ERSTER TEIL PORT SAID-ADEN

KOMMISSAR COCHE

In Port Said kam ein neuer Passagier an Bord der »Leviathan«, er hatte die letzte freie Kabine der ersten Klasse, die Nr. 18, und Gustave Coches Stimmung besserte sich sogleich. Der Neue sah vielversprechend aus: zurückhaltende und gemessene Bewegungen, undurchdringliche Miene, ein schönes Gesicht, das auf den ersten Blick ganz jung wirkte, doch als er die Melone abnahm, kamen überraschend weiße Schläfen zum Vorschein. Interessantes Exemplar, entschied der Kommissar. Man sieht sofort, ein Mann mit Charakter und, wie man so sagt, mit Vergangenheit. Zweifellos ein Kunde für Coche.

Der Passagier kam die Schiffstreppe hoch und schwenkte eine Reisetasche. Schwitzende Träger schleppten sein ansehnliches Gepäck: teure knarrende Koffer, gediegene Taschen aus Schweinsleder, umfangreiche Bücherpakete und sogar ein Klappfahrrad (ein großes und zwei kleine Räder und ein Bündel blanke Metallrohre). Den Zug beschlossen zwei arme Kerle, die sich mit eindrucksvollen Hanteln plagten.

Das Herz des Kommissars Coche, dieses alten Spürhundes (wie er sich gern selbst nannte), erbebte vor Jagdeifer, als er bei dem Neuen nicht das goldene Abzeichen mit dem Wal sah, nicht auf dem seidenen Revers des stutzerhaften Sommerpaletots, nicht am Jackett und auch nicht an der Uhrkette. Warm, ganz warm, dachte Coche, während er den

Fant unter buschigen Augenbrauen hervor beobachtete und dabei sein geliebtes Tonpfeifchen paffte. Wieso war er eigentlich davon ausgegangen, daß der Mörder den Dampfer in Southhampton besteigen würde? Das Verbrechen war am 15. März verübt worden, und heute war schon der 1. April. Er konnte nach Port Said gefahren sein, während die »Leviathan« Westeuropa umschiffte. Paßte doch alles zusammen: vom Typ her verdächtig plus Ticket erster Klasse plus das Wichtigste - er hatte keinen goldenen Wal.

Das verfluchte Abzeichen mit der Abbreviatur der Dampfschiffahrtsgesellschaft »Jasper & Arthaud Partnership« erschien Coche seit einiger Zeit schon in seinen nächtlichen Träumen, und die waren ungewöhnlich scheußlich, zum Beispiel der letzte.

Der Kommissar rudert in einem Boot mit Madame Coche im Bois de Boulogne. Die liebe Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Plötzlich glotzt über die Baumwipfel hinweg eine gigantische goldschimmernde Visage mit sinnleeren runden Augen, sperrt den Rachen auf, in dem der Arc de Triomphe Platz fände, und fängt an, den Teich leerzusaugen. Coche legt sich schweißüberströmt in die Riemen. Nun stellt sich heraus, daß sich das Ganze nicht im Bois abspielt, sondern in einem uferlosen Ozean. Die Riemen biegen sich wie Strohhalme, Madame Coche stößt ihm schmerzhaft den Schirm in den Rücken, und das gewaltige funkelnde Ungeheuer verdeckt den Horizont. Schließlich spuckt es eine Fontäne in den Himmel, da erwachte der Kommissar und tastete mit flatternder Hand auf dem Nachttisch nach der Pfeife und den Zündhölzern.

Zum erstenmal hatte Coche den goldenen Wal in der Rue de Grenelle gesehen, als er die Leiche von Lord Littleby untersuchte. Der Engländer lag da, den Mund in einem stummen Schrei aufgerissen, die Zahnprothese war halb herausgerutscht, der Kopf oberhalb der Stirn war ein blutiger Brei. Coche hockte sich hin, denn ihn deuchte, daß zwischen den Fingern des Toten etwas golden blinkte, und als er sah, was es war, brummte er vor Vergnügen. Ganz von selbst war ihm ein höchst seltener Erfolg zugefallen, wie er nur in Kriminalromanen vorkommt. Der Leichnam hatte ihm gescheiterweise ein wichtiges Beweisstück zugespielt. Da, Gustave, nimm. Und wage es nicht, den Mann entkommen zu lassen, der mir die Rübe zertrümmert hat, sonst sollst du platzen vor Scham, du alter Krauter.

Das goldene Abzeichen (Coche hatte zunächst nicht gewußt, daß es ein solches war, er hatte es für eine Berlocke oder eine Anstecknadel mit dem Monogramm des Besitzers gehalten) konnte nur dem Mörder gehören. Für alle Fälle zeigte der Kommissar den Wal Lord Littlebys jüngstem Lakaien (der hatte zu seinem Glück am 15. März frei gehabt, was ihm das Leben rettete), aber der hatte das Dingelchen nie beim Lord gesehen. Gott sei Dank.

Und dann rotierten die Schwungräder, drehten sich die Zahnräder der ungefügen Polizeimaschine - der Minister und der Präfekt setzten für die Aufklärung des »Jahrhundertverbrechens« ihre besten Kräfte ein. Schon am Abend des nächsten Tages wußte Coche, daß die Buchstaben JAP auf dem goldenen Wal nicht die Initialen eines hochverschuldeten Lebemanns waren, sondern die Bezeichnung eines soeben erst gegründeten britisch-französischen Schifffahrtkonsortiums. Der Wal war das Emblem des Wunderschiffs »Leviathan«, das vor kurzem in Bristol vom Stapel gelaufen war und auf seine Jungfernfahrt nach Indien vorbereitet wurde.

Über den gigantischen Dampfer posaunten die Gazetten seit Monaten. Jetzt stellte sich heraus, daß der Londoner Münzhof vor der Jungfernfahrt goldene und silberne Gedenkabzeichen geprägt hatte: goldene für die Passagiere der ersten Klasse und die höheren Schiffsoffiziere, silberne für die Passagiere der zweiten Klasse und die Subalternoffiziere. Eine dritte Klasse war für den Luxusliner, auf dem sich die Errungenschaften moderner Technik mit unerhörtem Komfort paarten, nicht vorgesehen. Die Company garantierte den Reisenden vollständigen Service, so daß niemand Bedienstete aufs Schiff mitzunehmen brauchte. »Aufmerksame Diener und taktvolle Kabinenstewardessen sorgen dafür, daß Sie sich an Bord der >Leviathan< wie zu Hause fühlen!« - so lautete die Reklame in den Zeitungen von ganz Europa. Die Glücklichen, die für die Jungfernfahrt von Southhampton nach Kalkutta eine Kabine gebucht hatten, bekamen mit dem Ticket je nach Klasse den goldenen oder silbernen Wal überreicht. Und ein Ticket buchen konnte man in jedem großen europäischen Hafen von London bis Konstantinopel.

Nun ja, die Initialen des Eigentümers wären besser als das Abzeichen, aber es erschwert mir die Aufgabe nicht allzusehr, dachte der Kommissar. Die goldenen Abzeichen waren gezählt. Er mußte nur den 19. März abwarten, an dem das Schiff feierlich auslaufen sollte, nach Southhampton fahren, an Bord gehen und prüfen, welcher der Erste-KlassePassagiere keinen goldenen Wal trug. Oder (was noch wahrscheinlicher war) welcher von denen, die für so irres Geld das Ticket gekauft hatten, nicht an Bord kam. Das würde Coches Mann sein. Das war klar wie Kloßbrühe.

Coche machte sich eigentlich nichts aus Reisen, aber diesmal konnte er es kaum erwarten. Gar zu gern wollte er selbst das »Verbrechen des Jahrhunderts« aufklären. Vielleicht wurde er dann endlich Abteilungsleiter. Bis zu seiner Pensionierung waren es noch drei Jahre. Eine Pension dritter Kategorie war ja ganz schön, doch die zweite Kategorie war ganz was anderes. Der Unterschied betrug anderthalbtausend Francs jährlich, und anderthalbtausend lagen nicht auf der Straße.

Im übrigen hatte er sich selbst um die Reise beworben. Er hatte gedacht, eine Fahrt nach Southhampton, schlimmstenfalls per Schiff nach Le Havre, wo das erstemal angelegt wurde, und da würden schon die Gendarmen auf der Landungsbrücke warten - und die Reporter. Schlagzeile in der »Revue Parisienne«: »Das Verbrechen des Jahrhunderts ist aufgeklärt, unsere Polizei auf der Höhe ihrer Aufgaben.« Oder noch besser: »Der alte Spürhund Coche hat uns nicht enttäuscht.«

Die erste unangenehme Überraschung erwartete den Kommissar im Seefahrtsbüro von Southhampton. Er erfuhr, daß das verdammte Riesenschiff hundert Kabinen erster Klasse und zehn höhere Offiziere hatte. Alle Tickets waren verkauft. Hundertzweiunddreißig Stück. Und jedem war ein goldenes Abzeichen beigegeben worden. Also hundertzweiundvierzig Verdächtige, nicht schlecht, was? Aber nur bei einem würde das Abzeichen fehlen, beruhigte sich Coche.

Am Morgen des 19. März stand der Kommissar, vom nassen Wind geplustert und in einen warmen Schal gewickelt, an der Schiffstreppe. Neben ihm standen der Kapitän, Mister Jesaja Cliff, und der Erste Offizier Charles Regnier. Sie empfingen die Passagiere. Ein Blasorchester spielte abwechselnd englische und französische Märsche, auf der Pier lärmte aufgeregt die Menge. Coche schnaufte immer wütender und kaute auf der unschuldigen Pfeife herum, denn wegen des kalten Wetters trugen die Passagiere Regencapes, Mäntel und

Umhänge, da versuche mal, herauszufinden, ob einer das Abzeichen hatte oder nicht. Das war Überraschung Nummer zwei.

Alle, die in Southhampton an Bord kommen sollten, waren erschienen, und das bedeutete, daß der Verbrecher trotz des verlorenen Abzeichens auch schon da war. Er mußte die Polizisten für komplette Idioten halten. Oder hoffte er, in der Menge der Passagiere unterzutauchen? Oder hatte er keinen anderen Ausweg?

Eines war klar: Coche mußte mitschippern bis Le Havre. Man wies ihm eine Reservekabine zu, die eigentlich für Ehrengäste der Dampfschiffahrt vorgesehen war.

Gleich nach dem Ablegen fand im großen Saal der ersten Klasse ein Bankett stand, auf das der Kommissar besondere Hoffnungen setzte, weil in den Einladungen gestanden hatte: »Eintritt bei Vorlage des goldenen Abzeichens oder des Tickets erster Klasse.« Wer würde schon mit dem Ticket in der Hand kommen, wo es doch viel einfacher war, den schönen goldenen Wal anzustecken.

Während des Banketts tastete Coche ungeniert jeden Gast mit dem Blick ab. Bei einigen Damen mußte er die Nase ins Decollete stecken. Was hing da am Goldkettchen, der Wal oder nur ein Edelstein? Das mußte er doch prüfen!

Alle tranken Champagner, nahmen sich Leckerbissen von den Silbertabletts und tanzten, Coche hingegen arbeitete: Er strich diejenigen aus der Liste, die das Abzeichen trugen. Die meisten Scherereien hatte er mit den Männern. Viele von ihnen hatten den Wal an der Uhrkette befestigt und in die Westentasche gesteckt. Der Kommissar mußte elfmal nach der Uhrzeit fragen.

Überraschung Nummer drei: Alle Offiziere trugen das Abzeichen, doch vier Passagiere hatten keinen Wal, davon zwei Damen! Der Schlag aber, der Lord Littlebys Schädel zertrümmert hatte wie eine Nußschale, war so stark gewesen, daß nur ein Mann ihn geführt haben konnte, und zwar ein sehr kräftiger. Andererseits wußte der in Kriminalfällen überaus erfahrene Kommissar, daß auch ein schwaches Dämchen im Affekt oder in hysterischer Erregung wahre Wunder vollbringen kann. Ein Beispiel war zur Hand. Vor Jahresfrist hatte eine Modistin aus Neuilly, eine zarte Person, ihren ungetreuen Liebhaber aus ihrem Fenster im dritten Stock geworfen, einen wohlgenährten Rentier, doppelt so dick und anderthalbmal so groß wie sie selbst. Darum durfte Coche die Frauen ohne Abzeichen nicht aus der Zahl der Verdächtigen ausschließen. Aber wo hätte man je gesehen, daß eine Dame der Gesellschaft so routiniert Injektionen verabreichen konnte?

Wie dem auch sei, die Untersuchung an Bord der »Leviathan« versprach, sich in die Länge zu ziehen, und der Kommissar ging wie immer gründlich vor. Der Kapitän Jesaja Cliff war als einziger der Schiffsoffiziere in das Geheimnis des Falles eingeweiht und hatte von der Führung der Company die Weisung erhalten, dem französischen Gesetzeshüter jedwede Unterstützung angedeihen zu lassen. Von diesem Privileg machte Coche aufs unverfrorenste Gebrauch: Er verlangte, daß die ihn interessierenden Personen in demselben Salon plaziert würden.

An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Reisenden der ersten Klasse aus Gründen der Privatsphäre und des Wohlbehagens (in der Reklame für das Schiff hieß es: »Sie genießen die Atmosphäre eines alten englischen Landsitzes«) nicht in dem riesigen Speisesaal zusammen mit den sechshundert Trägern des volkstümlichen Silberwals ihre Mahlzeiten einzunehmen brauchten, sondern auf komfortable »Salons« verteilt wurden, von denen jeder einen eigenen Namen trug und vornehm ausgestattet war: Kristalleuchter, gebeizte Eiche und Mahagoni, Samtstühle, gleißendes Tafelsilber, gepuderte Kellner und flinke Stewards. Kommissar Coche guckte sich für seine Zwecke den Salon »Windsor« aus, der im Oberdeck am Schiffsbug gelegen war; drei Wände bestanden aus Glasfenstern, das ergab einen trefflichen Rundblick, und selbst an trüben Tagen mußte kein Licht gemacht werden. Der Samt war hier goldbraun, und die Leinenservietten trugen das Windsor-Wappen.

Rund um den ovalen Tisch mit den am Fußboden festgeschraubten Beinen (für den Fall starken Wellengangs) standen zehn Stühle mit hohen geschnitzten Lehnen. Es gefiel dem Kommissar, daß alle an einem Tisch sitzen würden, und er wies den Steward an, die Namensschildchen so aufzustellen, daß die vier Passagiere ohne Abzeichen ihm gegenüber zu sitzen kämen, so daß er sie bestens im Blick hätte. Den Kapitän wollte er an der Stirnseite der Tafel plazieren, aber daraus wurde nichts. Mister Cliff wünschte nicht, wie er sich ausdrückte, »bei diesem Theater mitzuspielen«, und etablierte sich im Salon »Yorck«, wo der neue Vizekönig von Indien mit seiner Gemahlin und zwei Generäle der indischen Armee speisten. Der Salon »Yorck« lag achtern, in maximaler Entfernung vom »Windsor«, in dem der Erste Offizier Charles Regnier residierte. Er hatte dem Kommissar von Anfang an mißfallen: sonnenverbranntes verwittertes Gesicht, aber eine süßliche Redeweise, die schwarzen Haare pomadisiert, das Schnurrbärtchen zu zwei Haken gezwirbelt. Kein Seemann, ein Hanswurst.

In den zwölf Tagen seit dem Ablegen hatte der Kommissar sich seine Salongefährten gründlich angeschaut und sich mit den Manieren vertraut gemacht (daß man während der

Mahlzeiten nicht rauchte und die Sauce nicht mit einer Brotkruste auftunkte), er hatte sich die komplizierte Geographie der schwimmenden Stadt mehr oder weniger angeeignet und sich an den Seegang gewöhnt - doch seinem Ziel war er nicht nähergekommen.

Die Situation war wie folgt.

Anfangs hatte den meisten Verdacht Sir Reginald MilfordStokes erregt, ein hagerer Mann mit rötlichem Haar und zerrauftem Backenbart, dem Anschein nach achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt. Er zeigte ein seltsames Gebaren: Mal glotzte er grünäugig in die Ferne und antwortete nicht auf Fragen, mal wurde er plötzlich lebhaft und quatschte ohne Sinn und Verstand über die Insel Tahiti, über Korallenriffe, smaragdfarbene Lagunen und Hütten mit Dächern aus Palmblättern. Ein Psychopath. Wozu reiste der Baronet, Sproß einer begüterten Familie, nach Ozeanien? Was hatte er dort zu suchen? Die Frage nach dem fehlenden Abzeichen, zweimal gestellt, ignorierte der Aristokrat. Er blickte durch den Kommissar hindurch oder sah ihn an wie eine Fliege. Widerlicher Snob. In Le Havre, wo sie vier Stunden im Hafen gelegen hatten, war Coche zum Telegraphenamt gelaufen und hatte bei Scotland Yard Informationen über MilfordStokes angefordert: ob er zur Tobsucht neige, ob er zu seinem Vergnügen Medizin studiere. Die Antwort kam kurz vor dem Ablegen. Nichts Interessantes, für die Absonderlichkeiten gab es eine Erklärung. Aber der goldene Wal fehlte, darum konnte der rothaarige Engländer noch nicht aus der Liste der Verdächtigen gestrichen werden.

Der zweite war Monsieur Gintaro Aono, ein »japanischer Adliger«, wie es im Passagierregister hieß. Ein typischer Asiat: klein, mager, unbestimmbaren Alters, dünner Schnurrbart, stechende Schlitzaugen. Bei Tisch schwieg er zumeist.

Auf die Frage nach seiner Tätigkeit murmelte er verlegen »Offizier der kaiserlichen Armee«. Auf die Frage nach dem Abzeichen wurde er noch verlegener, versengte den Kommissar mit einem haßerfüllten Blick und sprang mit einer Entschuldigung zur Tür hinaus. Er hatte nicht mal seine Suppe aufgegessen. Verdächtig? Und wie! Überhaupt ein Wilder. Im Salon fächelte er sich mit einem bunten Papierfächer Luft zu wie ein Päderast aus den lustigen Lasterhöhlen der Rue de Rivoli. An Deck promenierte er in Holzpantinen, einem Baumwollkittel und ohne Beinkleid. Gustave Coche war selbstredend für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber solch ein Affe mußte ja nicht unbedingt erster Klasse reisen.

Dann die Frauen.

Madame Renate Kleber. Blutjung, kaum über zwanzig. Die Frau eines Schweizer Bankiers. Sie reiste zu ihrem Mann nach Kalkutta. Als Schönheit konnte man sie nicht bezeichnen - spitznasig, flatterig, geschwätzig. Gleich zu Beginn der Fahrt erzählte sie herum, daß sie schwanger sei. Diesem Umstand waren alle ihre Gedanken und Gefühle untergeordnet. Sie war nett, geradezu, doch unerträglich mit ihrem Gerede von ihrer kostbaren Gesundheit, ihrer Häubchenstickerei und ähnlichem Blödsinn. Sie war ein wandelnder Bauch, obwohl ihre Schwangerschaft noch nicht lange währte und der Bauch sich bislang kaum abzeichnete. Selbstverständlich paßte Coche einen Moment ab und fragte sie nach dem Abzeichen. Die Schweizerin klapperte mit den Augen und jammerte, daß sie ewig alles verliere. Na ja, das konnte ja stimmen. Renate Kleber weckte in dem Kommissar eine Mischung von Gereiztheit und Gönnerhaftigkeit, er hielt sie nicht ernstlich für tatverdächtig.

Die zweite Dame, Miss Clarissa Stomp, nahm der erfahrene Fahnder schon mit größerem Interesse in Augenschein. Da schien etwas faul zu sein. Nach außen hin eine typische Engländerin, nichts Besonderes: farbloses Haar, aus der ersten Jugend heraus, stilles Benehmen, aber in den wässrigen Augen blitzte immer wieder so ein Teufelsfünkchen auf. Solche stillen Wasser kennen wir. Und dazu ein paar kleine Details, unwichtig, ein anderer würde sie gar nicht bemerken, doch der alte Spürhund Coche hatte scharfe Augen. Miss Stomp trug teure Kleider und Kostüme nach der letzten Pariser Mode. Sie besaß ein Täschchen aus Schildpatt (er hatte solch ein Stück in einem Schaufenster auf den Champs Ely- sees gesehen - dreihundertfünfzig Francs), doch ihr Notizbuch war alt und billig, aus einem Schreibwarenladen. Einmal saß sie bei windigem Wetter an Deck, in einen Schal gewickelt, Madame Coche besaß genau den gleichen, aus Hundewolle, der hielt warm, war aber nichts für eine englische Lady. Interessant: Die neuen Sachen dieser Clarissa Stomp waren sämtlich teuer, die alten aber billig, von niedrigster Qualität. Das paßte nicht zusammen. Einmal beim Five o’Clock Tea hatte Coche sie gefragt: »Warum stecken Sie den goldenen Wal nie an, gnädige Frau? Gefällt er Ihnen nicht? Ich finde ihn schick.« Da war sie - man denke! - rot angelaufen wie der »japanische Edelmann« und hatte gesagt, sie hätte ihn schon getragen, das habe er nur übersehen. Sie log, Coche würde es bemerkt haben. Ihm kam ein raffinierter Gedanke, aber dazu mußte ein psychologisch geeigneter Moment abgepaßt werden. Wollen doch mal sehen, wie sie reagiert, diese Clarissa.

Da es am Tisch zehn Plätze gab, aber nur vier Personen ohne das Abzeichen waren, hatte sich Coche entschlossen, den Kreis der Verdächtigen um Personen zu erweitern, die zwar den Wal trugen, aber auf ihre Weise auffällig waren.

Als erstes verlangte er vom Kapitän, den Schiffsarzt Monsieur Truffo im Salon »Windsor« unterzubringen. Cliff gab knurrend nach. Warum Coche den Arzt wollte, war verständlich: Der war der einzige Mediziner auf der »Leviathan«, er war mit Injektionen vertraut, und das goldene Abzeichen stand ihm bei seinem Status zu. Er erwies sich als ein kleingewachsener, rundlicher Italiener mit olivfarbener Haut und einer Glatze, die von spärlichen, nach hinten gekämmten Haaren umkränzt wurde. Coche hatte nicht genug Phantasie, um sich diese komische Gestalt in der Rolle des gnadenlosen Killers vorzustellen. Auch der Gattin des Doktors mußte ein Platz eingeräumt werden. Das Paar hatte erst vor zwei Wochen geheiratet und wollte das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, das heißt, den Dienst mit der Hochzeitsreise. Die Auserwählte des Schiffsäskulaps, eine fade, niemals lächelnde Engländerin, wirkte doppelt so alt wie ihre fünfundzwanzig. Sie erfüllte Coche mit tödlicher Langeweile, wie übrigens die meisten ihrer Landsmänninnen. Er taufte sie sogleich »das Schaf« wegen ihrer weißen Wimpern und ihrer blökenden Stimme. Im übrigen tat sie den Mund nur selten auf, da sie des Französischen nicht mächtig war, und die Gespräche im Salon wurden gottlob zumeist in dieser edlen Sprache geführt. Das Abzeichen besaß Madame Truffo nicht, aber das war natürlich - sie war weder Offizier noch Fahrgast.

Darüber hinaus hatte der Kommissar in der Passagierliste einen Indologen und Archäologen namens Professor Antony F. Sweetchild gefunden, der konnte ihm zupaß kommen. Der ermordete Littleby war ja in gewissem Sinne sein Kollege gewesen. Mister Sweetchild, ein schlaksiger Lulatsch mit runden Brillengläsern und einem Ziegenbärtchen, kam gleich am ersten Abend auf Indien zu sprechen. Nach dem

Essen nahm Coche den Professor beiseite und brachte das Gespräch behutsam auf die Sammlung von Lord Littleby. Der Gelehrte nannte den Verstorbenen herablassend einen Dilettanten und dessen Kollektion ein Raritätenkabinett, das ohne jedwede wissenschaftliche Kompetenz zusammengetragen worden sei. Der einzige Gegenstand von Wert sei der goldene Schiwa gewesen. Gut, daß der sich von selbst wieder angefunden habe, denn die französische Polizei verstehe sich bekanntlich nur aufs Einraffen von Schmiergeld. Bei dieser himmelschreiend ungerechten Bemerkung hustete Coche ärgerlich, worauf Sweetchild ihm lediglich anempfahl, weniger zu rauchen. Weiterhin sagte der Gelehrte nachsichtig, daß Littleby wohl eine passable Sammlung von bemalten Stoffen und Tüchern besessen habe, unter denen hochinteressante Exemplare seien, doch das falle eher in den Bereich einheimischen Handwerks und angewandter Kunst. Ganz ordentlich sei auch eine Sandelholzschatulle aus dem 16. Jahrhundert aus Lahore mit Schnitzwerk nach Motiven des Mahabharata-Epos - und dann verstieg er sich in solches Geschwätz, daß dem Kommissar die Augen zufielen.

Alsbald nahm der Kommissar einen weiteren Tischnachbarn aufs Korn. Er hatte nämlich unlängst einen interessanten Schmöker gelesen, eine Übersetzung aus dem Italienischen. Ein gewisser Cesare Lombroso, Professor der Gerichtsmedizin aus Turin, stellte darin eine kriminologische Theorie auf, wonach »geborene« Verbrecher an ihrem antigesellschaftlichen Verhalten keine Schuld trügen. Nach der Evolutionstheorie des Doktor Darwin durchlaufe die Menschheit in ihrer Entwicklung bestimmte Etappen und nähere sich allmählich der Vollkommenheit. Der Verbrecher indes sei evolutionärer Ausschuß, ein zufälliger Rückfall in die vorhergehende Entwicklungsstufe. Darum sei es höchst einfach, einen potenziellen Mörder und Räuber zu erkennen: Der ähnele einem Affen, unserem Vorfahren. Der Kommissar sann lange über das Gelesene nach. Einerseits hatten in der bunten Reihe der Mörder und Räuber, mit denen er in den fünfunddreißig Jahren seines Polizeidienstes zu tun gehabt hatte, längst nicht alle einem Gorilla geähnelt, es waren auch Engelchen unter ihnen gewesen, deren Anblick zu Tränen rührte. Andererseits hatte es auch genug Affenartige gegeben. Und an Adam und Eva glaubte Coche als überzeugter Antiklerikaler sowieso nicht. Die Darwin-Theorie wirkte da vernünftiger. An Bord war ihm unter den Passagieren der ersten Klasse ein Früchtchen aufgefallen, das direkt einer Abbildung »Charakteristischer Mördertyp« entstiegen schien: niedrige Stirn, vorspringende Augenwülste, kleine Äuglein, plattgedrückte Nase, schiefes Kinn. Darum hatte der Kommissar gebeten, diesen Etienne Boileau, einen Teehändler, in den Salon »Windsor« zu plazieren. Doch der Teehändler erwies sich als netter und lustiger Mensch, war Vater von elf Kindern und überzeugter Philantrop.

Es sah nun ganz so aus, als würde Coches Seereise auch nicht in Port Said, dem nächsten Hafen nach Le Havre, enden. Die Ermittlungen zogen sich in die Länge. Sein in vielen Jahren erprobtes Gespür sagte ihm, daß er Nieten zog und nicht an den richtigen Leuten dran war. Es zeichnete sich die scheußliche Aussicht ab, daß er die ganze verdammte Reise mitmachen mußte - Port Said, Aden, Bombay, Kalkutta -, um sich dort an der ersten Palme aufzuhängen. Er konnte doch nicht wie ein geprügelter Hund nach Paris zurückkehren! Die Kollegen würden ihn auslachen, sein Chef würde ihm die Reise erster Klasse auf Staatskosten unter die Nase reiben. Womöglich wurde er vor der Zeit in Pension geschickt.

In Port Said verausgabte sich Coche notgedrungen, er mußte weitere Hemden kaufen, versah sich mit ägyptischem Tabak und fuhr zum Zeitvertreib für zwei Francs mit einer Droschke durch die berühmte Hafenstadt. Nichts Besonderes. Na schön, ein mächtiger Leuchtturm, zwei endlos lange Molen. Das Kaff machte einen sonderbaren Eindruck - nicht Asien und nicht Europa. Wenn man die Residenz des Generalgouverneurs des Suezkanals betrachtete, war es Europa. In den Hauptstraßen europäische Gesichter, da flanierten Damen mit weißem Sonnenschirm, und reiche Herren mit Panamahut oder Kreissäge trugen ihren Wanst spazieren. Bog die Droschke aber in das Einheimischenviertel ab, so fuhr sie durch Gestank, Fliegengeschwirr und faulende Abfälle, und schmutzige arabische Bengel bettelten um Kleingeld. Warum nur gingen die reichen Nichtstuer auf Reisen? Es war überall das Gleiche: Die einen verfetteten von der Völlerei, die anderen quollen auf vom Hunger.

Der Kommissar, ermüdet von der Hitze und den pessimistischen Beobachtungen, kehrte mißmutig aufs Schiff zurück. Und welch ein Glück - ein neuer Passagier. Obendrein wohl aussichtsreich.

Der Kommissar zog beim Kapitän Erkundigungen ein. Also, der Name: Erast P. Fandorin, Russe. Sein Alter war merkwürdigerweise nicht angegeben. Beruf: Diplomat. Eingetroffen aus Konstantinopel, unterwegs nach Kalkutta, von dort nach Japan, zu seiner Dienststelle. Aus Konstantinopel? Aha, dann hatte er wohl an den Friedensverhandlungen nach dem kürzlich beendeten russisch-türkischen Krieg teilgenommen. Coche schrieb alle Angaben sorgfältig auf ein Blatt Papier und versorgte dieses in der geheiligten Kalikomappe, in der er alles Material zu dem Fall aufbewahrte. Von der Mappe trennte er sich nie - er blätterte darin, überlas Protokolle und Zeitungsausschnitte, und in nachdenklichen Momenten zeichnete er auf die Ränder kleine Fische und Häuser. Da äußerten sich Herzenswünsche. Wenn er erst mal Abteilungsleiter war und später eine anständige Pension bezog, würden er und Madame Coche irgendwo in der Normandie ein Häuschen kaufen. Der Pariser Flic im Ruhestand würde angeln und eigenen Cidre keltern. War das nichts? Nun ja, ein bißchen Kapital zu der Pension wäre nicht schlecht, so um die zwanzigtausend ...

Er sah sich genötigt, noch einmal in die Stadt zu fahren, bloß gut, daß das Schiff noch auf die Einfahrt in den Suezkanal warten mußte, und schickte ein Telegramm an die Präfektur: Kennt man in Paris den russischen Diplomaten E. P. Fandorin und ist er in letzter Zeit in die französische Republik eingereist?

Die Antwort kam prompt, nach zweieinhalb Stunden. Ja, er war eingereist, der Gute, sogar zweimal. Das erstemal im Sommer 1876 (na schön) und das zweitemal im Dezember 1877, also vor drei Monaten. Er war aus London gekommen und von der Paß- und Zollkontrolle in Pas de Calais registriert worden. Wie lange er sich in Frankreich aufgehalten hatte, war nicht bekannt. Durchaus möglich, daß er am 15. März noch in Paris gewesen war. Womöglich hatte er mit einer Spritze in der Hand in der Rue de Grenelle vorbeigeschaut?

Es mußte somit ein Platz bei Tisch frei gemacht werden. Am besten wäre es natürlich, sich der Arztgattin zu entledigen, aber ein Anschlag auf das geheiligte Institut der Ehe kam nicht in Betracht. Nach einigem Überlegen entschloß sich Coche, den Teehändler in einen anderen Salon umzusetzen, da er den theoretischen Hoffnungen nicht entsprach und kein aussichtsreicher Kandidat war. Das sollte der Steward erledigen: Es gebe da ein Plätzchen in einem anderen Salon mit honorigeren Herrschaften oder hübscheren Dämchen. Dazu war der Steward schließlich da, solche Dinge zu arrangieren.

Das Erscheinen des neuen Passagiers im Salon kam einer kleinen Sensation gleich, denn während der Reise waren alle schon einander recht überdrüssig geworden, und nun zeigte sich ein frischer Herr, noch dazu ein so imposanter. Nach dem armen Monsieur Boileau, Vertreter einer Zwischenstufe der Evolution, fragte niemand. Der Kommissar vermerkte, daß die alte Jungfer Clarissa Stomp am lebhaftesten reagierte - sie kam plötzlich auf Künstler, Theater und Literatur zu sprechen. Coche selbst setzte sich in seiner Freizeit gern mit einem Buch in seinen Sessel, wobei er allen anderen Autoren Victor Hugo vorzog, der war lebensecht und erhaben und anrührend. Und nach der Lektüre schlief man bestens. Aber von den russischen Autoren mit den zischelnden Namen hatte Coche natürlich nie gehört, da konnte er nicht mitreden. Allerdings mühte sich die englische Schrulle vergebens, Monsieur Fandorin war viel zu jung für sie.

Renate Kleber blieb ebenfalls nicht untätig, sie unternahm den Versuch, den Neuling in die Zahl der ihr dienstbaren Männer einzureihen, die sie gnadenlos scheuchte, ihr mal den Schirm, mal den Schal, mal ein Glas Wasser zu holen. Schon fünf Minuten nach Beginn des Abendessens weihte sie den Russen in alle Peripetien ihres delikaten Zustands ein, klagte über Migräne und bat Fandorin, Doktor Truffo zu holen, der sich heute verspätete. Aber der Diplomat schien sogleich erkannt zu haben, mit wem er es zu tun hatte, denn er wandte höflich ein, daß er den Doktor nicht von Angesicht kenne. Den Auftrag auszuführen beeilte sich

Leutnant Regnier, die ergebenste Kinderfrau der schwangeren Bankiersgattin.

Der erste Eindruck von Erast Fandorin sah so aus: wortkarg, zurückhaltend, höflich. Für Coches Geschmack war er gar zu geschniegelt. Der gestärkte Kragen stand wie aus Alabaster, in dem seidenen Halstuch steckte eine Perlnadel, und im Knopfloch des Revers prangte (ach du Donner) eine blutrote Nelke. Das Haar war sorgfältig gescheitelt und gekämmt, die Fingernägel waren gepflegt, und der schmale schwarze Schnurrbart sah aus wie mit Kohlestift gezeichnet.

Aus dem Schnurrbart eines Mannes lassen sich viele Schlüsse ziehen. Wenn er so aussieht wie bei Coche - walroßartig, an den Mundwinkeln herabhängend -, ist der Mann gescheit, kennt seinen Wert, ist kein Leichtfuß, mit Talmi nicht zu ködern. Ist er aufwärts gezwirbelt, noch dazu spitz auslaufend, dann ist sein Träger ein Schürzenjäger und Bonvivant. Geht er in den Backenbart über, so ist sein Besitzer ehrgeizig und träumt davon, General, Senator oder Bankier zu werden. Nun, und ein Schnurrbart wie der Fandorins deutet auf eine romantische Vorstellung von der eigenen Person.

Was ließ sich noch sagen über den Russen? Sein Französisch war ganz ordentlich. Ein charakteristisches Detail - er stotterte leicht. Das Abzeichen trug er wieder nicht. Am meisten interessierte er sich für den Japaner, dem er lauter langweilige Fragen über Japan stellte, aber der Samurai antwortete vorsichtig, als argwöhne er eine Falle. Der Neuling hatte nämlich der Gesellschaft nicht erklärt, wohin er reiste und weswegen, er hatte einfach seinen Namen genannt und gesagt, daß er Russe sei. Der Kommissar hatte Verständnis für die Wißbegier Fandorins, der ja auf dem Weg nach Japan war. Coche stellte sich vor, daß dort alle so aussahen wie

Monsieur Aono, alle in Puppenhäuschen mit geschwungenen Dächern wohnten und sich aus kleinstem Anlaß den Bauch aufschlitzten. Tja, zu beneiden war der Russe nicht.

Nach dem Abendessen setzte sich Fandorin abseits, um eine Zigarre zu rauchen. Der Kommissar nahm im Nebensessel Platz und paffte seine Pfeife. Er hatte sich zuvor dem Russen als Pariser Rentier vorgestellt, der aus Neugier den Orient bereise (diese Legende hatte er sich zurechtgelegt). Jetzt tastete er sich an die eigentliche Sache heran, aber von weit her, sehr behutsam. Er spielte mit dem goldenen Wal an seinem Revers (den er aus der Rue de Grenelle hatte) und sagte wie beiläufig, um eine Unterhaltung anzuknüpfen: »Hübsches Ding, finden Sie nicht?«

Fandorin warf einen Blick auf das Revers und sagte nichts.

»Reines Gold. Schick!« lobte Coche.

Wieder erwartungsvolles Schweigen, doch durchaus höflich. Der Mann wartete einfach, was folgen würde. Die hellblauen Augen blickten aufmerksam. Der Diplomat hatte eine schöne Pfirsichhaut, rosa überhaucht wie bei einem jungen Mädchen. Aber ein Muttersöhnchen war er nicht, das war gleich zu erkennen.

Der Kommissar wechselte die Taktik.

»Sie sind viel auf Reisen?«

Indifferentes Achselzucken.

»Sie sind doch wohl im diplomatischen Dienst?«

Fandorin neigte höflich das Haupt, zog eine lange Zigarre aus der Tasche und schnitt mit einer kleinen silbernen Schere die Spitze ab.

»Waren Sie schon in Frankreich?«

Wieder ein bejahendes Neigen des Hauptes. Ein spannender Gesprächspartner ist der Russe nicht, dachte Coche, aber er gab nicht auf.

»Ich liebe Paris ganz besonders im Frühjahr, im März«, sagte er träumerisch. »Das ist die schönste Jahreszeit.«

Er sah sein Visavis scharf an - was würde der Mann sagen?

Fandorin nickte zweimal. Es war ungewiß, ob er nur zur Kenntnis nahm oder beipflichtete. Coche spürte Gereiztheit und runzelte feindselig die Stirn.

»Sie mögen das Abzeichen also nicht?«

Die Pfeife zischte und erlosch.

Der Russe holte kurz Luft, griff mit zwei Fingern in die Westentasche, holte den goldenen Wal heraus und geruhte nun endlich den Mund aufzumachen.

»Ich sehe, mein Herr, Sie interessieren sich für mein A-abzeichen. Hier ist es, bittesehr. Ich trage es nicht, weil ich nicht wie ein Hausmeister mit Blechmarke aussehen möchte, auch wenn sie aus Gold ist. Erstens. Wie ein Rentier wirken Sie nicht, Monsieur Coche, Ihr Blick flitzt zu sehr herum. Und warum sollte ein Pariser Rentier ständig eine amtliche Mappe mit sich herumtragen? Zweitens. Wenn Sie über die Art meiner Beschäftigung Bescheid wissen, müssen Sie Z-zugang zu den Reedereiunterlagen haben. Ich vermute, Sie sind ein Detektiv. Drittens. Und jetzt viertens: Wenn Sie etwas von mir wissen wollen, reden Sie nicht um den heißen Brei herum, sondern kommen Sie zur Sache.«

Mit solch einem sollte man nun reden!

Coche mußte sich herauswinden. Vertraulich raunte er dem überaus scharfsinnigen Diplomaten zu, er sei Schiffsdetektiv und habe über die Sicherheit der Passagiere zu wachen - doch diskret und möglichst taktvoll, um die Gefühle des erlesenen Publikums nicht zu verletzen. Ob Fandorin ihm glaubte, stand dahin, doch der fragte nicht weiter.

Jedes Schlechte hat auch sein Gutes. Der Kommissar hatte wenn nicht einen Gleichgesinnten, so doch einen Gesprächspartner gewonnen, der überdies eine erstaunliche Beobachtungsgabe besaß und in der Kriminologie bestens Bescheid wußte.

Fortan saßen sie recht oft selbzweit an Deck, blickten auf das sanft abfallende Kanalufer, rauchten (Coche seine Pfeife, der Russe Zigarre) und plauderten über interessante Themen. Zum Beispiel über moderne Methoden zur Identifizierung und Entlarvung von Verbrechern.

»Die Pariser Polizei arbeitet nach dem letzten Stand der Wissenschaft«, prahlte Coche einmal. »Die Präfektur hat einen speziellen >service d’identification<, den ein junges Genie leitet - Alphonse Bertillon. Er hat ein ganzes System der Registrierung verbrecherischer Elemente entwickelt.«

»Ich habe Doktor Bertillon während meines letzten Aufenthalts in P-paris mehrmals getroffen«, sagte Fandorin überraschend. »Er hat mir von seiner anthropometrischen Methode erzählt. Die Bertillonage ist eine sehr scharfsinnige Theorie. Haben Sie sie schon in der Praxis a-angewendet? Mit welchen Resultaten?«

»Einstweilen gibt es keine.« Der Kommissar zuckte die Achseln. »Zunächst müssen sämtliche Rückfalltäter der Ber- tillonage unterzogen werden, und das dauert Jahre. In Ber- tillons Abteilung herrscht ein richtiges Chaos: Die Arrestanten werden in Ketten hereingeführt, dann werden sie von allen Seiten gemessen wie Pferde auf dem Jahrmarkt, und ihre Maße werden auf Karteikarten festgehalten. Dafür wird die Polizei bald viel besser arbeiten können. Mal angenommen, man findet am Ort eines Einbruchs einen Abdruck der linken Hand. Man mißt ihn und guckt in die Kartothek. Aha, Mittelfinger 89 Millimeter lang, zu suchen in Gruppe Nr. 3. Dort sind siebzehn Einbrecher mit entsprechender Fingerlänge registriert. Das Weitere ist ein

Kinderspiel: überprüfen, wer zur Tatzeit wo war. Wer kein Alibi hat, wird geschnappt.«

»Die Verbrecher sind also nach der Länge des Mittelfingers registriert?« fragte der Russe mit lebhaftem Interesse.

Coche schmunzelte nachsichtig in seinen Schnauzbart.

»Dort haben sie ein ganzes System, mein junger Freund. Bertillon teilt alle Menschen in drei Abteilungen - nach der Länge des Schädels. Jede der drei Abteilungen teilt sich in drei Unterabteilungen - nach der Breite des Schädels. Also gibt es neun Unterabteilungen. Die Unterabteilung teilt sich ihrerseits in drei Gruppen - nach der Länge des linken Mittelfingers. Siebenundzwanzig Gruppen. Aber das ist noch nicht alles. Jede Gruppe hat drei Sektionen - nach der Länge des rechten Ohrs. Wieviel Sektionen? Richtig, einundachtzig. Die weitere Klassifizierung erfaßt die Körpergröße, die Handlänge, die Sitzhöhe, die Fußgröße, die Länge des Ellbogengelenks. Insgesamt 19683 Kategorien! Ein vollständig bertillonierter Verbrecher, der in unsere Kartei geraten ist, kann der Justiz nicht mehr entrinnen. Davor hatten sie’s besser, sie gaben bei der Verhaftung einen falschen Namen an und brauchten nicht zu verantworten, was sie früher einmal angerichtet hatten.«

»Hervorragend«, sagte der Diplomat nachdenklich, »aber die Bertillonage wird bei der Aufklärung eines konkreten Verbrechens kaum helfen, vornehmlich wenn der Mann noch nie verhaftet war.«

Coche breitete die Arme aus.

»Nun, das ist ein Problem, das die Wissenschaft nicht lösen kann. Solange es Verbrecher gibt, wird es ohne uns Berufsermittler nicht gehen.«

»Haben Sie von F-fingerabdrücken gehört?« fragte Fan- dorin und präsentierte dem Kommissar seine schmale, doch sehr kräftige Hand mit polierten Fingernägeln und einem Brillantring.

Mit einem mißgünstigen Blick auf den Ring (mindestens ein Jahresgehalt des Kommissars) sagte Coche auflachend: »Handlesen wie bei den Zigeunern?«

»Keineswegs. Schon in alten Z-zeiten hat man gewußt, daß das Relief der Papillarlinien auf den Fingerkuppen bei jedem Menschen anders ist. In China bestätigt ein Kuli einen Arbeitsvertrag mit dem Abdruck seines in Tusche getauchten Daumens.«

»Nun, wenn jeder Mörder so liebenswürdig wäre, seinen Daumen in Tusche zu tunken und den Abdruck am Tatort zurückzulassen .« Der Kommissar lachte gutmütig.

Aber der Diplomat war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Herr Schiffsdetektiv, Sie sollten w-wissen, daß die moderne Wissenschaft zuverlässig festgestellt hat: Auf jeder trockenen festen Oberfläche bleibt bei Berührung ein Fingerabdruck zurück. Wenn der Täter auch nur flüchtig eine Tür, ein Tatwerkzeug, eine Fensterscheibe angefaßt hat, hinterläßt er eine Spur, mit deren H-hilfe er überführt werden kann.«

Coche wollte ironisch entgegnen, in Frankreich gebe es zwanzigtausend Verbrecher mit zweihunderttausend Fingern, und wenn man die alle mit der Lupe untersuchen wolle, werde man erblinden, aber er ließ es. Er mußte an die zertrümmerte Vitrine in der Rue de Grenelle denken. Auf dem zerschlagenen Glas waren viele Fingerabdrücke gewesen. Aber niemandem war eingefallen, sie zu kopieren, und die Scherben waren im Müll gelandet.

Sieh an, wie weit es der Fortschritt gebracht hat! Denn was ergibt sich? Alle Verbrechen werden doch mit den

Händen verübt, oder? Nun stellt sich heraus, daß Hände nicht schlechter Informationen liefern können als bezahlte Spitzel! Und wenn man erst bei allen Dieben und Banditen die Fingerchen kopiert hat, werden sie es nicht mehr wagen, mit ihren dreckigen Pfoten ein krummes Ding zu drehen! Dann hat die Kriminalität ein Ende.

Bei solchen Aussichten konnte einem der Kopf schwirren.

REGINALD MILFORD-STOKES

2. April 1878

18 Uhr 34,5 Minuten Greenwicber Zeit

Meine kostbare Emily,

heute sind wir in den Suezkanal eingelaufen. In meinem gestrigen Brief habe ich Ihnen eingehend die Geschichte und Topographie von Port Said geschildert, und jetzt kann ich es mir nicht versagen, Ihnen etliche interessante und erbauliche Auskünfte über den Großen Kanal mitzuteilen, dieses grandiose Bauwerk menschlicher Hände, das im kommenden Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ist Ihnen bekannt, meine liebe und vergötterte Gattin, daß der jetzige Kanal der vierte ist und der erste schon im vierzehnten Jahrhundert vor Christi Geburt unter dem großen Pharao Ramses gegraben wurde? Zur Zeit des Niedergangs des ägyptischen Reiches wehten die Wüstenwinde das Kanalbett mit Sand zu, aber unter dem Perserkönig Da- rius, 500 vor Christus, schaufelten Sklaven einen neuen Kanal, der 120 000 Menschenleben forderte. Herodot schreibt, daß die Fahrt durch den Kanal vier Tage dauerte und daß zwei entgegenkommende Galeeren aneinander vorbeikamen, ohne daß die Ruderreihen sich berührten. Mehrere Schiffe der zerschlagenen Flotte Kleopatras konnten sich durch den Kanal ins Rote Meer retten und sich dem Zorn des grimmen Octavian entziehen.

Nach dem Zerfall des römischen Imperiums trennte wieder eine hundert Meilen lange Wand aus Treibsand den Atlantik vom Indischen Ozean, doch kaum hatten die Nachfolger des Propheten Mohammed in dieser unfruchtbaren Gegend einen starken Staat geschaffen, griffen die Menschen erneut zu Hacken und Spaten. Ich fahre hier vorbei an toten Salzböden und endlosen Wanderdünen und werde nicht müde, mich an der sturen Tapferkeit und der emsenhaften Mühsal des menschlichen Stammes zu begeistern, der einen unendlichen, unweigerlich zum Scheitern verurteilten Kampf gegen den allmächtigen Chronos führt. Zweihundert Jahre lang befuhren Getreideschiffe den Kanal, dann wischte die Erde die jämmerliche Falte von ihrer Stirn, und die Wüste sank in tausendjährigen Schlaf.

Der Vater des neuen Suezkanals war leider kein Brite, sondern der Franzose Lesseps, liebe Emily, ein Vertreter der Nation, für die ich eine tiefe und vollauf gerechtfertigte Verachtung empfinde. Dieser umtriebige Diplomat überredete den ägyptischen Vizekönig, einen Ferman über die Gründung der Suezkanal-Gesellschaft auszufertigen. Diese erhielt das Recht, die neue Wasserstraße auf 99 Jahre zu pachten, während der ägyptischen Regierung nur 15% der Einkünfte zugebilligt wurden! Und diese schäbigen Franzosen wagen es noch, uns Briten als Plünderer der rückständigen Völker zu bezeichnen! Zumindest haben wir unsere Privilegien mit dem Degen erkämpft, nicht aber schmutzige Geschäfte mit habgierigen einheimischen Beamtenseelen gemacht.

1 600 Kamele brachten jeden Tag Trinkwasser für die Arbeiter, die den Großen Kanal gruben, aber die Ärmsten starben gleichwohl zu Tausenden an Durst, Hitze und ansteckenden Krankheiten. Unsere »Leviathan« schwimmt sozusagen über Leichen, und ich sehe im Sand zähnebleckende Schädel mit leeren Augenhöhlen. Es dauerte zehn Jahre und kostete fünfzehn Millionen Pfund Sterling, dieses grandiose Bauwerk zu vollenden. Dafür legt ein Schiff die Strecke von England nach Indien jetzt in der halben Zeit zurück. Fünfundzwanzig Tage, und man ist in Bombay. Unglaublich! Die Kanaltiefe beträgt mehr als 100 Fuß, so daß selbst unsere Riesenarche nicht befürchten muß, auf eine Sandbank aufzulaufen.

Heute beim Mittagessen mußte ich so lachen, daß ich mich an einer Brotkruste verschluckte, ich hustete und konnte das Lachen dennoch nicht bezwingen. Unser kläglicher Fant Reg- nier (ich schrieb Ihnen von dem Ersten Offizier der »Leviathan«) fragte mich mit geheuchelter Teilnahme nach dem Grund meiner Heiterkeit, da mußte ich noch mehr lachen. Ich konnte ihm ja nicht gut sagen, welcher Gedanke mich so belustigt hatte. Den Kanal haben die Franzosen gebaut, aber die Früchte ernten wir Engländer. Vor drei Jahren hat die Regierung Ihrer Majestät dem ägyptischen Khedive die Aktienmehrheit abgekauft, und jetzt verwalten wir Briten den Kanal. Die Aktie, die anfangs für 15 Pfund verkauft wurde, ist heute 3 000 wert! Ist das nicht toll? Wie sollte ich da ernst bleiben?

Im übrigen langweile ich Sie gewiß mit diesen trockenen Details. Seien Sie mir nicht gram, meine teure Emily, ich habe keinen anderen Zeitvertreib, als lange Briefe zu schreiben. Wenn meine Feder über das Velinpapier kratzt, ist mir, als säßen Sie neben mir, und wir führten eine erquickliche Unterhaltung. Sie müssen wissen, in dem heißen Klima fühle ich mich bedeutend besser. Ich kann mich morgens nicht mehr an die Alpträume erinnern, die mich nächtlicherweile quälen, aber sie sind noch da, denn wenn ich in der Frühe aufwache, ist das Kopfkissen naß von Tränen, manchmal auch von meinen Zähnen zerbissen.

Aber das sind Lappalien. Jeder neue Tag, jede zurückgelegte Meile bringt mich dem neuen Leben näher. Dort, unter der freundlichen Äquatorsonne, wird diese entsetzliche Trennung, die mir die Seele zerrissen hat, endlich vorbei sein. Wenn es nur

Schneller ginge! Ich fiebere dem Moment entgegen, da Ihr strahlender, zärtlicher Blick wieder auf mir ruht, meine liebe Freundin.

Womit könnte ich Sie noch zerstreuen? Vielleicht mit der Beschreibung unserer »»Leviathan«, ein mehr als würdiges Thema. In den vorhergehenden Briefen habe ich zu viel von meinen Gefühlen und Träumen geschrieben und Ihnen nicht diesen Triumph der britischen Ingenieurkunst in den schönsten Farben ausgemalt.

Die » Leviathan« ist das größte Passagierschiff der Weltgeschichte, mit Ausnahme der kolossalen »Great Eastern«, die schon seit zwanzig Jahren die Wasser des Atlantik furcht. Jules Verne, der die »Great Eastern« in dem Buch »Die schwimmende Stadt« beschrieb, hat unsere » Leviathan« nie gesehen, sonst würde er die alte »G. E.« in »Das schwimmende Dorf« umbenannt haben. Sie verlegt ja nur Telegraphenkabel auf dem Grunde des Ozeans. Die »»Leviathan« hingegen kann tausend Personen und zusätzlich 10000 Tonnen Fracht transportieren. Die Länge unseres feuerspeienden Monsters übersteigt 600, die Breite erreicht 80 Fuß. Ist Ihnen bekannt, wie ein Schiff gebaut wird, liebe Emily? Zunächst wird der Linienriß des zu bauenden Schiffes auf dem Schnürboden (einem überdachten Raum) in einen besonders geglätteten Holzbelag eingeritzt. Der Linienriß der »Leviathan« war so gewaltig, daß extra ein Gebäude von der Größe des Buckingham-Palastes errichtet werden mußte!

Das Wunderschiff besitzt zwei Dampfmaschinen, zwei mächtige Seitenräder und eine gigantische Schraube am Heck. Sechs Masten ragen bis hinauf in den Himmel, sie sind voll betakelt, und bei achterem Wind und großer Maschinenfahrt entwickelt das Schiff eine Geschwindigkeit von 16 Knoten! Hier haben die neuesten Errungenschaften der Schiffbauindustrie Anwendung gefunden. Dazu gehören: die doppelte metallene Außenhaut, die das Schiff selbst bei einem Aufprall auf einen Felsen rettet, spezielle Seitenkiele, die das Schlingern dämpfen, elektrische Beleuchtung, wasserdichte Räume, gewaltige Kühlanlagen für den produzierten Dampf - alles läßt sich nicht aufzählen. Die gesamte Erfahrung jahrhundertelanger Arbeit des erfinderischen und unermüdlichen menschlichen Verstandes ist in diesem stolzen Schiff gebündelt, das furchtlos die Meereswellen teilt. Gestern habe ich nach alter Gewohnheit die Heilige Schrift an der erstbesten Stelle aufgeschlagen und war erschüttert - ins Auge fielen mir die Zeilen über Leviathan, das gefährliche Seeungeheuer aus dem Buche Hiob. Ich erbebte, als ich plötzlich begriff, daß dort keineswegs von einer Seeschlange die Rede war, wie die Alten glaubten, und nicht von einem Pottwal, wie die heutigen Rationalisten behaupten - nein, in der Bibel wird eindeutig von der »Leviathan« gesprochen, die mich aus Finsternis und Entsetzen hinführen wird zu Glück und Licht. Urteilen Sie selbst: »»Die Tiefe läßt er wie den Kessel sieden und macht das Meer zu einem Salbentopf. Aufleuchtet hinter ihm der Pfad; man hält das Meer für Greisenhaar. Es gibt nicht seinesgleichen auf der Erde, dazu geschaffen, ohne Furcht zu sein. Verächtlich schaut er alles Hohe an, und König ist er aller stolzen Tiere.« Der Salbentopf - das ist das Schmieröl, der aufleuchtende Pfad hinter ihm - das ist die Hecksee. Das ist doch offensichtlich!

Und da überkam mich Angst, liebe Emily. Diese Zeilen bergen eine gefährliche Warnung - für mich persönlich, für die Passagiere der »Leviathan« oder für die ganze Menschheit. Vom Standpunkt der Bibel ist doch Stolz etwas Schlechtes, oder? Und wenn der Mensch verächtlich alles Hohe anschaut, drohen da nicht irgendwelche katastrophalen Folgen? Sind wir nicht gar zu stolz auf unseren flinken Verstand und unsere geschickten

Hände? Wohin führt uns der König aller stolzen Tiere? Was steht uns bevor?

Ich schlug das Buch auf um zu beten, zum erstenmal seit langer Zeit. Und plötzlich las ich: »Das ist ihr Herz, daß ihre Häuser währen immerdar, ihre Wohnungen bleiben für und für; und haben große Ehre auf Erden. Dennoch kann ein Mensch nicht bleiben in solchem Ansehen, sondern muß davon wie das Vieh. Dies ihr Tun ist eitel Torheit; doch loben’s ihre Nachkommen mit ihrem Munde.«

Als ich aber, von einem mystischen Gefühl ergriffen, mit zitternder Hand das Buch zum drittenmal aufschlug, fiel mein entzündeter Blick auf die langweilige Stelle aus dem vierten Buch Mose, wo mit buchhalterischer Genauigkeit die Opferdarbringungen der Geschlechter Israels aufgezählt werden. Da beruhigte ich mich, läutete mit dem silbernen Glöckchen und bestellte mir beim Steward eine heiße Schokolade.

Der Komfort in dem Teil des Schiffes, der dem honorigen Publikum vorbehalten ist, übersteigt jede Phantasie. In dieser Beziehung sucht die »Leviathan« in der Tat ihresgleichen. Dahin sind die Zeiten, als Reisende nach Indien oder China in enge dunkle Kämmerchen gezwängt, übereinander gestapelt wurden. Sie wissen, geliebte Gattin, wie sehr ich an Klaustrophobie leide, aber auf der »Leviathan« fühle ich mich wie am weitläufigen Ufer der Themse. Hier gibt es alles Notwendige, um der Langeweile zu entfliehen: einen Tanzsaal, einen Musiksalon für klassische Konzerte und eine ganz passable Bibliothek. Die Erste-Klasse-Kabine steht, was die Ausstattung angeht, dem besten Londoner Hotelzimmer nicht nach. Von solchen Kabinen hat das Schiff hundert. Überdies hat es 250 Kabinen zweiter Klasse mit 600 Betten (ich habe nicht hineingeschaut, denn ich kann Armseligkeit nicht ertragen), außerdem soll es noch umfängliche Frachträume geben. Allein an Bedienungspersonal hat die »Leviathan«, die Matrosen und Offiziere nicht gerechnet, mehr als 200 Leute - Stewards, Köche, Diener, Musiker, Kabinenstewardessen. Denken Sie nur, ich bedaure überhaupt nicht, Jeremy nicht mitgenommen zu haben. Der Tagedieb hat dauernd seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen, und hier kommt um elf das Mädchen, räumt auf und führt meine Aufträge aus. Das ist bequem und vernünftig. Wenn man will, ruft man mit dem Glöckchen den Diener herbei, damit er beim Ankleiden hilft, aber das halte ich für überflüssig, ich ziehe mich selber an und aus. In meiner Abwesenheit ist es dem Personal strengstens untersagt, die Kabine zu betreten, und wenn ich hinausgehe, klemme ich ein Haar in die Tür. Ich habe Angst vor Spionen. Glauben Sie mir, liebste Emily, dieses Schiff ist eine richtige Stadt, und es gibt alles mögliche Gesindel.

Meine Kenntnisse über den Dampfer habe ich hauptsächlich von Leutnant Regnier, der auf sein Schiff richtig stolz ist. Ansonsten ist er ein unsympathischer Mensch, und ich habe ihn ernsthaft im Verdacht. Er bemüht sich nach Kräften, den Gentleman zu spielen, aber mich führt er nicht hinters Licht, ich kann die minderwertige Rasse riechen. Um sich einzuschmeicheln, hat der Kerl mich in seine Kabine eingeladen. Ich habe hineingeschaut, weniger aus Neugier als aus dem Wunsch, den Grad der Bedrohung abzuschätzen, welche dieser dunkelhäutige Herr darstellen könnte (über sein Äußeres s. meinen Brief vom 20. März). Die Ausstattung seiner Kabine ist kärglich, was noch stärker ins Auge fällt durch geschmacklose Nippes (chinesische Vasen, indische Räuchergefäße, ein minderwertiges Seestück an der Wand usw.). Auf dem Tisch steht inmitten von Karten und Navigationsgeräten ein großes Photo einer Frau in Schwarz mit einer Inschrift auf französisch: »»Allezeit sieben Fuß unterm Kiel, mein Liebling! Frangoise B.« Ich fragte, ob es seine Frau sei. Nein, seine Mutter. Rührend, aber der Verdacht bleibt.

Ich habe auch weiterhin die Absicht, selber alle drei Stunden den Kurs zu überprüfen, obwohl ich dazu zweimal in der Nacht aufstehen muß. Gewiß, einstweilen fahren wir durch den Suezkanal, da ist es vielleicht überflüssig, doch ich will im Umgang mit dem Sextanten nicht aus der Übung kommen.

Zeit haben wir mehr als genug, und ich nutze sie außer zum Briefeschreiben dazu, den Jahrmarkt der Eitelkeiten zu beobachten, der mich von allen Seiten umgibt. In dieser Galerie menschlicher Typen gibt es hochinteressante Gestalten. Von einigen habe ich Ihnen schon geschrieben, doch gestern erschien in unserm Salon ein neues Gesicht. Stellen Sie sich vor - ein Russe. Sein Name ist Erast Fandorin. Emily, Sie wissen, was ich von Rußland halte, diesem häßlichen Auswuchs, der halb Europa und ein Drittel von Asien bedeckt. Rußland trachtet danach, seine das Christentum parodierende Religion und seine barbarischen Sitten auf die ganze Welt auszudehnen, und Albion ist das einzige Hindernis auf dem Weg dieser neuen Hunnen. Ohne die entschlossene Position der Regierung Ihrer Majestät in der gegenwärtigen Orientkrise würde Zar Alexander mit seinen Bärentatzen die Balkanländer eingerafft haben und...

Doch das habe ich Ihnen schon geschrieben, und ich mag mich nicht wiederholen. Im übrigen wirken sich Gedanken über die Politik schlecht auf meine Nerven aus. Jetzt ist es vier Minuten vor acht. Wie ich Ihnen schon mitteilte, gilt auf der »Leviathan« bis Aden die britische Zeit, darum ist um acht hier schon Nacht. Ich gehe jetzt, die Länge und die Breite zu messen, dann werde ich zu Abend speisen und den Brief fortsetzen.

Sechzehn Minuten nach zehn

Ich sehe, ich habe den Bericht über Mister Fandorin noch nicht beendet. Ich glaube, er gefällt mir trotz seiner Nationalität.

Er hat gute Manieren, ist schweigsam, kann zuhören. Wahrscheinlich gehört er dem Stand an, der in Rußland mit dem italienischen Wort intelligenzia bezeichnet wird, das meint wohl die europäische gebildete Klasse. Sie werden zugeben, teure Emily, daß eine Gesellschaft, in der die europäische Klasse als besondere Schicht angesehen und überdies mit einem Fremdwort benannt wird, schwerlich als zivilisiert betrachtet werden kann. Ich stelle mir vor, was für ein Abgrund den menschenähnlichen Mister Fandorin von einem bärtigen Kosaken oder Mushik trennt, welche in diesem tatarisch-byzantinischen Imperium 90% der Bevölkerung ausmachen. Andererseits muß solch eine Distanz einen gebildeten und denkenden Menschen ungewöhnlich erhöhen und veredeln. Darüber wird noch nachzudenken sein.

Mir hat gefallen, wie elegant Mister Fandorin (er ist übrigens Diplomat, was vieles erklärt) den unerträglichen Coche zurechtgewiesen hat, der behauptet, Rentier zu sein, obwohl mit bloßem Auge zu sehen ist, daß er schmutzige Geschäfte betreibt. Es sollte mich nicht wundern, wenn er in den Orient reist, um Opium und exotische Tänzerinnen für Pariser Kaschemmen einzukaufen. (Der letzte Satz ist durchgestrichen.) Ich weiß, liebe Emily, daß Sie eine Lady sind und nicht versuchen werden, das Durchgestrichene zu lesen. Ich habe mich hinreißen lassen und etwas geschrieben, was Ihrer keuschen Augen unwürdig ist.

Also, zum heutigen Abendessen. Der französische Bourgeois Coche, der sich in letzter Zeit eine große Geschwätzigkeit herausnimmt, hat mit selbstzufriedener Miene über die Vorzüge des Alters gegenüber der Jugend schwadroniert. »»Ich bin unter den hier Anwesenden der Älteste«, sagte er herablassend, dieser Sokrates. »Ich habe graue Haare, bin dick und häßlich, aber glauben Sie nicht, daß ich mit Ihnen tauschen würde. Wenn ich die hochmütige Jugend sehe, die sich vor dem Alter mit ihrer Kraft, Schönheit und Gesundheit spreizt, empfinde ich kein bißchen Neid. Na, denke ich dann, das ist nichts weiter, so war ich früher auch. Aber ob du, mein Lieber, überhaupt so alt wirst wie ich mit meinen zweiundsechzig, das ist noch nicht raus. Ich bin schon doppelt so glücklich wie du mit deinen dreißig, denn ich lebe auf dieser Welt doppelt so lange wie du.« Und er trank einen Schluck Wein, stolz auf seinen originellen Gedanken und seine scheinbar unwiderlegliche Logik. Da sagte plötzlich Fan- dorin, der bislang den Mund nicht aufgekriegt hatte, mit sehr ernster Miene: »»Das trifft zweifellos zu, Herr Coche, wenn man das Leben im orientalischen Sinne betrachtet - als das Sich-Be- finden an einem Punkt des Daseins und das ewige >Jetzt<. Aber es gibt noch eine andere Sichtweise, die das Leben eines Menschen als ein Literaturwerk ansieht, das man erst beurteilen kann, wenn die letzte Seite zu Ende gelesen ist. Dieses Werk kann lang sein wie eine Tetralogie oder kurz wie eine Novelle. Aber wer will zu behaupten wagen, daß ein dicker und banaler Roman wertvoller wäre als ein kurzes, schönes Gedicht?« Und das komischste, unser Rentier, der tatsächlich dick und banal ist, hat gar nicht begriffen, daß er gemeint war. Selbst als Miss Stomp (eine nicht dumme, wenngleich sonderbare Person) kicherte und ich ziemlich laut prustete, bekam der Franzose es nicht mit - er blieb bei seiner Überzeugung, und dafür sei er gepriesen.

Freilich bekundete Monsieur Coche im weiteren Gespräch, schon beim Dessert, einen gesunden Menschenverstand, der mich erstaunte. Auch das Fehlen einer regulären Bildung hat seine Vorzüge: Ein nicht von Autoritäten eingeengter Verstand ist zuweilen fähig, interessante und zutreffende Beobachtungen zu machen.

Urteilen Sie selbst. Die amöbenartige Mrs. Truffo, die Frau unseres vertrottelten Doktors, säuselte wieder mal etwas von dem »Kleinchen« und »Engelchen«, mit dem Madame Kleber in Bälde ihren Bankier beglücken wird. Da Mrs. Truffo nicht französisch spricht, mußte ihr unglücklicher Gatte die süßlichen Sentenzen übersetzen - von Familienglück, das ohne das »»Plappern der Kleinen« nicht denkbar sei. Coche paffte und paffte, dann sagte er plötzlich: »»Ich kann Ihnen nicht zustimmen, Madame. Ein wahrhaft glückliches Ehepaar hat keineswegs Kinder nötig, denn Mann und Frau sind einander vollauf genug. Mann und Frau sind wie zwei unebene Oberflächen, jede mit Hebungen und Senkungen. Wenn die Oberflächen nicht dicht einander anliegen, bedarf es Leim, ohne den die Konstruktion, also die Familie, nicht halten würde. Dieser Leim sind die Kinder. Wenn aber die Oberflächen ideal zueinander passen und jede Hebung eine Senkung findet, ist Leim überflüssig. Nehmen Sie mich und meine Blanche. Dreiunddreißig Jahre leben wir wie ein Herz und eine Seele. Wozu brauchen wir Kinder? Auch ohne sie ist es wunderbar.« Sie können sich vorstellen, Emily, was für eine Woge gerechter Entrüstung über den Zerstörer ewiger Werte hereinbrach. Am meisten ereiferte sich Madame Kleber, die in ihrem Schoß einen kleinen Schweizer trägt. Beim Anblick ihres zur Schau gestellten Bäuchleins zucke ich jedesmal zusammen. Ich sehe im Geiste einen zusammengekauerten Mini-Bankier mit gezwirbeltem Schnurrbärtchen und aufgeblasenen Bäckchen. Mit der Zeit werden die Klebers zweifellos ein ganzes Bataillon der Schweizer Garde auf die Welt bringen.

Ich muß Ihnen gestehen, meine zärtlich geliebte Emily, daß mir der Anblick schwangerer Frauen Übelkeit verursacht. Sie sind widerlich! Dieses sinnlos animalische Lächeln, diese scheußliche Miene des permanenten Hineinhorchens in den eigenen Leib! Ich halte mich nach Möglichkeit von Madame

Kleber fern. Schwören Sie mir, Teuerste, daß wir niemals Kinder haben werden. Der dicke Bourgeois hat tausendmal recht! Wozu Kinder? Wir sind doch auch so unendlich glücklich. Wir müssen nur diese erzwungene Trennung durchstehen.

Aber jetzt ist es zwei Minuten vor elf. Ich muß meine Messung machen.

Verflixt! Ich habe die ganze Kabine durchsucht. Mein Sextant ist weg. Keine Einbildung. Er lag in der kleinen Truhe, zusammen mit dem Chronometer und dem Kompaß, und jetzt ist er weg! Ich habe Angst, Emily! Oh, ich habe es geahnt! Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet!

Warum? Wofür? Die sind zu jeder Schandtat bereit, nur um unsere Begegnung zu verhindern. Wie soll ich jetzt überprüfen, ob der Dampfer den richtigen Kurs fährt? Das war Regnier, ich weiß es. Ich habe gesehen, mit was für Augen er mich anguckte, als er letzte Nacht an Deck mein Hantieren mit dem Sextanten beobachtete. Der Schuft!

Ob ich zum Kapitän gehe, um eine Bestrafung Regniers zu verlangen? Aber wenn sie unter einer Decke stecken? O Gott, erbarme dich meiner!

Ich mußte eine Pause machen. Mich hat das alles so echauffiert, daß ich von den Tropfen nehmen mußte, die Doktor Jenkinson mir verordnet hat. Und entsprechend seiner Weisung habe ich an etwas Erfreuliches gedacht. Daran, wie wir beide auf der weißen Veranda sitzen und in die Ferne schauen, um herauszufinden, wo das Meer aufhört und der Himmel anfängt. Sie lächeln und sagen: »»Lieber Regi, nun sind wir beisammen.« Dann setzen wir uns in das Kabriolett und fahren am Ufer entlang...

Mein Gott, was fasele ich da! Was denn für ein Kabriolett?

Ich bin ein Ungeheuer, und es gibt für mich keine Vergebung.

RENATE KLEBER

Sie erwachte in glänzender Laune, lächelte über einen Sonnenfleck, der über ihre vom Kissen zerdrückte rundliche Wange kroch, und horchte auf ihren Bauch. Das Kind verhielt sich still, aber sie hatte schrecklichen Hunger. Bis zum Frühstück waren es noch fünfzig Minuten, doch sie war gewohnt, sich zu gedulden, und Langeweile war ihr fremd. Der Schlaf verließ sie morgens ebenso schnell, wie er sie abends überkam - sie bettete den Kopf auf die zusammengelegten Hände, und schon im nächsten Moment hatte sie einen lieblichen und fröhlichen Traum.

Renate trällerte ein frivoles Liedchen von der armen Georgette, die sich in einen Schornsteinfeger verliebt, dabei verrichtete sie ihre Morgentoilette, rieb das frische Gesicht mit Lavendelwasser ab, frisierte sich flink und geschickt: toupierte über der Stirn einen kleinen Pony, steckte das volle kastanienbraune Haar zu einem glatten Knoten und ließ an den Schläfen zwei gewundene Löckchen herabhängen. Nun sah sie so aus, wie sie es wollte - hübsch und bescheiden. Sie guckte durch das Bullauge. Immer dasselbe: das gleichmäßige Kanalufer, der gelbe Sand, die weißen Lehmhütten eines ärmlichen Dorfes. Ein heißer Tag stand bevor. Also das weiße Spitzenkleid, der Strohhut mit dem roten Band und, nicht zu vergessen, der Sonnenschirm, denn nach dem Frühstück war ein Spaziergang fällig. Doch fand sie es lästig, sich mit dem Schirm abzuschleppen. Irgendwer würde ihn ihr schon holen.

Renate drehte sich mit sichtlichem Vergnügen vor dem Spiegel, stellte sich seitlich hin, zog das Kleid über dem Bauch straff. Um die Wahrheit zu sagen - noch war nichts zu sehen.

Mit dem Recht der Schwangeren fand sie sich vor der Zeit zum Frühstück ein, die Kellner waren noch beim Eindecken. Renate bestellte sogleich Orangensaft, Tee, Hörnchen mit Butter und alles übrige. Als der erste Tischnachbar erschien, der dicke Monsieur Coche, auch ein Frühaufsteher, hatte die werdende Mutter schon drei Hörnchen verdrückt und machte sich eben über ein Omelett mit Pilzen her. Auf der »Leviathan« gab es kein Kontinentalfrühstück, sondern ein richtiges englisches Breakfast: mit Rostbeef, erlesenen Eierspeisen, Pudding und Porridge. Französisch waren hier nur die Croissants. Dafür dominierte mittags und abends die französische Küche. Konnte man im Salon »Windsor« etwa Nierchen mit Bohnen servieren?

Der Erste Offizier erschien wie stets um punkt zehn. Fürsorglich erkundigte er sich nach Madame Klebers Befinden. Renate schwindelte, sie habe schlecht geschlafen und fühle sich zerschlagen, weil sich das Bullauge schwer öffnen lasse und es in ihrer Kabine stickig sei. Leutnant Regnier war bestürzt und versprach, persönlich vorbeizukommen und den Defekt zu beheben. Eier und Rostbeef aß er nicht, er hielt sich an eine ausgeklügelte Diät und ernährte sich hauptsächlich von Grünzeug. Er tat Renate leid.

Allmählich fanden sich auch die übrigen ein. Das Gespräch am Frühstückstisch kam gewöhnlich nur schleppend in Gang - die Älteren waren zerknittert nach einer schlecht verbrachten Nacht, und die Jüngeren schliefen noch halb. Es war amüsant, zu beobachten, wie die zickige Clarissa Stomp den stotternden Diplomaten umgarnte. Renate schüttelte den Kopf: Wie konnte die sich solche Blöße geben! Meine Liebe, der könnte dein Sohn sein, trotz der imposanten weißen Schläfen. Meinst du, der Beau wäre was für so eine alternde Jungfer wie dich?

Als letzter kam der rothaarige Psychopath (so nannte Renate im stillen den englischen Baronet). Storre Zotteln, rote Augen, zuckende Mundwinkel - ein Graus. Aber Madame Kleber fürchtete ihn kein bißchen und ließ keine Gelegenheit aus, sich über ihn lustig zu machen. So reichte sie ihm jetzt mit unschuldig-freundlichem Lächeln das Milchkännchen. Milford-Stokes (schon der Name!) schob erwartungsgemäß angewidert seine Tasse zurück. Renate wußte aus Erfahrung, daß er das Milchkännchen nicht anrühren, sondern seinen Kaffee lieber schwarz trinken würde.

»Warum wenden Sie sich ab?« lispelte sie mit bebender Stimme. »Keine Bange, Schwangerschaft ist nicht anstek- kend.« Und sie schloß schon ohne Beben: »Jedenfalls nicht für Männer.«

Der Psychopath schickte ihr einen sengenden Blick, der jedoch an ihrem strahlenden und friedlichen Gegenblick abprallte. Leutnant Regnier verdeckte mit der Hand ein Schmunzeln, der Rentier ließ ein »hm« hören. Selbst der Japaner lächelte über Renates Ausfall. Allerdings lächelte dieser Monsieur Aono immer, auch ohne jeden Anlaß. Womöglich bedeutete ja das Lächeln bei den Japanern gar nicht Heiterkeit, sondern etwas ganz anderes. Zum Beispiel Langeweile oder Abscheu.

Nachdem Monsieur Aono zur Genüge gelächelt hatte, leistete er sich wieder das gewohnte Stückchen, von dem es seinen Tischnachbarn immer ganz übel wurde: Er schneuzte geräuschvoll in eine Papierserviette, knüllte sie zusammen und legte das nasse Päckchen sorgsam auf seinem schmutzigen

Teller ab. Mochten sich die anderen am Anblick dieser Ikebana erbauen. Von Ikebana hatte Renate bei Pierre Loti gelesen, und das wohlklingende Wort war ihr haftengeblieben. Interessante Idee, Blumensträuße nicht einfach so zu binden, sondern mit philosophischem Sinn. Sie müßte es mal probieren.

»Welche Blumen mögen Sie?« fragte sie Doktor Truffo.

Er übersetzte die Frage seiner Schreckschraube, dann antwortete er: »Stiefmütterchen.«

Und er übersetzte auch die Antwort: »Pansies.«

»Ich vergöttere Blumen!« rief Miss Stomp (die sich als jugendliche Naive aufspielte). »Aber nur lebendige. Wie gern gehe ich über eine Blumenwiese! Es zerreißt mir das Herz, wenn ich sehe, wie die armen Schnittblumen welken und ihre Blütenblätter verlieren! Darum lasse ich mir auch von niemandem Blumen schenken.« Schmachteblick auf den schönen Russen.

Welch ein Jammer, sonst würden sie dich bestimmt mit Sträußen zuschütten, dachte Renate, laut aber sagte sie: »Ich finde, Blumen sind die Krönung von Gottes Schöpfung, und eine blühende Wiese zu zertrampeln ist ein Verbrechen.«

»In den Parkanlagen von Paris gilt es auch als Verbrechen«, verlautbarte Monsieur Coche. »Es kostet zehn Francs Strafe. Und wenn die Damen einem alten Flegel gestatten wollen, seine Pfeife zu rauchen, möchte ich Ihnen ein spannendes Geschichtchen zu diesem Thema erzählen.«

»Oh, meine Damen, üben Sie Nachsicht!« rief der bebrillte Indologe Sweetchild und schüttelte sein Disraeli-Bärtchen. »Monsieur Coche ist ein fabelhafter Erzähler.«

Alle wandten sich der schwangeren Renate zu, die das letzte Wort hatte, und sie rieb sich vielsagend die Schläfe. Nein, Kopfschmerzen hatte sie nicht, es machte ihr nur Spaß, den angenehmen Moment zu verlängern. Aber das »Ge- schichtchen« wollte sie auch gern hören, darum nickte sie mit Leidensmiene.

»Gut, rauchen Sie nur. Aber dann soll mir jemand Luft zufächeln.«

Da die garstige Clarissa, die einen üppigen Fächer aus Straußenfedern besaß, so tat, als ginge es sie nichts an, mußte der Japaner das übernehmen. Gintaro Aono setzte sich neben die Leidende und fuchtelte ihr mit seinem Fächer voller bunter Schmetterlinge so eifrig vor der Nase herum, daß ihr bald schwindlig wurde von dem Farbengeflirre. Der Japaner bezog für seinen Übereifer einen Verweis.

Coche nahm mit Genuß einen Zug, stieß ein Wölkchen duftenden Qualms aus und begann seine Erzählung: »Ob Sie’s glauben oder nicht, aber dies ist eine wahre Geschichte. Im Jardin du Luxembourg arbeitete ein Gärtner, der alte Picard. Vierzig Jahre lang goß und pflegte er Blumen, und bis zur Pensionierung hatte er nur noch drei Jahre. Eines Morgens kam er mit seiner Gießkanne in den Park, da sah er auf einem Tulpenbeet einen schicken Herrn mit Frack liegen. Der Mann hatte es sich in der Morgensonne bequem gemacht und lag behaglich da. Er mußte wohl ein Nachtschwärmer sein, der bis in den Morgen gezecht, es nicht bis nach Hause geschafft und hier schlappgemacht hatte.« Coche kniff ein Auge ein und maß die Anwesenden mit verschmitztem Blick. »Picard wurde natürlich böse, seine Tulpen waren zerdrückt, und er sagte: Stehen Sie auf, Monsieur, in unserm Park darf man nicht auf den Beeten liegen. Dafür kassieren wir zehn Francs Strafe.< Der Nachtschwärmer öffnete ein Auge und holte ein Goldstück hervor. >Nimm, Alter, und laß mich in Ruhe. Ich habe lange nicht so schön geruht.< Na, der Gärtner nahm das Geld, ging aber nicht weg. >Die Strafe haben Sie bezahlt, aber ich darf Sie trotzdem nicht hier liegen lassen. Stehen Sie bitte auf.< Da öffnete der Herr im Frack auch sein zweites Auge, hatte es aber nicht eilig, sich zu erheben. > Wieviel muß ich berappen, damit du mir aus der Sonne gehst? Ich zahle jeden Preis, wenn du mich hier ein Stündchen schlummern läßt.< Picard kratzte sich den Hinterkopf, rechnete, bewegte die Lippen. >Gut<, sagte er, >wenn Sie ein Liegestündchen in einem Beet des Jardin du Luxembourg erwerben wollen, kostet es Sie vierundachtzigtausend Francs und keinen Sou weniger.<« Der Kommissar lachte vergnügt und schüttelte den Kopf, gleichsam hingerissen von der Frechheit des Gärtners. »Nicht einen Sou weniger, soso. Nun muß ich Ihnen aber sagen, der beschwipste Herr war nicht irgendwer, sondern der Bankier Laffitte, der reichste Mann von Paris. Der redete nicht in den Wind, er hatte gesagt >jeden Preis<, und das galt. Er hätte es als schmählich empfunden, zu kneifen und sein Bankierswort zurückzunehmen. Aber einem hergelaufenen Frechling solch eine Summe zu geben hatte er auch keine Lust. Was tun?« Coche zuckte die Achseln, um die knifflige Lage des Bankiers zu illustrieren. »Laffitte sagt also: >Na schön, du alter Spitzbube, du sollst deine vierundachtzigtausend haben, aber unter einer Bedingung: Beweise mir, daß ein Schlummerstündchen auf deinem schäbigen Beet tatsächlich diesen Betrag wert ist. Wenn du das nicht kannst, stehe ich jetzt auf und verbleue dich mit meinem Stock, dann komme ich wegen geringfügigem Rowdytum mit vierzig Francs Strafe davon.<« Der bescheuerte Milford-Stokes lachte laut und schüttelte begeistert seine rötliche Mähne, Coche aber hob den gelbgeräucherten Finger: Freu dich nicht zu früh, es ist noch nicht zu Ende. »Und was meinen Sie, meine Damen und

Herren? Der alte Picard, kein bißchen verlegen, rechnete vor: >In einer halben Stunde, punkt acht, kommt der Herr Direktor des Parks, sieht Sie in dem Beet liegen und brüllt mich an, ich soll Sie wegbringen. Das kann ich aber nicht, denn Sie haben nicht für eine halbe, sondern für eine ganze Stunde bezahlt. Ich streite also mit dem Herrn Direktor, da jagt er mich aus dem Dienst, ohne Entschädigung und Pension. Dabei habe ich nur noch drei Jahre bis zur Pensionierung. Die Pension beträgt tausendzweihundert Francs im Jahr. Mein Leben im Ruhestand veranschlage ich auf zwanzig Jahre, macht vierundzwanzigtausend Francs. Aus der Dienstwohnung wird man uns raussetzen, meine Alte und mich. Wo soll ich dann wohnen? Ich muß ein Haus kaufen. Ein bescheidenes Häuschen mit Garten irgendwo an der Loire kostet mindestens zwanzigtausend. Und jetzt, mein Herr, denken Sie auch mal an meine Reputation. Vierzig Jahre habe ich in diesem Park auf Treu und Glauben meine Arbeit getan, und jeder wird sagen, daß Picard ein redlicher Mensch ist. Und nun solche Schande auf mein graues Haupt. Das ist ja Schmiergeld, Bestechung! Ich finde, für jedes Jahr untadeligen Dienstes sind tausend Francs nicht zuviel als moralischer Ausgleich. Insgesamt ergibt das vierundachtzigtausend.< Laffitte lachte, streckte sich behaglich auf dem Beet aus und schloß wieder die Augen. >Komm in einer Stunde<, sagte er. >Da kriegst du dein Geld, alter Affe.< Ist das nicht eine hübsche Geschichte, meine Damen und Herren?«

»Also t-tausend Francs für ein untadeliges Jahr?« sagte der russische Diplomat auflachend. »Ein bißchen wenig. Wahrscheinlich Mengenrabatt.«

Die Anwesenden erörterten lebhaft die Geschichte und äußerten durchaus gegensätzliche Meinungen, Renate aber starrte neugierig Monsieur Coche an, der mit zufriedener Miene seine schwarze Mappe aufschlug, an der erkalteten Schokolade nippte und mit Papieren raschelte. Ein Original, dieser Opa. Was mochte er da für Geheimnisse haben? Warum hielt er den Ellbogen drüber?

Diese Frage ließ Renate keine Ruhe. Ein paarmal versuchte sie, Coche über die Schulter zu linsen, aber der boshafte Rentier klappte die Mappe unverfroren vor ihrer Nase zu und drohte ihr sogar mit dem Finger - nicht doch.

Aber heute geschah etwas Bemerkenswertes. Als Monsieur Coche wie üblich vor den anderen aufstand, entglitt seiner geheimnisvollen Mappe ein Blatt und segelte still zu Boden. Der Rentier bemerkte es nicht; in unfrohe Gedanken vertieft, verließ er den Salon. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, schnellte Renate vom Stuhl hoch. Aber sie war nicht die einzige mit guter Beobachtungsgabe. Die wohlerzogene Miss Stomp, so eine Fixe, erreichte das Blatt als erste.

»Ach, Monsieur Coche hat wohl was verloren!« rief sie, hob rasch das Papier auf und bohrte die scharfen Augen hinein. »Ich bring’s ihm.«

Aber Madame Kleber hatte schon mit zähen Fingern zugeschnappt und dachte nicht daran, loszulassen.

»Was ist es?« fragte sie. »Ein Zeitungsausschnitt? Wie interessant!«

Im nächsten Moment umstanden alle Anwesenden die beiden Damen, nur der stoische Japaner wedelte noch immer mit seinem Fächer, und Mrs. Truffo beäugte indigniert dieses ungehörige Eindringen in die Privatsphäre eines anderen.

Der Zeitungsausschnitt beinhaltete folgendes:

DAS VERBRECHEN DES JAHRHUNDERTS: EINE NEUE WENDE?


Die teuflische Ermordung von zehn Menschen in der Rue de Grenelle bewegt weiterhin die Gemüter der Pariser Bürger. Bislang gab es hauptsächlich zwei Theorien: die von einem manisch besessenen Arzt und die von einer Sekte blutgieriger fanatischer Hindus, Anhängern des Gottes Schiwa. Aber wir vom »Soir« haben unabhängige Recherchen angestellt und konnten einen Umstand ermitteln, der möglicherweise dem Fall eine Wende gibt. Wie wir herausfanden, wurde der verstorbene Lord Littleby in den letzten Wochen mindestens zweimal in Gesellschaft der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond gesehen, die der Polizei in vielen Ländern bestens bekannt ist. Der Baron de M. ein enger Freund des Ermordeten, hat mitgeteilt, Milord habe für eine gewisse Dame geschwärmt, und er habe sich am Abend des 15. März nach Spa begeben wollen, zu einem romantischen Stelldichein. Ob es wohl Madame Sansfond war, die ihn zu diesem Treffen bestellt hatte? Es kam nicht zustande, da der arme Kol- lektionär in einem so unpassenden Moment von einem Podagraanfall heimgesucht wurde. Die Redaktion unterfängt sich nicht, eine eigene Theorie aufzustellen, hält es jedoch für ihre Pflicht, Kommissar Coche auf diesen bemerkenswerten Umstand hinzuweisen. Weitere Mitteilungen zu diesem Thema demnächst.

CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN

Das städtische Gesundheitsamt teilt mit, daß die Herde der Cholera, derer man seit dem Sommer Herr zu werden versucht, endgültig lokalisiert sind. Die energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte haben gegriffen, und man darf hoffen, daß die Epidemie dieser gefährlichen Krankheit, die schon im Juli ausbrach, endlich

»Was soll das?« Renate zog verblüfft die Stirn kraus. »Ein Mord, eine Epidemie.«

»Nun, die Cholera ist in dem Zusammenhang unwichtig«, erklärte Professor Sweetchild. »Die Nachricht ist zufällig mit ausgeschnitten worden. Es geht natürlich um den Mord in der Rue de Grenelle. Haben Sie nicht davon gehört? Von dem Fall haben doch alle Zeitungen berichtet.«

»Ich lese keine Zeitungen«, erklärte Madame Kleber würdevoll. »In meinem Zustand ist das zu enervierend. Ich muß nicht über jede Scheußlichkeit informiert sein.«

»Kommissar Coche?« Leutnant Regnier kniff die Augen ein, nachdem er die Notiz nochmals überflogen hatte. »Das wird doch nicht unser Monsieur Coche sein?«

Miss Stomp ächzte auf.

»Das gibt’s doch nicht!«

Die Frau des Doktors trat herzu. Die Sensation war perfekt, und alle redeten durcheinander: »Polizei, hier ist französische Polizei im Spiel!« rief Milford-Stokes aufgeregt.

Regnier murmelte: »Der Kapitän fragt mich dauernd nach dem Salon >Windsor< aus.«

Der Doktor übersetzte wie immer für seine Frau. Der Russe bemächtigte sich des Ausschnitts und studierte ihn aufmerksam.

»Das mit den indischen Fanatikern ist völliger Unsinn«, erklärte Sweetchild. »Ich habe das von Anfang an gesagt. Erstens gibt es keine blutgierige Sekte von Schiwa-Anhängern. Und zweitens hat sich die Statuette bekanntlich wohlbehalten wieder angefunden. Hätte ein religiöser Fanatiker sie etwa in die Seine geworfen?«

»Ja, das mit dem goldenen Schiwa ist ein Rätsel.« Miss Stomp nickte. »Sie schreiben, er sei die Perle in der Sammlung von Lord Littleby gewesen. Stimmt das, Herr Professor?«

Der Indologe zuckte nachsichtig die Achseln.

»Wie soll ich’s Ihnen sagen, gnädige Frau. Die Sammlung von Lord Littleby ist erst kürzlich entstanden, vor zwanzig Jahren. In solcher Frist ist es schwer, Herausragendes zusammenzutragen. Der Tote soll sich während der Niederschlagung des Sepoy-Aufstands 1857 sehr bereichert haben. Den berüchtigten Schiwa zum Beispiel soll ihm ein Maharadscha >geschenkt< haben, dem wegen Verbindung zu den Meuterern ein militärisches Feldgericht drohte. Zweifelsohne enthielt Lord Littlebys Sammlung etliche Kostbarkeiten, aber die Auswahl war ziemlich chaotisch.«

»Nun erzählen Sie mir doch endlich, warum dieser Lord ermordet wurde«, verlangte Renate. »Monsieur Aono weiß es auch nicht, stimmt’s?« wandte sie sich an den Japaner, der abseits stand.

Der Japaner lächelte nur mit den Lippen und verbeugte sich. Der Russe tat, als applaudiere er.

»Bravo, Madame Kleber. Sie fragen genau auf den Punkt. Ich habe den Fall in der Presse verfolgt. Das Motiv für das Verbrechen ist meiner Meinung nach hier w-wichtiger als alles andere. Da liegt der Schlüssel für die Lösung. Ja, warum? Zu welchem Zweck wurden zehn Menschen ermordet?«

»Ach, grade das ist einfach!« sagte Miss Stomp. »Der Plan war, die wertvollsten Stücke der Sammlung zu rauben, aber der Verbrecher verlor die Nerven, als er unvermittelt auf den Hausherrn traf. Er hatte ja angenommen, der Lord wäre verreist. Es ist wohl ein Unterschied, ob man jemandem eine Spritze gibt oder ob man ihm den Schädel einschlägt. Aber das weiß ich nicht, ich habe es noch nie versucht.« Sie ruckte mit den Schultern. »Die Nerven des Verbrechers haben nachgegeben, und so hat er die Sache nicht zu Ende geführt. Und was den weggeworfenen Schiwa angeht ...« Miss Stomp überlegte. »Vielleicht ist das der schwere Gegenstand, mit welchem dem armen Littleby der Kopf zerschmettert wurde. Es ist durchaus denkbar, daß dem Verbrecher menschliche Gefühle nicht fremd waren und er sich einfach ekelte, vielleicht auch fürchtete, das blutbespritzte Mordwerkzeug in der Hand zu halten. Darum ging er zum Fluß und warf den Schiwa in die Seine.«

»Das mit dem Mordwerkzeug ist sehr wahrscheinlich«, bemerkte der Diplomat. »Ich bin der gleichen M-meinung.«

Die alte Jungfer erglühte vor Freude, wurde jedoch gleich darauf verlegen, als sie Renates spöttischen Blick auffing.

»You are saying outrageous things«, sagte die Frau des Doktors vorwurfsvoll zu Clarissa Stomp, nachdem sie die Übersetzung angehört hatte. »Shouldn’t we find a more sui- table subject for table talk?«[1]

Aber der Appell der farblosen Person verhallte ungehört.

»Ich meine, am rätselhaftesten ist der Tod der Bediensteten!« mischte sich der langschlaksige Indologe in die kriminalistische Diskussion. »Wieso haben die sich die Injektionen geben lassen? Unter ihnen waren immerhin zwei Wächter, und beide hatten einen Revolver umgeschnallt. Da liegt der Hund begraben.«

»Ich habe meine eigene Hypothese«, sagte Regnier mit wichtiger Miene. »Und ich bin bereit, sie wo auch immer zu vertreten. Das Verbrechen in der Rue de Grenelle wurde von einem Menschen verübt, der außergewöhnliche mesmeristi- sche Fähigkeiten besitzt. Die Bediensteten befanden sich in mesmeristischer Trance, das ist die einzig mögliche Erklärung! Der >tierische Magnetismus< ist eine furchtbare Kraft. Ein erfahrener Manipulator kann mit Ihnen machen, was er will. Jaja, Madame«, wandte er sich an die ungläubig guckende Mrs. Truffo. »Wirklich alles.«

»Not if he is dealing with a lady«[2], antwortete sie streng.

Der vom Dolmetschen strapazierte Dr. Truffo wischte sich mit dem Taschentuch die schweißnasse Stirn und trat zur Verteidigung der wissenschaftlichen Weltanschauung an.

»Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein«, sagte er auf französisch mit starkem Akzent. »Die Lehre des Herrn Mesmer gilt seit langem als wissenschaftlich unbegründet. Die Kraft des Mesmerismus oder, wie er jetzt genannt wird, der Hypnose, wird stark übertrieben. Der angesehene Mister James Braid hat überzeugend nachgewiesen, daß nur psychologisch beeinflußbare Individuen der hypnotischen Einwirkung erliegen, und auch nur dann, wenn sie dem Hypnotiseur vertrauen und einer hypnotischen Seance zustimmen.«

»Man merkt sofort, daß Sie noch nicht den Orient bereist haben, lieber Doktor!« Regnier lächelte mit weißen Zähnen. »Auf jedem indischen Basar zeigt Ihnen ein Fakir solche Wunder der mesmeristischen Kunst, daß selbst dem ärgsten Skeptiker die Augen übergehen. Aber das sind Tricks! In Kandahar habe ich einmal einer öffentlichen Exekution zugeschaut. Nach muselmanischem Gesetz wird Diebstahl mit dem Abhacken der rechten Hand geahndet. Diese Prozedur ist dermaßen schmerzhaft, daß die Delinquenten häufig am Schmerzschock sterben. Diesmal wurde ein Kind des Diebstahls überführt. Da der Junge zum zweitenmal erwischt worden war, mußte das Gericht ihm die von der Scharia vorgesehene Strafe auferlegen. Aber der Richter war barmherzig, er ließ einen Derwisch holen, der für seine wundertätigen Fähigkeiten berühmt war. Der Derwisch faßte den

Verurteilten bei den Schläfen, sah ihm in die Augen, flüsterte etwas - und der Junge beruhigte sich, hörte auf zu zittern. Auf seinem Gesicht erschien ein sonderbares Lächeln, das nicht einmal in dem Moment verschwand, als der Henker ihm mit der Axt die Hand bis zum Ellbogen abhackte! Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, ich schwöre es Ihnen!«

»Pfui, wie scheußlich!« rief Renate aufgebracht. »Sie mit Ihrem Orient, Charles! Mir wird gleich schlecht!«

»Verzeihen Sie, Madame Kleber«, rief der Leutnant erschrocken. »Ich wollte nur zeigen, daß verglichen damit irgendwelche Injektionen reine Lappalien sind.«

»Ich erlaube mir schon wieder, anderer Meinung zu sein als Sie.« Der dickköpfige Doktor wollte seinen Standpunkt vertreten, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Salons, und herein kam der Rentier oder Polizist, kurzum, Monsieur Coche.

Alle wandten sich ihm zu, mit einer gewissen Verlegenheit, als wären sie bei einer nicht ganz anständigen Beschäftigung ertappt worden.

Coche überflog mit scharfem Blick die Gesichter, sah den Zeitungsausschnitt in der Hand des Diplomaten und verfinsterte sich.

»Da ist er also . Das hatte ich befürchtet.«

Renate trat zu dem Alten mit dem grauen Schnauzbart, musterte seine massige Gestalt ungläubig von Kopf bis Fuß und schoß heraus: »Monsieur Coche, sind Sie wirklich Polizist?«

»Derselbe Kommissar, der in dem >V-verbrechen des Jahr- hunderts< ermittelt?« präzisierte Fandorin (richtig, so heißt der russische Diplomat, erinnerte sich Renate). »Wie erklären Sie dann Ihre Maskerade und überhaupt Ihre A-an- wesenheit an Bord?«

Coche schnaufte ein wenig, zog die Augenbrauen hoch, griff nach der Pfeife. Man sah förmlich, wie sein Gehirn arbeitete und nach einem Ausweg suchte.

»Nehmen Sie Platz, meine Damen und Herren«, sagte er in nachdrücklichem Baß und verschloß mit einer Schlüsseldrehung hinter sich die Tür. »Wenn es schon so gekommen ist, lassen Sie uns mit offenen Karten spielen. Bitte Platz zu nehmen, sonst passiert es noch, daß dem einen oder anderen die Beine einknicken.«

»Was sollen die Scherze?« sagte der Leutnant verdrossen. »Mit welchem Recht kommandieren Sie uns herum, noch dazu in Anwesenheit des Ersten Offiziers?«

»Das, junger Mann, wird Ihnen der Kapitän persönlich erklären«, sagte Coche mit einem feindseligen Blick. »Er ist im Bilde.«

Regnier gab klein bei und nahm mit den anderen wieder am Tisch Platz.

Der geschwätzige und einfältige Knurrer, als den Renate den Pariser Rentier angesehen hatte, legte ein ganz neues Verhalten an den Tag. Die Schultern zeigten straffe Haltung, die Gesten wurden herrisch, die Augen bekamen einen harten Glanz. Mit welcher Gelassenheit und Selbstsicherheit er die Pause in die Länge zog, allein das sagte viel aus. Sein durchdringender Blick haftete der Reihe nach auf allen Anwesenden, und Renate sah, daß mehrere sich unter diesem schweren Blick duckten. Ihr selbst, das gestand sie sich ein, war auch ein bißchen unheimlich, doch dann schüttelte sie unbekümmert den Kopf: Ja, er war Polizeikommissar, na und? Trotzdem blieb er ein korpulenter, kurzatmiger alter Zausel, mehr nicht.

»Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Monsieur Coche«, sagte sie spöttisch. »Ich darf mich nicht aufregen.«

»Grund zum Aufregen hat hier wohl nur einer der Anwesenden«, antwortete er geheimnisvoll. »Aber davon später. Zunächst erlauben Sie mir, mich noch einmal vorzustellen. Ja, ich heiße Gustave Coche, aber Rentier bin ich leider noch nicht. Ja, meine Damen und Herren, ich bin Kommissar der Pariser Kriminalpolizei und gehöre zu der Abteilung, die sich mit schweren und verworrenen Verbrechen beschäftigt. Ich bin >Ermittlungsführer in besonders wichtigen Fällen<.«

Im Salon herrschte Grabesstille, unterbrochen lediglich vom hastigen Flüstern des Arztes.

»What a scandal!« piepste Mrs. Truffo.

»Ich war gezwungen, diese Reise mitzumachen, noch dazu incognito, denn ...« Coche sog heftig an seiner halberloschenen Pfeife, »denn die Pariser Polizei hat triftige Gründe anzunehmen, daß die Person, die das Verbrechen in der Rue de Grenelle verübte, sich an Bord der >Leviathan< befindet.«

Durch den Salon wehte ein allgemeines »Ach!«.

»Ich vermute, Sie haben über diesen in vieler Hinsicht geheimnisvollen Fall bereits gesprochen.« Der Kommissar wies mit seinem Doppelkinn auf den Zeitungsausschnitt, den Fandorin nach wie vor in der Hand hielt. »Aber das ist noch nicht alles, meine Damen und Herren. Ich weiß zuverlässig, daß der Mörder in der ersten Klasse reist.« (Wieder ein kollektiver Seufzer.) »Mehr noch, er befindet sich in diesem Moment hier im Salon«, schloß Coche munter, setzte sich in einen Atlassessel am Fenster und faltete erwartungsvoll die Finger etwas unterhalb der silbernen Uhrkette.

»Unmöglich!« schrie Renate und griff unwillkürlich mit beiden Händen nach ihrem Bauch.

Leutnant Regnier sprang auf.

Der rothaarige Baronet lachte schallend und applaudierte demonstrativ.

Professor Sweetchild schluckte krampfhaft und nahm die Brille ab.

Clarissa Stomp erstarrte, die Finger auf der Achatbrosche ihres Krägelchens.

Im Gesicht des Japaners zuckte kein Muskel, aber das höfliche Lächeln gerann.

Der Doktor faßte seine Ehehälfte am Ellbogen und vergaß, ihr das Wichtigste zu übersetzen, aber Mrs. Truffo hatte, nach ihren hervorquellenden Augen zu urteilen, von selber begriffen.

Der Diplomat fragte halblaut: »Beweise?«

»Meine Anwesenheit«, antwortete der Kommissar ungerührt. »Das genügt. Es gibt auch andere Erwägungen, aber das brauchen Sie nicht zu wissen ... Nun ja.« Die Stimme des Polizisten klang enttäuscht. »Ich sehe, niemand fällt in Ohnmacht, niemand ruft: >Verhaften Sie mich, ich bin der Mörder!< Damit habe ich natürlich auch nicht gerechnet. Also dann.« Er hob drohend den kurzen Zeigefinger. »Sie dürfen mit keinem der anderen Passagiere darüber sprechen. Das läge auch gar nicht in Ihrem Interesse - das Gerücht würde sich im Nu verbreiten, und man würde Sie ansehen, als hätten Sie die Pest. Versuchen Sie nicht, in einen anderen Salon zu wechseln, das würde nur meinen Verdacht verstärken. Es würde auch nicht klappen, denn ich habe eine Absprache mit dem Kapitän.«

Renate lispelte mit zitternder Stimme: »Lieber Monsieur Coche, können Sie nicht wenigstens mich von diesem Alpdruck befreien? Ich habe Angst, mit einem Mörder an einem Tisch zu sitzen. Womöglich tut er mir Gift in den Tee? Ich kriege ja keinen Bissen mehr herunter. Außerdem darf ich mich nicht aufregen. Ich werde mit niemandem darüber sprechen, mein Ehrenwort!«

»Tut mir leid, Madame Kleber«, antwortete der Kommissar mürrisch, »aber ich kann keine Ausnahme machen. Ich habe gute Gründe, jeden der Anwesenden zu verdächtigen, und nicht zuletzt Sie.«

Renate sank mit schwachem Stöhnen gegen die Stuhllehne. Leutnant Regnier stampfte verärgert mit dem Fuß auf.

»Was erlauben Sie sich, Herr Kommissar! Ich werde das sofort Kapitän Cliff melden!«

»Tun Sie das«, sagte Coche gleichmütig. »Aber nicht sofort, erst etwas später. Ich bin mit meiner kleinen Rede noch nicht fertig. Also, noch weiß ich nicht, wer von Ihnen mein Kunde ist, obwohl ich dem Ziel schon sehr nahe bin.«

Renate hatte erwartet, diesen Worten werde ein vielsagender Blick folgen, und saß vorgebeugt, doch nein, der Kommissar guckte nur auf seine dämliche Pfeife. Wahrscheinlich hatte er geflunkert und war einstweilen niemandem auf der Spur.

»Sie verdächtigen eine Frau, das spürt man doch!« rief Miss Stomp nervös. »Weshalb sonst tragen Sie die Notiz über eine Marie Sansfond bei sich? Wer ist diese Marie Sansfond? Doch wer auch immer! Was für eine Dummheit, eine Frau zu verdächtigen! Ist eine Frau zu solcher Bestialität fähig?«

Mrs. Truffo stand hektisch auf, sichtlich bereit, unter das Banner der weiblichen Solidarität zu treten.

»Über Mademoiselle Sansfond reden wir ein anderes Mal«, antwortete der Kommissar und maß Clarissa Stomp mit einem rätselhaften Blick. »Solche Notizen habe ich en masse bei mir, und jede enthält eine eigene Version.« Er schlug seine Mappe auf und raschelte mit Zeitungsausschnitten. Es waren in der Tat mehr als ein Dutzend. »Und nun Schluß, meine Damen und Herren, ich bitte, mich nicht mehr zu unterbrechen!« Seine Stimme klang eisern. »Ja, unter uns ist ein gefährlicher Verbrecher. Möglicherweise ein Psychopath.« (Renate sah Professor Sweetchild mit seinem Stuhl sacht von Milford-Stokes wegrücken.) »Darum bitte ich Sie alle, Vorsicht walten zu lassen. Wenn Sie etwas Ungewöhnliches wahrnehmen, selbst eine Kleinigkeit - gleich zu mir. Am besten wäre natürlich, wenn der Mörder aufrichtig bereute, er kann ja sowieso nicht weg. Das wäre alles.«

Mrs. Truffo hob wie ein Schulkind die Hand.

»In fact, I have seen something extraordinary only yester- day! A charcoal-black face, definitely inhuman, looked at me from the outside while I was in our cabine! I was so scared!« Sie drehte sich zu ihrem Ehegespons um und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »I told you, but you paid no attention.«[3]

»Ach«, sagte Renate auffahrend, »mir ist gestern aus dem Necessaire ein kleiner Spiegel mit echtem Schildpattrahmen weggekommen.«

Der Psychopath wollte offenbar auch etwas sagen, aber der Kommissar klappte ärgerlich die Mappe zu.

»Halten Sie mich gefälligst nicht für einen Idioten! Gustave Coche ist ein alter Spürhund, den bringt man nicht von seiner Spur ab. Wenn nötig, setzen wir die ganze ehrenwerte Gesellschaft an Land und nehmen uns jeden einzeln vor! Zehn Menschen sind getötet worden, das ist kein Spaß! Denken Sie nach, meine Damen und Herren, denken Sie nach!«

Er verließ den Salon und knallte die Tür hinter sich zu.

»Meine Herrschaften, mir ist schlecht«, hauchte Renate. »Ich gehe in meine Kabine.«

»Ich begleite Sie, Madame Kleber«, sagte Charles Regnier und eilte zu ihr. »Das ist unerhört! Was für eine Frechheit!«

Renate schob ihn weg.

»Nicht nötig, danke. Ich schaff’s schon.«

Unsicheren Schritts durchquerte sie den Raum, lehnte sich bei der Tür für einen Moment an die Wand. Im menschenleeren Korridor beschleunigte sie den Schritt. Sie öffnete die Tür ihrer Kabine, holte unter dem Sofa ihre Reisetasche hervor und schob die zitternde Hand unter das Seidenfutter. Ihr Gesicht war bleich, aber entschlossen. Ihre Finger ertasteten eine kleine Metallschachtel.

Darin blinkte Glas und Stahl - eine Spritze.

CLARISSA STOMP

Die Unannehmlichkeiten begannen schon früh am Morgen. Im Spiegel entdeckte Clarissa zwei neue Falten, kaum erkennbare feine Strahlen, die sich von den Augenwinkeln zu den Schläfen hinzogen. Das lag an der Sonne, die war in diesen Breiten so grell, daß weder der Schirm noch der Hut Schutz boten. Clarissa betrachtete sich lange in der gnadenlosen glatten Fläche und zog mit den Fingern die Haut straff, in der Hoffnung, die Falten könnten vom Schlaf rühren und würden sich wieder glätten. Dann drehte sie den Hals und erspähte hinterm Ohr ein weißes Haar. Da wurde sie ganz traurig. Ob das auch von der Sonne kam? Ob die das Haar ausbleichte? Nein, Miss Stomp, machen Sie sich nichts vor. Wie sagte doch der Dichter?

Und des Novembers kalter weißer

Hauch verströmte Leid, versilberte das Haar.

Sorgfältiger als gewöhnlich machte sie sich zurecht. Das weiße Haar wurde herausgerissen. Das war natürlich dumm. Es war wohl John Donne, der gesagt hatte, das Geheimnis des weiblichen Glücks bestehe in der Fähigkeit, den Übergang aus einem Alter in das andere rechtzeitig zu vollziehen, und die Frau habe drei Alter: Tochter, Gattin und Mutter. Wie aber sollte sie aus dem zweiten Status in den dritten gelangen, wenn sie noch nie verheiratet war?

Das beste Mittel gegen solche Gedanken war ein Spaziergang an der frischen Luft, und Clarissa begab sich an Deck. So gewaltig die »Leviathan« auch war, Clarissa hatte das Schiff längst mit gleichmäßigen bedächtigen Schritten ausgemessen, zumindest das Oberdeck, das für die Passagiere der ersten Klasse reserviert war. Es waren dreihundertfünfundfünfzig Schritte, die dauerten siebeneinhalb Minuten, wenn sie sich nicht in den Anblick der See vertiefte und nicht mit Bekannten schwatzte.

Zu der frühen Stunde waren noch keine Bekannten an Deck, und Clarissa wanderte ungehindert an Steuerbord nach achtern. Der Dampfer durchschnitt ruhig das braune Wasser des Roten Meeres, und von der mächtigen Schraube zog sich eine träge graue Furche bis zum Horizont. Uff, diese Hitze.

Clarissa beobachtete die Matrosen, die ein Deck tiefer das Messingblech der Reling blank putzten. Die hatten es gut in ihren Leinenhosen - kein Mieder, keine lange Unterhose, keine Strümpfe mit straffen Strumpfbändern, kein langes Kleid. Da konnte man neidisch werden auf den exotischen Mr. Aono, der in seinem japanischen Schlafrock herumspazierte, was niemanden verwunderte - ein Asiat eben.

Sie stellte sich vor, wie sie auf der mit Leinen bezogenen Chaiselongue lag und nichts anhatte. Doch, eine leichte Tunika wie eine Griechin der Antike. Und nichts wäre dabei. In hundert Jahren, wenn die Menschheit sich endgültig ihrer Vorurteile entledigt hätte, würde das völlig normal sein.

Ihr entgegen rollte auf seinem amerikanischen Dreirad mit raschelnden Kautschukreifen Mr. Fandorin. Es hieß, diese Übung eigne sich hervorragend dazu, die Muskeln elastisch zu halten und das Herz zu kräftigen. Der Diplomat trug einen leichten Sportanzug: karierte Hose, Guttaperchaschuhe mit Gamaschen, kurze Jacke, weißes Hemd mit offenem Kragen. Das von der Sonne goldbraune Gesicht erstrahlte in einem freundlichen Lächeln. Mr. Fandorin lüpfte ehrerbietig den Korkhelm und rauschte vorüber, ohne anzuhalten.

Clarissa seufzte. Die Idee mit dem Spaziergang war doch nicht so gut - sie war durchgeschwitzt und mußte in die Kabine zurückkehren und sich umziehen.

Das Frühstück vermieste ihr die quengelige Madame Kleber. Erstaunlich deren Fähigkeit, aus ihrer Schwäche ein Ausbeutungswerkzeug zu machen! Gerade als der Kaffee in Cla- rissas Tasse bis zur erwünschten Temperatur abgekühlt war, klagte die unleidliche Schweizerin, ihr sei zu heiß, und bat, ihr das Mieder zu lockern. Clarissa tat gewöhnlich so, als ob sie das Geningel der Kleber nicht hörte, und es fand sich auch stets ein Freiwilliger, doch für solch eine delikate Sache taugten Männer nicht, und Mrs. Truffo war ausgerechnet nicht da, sie half ihrem Mann, eine erkrankte Dame zu behandeln. Die langweilige Person war wohl früher Krankenschwester gewesen. Was für ein sozialer Aufstieg: Jetzt war sie Chefarztgattin, speiste in der ersten Klasse und gerierte sich als echte britische Lady, nur daß sie zu dick auftrug.

Clarissa mußte sich also mit den Schnürbändern der Madame Kleber abplagen, und derweil kühlte ihr Kaffee hoffnungslos ab. Das war natürlich eine Lappalie, aber eines kam zum anderen.

Nach dem Frühstück ging sie spazieren, drehte zehn Runden und ermüdete. Sie benutzte die Gelegenheit, daß kein Mensch in der Nähe war, und lugte vorsichtig ins Fenster der Kabine 18. Mr. Fandorin saß am Sekretär, angetan mit einem weißen Hemd, darüber rot-blau-weiße Hosenträger, eine Zigarre im Mundwinkel, und hämmerte mit den Fingern entsetzlich laut auf einen fremdartigen Apparat ein - schwarz, aus Eisen, mit einer Walze und zahlreichen Knöpfen. Clarissa war gefesselt und verlor die Wachsamkeit, und so wurde sie am Tatort ertappt. Der Diplomat sprang auf, verbeugte sich, warf das Jackett über und trat zum offenen Fenster.

»Das ist eine Sch-schreibmaschine, eine Remington«, erklärte er. »Das neueste Modell, eben erst in den Handel gekommen. Sehr gut zu handhaben, Miss Stomp, und ganz leicht. Zwei Lastträger können sie mühelos tragen. Unentbehrlich auf R-reisen. Ich übe mich eben im Schnellschreiben, indem ich etwas aus Hobbes exzerpiere.«

Clarissa, puterrot vor Verlegenheit, nickte flüchtig und ging.

Sie setzte sich in den Schatten einer gestreiften Markise.

Eine Brise wehte. Clarissa schlug »Die Kartause von Parma« auf und las von der unerwiderten Liebe der schönen, doch alternden Herzogin Sanseverina zu dem jungen Fabrice del Dongo. Die Lektüre stimmte sie sentimental, und sie wischte mit dem Tüchlein eine Träne weg - und ausgerechnet da erschien an Deck Mr. Fandorin: weißer Anzug, breitkrempiger Panamahut, Rohrstock. Er sah außerordentlich gut aus.

Clarissa rief ihn an. Er trat näher, verbeugte sich und nahm neben ihr Platz. Nach einem Blick auf den Buchumschlag sagte er: »Ich w-wette, die Beschreibung der Schlacht bei Waterloo haben Sie ausgelassen. Schade, sie ist die beste Stelle bei Stendhal überhaupt. Eine exaktere Beschreibung des Krieges habe ich noch nirgendwo gelesen.«

Seltsam, Clarissa las »Die Kartause von Parma« zum zweitenmal und hatte tatsächlich die Schlachtszene beide Male überblättert.

»Woher wissen Sie das?« fragte sie neugierig. »Sind Sie Hellseher?«

»Frauen lassen Sch-schlachtszenen immer aus.« Fandorin zuckte die Achseln. »Jedenfalls Frauen Ihrer Art.«

»Was habe ich denn für eine Art?« fragte Clarissa einschmeichelnd und spürte dabei, daß sie zur Koketterie wenig taugte.

»Eine skeptische Einstellung zu sich selbst, eine romantische zur Umwelt.« Er sah sie mit leicht geneigtem Kopf an. »Außerdem läßt sich über Sie sagen, daß es in Ihrem Leben kürzlich eine jähe W-wendung zum Besseren gegeben hat und daß Sie eine Erschütterung überstanden haben.«

Clarissa zuckte zusammen und warf einen verstörten Blick auf ihren Gesprächspartner.

»Erschrecken Sie nicht«, sagte der erstaunliche Diplomat beruhigend. »Ich weiß rein g-gar nichts über Sie. Ich habe lediglich mit Hilfe spezieller Übungen meine Beobachtungsgabe und meine analytischen Fähigkeiten trainiert. Im allgemeinen genügt mir ein unbedeutendes Detail, um das ganze B-bild erstehen zu lassen. Zeigen Sie mir solch ein Scheibchen mit zwei Löchern« (er deutete taktvoll auf einen großen rosa Knopf, der ihre Jacke schmückte), »und ich sage Ihnen, wer es verloren hat.«

Clarissa fragte lächelnd: »Sie durchschauen also jeden?«

»Das nicht, aber vieles sehe ich schon. Was können Sie mir zum Beispiel über den Herrn dort sagen?«

Fandorin wies auf einen korpulenten Mann mit Schnauzbart, der durch ein Fernglas auf die Uferwüste blickte.

»Das ist Mr. Bubble, er .«

»Sprechen Sie nicht weiter«, fiel Fandorin ihr ins Wort. »Ich will selbst dahinterkommen.«

Er musterte Mr. Bubble kurz und sagte dann: »Er reist zum erstenmal in den Orient. Hat unlängst geheiratet. Ist Fabrikant. Seine G-geschäfte gehen nicht gut, er steht wohl kurz vor dem Bankrott. Hält sich die meiste Zeit im Billardzimmer auf, spielt aber schlecht.«

Clarissa war immer stolz auf ihre Beobachtungsgabe gewesen, und sie sah Mr. Bubble, den Industriellen aus Manchester, genauer an.

Fabrikant? Das ließ sich wohl erraten. Wenn er erster Klasse reiste, mußte er vermögend sein. Daß er kein Aristokrat war, stand ihm im Gesicht geschrieben. Wie ein Geschäftsmann sah er auch nicht aus, der Gehrock saß ihm wie ein Sack, und seine Züge zeigten keine Gewandtheit. Na schön.

Unlängst geheiratet? Nun, das war einfach - der Ring an seinem Finger glänzte nagelneu.

Er spielte oft Billard? Wieso? Aha, der Rock war voller Kreidestaub.

»Woher wissen Sie denn, daß er zum erstenmal in den Orient reist?« fragte sie. »Und wieso steht er kurz vor dem Bankrott? Und wie können Sie behaupten, daß er schlecht Billard spielt? Haben Sie ihn denn spielen sehen?«

»Nein, ich war nicht im B-billardzimmer, weil ich Glücksspiele nicht ausstehen kann, und überhaupt sehe ich den Gentleman jetzt zum erstenmal«, antwortete Fandorin. »Daß er diese Route zum erstenmal befährt, geht daraus hervor, mit welch stumpfsinniger Hartnäckigkeit er das kahle Ufer betrachtet. Sonst wüßte er, daß er auf dieser Seite bis Bab el Mandeb nichts Interessantes zu sehen bekommt. Erstens. Um die Geschäfte dieses Herrn muß es scheußlich stehen, sonst würde er sich um keinen Preis auf eine so langwierige Reise eingelassen haben, zumal so kurz nach der Hochzeit. Solch ein D-dachs verläßt seine Höhle erst vor dem Ende der Welt, eher nicht. Zweitens.«

»Und wenn er mit seiner Frau auf Hochzeitsreise ist?« fragte Clarissa, die wußte, daß Mr. Bubble allein reiste.

»Und dann drückt er sich einsam an Deck herum und ist dauernd im B-billardzimmer? Dabei spielt er schlecht, sein Jackett ist vorn ganz weiß. Nur miese Spieler fahren so mit dem Bauch an der Billardkante entlang. Drittens.«

»Nun gut, und was sagen Sie zu der Dame dort?«

Clarissa, von dem Spiel gefesselt, zeigte auf Mrs. Blackpool, die Arm in Arm mit einer Begleiterin vorüberschritt.

Fandorin warf einen desinteressierten Blick auf die ehrenwerte Dame.

»Ihr steht alles im Gesicht geschrieben. Sie kehrt aus England zu ihrem Mann zurück. Von einem Besuch bei ihren erwachsenen Kindern. Ihr Mann ist Offizier. Oberst.«

Mr. Blackpool war tatsächlich Oberst und befehligte eine Garnison in einer nordindischen Stadt. Das war zuviel.

»Erklären Sie!« verlangte Clarissa.

»Solche Damen reisen nicht einfach so nach Indien, sondern nur zum Dienstort ihres Gatten. Und sie ist schon aus dem Alter heraus, in dem man erstmals solch eine R-reise unternimmt - also ist sie auf der Rückfahrt. Was wollte sie in England? Ihre Kinder wiedersehen. Ihre Eltern, will ich mal annehmen, sind schon im Jenseits. Ihrer entschlossenen und herrischen Miene ist anzumerken, daß diese Frau gewöhnt ist zu kommandieren. Genauso sehen die ersten Damen einer Garnison oder eines Regiments aus. Sie haben gewöhnlich mehr Autorität als der Kommandeur. Und warum gerade Oberst? Ganz einfach - wäre sie die Frau eines G-ge- nerals, so würde sie erster Klasse fahren, aber sie, schauen Sie, trägt das Abzeichen in Silber. Doch verschwenden wir nicht unsere Zeit für Lappalien.« Fandorin beugte sich vor und flüsterte: »Ich erzähle Ihnen lieber etwas über den Orang-Utan dort. Ein interessantes Subjekt.«

Neben Mr. Bubble war der affenartige Monsieur Boileau stehengeblieben, der früher auch in dem unglückseligen Salon »Windsor« gespeist, ihn aber rechtzeitig verlassen hatte und so den Netzen des Kommissars Coche entschlüpft war.

Der Diplomat raunte Clarissa ins Ohr: »Der Mann dort ist ein Verbrecher. Wahrscheinlich handelt er mit O-opium. Lebt in Hongkong. Verheiratet mit einer Chinesin.«

Clarissa lachte schallend.

»Jetzt haben Sie aber danebengeschossen! Das ist Monsieur Boileau aus Lyon, ein Philantrop und Vater von elf ganz und gar französischen Kindern. Und handeln tut er nicht mit Opium, sondern mit Tee.«

»Von wegen«, antwortete Fandorin ungerührt. »Schauen Sie, seine Manschette ist verrutscht, und auf dem Handgelenk ist ein tätowierter blauer Ring zu sehen. Solch einen habe ich in einem Buch über China gesehen. Es ist das Erkennungszeichen einer Hongkonger Triade, einer k-krimi- nellen Geheimgesellschaft. Wenn ein Europäer Mitglied der Triade werden will, muß er schon ein Verbrecher von erheblicher Größenordnung sein. Und natürlich mit einer Chinesin verheiratet. Sehen Sie sich nur die Physiognomie dieses >Philantropen< an, dann ist Ihnen alles klar.«

Clarissa wußte nicht recht, ob sie das glauben sollte, doch Fandorin sagte mit ernster Miene: »Das ist kinderleicht, Miss Stomp. Ich kann Ihnen sogar mit v-verbundenen Augen vieles über einen Menschen erzählen - nach seinen Geräuschen, nach seinem Geruch. Überzeugen Sie sich.«

Er nahm die weiße Atlaskrawatte ab und reichte sie Cla- rissa.

Sie befühlte das Gewebe, es war fest und undurchsichtig, und verband damit dem Diplomaten die Augen. Wie zufällig berührte sie dabei seine Wange, die war glatt und heiß.

Gleich darauf kam von achtern her eine ideale Kandidatin, die bekannte Suffragette Lady Campbell, die nach Indien reiste, um Unterschriften für eine Petition zu sammeln, die für verheiratete Frauen das Wahlrecht verlangte. Maskulin, kompakt, mit kurzgeschnittenem Haar, stampfte sie über das Deck wie ein Lastgaul. Wie sollte man da erraten, ob eine Lady kam oder ein Bootsmann?

»Nun, wer kommt da?« fragte Clarissa und bog sich schon vor Lachen.

Aber sie lachte nicht lange.

Fandorin runzelte die Stirn und sagte abgehackt: »Raschelnder Rock. Eine Frau. Sch-schwerer Gang. Starker Charakter. Nicht mehr jung. Nicht schön. Raucht Tabak. Kurzgeschnittenes Haar.«

»Wieso kurzgeschnitten?« kreischte Clarissa, hielt sich die Augen zu und horchte auf den Elefantengang der Suffragette. Wie konnte er das nur alles wissen?

»Wenn eine Frau raucht, hat sie kurzgeschnittenes Haar und ist fortschrittlich«, sagte Fandorin gelassen. »Diese v-verachtet auch noch die Mode, sie trägt ein sackartiges Gewand von giftgrüner Farbe, aber mit einem grellroten Gürtel.«

Clarissa erstarrte. Unglaublich! In abergläubischem Entsetzen nahm sie die Hände vom Gesicht und sah, daß Fan- dorin den Schlips schon wieder mit einem eleganten Knoten um den Hals trug. Seine hellblauen Augen funkelten fröhlich.

All das war ja ganz nett, aber das Gespräch nahm ein schlechtes Ende. Als Clarissa genug gelacht hatte, brachte sie die Unterhaltung raffiniert auf den Krimkrieg, der eine Tragödie für Europa und für Rußland gewesen sei. Vorsichtig streifte sie ihre Erinnerungen an jene Zeit und gab vor, damals noch ein Kind gewesen zu sein. Danach erwartete sie von ihm ähnliche Eröffnungen, denen sie zu entnehmen hoffte, wie alt er sei. Ihre schlimmsten Befürchtungen trafen ein.

»Ich w-war damals noch nicht auf der Welt«, gestand er treuherzig und beschnitt ihr damit die Flügel.

Nun lief alles verquer. Clarissa versuchte es mit der Malerei, verhedderte sich aber und konnte nicht erklären, warum die Präraffaeliten sich Präraffaeliten nannten. Er mußte sie für eine komplette Idiotin halten. Aber was machte das jetzt noch aus!

Traurig kehrte sie zu ihrer Kabine zurück, und da passierte etwas Schreckliches.

In einer halbdunklen Ecke des Korridors wogte ein gigantischer schwarzer Schatten. Clarissa quiekte unanständig auf, griff sich ans Herz und stürzte Hals über Kopf zu ihrer Tür. In der Kabine kam ihr rasend hämmerndes Herz lange nicht zur Ruhe. Was war das gewesen? Kein Mensch, kein Tier. Ein Klumpen böser, zerstörerischer Energie. Das schlechte Gewissen. Ein Phantom des Pariser Alpdrucks.

Sogleich rief sie sich selbst zur Ordnung: Schluß jetzt, das ist vorbei! Gar nichts war. Eine Sinnestäuschung. Sie nahm sich fest vor, sich nicht länger Vorwürfe zu machen. Jetzt war das neue Leben da, licht und freudvoll.

Um sich zu beruhigen, zog sie ihr teuerstes Tageskleid an, das sie noch nie getragen hatte (weiße Chinaseide mit einer blaßgrünen Schleife hinten), und legte das Smaragdkollier um. Sie liebäugelte mit dem Glanz der Steine.

Gut, jung war sie nicht mehr, schön war sie auch nicht. Dafür war sie nicht dumm und hatte Geld.

Den Salon »Windsor« betrat Clarissa um punkt zwei, doch alle waren schon beisammen. Merkwürdig, die gestrige umwerfende Bekanntmachung des Kommissars hatte die Gesellschaft nicht entzweit, sondern eher zusammengeschweißt. Ein gemeinsames Geheimnis, das niemandem mitgeteilt werden darf, bindet dauerhafter als eine gemeinsame Aufgabe oder ein gemeinsames Interesse. Clarissa stellte fest, daß ihre Tischgenossen sich jetzt schon vor der festgesetzten Zeit zu den Mahlzeiten einfanden und daß sie danach noch zusammensaßen, was bisher kaum vorgekommen war. Selbst der Erste Offizier, der nur indirekt mit dieser Geschichte zu tun hatte, eilte nicht zu seinen dienstlichen Obliegenheiten, sondern blieb mit den übrigen lange im »Windsor« (wozu er möglicherweise vom Kapitän beauftragt war). Die »Windsors« waren nun gleichsam Mitglieder eines Eliteklubs, der Uneingeweihten verschlossen war. Clarissa fing mehr als einmal verstohlene Blicke auf. Diese konnten nur zweierlei bedeuten: entweder »Sind Sie die Mörderin?« oder »Haben Sie erraten, daß ich der Mörder bin?« Jedesmal, wenn dies geschah, spürte sie tief im Bauch einen wohligen Krampf, ein Gemisch von Angst und Erregung. Vor ihren Augen erschien die Rue de Grenelle, so wie sie abends aussah: schmeichlerisch still und menschenleer, und schwarze Kastanienbäume wiegten ihre kahlen Zweige. Es fehlte bloß noch, daß der Kommissar die Geschichte im »Ambassadeur« ausschnüffelte. Allein bei dem Gedanken gruselte es Clarissa, und sie warf heimliche Blicke auf den Polizisten.

Coche thronte an der Tafel wie der Oberpriester dieser Geheimsekte. Alle waren sich seiner Anwesenheit ständig bewußt, sie beobachteten aus den Augenwinkeln seinen Gesichtsausdruck, doch Coche schien das nicht zu bemerken. Er spielte den gutmütigen Schwadroneur und erzählte bereitwillig seine Geschichten, die mit gespannter Aufmerksamkeit angehört wurden.

Nach stillschweigender Übereinkunft wurde über DAS nur im Salon und nur in Gegenwart des Kommissars gesprochen. Wenn zwei »Windsors« zufällig auf neutralem Boden zusammentrafen - im Musiksalon, an Deck, im Lesesaal -, wurde nie DARÜBER geredet. Auch im Salon kam das verführerische Thema nicht jedesmal zur Sprache. Und wenn, dann geschah es irgendwie von selbst, ausgelöst durch eine ganz abseitige Bemerkung.

Heute früh zum Beispiel war eine allgemeine Unterhaltung nicht zustandegekommen, doch als Clarissa jetzt Platz nahm, war die Erörterung bereits in vollem Gange. Mit ge- langweilter Miene studierte sie die Speisekarte, wie um zu memorieren, was sie zum Mittagessen bestellt hatte, doch die wohlbekannte Erregung war schon da.

»Was mir keine Ruhe läßt«, sagte Doktor Truffo, »ist die unerhörte Sinnlosigkeit dieses Verbrechens. So viele Menschen mußten sterben für nichts und wieder nichts. Der goldene Schiwa landete in der Seine, und der Mörder steht mit leeren Händen da.«

Fandorin, der sich nur selten an den Debatten beteiligte, hielt es diesmal für nötig, sich zu äußern.

»Nicht ganz. Ein T-tuch hat er behalten.«

»Was für ein Tuch?« fragte der Doktor verständnislos.

»Ein indisches, bunt bemalt. Darin hatte der Mörder, wenn man den Zeitungen glauben darf, den geraubten Schiwa eingewickelt.«

Der Scherz wurde mit nervösem Gelächter aufgenommen.

Der Arzt breitete theatralisch die Arme aus.

»Ein Tuch, was ist das schon.«

Plötzlich fuhr Professor Sweetchild zusammen und riß die Brille von der Nase, bei ihm ein Zeichen starker Erregung.

»Lachen Sie nicht! Ich habe mich dafür interessiert, welches der Tücher geraubt wurde. Oh, meine Herrschaften, das ist ein ungewöhnliches Stück Stoff, daran hängt eine ganze Geschichte. Haben Sie mal von dem Smaragdenen Radscha gehört?«

»Ist das nicht ein legendärer indischer Nabob?« fragte Clarissa.

»Nicht legendär, sondern ganz real, Madame. So wurde der Radscha Bagdassar genannt, der Herrscher des Fürstentums Brahmapur. Das Fürstentum liegt in einem weiten fruchtbaren Tal und ist ringsum von Bergen umschlossen. Die Radschas führen ihre Herkunft auf den großen Babur zurück und bekennen sich zum Islam, doch das hat sie nicht gehindert, ihr kleines Land dreihundert Jahre lang friedlich zu regieren, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung aus Hindus besteht. Trotz der Religionsunterschiede zwischen der herrschenden Kaste und den Untertanen gab es in dem Fürstentum niemals Aufstände oder Zwistigkeiten, die Radschas wurden immer reicher, und in der Regierungszeit Bagdassars galt das Herrscherhaus von Brahmapur als das reichste von ganz Indien nach dem Nizam von Haidarabad, dessen Reichtum, wie Sie natürlich wissen, denjenigen aller Monarchen in den Schatten stellt, eingeschlossen Königin Victoria und den russischen Imperator Alexander.«

»Die Größe unserer Königin mißt sich nicht an ihrer Schatzkammer, sondern an dem Reichtum ihrer Untertanen«, sagte Clarissa streng, ein wenig pikiert über die Bemerkung Sweetchilds.

»Zweifellos«, pflichtete der Professor ihr bei und war nicht mehr zu bremsen. »Aber der Reichtum der Radschas von

Brahmapur war von ganz besonderer Art. Sie häuften kein Gold, kein Silber, bauten keine Paläste aus rosa Marmor. O nein, diese Herrscher kannten dreihundert Jahre lang nur eine Leidenschaft - Edelsteine. Wissen Sie, was der >Brahmapurer Standard< ist?«

»Ist das nicht ein Brillantschliff?« fragte Doktor Truffo unsicher.

»Der >Brahmapurer Standard< ist ein Juwelierausdruck. Damit bezeichnet man Diamanten, Saphire, Rubine oder Smaragde, die auf besondere Weise geschliffen sind und die Größe einer Walnuß haben, das entspricht achtzig Karat Gewicht.«

»Aber das ist sehr groß«, sagte Regnier verwundert. »Solche Steine kommen äußerst selten vor. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, ist selbst der Diamant >Regent<, Juwel des französischen Staatsschatzes, nur wenig größer.«

»Nein, Leutnant, der Diamant >Pitt<, auch >Regent< genannt, ist fast doppelt so groß«, korrigierte der Professor den Seeman mit autoritärer Miene, »aber achtzig Karat, namentlich bei Steinen reinen Wassers, das ist sehr viel. Also, meine Herrschaften, stellen Sie sich vor, Bagdassar hatte von solchen Steinen, noch dazu in makelloser Qualität, fünfhundertzwölf Stück!«

»Ausgeschlossen!« rief Milford-Stokes.

Und Fandorin fragte: »Warum gerade f-fünfhundert- zwölf?«

»Wegen der heiligen Zahl 8«, erklärte Sweetchild bereitwillig. »512 - das ist 8 x 8 x 8, das heißt, eine Acht in der dritten Potenz, eine Kubikzahl, eine sogenannte Idealzahl. Hier zeigt sich ohne Zweifel der Einfluß des Buddhismus, der die Acht besonders verehrt. Im nordöstlichen Teil von Indien, wo Brahmapur liegt, sind die Religionen aufs wunderlichste miteinander verquickt. Aber am interessantesten ist, wo und wie dieser Schatz aufbewahrt wurde.«

»Nämlich?« fragte Renate Kleber.

»In einer einfachen, schmucklosen irdenen Schatulle. 1852 war ich als junger Archäologe in Brahmapur und hatte mehrere Begegnungen mit dem Radscha Bagdassar. Auf dem Territorium des Fürstentums waren im Dschungel die Ruinen eines alten Tempels entdeckt worden, und Seine Hoheit luden mich ein, den Fund zu begutachten. Ich führte die notwendigen Untersuchungen durch, und was meinen Sie? Ich stellte fest, daß dieser Tempel schon in der Zeit des Herrschers Sandragupta gebaut worden war, als .«

»Stop-stop-stop!« unterbrach der Kommissar den Gelehrten. »Von der Archäologie können Sie uns ein andermal erzählen. Zurück zu dem Radscha.«

»Na gut.« Der Professor blinzelte. »Das ist wirklich besser. Also, der Radscha war mit mir zufrieden und zeigte mir als Zeichen besonderen Wohlwollens seine legendäre Schatulle. Oh, diesen Anblick werde ich nie vergessen!« Sweetchild kniff die Augen zu. »Stellen Sie sich ein unterirdisches Gewölbe vor. Neben der Tür brennt eine einzige Fackel, die in einem bronzenen Halter steckt. Wir waren zu zweit - der Radscha und ich, seine Vertrauten waren vor der massiven Tür zurückgeblieben, die von einem Dutzend Wächter bewacht wurde. Ich konnte die Einrichtung der Schatzkammer nicht erkennen, meine Augen hatten sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Ich hörte nur, wie Seine Hoheit klirrende Schlösser öffnete. Dann wandte sich Bagdassar mir zu, und ich sah in seinen Händen einen erdfarbenen Kubus, der sehr schwer zu sein schien. Die Größe ...« Sweetchild öffnete die Augen und blickte sich um. Alle hörten wie verzaubert zu, Renate Kleber sogar mit kindlich geöffnetem Mund.

»Ich weiß nicht recht. Vielleicht so groß wie der Hut von Miss Stomp, wenn man ihn in eine quadratische Schachtel legt.« Alle starrten wie auf Kommando den Tiroler Hut mit der Fasanenfeder an. Clarissa Stomp ertrug die allgemeine Musterung mit einem würdevollen Lächeln, wie man es ihr als Kind beigebracht hatte. »Der Kubus ähnelte einem gewöhnlichen Lehmziegel, wie sie dort zum Bauen verwendet werden. Später erklärte mir der Radscha, daß die derbe, monotone Lehmoberfläche das prachtvolle Licht- und Farbenspiel der Edelsteine bedeutend besser hervorhebt als Gold oder Elfenbein. Davon konnte ich mich überzeugen. Bag- dassar legte langsam die mit Ringen übersäte Hand auf den Deckel der Schatulle, hob ihn mit einer schnellen Bewegung, und ... Ich war geblendet, meine Herrschaften!« Die Stimme des Professors zitterte. »Das ... Das läßt sich nicht mit Worten beschreiben! Ein geheimnisvoller, funkelnder, vielfarbiger Glanz brach aus dem dunklen Kubus und warf bunte Blinklichter auf die düsteren Gewölbe des Kellers. Die runden Steine lagen in acht Schichten, deren jede aus vierundsechzig geschliffenen Quellen des unglaublichen Strahlens bestand. Der Effekt wurde zweifellos verstärkt durch die flackernde Flamme der einzigen Fackel. Noch immer sehe ich vor mir das Gesicht von Radscha Bagdassar, angestrahlt von dem Zauberlicht .«

Der Gelehrte schloß wieder die Augen und verstummte.

»Wieviel sind denn diese bunten Steinchen wert?« fragte der Kommissar mit knarrender Stimme.

»Ja, wirklich, wieviel wohl?« griff Madame Kleber die Frage auf. »Sagen wir, in englischen Pfund.«

Clarissa hörte Mrs. Truffo vernehmlich ihrem Mann zuflüstern: »She’s so vulgar!«

»Wissen Sie«, sagte Sweetchild mit gutmütigem Lächeln,

»die Frage habe ich mir auch gestellt. Sie zu beantworten ist nicht einfach, denn der Preis von Edelsteinen schwankt je nach den Marktbedingungen, und der heutige Stand ...«

»Ja, ja, der heutige, nicht der des Herrschers Sandragupta«, knurrte Coche.

»Hm . Ich weiß nicht genau, wieviel Brillanten, wieviel Saphire und wieviel Rubine der Radscha besaß. Aber mir ist bekannt, daß er am meisten Smaragde schätzte, was ihm auch seinen Beinamen eintrug. In den Jahren seiner Regierung wurden sieben brasilianische und vier Uralsmaragde erworben: für jeden gab Bagdassar einen Brillanten her und zahlte noch drauf. Schauen Sie, jeder seiner Vorfahren hatte seinen Lieblingsstein, den er allen anderen vorzog und vor allen anderen zu erwerben trachtete. Die magische Zahl 512 wurde schon unter Bagdassars Großvater erreicht, und seitdem war es nicht das Ziel des Herrschers, die Zahl der Steine zu vermehren, sondern die Qualität zu verbessern. Steine, die nicht ganz vollkommen waren oder aus anderen Gründen nicht das Wohlwollen des regierenden Fürsten fanden, wurden verkauft - daher der Ruhm des >Brahmapurer Standards<, der sich nach und nach in der Welt verbreitet hat. Dafür kamen dann andere, wertvollere Steine in die Schatulle. Diese Besessenheit brachte Bagdassars Vorfahren um den Verstand. Einer von ihnen kaufte dem persischen Schah Abbas dem Großen einen gelben Saphir von hundertfünfzig Karat ab und bezahlte für dieses Wunderding zehn Karawanen Elfenbein, aber der Stein war größer als vorgeschrieben, darum haben die Juweliere des Radschas alles Überflüssige abgeschnitten.«

»Das ist natürlich furchtbar«, sagte der Kommissar, »kehren wir dennoch zu dem Preis zurück.«

Aber diesmal ließ sich der Indologe nicht so einfach in die gewünschte Richtung drängen.

»So warten Sie doch!« wehrte er den Kommissar unhöflich ab. »Geht es denn um den Preis? Wenn von einem Edelstein dieser Größe und Qualität die Rede ist, denkt man nicht an Geld, sondern an die Zauberkräfte, die ihm seit alters zugeschrieben werden. Der Diamant etwa gilt als Symbol der Reinheit. Unsere Vorfahren prüften die Treue ihrer Frauen so: Sie legten der schlafenden Gattin einen Diamanten unters Kissen. War sie treu, so wandte sie sich sogleich, ohne aufzuwachen, ihrem Manne zu und umarmte ihn. Betrog sie ihn aber, so wälzte sie sich hin und her, bis der Stein zu Boden fiel. Außerdem galt der Diamant als Garant der Unbesiegbarkeit. Die alten Araber glaubten, in einer Schlacht werde derjenige Feldherr siegen, der den größeren Diamanten besitze.«

»Die alten Alabel illten sich«, fiel plötzlich Gintaro Aono dem eifrigen Redner ins Wort.

Alle blickten verblüfft den Japaner an, der sich sehr selten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligte und noch nie jemanden unterbrochen hatte. Der Asiat aber fuhr hastig mit seinem lustigen Akzent fort: »In del Akademie von Saint- Cyr haben sie uns beigeblacht, daß del bulgundische Helzog Kall del Kühne in die Schlacht gegen die Eidgenossen den liesigen Diamanten >Flolentinel< mitnahm, was ihn jedoch nicht vol del Niedellage bewahlte.«

Der Ärmste tat Clarissa leid, er hatte mit seinen Kenntnissen glänzen wollen und das so unpassend.

Der Einwurf des Japaners wurde mit Grabesschweigen aufgenommen, und Aono errötete qualvoll.

»Ja, gewiß, Karl der Kühne.« Der Professor nickte mißmutig und sprach ohne den bisherigen Schwung weiter: »Der Saphir symbolisiert Treue und Beständigkeit, der Smaragd verleiht Weitsicht, der Rubin schützt vor Krankheiten und dem bösen Blick . Aber Sie fragten nach dem Wert der Schätze Bagdassars?«

»Ich verstehe, daß die Summe märchenhaft hoch ist, aber könnten Sie nicht wenigstens annähernd sagen, wie viele Nullen das sind?« sagte Madame Kleber, als spräche sie zu einem dummen Schüler, ein übriges Mal demonstrierend, daß sie eine Bankiersgattin war.

Clarissa hätte mit Vergnügen mehr über die Zauberkräfte der Edelsteine erfahren. Das Thema Geld interessierte sie nicht, das war ihr zu vulgär.

»Also, dann wollen wir mal schätzen.« Sweetchild zückte einen Bleistift und schrieb auf einer Papierserviette. »Früher galt der Diamant als der teuerste Stein, doch seit der Entdeckung der südafrikanischen Lagerstätten ist der Preis spürbar gesunken. Große Saphire werden öfter gefunden als andere Edelsteine, darum sind sie im Schnitt viermal weniger wert als Diamanten, doch das gilt nicht für gelbe und für Sternsaphire, und gerade die waren in Bagdassars Sammlung überwiegend vertreten. Reine Rubine und Smaragde von Übergröße sind äußerst selten und werden höher bewertet als Brillanten gleichen Gewichts . Gut, stellen wir uns der Einfachheit halber vor, alle 512 Steine wären Brillanten. Jeder wiegt, wie gesagt, 80 Karat. Nach der Formel von Taver- nier, nach der sich die Juweliere der ganzen Welt richten, wird der Wert eines Steins folgendermaßen errechnet: Der Marktpreis eines einkarätigen Diamanten wird multipliziert mit dem Quadrat der Karatzahl des Steins. Das ergibt . Ein ein- karätiger Diamant kostet an der Antwerpener Börse cirka fünfzehn Pfund. Das Quadrat von achtzig ist sechstausendvierhundert. Multipliziert mit fünfzehn . Hm . Sechsundneunzigtausend Pfund Sterling - das ist der Wert eines mittleren Steins aus Bagdassars Schatulle . Multipliziert mit fünfhundertzwölf . Ungefähr fünfzig Millionen Pfund Sterling. In Wirklichkeit noch mehr, denn wie ich Ihnen erklärte, werden farbige Steine dieser Größenordnung höher als Diamanten bewertet«, schloß Sweetchild feierlich seine Bilanz.

»Fünfzig Millionen? So viel?« fragte Regnier heiser. »Aber das sind ja anderthalb Milliarden Francs!«

Clarissa verschlug es den Atem, sie dachte nicht mehr an die romantischen Eigenschaften der Steine, sondern war erschüttert von der astronomischen Summe.

»Fünfzig Millionen! Das ist ja das halbe Jahresbudget des gesamten britischen Empire!« ächzte sie.

»Dreimal der Suezkanal!« murmelte der rothaarige Milford-Stokes. »Sogar noch mehr!«

Der Kommissar nahm auch eine Serviette und vertiefte sich in Berechnungen.

»Das ist mein Gehalt für dreihunderttausend Jahre«, sagte er verwirrt. »Haben Sie nicht zu dick aufgetragen, Professor? Ein kleiner regionaler Herrscher soll derartige Schätze besitzen?«

Stolz, als gehörten ihm alle Reichtümer Indiens persönlich, antwortete Sweetchild: »Das ist noch gar nichts! Die Kostbarkeiten des Nizam von Haidarabad werden auf dreihundert Millionen geschätzt, nur passen die nicht in eine kleine Schatulle. An Kompaktheit aber war der Schatz Bag- dassars wirklich einzigartig.«

Fandorin berührte den Indologen vorsichtig am Ärmel. »Gleichwohl nehme ich a-an, daß diese Summe einen etwas abstrakten Charakter trägt. Es würde schwerlich jemandem gelingen, eine solche Menge g-gigantischer Edelsteine mit einem Schlag zu verkaufen. Das würde ja den Marktpreis drücken.«

»Ihre Überlegung ist unzutreffend, Monsieur Diplomat«, erwiderte der Gelehrte lebhaft. »Das Prestige des >Brah- mapurer Standards< ist so hoch, daß man sich vor Kaufinteressenten nicht retten könnte. Ich bin überzeugt, daß mindestens die Hälfte der Steine in Indien bliebe - einheimische Fürsten würden sie aufkaufen, in erster Linie der erwähnte Nizam. Um die restlichen Steine würden die Bankhäuser von Europa und Amerika sich prügeln, und auch die europäischen Monarchen würden kaum die Gelegenheit versäumen, ihre Schatzkammern mit den Brahmapurer Meisterwerken zu schmücken. Oh, wenn Bagdassar gewollt hätte, würde er den Inhalt seiner Schatulle in wenigen Wochen losgeschlagen haben.«

»Sie reden über diesen Mann immer nur in der V-vergan- genheit«, bemerkte Fandorin. »Ist er tot? Was ist aus der Schatulle geworden?«

»Das weiß leider niemand. Bagdassar nahm ein tragisches Ende. Während des Sepoy-Aufstands beging der Radscha die Unvorsichtigkeit, mit den Empörern Geheimverhandlungen aufzunehmen, und der Vizekönig erklärte Brahmapur zum feindlichen Territorium. Böse Zungen behaupteten, Britannien habe einfach die Schätze Bagdassars an sich bringen wollen, aber das stimmt natürlich nicht, solcher Methoden bedienen wir Engländer uns nicht.«

»O doch.« Regnier nickte mit bösem Lächeln und wechselte einen Blick mit dem Kommissar.

Clarissa sah Fandorin unauffällig an - war der etwa auch vom Bazillus der Anglophobie infiziert? Aber der russische Diplomat saß mit unbewegter Miene da.

»Eine Schwadron Dragoner wurde in den Palast Bagdas- sars entsandt. Der Radscha versuchte, nach Afghanistan zu fliehen, aber die Kavallerie holte ihn bei einer Furt über den

Ganges ein. Sich verhaften zu lassen, das war unter Bagdassars Würde, und er nahm Gift. Die Schatulle hatte er nicht bei sich, nur ein Bündel mit einer Notiz in englischer Sprache. Sie war an die britischen Behörden gerichtet. Darin beschwor der Radscha seine Unschuld und bat, das Bündel seinem einzigen Sohn zukommen zu lassen. Der Junge wurde irgendwo in Europa in einem privaten Internat erzogen. Bei den indischen Würdenträgern neuerer Denkart ist das ganz normal. Ich muß erwähnen, daß Bagdassar sich keineswegs gegen die Einflüsse der Zivilisation sperrte. Er war mehrmals nach London und Paris gereist und hatte sogar eine Französin geehelicht.«

»Ach, wie ungewöhnlich!« rief Clarissa. »Mit einem indischen Radscha verheiratet zu sein! Was ist aus ihr geworden?«

»Zum Teufel mit ihr, erzählen Sie lieber von dem Bündel!« sagte der Kommissar ungeduldig. »Was war dann?«

»Rein gar nichts von Interesse.« Der Professor zuckte bedauernd die Achseln. »Ein Koran-Bändchen. Die Schatulle blieb spurlos verschwunden, obwohl sie überall gesucht wurde.«

»War es ein gewöhnlicher Koran?« fragte Fandorin.

»Ein ganz gewöhnlicher. In einer Bombayer Offizin gedruckt, mit frommen Randbemerkungen des Verblichenen. Der Schwadronskommandeur glaubte den Koran bestimmungsgemäß expedieren zu dürfen und behielt zur Erinnerung das Tuch, in das der Koran gewickelt war. Später wurde das Tuch von Lord Littleby erworben und in seine Sammlung indischer Seidenmalerei aufgenommen.«

Der Kommissar präzisierte: »Das Tuch, in das der Mörder den Schiwa eingewickelt hat?«

»Genau. Es ist in der Tat ein ungewöhnliches Tuch. Aus hauchdünner, federleichter Seide. Die Zeichnung ist recht trivial - ein lieblich singender Paradiesvogel, aber es gibt zwei einzigartige Besonderheiten, die ich noch auf keinem anderen indischen Tuch gesehen habe. Erstens hat der Vogel statt des Auges ein Löchlein, dessen Ränder in feinster Juwelierarbeit mit Brokatfaden umsäumt sind. Zweitens hat das Tuch eine interessante Form - ein unregelmäßiges Dreieck: zwei Seiten gewellt, eine vollkommen gerade.«

»Ist das Tuch sehr w-wertvoll?« fragte Fandorin.

»Na, das Tuch ist ganz uninteressant«, sagte Madame Kleber mit launisch vorgeschobener Unterlippe. »Erzählen Sie lieber von den Juwelen! Man hätte gründlicher suchen sollen.«

Sweetchild lachte.

»Oh, Madame, Sie haben keine Vorstellung, wie sorgfältig der neue Radscha gesucht hat! Er hatte uns während des Se- poy-Kriegs unschätzbare Dienste geleistet und erhielt als Belohnung den Thron von Brahmapur. Dem Ärmsten trübte sich vor Habgier das Urteilsvermögen. Ein Schlaukopf flüsterte ihm ein, Bagdassar habe die Schatulle in die Wand eines der Häuser eingemauert. Da die Schatulle tatsächlich nach Größe und Aussehen einem gewöhnlichen Lehmziegel glich, befahl der neue Radscha, alle Gebäude, die aus diesem Baumaterial errichtet waren, auseinanderzunehmen. Die Häuser wurden eines nach dem anderen abgetragen, und jeder Ziegel wurde unter der persönlichen Aufsicht des Herrschers zerschlagen. Da in Brahmapur neunzig Prozent aller Bauten aus Lehmziegeln bestanden, verwandelte sich die blühende Stadt binnen weniger Monate in einen Trümmerhaufen. Der wahnsinnige Radscha wurde von seinen eigenen Angehörigen vergiftet, da sie einen Aufstand der Bevölkerung befürchteten, ärger als die Empörung der Sepoys.«

»Das hat er verdient, der Judas«, sagte Regnier gefühlvoll. »Es gibt nichts Schlimmeres als Verrat.«

Fandorin wiederholte geduldig seine Frage: »Also, ist das Tuch sehr w-wertvoll, Professor?«

»Ich glaube nicht. Es ist eher eine Rarität, ein Kuriosum.«

»Und warum wurde immer wieder etwas darin eingewickelt, mal der Koran, mal der Schiwa? Hat das Stück Seide vielleicht eine sakrale Bedeutung?«

»Das habe ich nie gehört. Zufall.«

Kommissar Coche stand ächzend auf und reckte die Schultern.

»Tja, interessante Geschichte, aber für unsere Untersuchung gibt sie leider nichts her. Der Mörder wird diesen Lappen kaum als sentimentales Souvenir mit sich herumtragen.« Träumerisch fügte er hinzu: »Das wäre nicht schlecht. Einer von Ihnen, verehrte Verdächtige, holt das Seidentuch mit dem Paradiesvogel aus Zerstreutheit hervor und schneuzt hinein. Dann wüßte der alte Coche, was er zu tun hätte.«

Der Fahnder lachte, er schien seinen Scherz für geistreich zu halten. Clarissa sah den Grobian mißbilligend an. Der fing ihren Blick auf und verengte die Augen.

»Apropos, Mademoiselle Stomp, Ihr hübscher Hut ist der letzte Pariser Schrei. Wann waren Sie das letztemal in Paris?«

Clarissa straffte sich innerlich und antwortete in eisigem Ton: »Den Hut habe ich in London gekauft, Kommissar. Und in Paris war ich noch nie.«

Wo guckte denn Fandorin so gebannt hin? Clarissa folgte seinem Blick und erbleichte.

Der Diplomat hatte ihren Fächer aus Straußenfedern betrachtet, auf dessen Elfenbeingriff mit Goldbuchstaben stand: Meilleurs Souvenirs! Hotel »Ambassadeur«. Rue de Grenelle, Paris.

Welch unverzeihlicher Fehler!

GINTARO AONO

5. Tag des 4. Monats Angesichts der Küste von Eritrea

Unten ein grüner Streifen Meer,

In der Mitte ein gelber Streifen Sand,

Darüber ein blauer Streifen Himmel.

Das sind die Farben

Der Fahne von Afrika.

Dieser triviale Fünfzeiler ist die Frucht meiner andert- halbstündigen Bemühungen um seelische Harmonie. Die verdammte Harmonie wollte und wollte nicht zurückkehren.

Ich saß allein auf Deck, blickte auf das trostlose Gestade von Afrika und empfand schärfer als je zuvor meine grenzenlose Einsamkeit. Ein Glück, daß ich seit meiner Kindheit die schöne Gewohnheit habe, Tagebuch zu führen. Als ich vor sieben Jahren zum Studium in das ferne Land Furansu reiste, träumte ich insgeheim davon, daß mein Reisetagebuch eines Tages veröffentlicht wird und mir und dem ganzen Geschlecht der Aonos Ruhm einbringt. Doch leider ist mein Geist gar zu unvollkommen, und meine Gefühle sind gar zu gewöhnlich, als daß diese kläglichen Blätter mit der großen Tagebuchliteratur früherer Zeiten wetteifern könnten.

Gleichwohl hätte ich ohne diese täglichen Aufzeichnungen wohl schon längst den Verstand verloren.

Selbst hier auf dem Schiff, das nach Ostasien fährt, sind nur zwei Vertreter der gelben Rasse - ich und ein chinesischer Eunuch, Hofbeamter 11. Ranges, der nach Paris gereist war, um Parfümeriewaren und kosmetische Neuheiten für die Kaiserin Tz’u-Hsi einzukaufen. Aus Sparsamkeit reist er zweiter Klasse und geniert sich deswegen sehr, und unser Gespräch brach in dem Moment ab, als er mitbekam, daß ich in der ersten reise. Welche Schmach für China! Ich an Stelle des Beamten wäre sicherlich vor Demütigung gestorben. Jeder von uns beiden repräsentiert ja auf diesem europäischen Schiff eine asiatische Großmacht. Ich verstehe den Seelenzustand des Beamten, und doch tut es mir sehr leid, daß er aus Scham seine enge Kabine nicht verläßt - wir könnten miteinander reden. Das heißt natürlich, nicht reden, sondern uns mittels Pinsel und Papier verständigen. Zwar sprechen wir verschiedene Sprachen, aber die Hieroglyphen sind ja die gleichen.

Macht nichts, sage ich mir, halte durch. Es dauert ja nicht mehr lange. In knapp einem Monat sehe ich die Lichter von Nagasaki, und von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zu meiner Heimat Kagoshima. Und wenn auch meine Heimkehr mir Schande und Erniedrigung verheißt, und wenn ich auch zum Gespött meiner Freunde werde, Hauptsache, wieder zu Hause! Schließlich wird es niemand wagen, mich offen zu verachten, alle wissen ja, daß ich den Willen meines Vaters erfüllt habe, und über Befehle diskutiert man bekanntlich nicht. Ich tat, was ich tun mußte und wozu ich verpflichtet war. Mein Leben ist zugrunde gerichtet, aber wenn das für das Wohl Japans notwendig ist... Doch Schluß, genug davon!

Wer hätte denken können, daß die Rückkehr in die Heimat, die letzte Etappe siebenjähriger Prüfungen, so schwierig sein würde?

In Frankreich konnte ich wenigstens meine Nahrung in Einsamkeit zu mir nehmen, konnte meine Spaziergänge und die

Natur genießen. Hier auf dem Dampfer dagegen komme ich mir vor wie ein Reiskorn, das irrtümlich in eine Schüssel Nudeln geraten ist. Sieben Jahre habe ich unter rothaarigen Barbaren gelebt und mich nicht an einige ihrer scheußlichen Gepflogenheiten gewöhnen können. Wenn ich sehe, wie die überfeinerte Kleber-san mit dem Messer ein blutiges Beefsteak zerschneidet und sich hinterher mit dem rosigen Zünglein die geschminkten Lippen leckt, wird mir schlecht. Und dann diese englischen Waschbecken, deren Abfluß man mit einem Korken verschließt, so daß man sich das Gesicht mit schmutzigem Wasser waschen muß! Und die alptraumhafte, von einem perversen Geist erfundene Kleidung! Darin fühlt man sich wie ein in Ölpapier gewickelter Karpfen, der auf Kohlenglut geröstet wird. Am meisten hasse ich die gestärkten Kragen, von denen man roten Ausschlag am Kinn bekommt, und die Lederschuhe, die Folterwerkzeuge sind. Mit dem Recht des wilden Asiaten erlaube ich mir, in einem leichten Yukata an Deck zu spazieren, doch meine unglücklichen Tischnachbarn schwitzen von früh bis spät in ihrer Kleidung. Meine sensible Nase leidet sehr unter dem scharfen, fettigen Geruch des europäischen Schweißes. Entsetzlich ist auch die Gepflogenheit der Rundäugigen, sich in Taschentücher zu schneuzen, diese mit dem Rotz wieder in die Tasche zu stecken, sie erneut hervorzuholen und nochmals zu benutzen. Zu Hause wird man mir das nicht glauben, sondern denken, ich hätte mir das ausgedacht. Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht tragen die Damen bei uns inzwischen auch schon die lächerlichen Turnüren auf dem Hintern und humpeln stolpernd auf hohen Absätzen. Es wäre interessant, Kyoko- san in solchem Aufputz zu sehen. Sie ist ja schon groß, dreizehn Jahre. Ein-zwei Jährchen noch, dann wird man uns verheiraten. Vielleicht auch schon früher. Wenn ich nur bald zu Hause wäre!

Heute ist mir das Erlangen der seelischen Harmonie besonders schwergefallen, weil

1. ich entdeckte, daß aus meiner Reisetasche mein bestes Instrument verschwunden ist, mit dem sich selbst der dickste Muskel leicht durchtrennen läßt. Was mag dieser seltsame Raub bedeuten?

2. ich nach dem Mittagessen erneut in eine demütigende Lage geriet, noch deprimierender als nach meinen Worten über Karl den Kühnen (s. gestrige Aufzeichnung). Fandorin-san, der sich nach wie vor sehr für Japan interessiert, befragte mich nach dem Bushido und den Samuraitraditionen. Das Gespräch kam auf meine Familie und meine Vorfahren. Da ich mich als Offizier vorgestellt hatte, erkundigte sich der Russe nach der Bewaffnung, den Uniformen und dem Reglement der kaiserlichen Armee. Das war entsetzlich! Als sich herausstellte, daß ich noch nie vom Berdangewehr gehört hatte, sah Fandorin-san mich sehr seltsam an. Er ist sicherlich zu dem Schluß gekommen, in der japanischen Armee dienten komplette Ignoranten. Vor Scham vergaß ich die Höflichkeit und lief aus dem Salon, was alles noch ärger machte.

Ich konnte mich lange nicht beruhigen. Zuerst stieg ich hinauf zum Bootsdeck, wo die Sonne am heißesten brennt und es daher menschenleer ist. Ich entkleidete mich bis auf das Lendentuch und übte mich eine halbe Stunde lang in der Schlagtechnik Ma- washi-giri. Als ich die nötige Kondition erlangt hatte und die Sonne mich rosa dünkte, nahm ich den Zazen-Sitz ein und versuchte vierzig Minuten zu meditieren. Erst danach zog ich mich wieder an und ging nach achtern, um eine Tanka zu schreiben.

Alle diese Übungen halfen. Ich weiß jetzt, wie ich mein Gesicht wahren kann. Beim Abendessen werde ich Fandorin-san sagen, daß es uns verboten ist, mit Ausländern über die kaiserliche Armee zu sprechen und daß ich aus dem Salon gelaufen bin, weil ich schrecklichen Durchfall habe. Ich meine, das klingt überzeugend, und ich werde in den Augen meiner Tischgenossen nicht mehr aussehen wie ein unerzogener Wilder.

Derselbe Tag, abends

Von wegen Harmonie! Etwas Katastrophales ist geschehen. Mir zittern vor Scham die Hände, aber ich muß jetzt gleich alle Einzelheiten notieren. Das wird mir helfen, mich zu konzentrieren und den richtigen Entschluß zufassen. Vorerst nur die Fakten, die Schlußfolgerungen später.

Also.

Das Abendessen im Salon »Windsor« begann wie üblich um 20 Uhr. Obwohl ich Rote-Bete-Salat (red beet) bestellt hatte, brachte mir der Kellner halbrohes blutiges Rindfleisch. Er hatte red beef verstanden. Ich schob mit der Gabel das bluttriefende Fleisch hin und her und blickte mit heimlichem Neid zu dem Ersten Offizier, der ein sehr appetitliches Gemüseragout mit magerem Hühnerfleisch verzehrte.

Was war noch?

Nichts Besonderes. Kleber-san klagte wie immer über Migräne, aß aber mit großem Appetit. Sie sieht blühend aus, klassisches Beispiel für eine gut vertragene Schwangerschaft. Ich bin überzeugt: Wenn die Zeit heran ist, wird das Kind aus ihr herausspringen wie der Pfropfen aus einer Flasche französischen Schaumwein.

Gesprochen wurde über die Hitze, über die morgige Ankunft in Aden, über Edelsteine. Fandorin-san und ich verglichen die Vorzüge der japanischen und der englischen Gymnastik. Ich konnte mir erlauben, Nachsicht zu üben, denn auf diesem Gebiet liegt die Überlegenheit Asiens gegenüber dem Westen auf der Hand. Der Unterschied besteht darin, daß ihre physischen Übungen Sport, Spiel sind, die unsrigen dagegen ein Weg zur geistigen Selbstvervollkommnung. Ja, zur geistigen, denn die physische Vollkommenheit ist bedeutungslos und folgt der geistigen wie ein Eisenbahnzug der Lokomotive. Ich muß sagen, daß der Russe sich sehr für Sport interessiert und sogar von den Kampfschulen Japans und Chinas gehört hat. Heute morgen habe ich früher als sonst auf dem Bootsdeck meditiert und sah dort Fandorin-san. Wir wechselten nur eine Verbeugung, kamen aber nicht ins Gespräch, denn wir waren beschäftigt: Ich wusch meine Seele in dem Licht des neuen Tages, und er, mit einem Sporttrikot bekleidet, machte Kniebeugen und stemmte eine Zeitlang Hanteln, die sehr schwer aussahen.

Das gemeinsame Interesse an der Gymnastik machte unser abendliches Gespräch ungezwungen, und ich fühlte mich lockerer als gewöhnlich. Ich erzählte dem Russen von Jiu-Jitsu. Er hörte aufmerksam zu.

Etwa um halb neun (die genaue Zeit habe ich mir nicht gemerkt) klagte Kleber-san, die schon ihren Tee getrunken und zwei Stück Kuchen gegessen hatte, über Schwindel. Ich sagte ihr, das komme bei Schwangeren vor, wenn sie zu viel äßen. Aus irgendwelchen Gründen war sie darüber gekränkt, und mir ging auf, daß ich das nicht hätte sagen dürfen. Wie oft hatte ich mir geschworen, den Mund zu halten. Weise Erzieher hatten mich schließlich gelehrt: Wenn du in fremder Gesellschaft bist, sitze da, höre zu, lächle freundlich und nicke von Zeit zu Zeit - dann wirst du als wohlerzogener Mensch gelten und auf jeden Fall nichts Dummes sagen. Schöner »Offizier«, der anderen medizinische Ratschläge aufdrängt!

Regnier-san sprang sogleich auf und erbot sich, die Dame zu ihrer Kabine zu begleiten. Dieser Mann ist überhaupt sehr zuvorkommend, besonders zu Kleber-san. Er ist der einzige, der ihrer ewigen Launen noch nicht überdrüssig ist. Er wahrt die Ehre seiner Uniform.

Nachdem sie gegangen waren, wechselten die Männer in die Sessel und rauchten. Der italienische Schiffsarzt und seine englische Frau begaben sich zu einem Patienten, und ich versuchte, dem Kellner klarzumachen, daß ich mein Frühstücksomelett ohne Bacon und ohne Schinken wünsche. Das hätten sie in den vielen Tagen schon lernen können.

Es waren wohl zwei Minuten vergangen, da hörten wir plötzlich einen gellenden Frauenschrei.

Erstens begriff ich nicht gleich, daß es Kleber-san war, die da schrie. Zweitens ging mir nicht auf, daß das verzweifelte »Os- kur! Oskur!« nichts anderes bedeutete als »Au secours! Au se- cours!«[4] Aber das rechtfertigt nicht mein Verhalten. Ich habe mich schmählich benommen, unwürdig eines Samurai!

Aber der Reihe nach.

Als erster stürzte Fandorin-san zur Tür, gefolgt von dem Polizeikommissar, Milford-Stokes-san und Sweetchild-san, ich aber blieb wie angewurzelt stehen. Sie alle glauben jetzt gewiß, daß in der japanischen Armee klägliche Feiglinge dienen! In Wirklichkeit habe ich nur nicht gleich begriffen, was vorging.

Als ich es endlich begriffen hatte, war es zu spät - ich erreichte den Schauplatz als Letzter, sogar noch nach Stomp-san.

Die Kabine von Kleber-san liegt ganz in der Nähe des Salons, sie ist die fünfte rechts im Korridor.

Hinter den mir Zuvorgekommenen stehend, sah ich ein unwahrscheinliches Bild. Die Kabinentür stand sperrangelweit offen. Kleber-san lag stöhnend auf dem Fußboden, über ihr etwas Schwarzes, Blankes, Unbewegliches. Ich erkannte nicht gleich, daß es ein riesiger Neger war. Er trug eine weiße Leinenhose. Aus seinem Genick ragte der Griff eines Marinedolchs. An seiner Körperhaltung sah ich sofort, daß er tot war. Ein solcher Stoß gegen die Schädelbasis verlangt große Kraft und Präzision, tötet aber blitzartig.

Kleber-san zappelte, um unter dem schweren Leichnam hervorzukommen, doch vergeblich. Neben ihr bewegte sich hektisch Leutnant Regnier. Sein Gesicht war weißer als der Kragen seines Hemdes. Die Dolchscheide an seiner Hüfte war leer. Der Leutnant war ganz durcheinander - bald versuchte er, die unangenehme Last von der schwangeren Frau wegzuziehen, bald wandte er sich uns zu und erklärte verworren dem Kommissar, was geschehen war.

Fandorin-san bewahrte als einziger seine Kaltblütigkeit. Ohne erkennbare Anstrengung zerrte er den Toten beiseite (ich dachte sofort an seine Gymnastik mit den Hanteln), half Kle- ber-san in einen Sessel und gab ihr Wasser. Da kam auch ich zu mir und prüfte in aller Eile, ob Kleber-san verletzt sei, sie war es nicht. Ob sie innere Schäden davongetragen hatte, würde sich später zeigen. Alle waren so erregt, daß die von mir vorgenommene Untersuchung niemanden verwunderte. Die Weißen glauben ja, daß alle Asiaten ein bißchen Schamanen sind und sich auf die Heilkunst verstehen. Kleber-sans Puls lag bei 95, und das war vollauf erklärlich.

Sie und Regnier-san erzählten, einander ins Wort fallend, folgendes.

Der Leutnant: Er habe Madame Kleber zur Kabine begleitet, ihr einen angenehmen Abend gewünscht und sich verabschiedet. Doch er habe sich gerade zwei Schritte entfernt, da hörte er ihren verzweifelten Schrei.

Kleber-san: Sie sei eingetreten, habe die elektrische Lampe angeknipst und vor ihrem Toilettentisch einen gigantischen schwarzen Mann stehen sehen, der ihre Korallenkette in der Hand hielt (die sah ich in der Tat nachher auf dem Fußboden liegen). Der Neger habe sich schweigend auf sie gestürzt, sie zu

Boden geworfen und mit seinen Riesenpranken nach ihrer Kehle gegriffen. Sie habe losgeschrien.

Der Leutnant: Er sei in die Kabine gestürzt, habe die entsetzliche (er sagte: »phantastische«) Szene gesehen und erst einmal den Kopf verloren. Dann habe er den riesigen Neger bei den Schultern gepackt, ihn jedoch keinen Zoll von der Stelle bewegen können. Darauf habe er ihn mit dem Stiefel gegen den Kopf getreten, wieder ohne Erfolg. Erst jetzt habe er, aus Furcht um das Leben von Madame Kleber und ihr Ungeborenes, den Dolch aus der Scheide gezogen und einen einzigen Stoß geführt.

Ich dachte mir, der Leutnant müsse seine stürmische Jugend in Tavernen und Bordellen verbracht haben, wo es von gekonnter Messerhandhabung abhängt, wer am nächsten Morgen mit einem Brummschädel aufwacht und wer auf dem Friedhof landet.

Kapitän Cliff und Doktor Truffo kamen angelaufen. In der Kabine wurde es eng. Niemand hatte eine Ahnung, wie der Afrikaner auf die »Leviathan« gekommen war. Fandorin-san betrachtete eingehend die Tätowierung auf der Brust des Toten und sagte, eine solche habe er schon gesehen. Während des jüngsten Balkankonflikts sei er in türkischer Gefangenschaft gewesen und habe dort dunkelhäutige Sklaven mit den gleichen Zickzackmarkierungen rund um die Brustwarzen gesehen. Es sei ein ritueller Schmuck des Ndanga-Stammes, den arabische Sklavenhändler erst kürzlich im Herzen von Äquatorialafrika entdeckt hätten. Die Ndanga-Männer genossen auf den Märkten des gesamten Orients große Nachfrage.

Ich hatte den Eindruck, daß Fandorin-san all das mit etwas seltsamer Miene sagte, so als ob ihn irgendwas befremdete. Aber ich kann mich auch irren, denn die Mimik der Europäer ist recht wunderlich und ähnelt nicht im geringsten der unsrigen.

Kommissar Coche hörte dem Diplomaten kaum zu. Er sagte, ihn als Vertreter des Gesetzes interessierten zwei Fragen: wie der Neger aufs Schiff gekommen sei und warum er Madame Kleber angefallen habe.

Nun stellte sich heraus, daß bei einigen der Anwesenden in letzter Zeit auf geheimnisvolle Weise Gegenstände aus den Kabinen verschwunden waren. Ich mußte an meinen Verlust denken, schwieg aber natürlich. Des weiteren kam zur Sprache, daß der eine oder andere sogar einen riesigen schwarzen Schatten gesehen hatte (Miss Stomp) oder ein durchs Fenster hereinlugendes schwarzes Gesicht (Mrs. Truffo). Nun ist klar, daß es keine Halluzinationen oder Auswüchse weiblicher Phantasie gewesen sind.

Alle fielen über den Kapitän her. Über jedem Passagier hatte in den letzten Tagen tödliche Gefahr geschwebt, und die Schiffsführung hatte nichts davon gewußt. Cliff-san war schamrot. Sein Ansehen hatte einen empfindlichen Schlag bekommen. Ich wandte mich taktvoll ab, um ihm die Schmach zu erleichtern.

Dann bat der Kapitän die Zeugen des Vorfalls in den Salon »Windsor« und hielt uns eine Ansprache voller Kraft und Würde. Vor allem entschuldigte er sich für das Vorkommnis. Er bat uns, niemandem von dem »bedauerlichen Vorfall« zu erzählen, denn sonst könne es auf dem Dampfer zu einer Massenpsychose kommen. Er versprach, unverzüglich die Laderäume, den Doppelboden, die Vorratsräume und sogar die Kohlebunker durchsuchen zu lassen. Und er versicherte, daß es auf seinem Schiff keine schwarzhäutigen Einbrecher mehr geben werde.

Der Kapitän ist ein guter Mann. Ein richtiger Seebär. Er spricht unbeholfen, in kurzen Sätzen, doch man sieht, daß er ein festes Herz hat und für seine Sache brennt. Ich hörte, wie Truffo-san einmal dem Kommissar erzählte, Kapitän Cliff sei Witwer und hänge mit großer Liebe an seiner einzigen Tochter, die in einem Schweizer Pensionat erzogen werde. Ich finde das sehr rührend.

Es scheint, daß ich ein wenig zu mir komme. Die Zeilen fließen gleichmäßiger, die Hand zittert nicht mehr. Ich kann zum Unangenehmsten übergehen.

Bei der oberflächlichen Untersuchung von Kleber-san war mir aufgefallen, daß sie keine Hämatome hatte. Ich stellte auch ein paar weitere Überlegungen an, die ich dem Kapitän und dem Kommissar mitteilen wollte. Vor allem aber wollte ich die schwangere Frau beruhigen, die nach der Erschütterung noch immer außer sich war und sich in eine Hysterie hineinsteigerte.

Ich sagte ihr in freundlichstem Ton: »Vielleicht wollte der Schwarze Sie gar nicht töten, Madame. Sie kamen so unerwartet herein und machten Licht, da ist er einfach erschrocken. Er ist ja .«

Sie ließ mich nicht ausreden.

»Erschrocken ist er?« zischte sie mit plötzlicher Wut. »Oder sind Sie vielleicht erschrocken, Monsieur Asiat? Meinen Sie, ich habe nicht gesehen, wie Sie sich mit Ihrer gelben Visage hinter dem Rücken anderer Leute versteckt haben?«

So hatte mich noch nie jemand beleidigt. Am schlimmsten war, daß ich nicht so tun konnte, als wären das die zänkischen Worte einer hysterischen dummen Gans, die sich mit einem verächtlichen Lächeln abtun ließen. Kleber-san hatte mich an der empfindlichsten Stelle getroffen!

Eine Antwort fiel mir nicht ein. Ich litt grausam, und sie sah mich mit einer vernichtenden Grimasse an. Wenn ich in diesem Moment in die berüchtigte Hölle der Christen hätte stürzen können, würde ich selbst den Lukenhebel gezogen haben. Am schrecklichsten war, daß sich der rote Schleier der Raserei über meine Augen legte, ein Zustand, den ich besonders fürchte. In diesem Zustand nämlich kann ein Samurai Taten begehen, die für sein Karma schädlich sind. Er muß dann sein Leben lang die Schuld sühnen, weil er für einen Moment die Selbstkontrolle verlor.

Ich verließ den Salon, aus Furcht, ich könnte mich nicht beherrschen und der schwangeren Frau etwas Entsetzliches antun. Ich weiß nicht, ob ich bei einem Mann so die Gewalt über mich behalten hätte.

Ich schloß mich in meiner Kabine ein und holte den Beutel mit den ägyptischen Kürbissen hervor, die ich in Port Said auf dem Basar gekauft hatte. Sie sind klein, kopfgroß und sehr hart. Fünfzig Stück hatte ich erstanden.

Um den roten Schleier vor den Augen wegzukriegen, trainierte ich den geraden Handkantenschlag. Da ich jedoch hocherregt war, mißlangen die Schläge: Die Kürbisse spalteten sich nicht in zwei Hälften, sondern zersprangen in sieben oder acht Stücke.

Es ist schwer.

Загрузка...