. Und wir haben Boden und Sonnenlicht gefunden, Luft und Wasser.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie.

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