18. Tag des 4. Monats mit Blick auf die Südspitze der Indischen Halbinsel
Vor drei Tagen haben wir in Bombay abgelegt, und in dieser Zeit habe ich kein einziges Mal mein Tagebuch aufgeschlagen. Das war noch nie, denn ich habe es mir zur festen Regel gemacht, täglich zu schreiben. Aber die Pause war notwendig. Ich mußte mich in den auf mich einstürmenden Gefühlen und Gedanken zurechtfinden.
Meinen inneren Umbruch gibt am besten ein Dreizeiler wieder, der in dem Moment entstand, als der Polizeiinspektor mir die Eisenketten abnahm.
Einsam ist der Flug
des Glühwurms in der Nacht.
Der Himmel aber ist voller Sterne.
Ich begriff sofort: Das ist ein sehr gutes Gedicht, besser als alle, die ich je geschrieben habe, aber der Sinn ist nicht offenkundig und bedarf der Erläuterung. Drei Tage lang grübelte ich und horchte in mich hinein, dann hatte ich wohl endlich Klarheit.
Mir war das große Wunder widerfahren, von dem jeder Mensch träumt - ich hatte den seligen Zustand Satori erlebt, den die alten Griechen Katharsis nannten. Oft genug hatte mir der Altmeister gesagt, daß Satori, wenn überhaupt, dann ganz von selbst kommt, ohne Ansporn und ohne Vorwarnungen! Der Mensch könne ein Gerechter und ein Weiser sein, könne viele Stunden täglich meditieren, Berge von heiligen Texten lesen und doch ohne Erkenntnis sterben, während irgendeinem Nichtsnutz, der dumm und sinnlos durchs Leben bummele, plötzlich der majestätische Glanz der Satori zuteil werde, wodurch sich seine nutzlose Existenz schlagartig verändere! Ich bin solch ein Nichtsnutz. Ich hatte Glück. Mit 27 wurde ich zum zweitenmal geboren.
Die Erleuchtung und Läuterung erlebte ich nicht in einem Moment der geistigen und physischen Konzentration, sondern in einem Moment der Niedergeschlagenheit, als von mir nur noch die Hülle übrig war wie bei einem geplatzten Luftballon. Aber da klirrte das dumme Eisen, und plötzlich spürte ich mit unglaublicher Schärfe, daß ich nicht ich bin, sondern ... Nein, anders. Daß ich nicht nur ich bin, sondern eine Unzahl von anderen Leben. Daß ich nicht irgendein Gintaro Aono bin, dritter Sohn des Chefberaters Seiner Erlaucht Fürst Shimatsu, sondern ein kleines, doch darum nicht minder wertvolles Teilchen eines Ganzen. Ich bin in allem Seienden, und alles Seiende ist in mir. Wie oft hatte ich diese Worte gehört, aber nicht begriffen, erfühlt habe ich sie erst am 15. Tag des 4. Monats im Jahre 11 der Meji-Ära in der Stadt Bombay, an Bord eines riesigen europäischen Dampfers. Der Wille des Allerhöchsten ist wahrlich wunderbar.
Was ist der Sinn des intuitiv in mir entstandenen Dreizeilers? Der Mensch ist ein einsames Glühwürmchen in der unendlichen Finsternis der Nacht. Sein Licht ist so schwach, daß es nur ein winziges Stück des Raums beleuchtet, und ringsum ist Dunkelheit, Kälte und Angst. Wenn man aber den verängstigten Blick emporhebt von der dunklen Erde (es bedarf nur einer
Drehung des Kopfes!), so sieht man den Himmel mit Sternen bedeckt. Sie strahlen in gleichmäßigem, hellem und ewigem Licht. Du bist in der Finsternis nicht allein. Die Sterne sind deine Freunde, sie werden dir helfen und dich nicht dem Elend überlassen. Und etwas später verstehst du etwas anderes, nicht minder Wichtiges: Ein Glühwürmchen ist auch ein Stern, genauso wie alle übrigen. Die am Himmel sehen auch dein Licht, das ihnen hilft, die Kälte und Finsternis des Alls zu ertragen.
Mein Leben wird sich sicherlich nicht ändern. Ich werde der sein, der ich war - hektisch, händelsüchtig, Leidenschaften unterworfen. Aber in der Tiefe meines Herzens wird nun stets ein zuverlässiges Wissen leben. Es wird mich in schweren Momenten retten und stützen. Ich bin keine kleine Pfütze mehr, die von einer heftigen Böe über die Welt gepustet werden kann. Ich bin ein Ozean, und kein Sturm, der als alles zerstörender Tsunami über meine Oberfläche fegt, kann die Schätze meiner Tiefen berühren.
Als ich das alles endlich begriffen hatte und mein Geist sich mit Freude füllte, entsann ich mich, daß die größte Tugend die Dankbarkeit ist. Der erste der Sterne, deren Strahlen ich in der tiefen Finsternis erblickt hatte, war Fandorin-san. Ihm verdanke ich das Wissen, daß ich, Gintaro Aono, der Welt nicht gleichgültig bin und daß das Große Außen mich nicht dem Elend überlassen wird.
Aber wie soll ich dem Menschen einer anderen Kultur erklären, daß er für immer mein Onjin ist? Dieses Wort gibt es in den europäischen Sprachen nicht. Heute habe ich mir ein Herz gefaßt und mit ihm darüber gesprochen, aber dabei ist wohl nichts Gescheites herausgekommen.
Ich paßte Fandorin-san auf dem Bootsdeck ab, denn ich wußte, daß er um punkt acht mit seinen Hanteln dorthin kommen würde.
Als er erschien, eingezwängt in sein gestreiftes Trikot (ich werde ihm sagen müssen, daß für körperliche Übungen anliegende Kleidung nicht so gut geeignet ist wie legere), trat ich zu ihm und verbeugte mich tief. »Was haben Sie denn, Monsieur Aono?« fragte er verwundert. »Warum richten Sie sich nicht wieder auf?« In solcher Haltung zu sprechen war unmöglich, darum machte ich den Rücken gerade, obwohl ich in solcher Situation die Verbeugung länger hätte halten müssen. »Ich spreche Ihnen meine unendliche Dankbarkeit aus«, sagte ich und war sehr aufgeregt. - »Schon gut«, sagte er mit einer lässigen Handbewegung. Diese Geste gefiel mir sehr - Fandorin-san wollte damit das Ausmaß der mir erwiesenen Wohltat vermindern und seinen Schuldner von dem übermäßigen Dankbarkeitsgefühl erlösen. An seiner Stelle würde jeder vornehm erzogene Japaner genauso gehandelt haben. Aber er erzielte den gegenteiligen Effekt - mein Geist füllte sich mit noch größerer Dankbarkeit. Ich sagte, fortan stünde ich ihm gegenüber in ewiger Schuld. »Was heißt schon ewige Schuld«, sagte er achselzuckend. »Ich wollte einfach diesem selbstzufriedenen Puter einen Dämpfer verpassen.« (Puter, das ist ein häßlicher amerikanischer Vogel mit komischer Gangart, erfüllt von dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit; im übertragenen Sinne ein eitler und dummer Mensch.) Ich wußte das Taktgefühl meines Gesprächspartners zu schätzen, aber ich mußte ihm unbedingt erklären, wie sehr ich ihm verpflichtet war. »Dank dafür, daß Sie mein wertloses Leben gerettet haben«, sagte ich mit einer neuerlichen Verbeugung. »Dreifachen Dank dafür, daß Sie meine Ehre gerettet haben. Und unendlichen Dank dafür, daß Sie mir ein drittes Auge geöffnet haben, mit dem ich Dinge sehe, die ich vorher nicht sehen konnte.« Fandorin-san blickte (wie mir schien, ein bißchen ängstlich) auf meine Stirn, als erwartete er, dort würde sich jetzt ein Auge auftun und ihm zuzwinkern.
Ich sagte ihm, er sei mein Onjin, und mein Leben gehöre fortan ihm, was ihn noch mehr zu erschrecken schien. »Oh, ich träume davon, Sie in Lebensgefahr zu sehen, um Sie retten zu können, so wie Sie mich gerettet haben!« rief ich aus. Er bekreuzigte sich und sagte: »Lieber nicht. Wenn es Sie nicht gar zu sehr anficht, träumen Sie bitte von etwas anderem.«
Das Gespräch stockte. Verzweifelt schrie ich: »Sie sollen wissen, daß ich alles, aber auch alles für Sie tun werde!« Ich präzisierte meinen Schwur, um spätere Mißverständnisse zu vermeiden: »Alles, sofern es Seiner Majestät, meinem Land und der Ehre meiner Familie keinen Schaden bringt.«
Meine Worte lösten bei Fandorin-san eine seltsame Reaktion aus. Er lachte! Nein, ich werde die Rothaarigen wohl nie begreifen. »Na gut«, sagte er und drückte mir die Hand. »Wenn Sie darauf bestehen, dann bitte sehr. Wir werden wohl von Kalkutta zusammen nach Japan fahren. Sie können Ihre Schuld abtragen, indem Sie mir Japanisch-Unterricht geben.«
Dieser Mann nimmt mich nicht ernst. Ich würde gern sein Freund sein, aber Fandorin-san interessiert sich viel mehr für den Steuermann Fox, der ein beschränkter Mensch ist. Mein Wohltäter verbringt recht viel Zeit in der Gesellschaft dieses Schwätzers und lauscht aufmerksam dessen Prahlereien über Erlebnisse auf See und amouröse Abenteuer, er geht sogar mit Fox auf Wache! Ehrlich gesagt, mich kränkt das. Heute war ich Zeuge, wie Fox seine Romanze mit einer »japanischen Aristokratin« aus Nagasaki beschrieb. Er erzählte von den kleinen Brüsten, den purpurroten Lippen und sonstigen Besonderheiten dieser »Miniaturpuppe«. Es wird eine billige Nutte aus dem Matrosenviertel gewesen sein. Ein Mädchen aus anständigem Hause würde mit solch einem Barbaren kein Wort wechseln! Am ärgerlichsten war, daß Fandorin-san diesem Unsinn mit sichtlichem Interesse zuhörte. Ich wollte mich schon einmischen, aber da kam Regnier dazu und schickte Fox in irgendeiner Angelegenheit weg.
Ach ja! Ich habe noch gar nicht über ein wichtiges Ereignis an Bord geschrieben! Kurz bevor das Schiff von Bombay ablegte, geschah eine wirkliche Tragödie, neben der mein Ungemach unbedeutend erscheint.
Um halb neun am Morgen, als schon die Anker gelichtet waren und man eben die Taue lösen wollte, wurde dem Kapitän vom Ufer ein Telegramm überbracht. Ich stand an Deck und blickte auf Bombay, die Stadt, die in meinem Leben eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Ich wollte dieses Bild für immer meinem Herzen einprägen. Darum wurde ich Zeuge des Geschehens.
Kapitän Cliff las die Depesche, und sein Gesicht veränderte sich schlagartig. So etwas hatte ich noch nie gesehen! So legt ein Schauspieler des No-Theaters die Maske des Drohenden Kriegers ab und setzt die Maske des Wahnsinnigen Leids auf. Das wettergegerbte, grobe Gesicht des alten Seebärs erzitterte. Der Kapitän gab ein Stöhnen oder Schluchzen von sich. »Oh God!« schrie er heiser. »My poor girl!«* Und er stürmte von der Brücke hinunter in seine Kabine, wie sich später herausstellte.
Die Vorkehrungen zum Ablegen wurden ausgesetzt. Das Frühstück begann wie immer, aber Leutnant Regnier verspätete sich. Alle sprachen nur von dem seltsamen Verhalten des Kapitäns und rätselten, was in dem Telegramm stehen mochte. Regnier-san kam erst, als die Mahlzeit zu Ende ging. Er sah bekümmert aus und teilte mit, daß die einzige Tochter von Cliff-san (ich schrieb schon, daß der Kapitän sie vergötterte) bei einer Feuersbrunst in ihrem Pensionat schwere Verbrennungen erlitten habe. Die Ärzte fürchteten um ihr Leben. Der Leutnant sagte, Mr. Cliff sei wie von Sinnen. Er habe be* (engl.) O Gott! Mein armes Mädchen!
schlossen, sogleich von Bord der »Leviathan« zu gehen und mit dem ersten Paketboot nach England zurückzukehren, da er jetzt bei seiner Tochter sein müsse. Der Leutnant sagte immer wieder: »Was soll bloß werden? Welch eine Unglücksfahrt!« Wir trösteten ihn nach Kräften.
Ich muß gestehen, daß ich den Entschluß des Kapitäns nicht gutheißen konnte. Sein Kummer war mir verständlich, aber ein Mann, dem eine Aufgabe anvertraut ist, hat nicht das Recht, sich von persönlichen Gefühlen leiten zu lassen. Besonders wenn er Kapitän ist und ein Schiff führt. Was würde aus einer Gesellschaft werden, deren Kaiser oder Präsident oder Premierminister Persönliches über seine Pflicht stellte? Es käme zum Chaos, während doch Sinn und Pflicht der Macht darin bestehen, das Chaos zu bekämpfen und die Harmonie zu befördern.
Ich ging wieder an Deck, um zu sehen, wie Mr. Cliff das ihm anvertraute Schiff verläßt. Und der Allmächtige erteilte mir eine neue Lehre, die Lehre des Mitleids.
Der Kapitän lief gebeugt die Schiffstreppe hinunter. In der Hand hielt er eine Reisetasche, und ein Matrose trug ihm einen Koffer hinterher. Auf der Landungsbrücke blieb der Kapitän stehen und drehte sich nach der »Leviathan« um, und ich sah sein großflächiges Gesicht naß von Tränen. Im nächsten Moment wankte er und stürzte zu Boden.
Ich eilte zu ihm. Nach seiner unterbrochenen Atmung und dem krampfhaften Zucken seiner Gliedmaßen zu urteilen, hatte er einen schweren hämorrhagischen Schlaganfall erlitten. Der herzueilende Doktor Truffo bestätigte meine Diagnose.
Ja, es kommt nicht selten vor, daß ein menschliches Gehirn den Zwiespalt zwischen der Stimme des Herzens und dem Ruf der Pflicht nicht aushält. Ich habe Kapitän Cliff unrecht getan.
Der Kranke wurde ins Hospital gebracht. Die »Leviathan« blieb an der Landungsbrücke hegen. Regnier-san, dessen Haar von der Erschütterung ergraut war, fuhr zum Telegraphenamt, um mit der Londoner Reederei zu verhandeln. Erst in der Dämmerung kam er zurück. Die Neuigkeiten: Cliff-san habe das Bewußtsein nicht wiedererlangt, die Führung des Schiffs werde provisorisch Regnier-san übernehmen, und in Kalkutta werde der neue Kapitän an Bord kommen.
Wir legten mit zehnstündiger Verspätung von Bombay ab.
In all diesen Tagen ist mir, als schwebte ich dahin. Mich freuen der Sonnenschein, die indischen Küstenlandschaften und das gemessene, müßige Leben an Bord des großen Schiffs. Selbst im Salon »Windsor«, in den ich früher nur mit Beklemmung gegangen bin, wie zur Folter, fühle ich mich jetzt beinahe heimisch. Die Tischgenossen verhalten sich anders zu mir - ohne Abscheu und ohne Argwohn. Alle sind nett und liebenswürdig, und ich verhalte mich zu ihnen auch anders als früher. Selbst Kleber-san, die ich eigenhändig hätte erwürgen können (die Ärmste!), ist mir nicht mehr zuwider. Sie ist einfach eine junge Frau, die zum erstenmal Mutter wird und ganz von dem naiven Egoismus dieses für sie neuen Zustands durchdrungen ist. Seit sie weiß, daß ich Arzt bin, stellt sie mir unentwegt medizinische Fragen und klagt über kleine Unpäßlichkeiten. Früher ist Doktor Truffo ihr Opfer gewesen, jetzt tragen wir die Last zu zweit. Und das Erstaunlichste, es wird mir nicht zuviel. Mein Status ist bedeutend höher als in der Zeit, in der ich für einen Offizier gehalten wurde. Verblüffend!
Im »Windsor« genieße ich eine privilegierte Position. Nicht nur als Arzt, sondern, wie Mrs. Truffo sich ausdrückte, als unschuldiges Opfer polizeilicher Willkür. Die Hauptsache, ich bin mit Sicherheit nicht der Mörder. Das ist bewiesen und offiziell bestätigt. Dadurch gehöre ich nun zur höchsten Kaste - zusammen mit dem Polizeikommissar und dem frischgebackenen
Kapitän (der sich übrigens kaum noch bei uns sehen läßt, er ist sehr beschäftigt, und der Steward bringt ihm das Essen auf die Brücke). Wir drei sind außer Verdacht, und niemand wirft uns verstohlen furchtsame Blicke zu.
Diese ganze »Windsor«-Gesellschaft tut mir aufrichtig leid. Mit meinem neuerworbenen geistigen Auge sehe ich deutlich, was sie alle nicht sehen, nicht einmal der scharfsinnige Fando- rin-san.
Unter meinen Nachbarn ist kein Mörder. Keiner von ihnen eignet sich für die Rolle des Verbrechers. Ich betrachte diese Leute und sehe: Sie haben Fehler und Schwächen, aber ein Mensch mit finsterem Herzen, der imstande wäre, kaltblütig elf unschuldige Menschen zu ermorden, darunter zwei Kinder, ist nicht unter ihnen. Ich würde seinen stinkenden Atem riechen. Ich weiß nicht, von wessen Hand Sweetchild-san gefallen ist, aber ich bin sicher, daß es niemand aus unserem Salon war. Der Kommissar hat sich ein wenig geirrt mit seinen Mutmaßungen: Der Verbrecher befindet sich an Bord des Dampfers, aber nicht im »Windsor«. Vielleicht hat er an der Tür gehorcht, als der Professor uns von seiner Entdeckung erzählte.
Wenn Coche-san nicht so stur wäre und die »Windsors« unvoreingenommen betrachtete, würde er begreifen, daß er seine Zeit verschwendet.
Ich gehe einen nach dem anderen durch.
Fandorin-san. Seine Unschuld liegt auf der Hand. Würde er sonst den Verdacht von mir genommen haben, als meine Schuld von niemandem bezweifelt wurde?
Die Eheleute Truffo. Der Doktor ist ein etwas komischer, doch sehr gutmütiger Mensch. Er könnte keiner Zikade etwas zuleide tun. Seine Frau ist die verkörperte englische Wohlanständigkeit. Sie könnte niemanden töten aus dem einfachen Grund, weil es unanständig wäre.
M.-S.-san. Er ist ein sonderbarer Mensch, der dauernd etwas vor sich hin murmelt und manchmal aufbraust, doch in seinen Augen ist tiefes und aufrichtiges Leid erstarrt. Mit solchen Augen begeht man keinen kaltblütigen Mord.
Kleber-san. Nun, da ist alles klar. Erstens ist es beim Menschengeschlecht nicht üblich, daß eine Frau, die im Begriff ist, neues Leben zur Welt zu bringen, mit solcher Leichtigkeit das Leben anderer zertrampelt. Schwangerschaft ist ein Mysterium, welches uns lehrt, sorgsam mit der menschlichen Existenz umzugehen. Zweitens befand sich Kleber-san zur Tatzeit bei dem Polizisten.
Und schließlich Stomp-san. Sie hat kein Alibi, aber die Vorstellung, daß sie sich von hinten an einen Bekannten heranschleicht, ihm mit ihrer schmalen, schwachen Hand den Mund zuhält und mit der anderen mein unglückseliges Skalpell ansetzt... Blödsinn. Ausgeschlossen.
Reiben Sie sich die Augen, Kommissar-san. Sie stecken in der Sackgasse.
Das Atmen fällt mir schwer. Ob ein Sturm im Anzug ist?
Die verfluchte Schlaflosigkeit machte ihm schwer zu schaffen. Schon die fünfte Nacht litt er Höllenqualen, und es wurde immer ärger. Und fand er im Morgengrauen doch noch Vergessen, so hatte er Träume, vor denen Allah einen bewahren möge. Dann erwachte er wie zerschlagen, und in den von den nächtlichen Gesichten benommenen Kopf krochen verrückte Gedanken. Ob es wirklich an der Zeit war, in Pension zu gehen? Am liebsten hätte er auf alles gepfiffen, doch das ging nicht. Es gab nichts Schlimmeres als ein bettelarmes Alter. Irgend jemand hat es auf einen Schatz von anderthalb Milliarden Francs abgesehen, und du, Alter, sollst mit jämmerlichen hundertfünfundzwanzig im Monat auskommen.
Am Abend wetterleuchtete es am Himmel, Wind heulte in den Masten, und die »Leviathan« krängte schwerfällig in den kraftvollen schwarzen Wellen. Coche lag lange im Bett und starrte zur Decke. Die war bald dunkel, bald unnatürlich weiß - wenn ein Blitz aufzuckte. Regen peitschte auf das Deck, und auf dem Tisch fuhr löffelklirrend ein vergessenes Glas mit einer Mixtur für die kranke Leber hin und her.
Einen Sturm auf See erlebte Coche zum erstenmal, aber Angst hatte er nicht. Konnte solch ein ungeheueres Schiff etwa untergehen? Nun, es schaukelte und dröhnte, doch das würde sich wieder geben. Nur ließen die Donnerschläge ihn nicht schlafen. Kaum begann er einzudrusseln, schon krachte es wieder.
Aber er mußte wohl doch eingeschlafen sein, denn er setzte sich ruckartig auf und wußte nicht, was vorging. Sein Herz schlug so laut, daß es durch die Kabine schallte.
Nein, das war nicht das Herz, sondern die Tür.
»Kommissar!« (Poch-poch-poch.) »Kommissar!« (Poch- poch-poch.) »Machen Sie auf! Schnell!«
Wer war das? Fandorin wohl.
»Wer ist da? Was wollen Sie?« schrie Coche und preßte die Hand gegen die linke Brustseite. »Sind Sie verrückt?«
»Machen Sie auf, verdammt noch mal!«
Oho! Was für ein Ton für einen Diplomaten! Etwas Ernstes mußte geschehen sein.
»Gleich!«
Coche nahm verschämt die Nachtmütze mit der Troddel (von der alten Blanche gestrickt) ab, warf den Hausmantel über, fuhr in die Latschen.
Ein Blick durch den Türspalt - ja, Fandorin. Gehrock, Krawatte, Rohrstock mit beinernem Knauf. Glühende Augen.
»Was ist?« fragte Coche mißtrauisch, denn ihm war schon klar, daß er von dem nächtlichen Besucher etwas Scheußliches zu hören bekommen würde.
Der Diplomat sprach anders als sonst - schnell, abgerissen, ohne zu stottern.
»Ziehen Sie sich an. Nehmen Sie eine Waffe mit. Wir müssen Kapitän Regnier verhaften. Sofort. Er steuert das Schiff in die Klippen.«
Coche schüttelte den Kopf - war diese Ungereimtheit ein Traum?
»Haben Sie zuviel Haschisch geraucht, Monsieur Russe?«
»Ich bin nicht allein hier«, antwortete Fandorin.
Der Kommissar linste in den Korridor und sah neben Fan- dorin zwei weitere Männer stehen. Der eine war der verrückte Baronet. Und der andere? Der Steuermann, ja. Wie hieß er gleich ... Richtig, Fox.
»Beeilen Sie sich«, fuhr der Diplomat abgehackt fort. »Die Zeit ist knapp. Ich habe in der Kabine gelesen. Es klopfte. Sir Reginald. Um ein Uhr nachts hat er die Position des Schiffs bestimmt. Mit dem Sextanten. Der Kurs stimmt nicht. Wir müßten die Insel Manaar links umfahren. Wir fahren aber rechts herum. Ich habe den Steuermann geweckt. Fox, reden Sie.«
Der Steuermann trat vor. Er sah recht erschrocken aus.
»Dort sind Untiefen, Monsieur«, sagte er in gebrochenem Französisch. »Und Klippen. Die >Leviathan< ist sehr schwer. Sechzehntausend Tonnen, Monsieur! Wenn sie aufläuft, sie bricht wie französisches Weißbrot, wie Baguette, verstehen Sie? Noch eine halbe Stunde dieser Kurs, und es gibt kein Zurück!«
Eine hübsche Neuigkeit. Nun sollte der alte Coche sich auch noch in der Seefahrt zurechtfinden und sich den Kopf über die Insel Manaar zerbrechen!
»Und warum sagen Sie nicht dem Kapitän, daß er . nun, den falschen Kurs steuert?«
Fox sah den Russen an.
»Monsieur Fandorin meint, das geht nicht.«
»Regnier spielt eindeutig va banque«, sagte der Diplomat eindringlich. »Er ist zu allem fähig. Wenn er es anordnet, wird der Steuermann in Arrest gesetzt. Wegen Renitenz. Vielleicht macht er sogar von der Waffe Gebrauch. Er ist der Kapitän. Sein Wort ist an Bord Gesetz. Außer uns dreien weiß niemand, was vorgeht. Wir brauchen einen Vertreter der Macht. Das sind Sie, Kommissar. Gehen wir nach oben!«
»Moment, Moment!« Coche griff sich an die Stirn. »Sie bringen mich ganz durcheinander. Ist dieser Regnier verrückt geworden?«
»Nein. Aber er will das Schiff vernichten. Und alle, die an Bord sind.«
»Warum? Wozu?«
Nein, das konnte nicht wahr sein, das war ein Alptraum.
Fandorin begriff, daß Coche nicht so leicht auf Trab zu bringen war, und wurde nun deutlicher.
»Ich habe nur eine Vermutung. Aber eine ungeheuerliche. Regnier will das Schiff und die Menschen darauf vernichten, um die Spuren eines Verbrechens zu verwischen. Schwer zu glauben, daß jemand so leichten Herzens den Tod Tausender Menschen in Kauf nimmt, nicht wahr? Denken Sie an die Rue de Grenelle, denken Sie an Sweetchild, und Sie werden erkennen, daß auf der Jagd nach dem Schatz von Brahmapur Menschenleben nicht viel wert sind.«
Coche schluckte.
»Auf der Jagd nach dem Schatz?«
»Ja.« Fandorin rang um Zurückhaltung. »Regnier ist der Sohn des Radschas Bagdassar. Ich hatte es mir gedacht, war mir aber nicht sicher. Jetzt gibt es keine Zweifel mehr.«
»Der Sohn? Quatsch! Der Radscha war ein Hindu, und Regnier ist ein waschechter Franzose.«
»Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß er weder Rind- noch Schweinefleisch ißt? Und warum nicht? Gewohnheit von Kindesbeinen an. In Indien gilt die Kuh als heiliges Tier, und die Muselmanen essen kein Schweinefleisch. Der Radscha war Inder, aber Anhänger des Islam.«
»Das kann andere Gründe haben«, sagte Coche achselzuckend. »Regnier erklärte, er halte sich an eine Diät.«
»Und sein dunkles Gesicht?«
»Ist auf den südlichen Meeren gebräunt.«
»Regnier hat in den letzten zwei Jahren die Linien London - New York und London - Stockholm befahren. Sie können Monsieur Fox fragen. Nein, Coche, Regnier ist zur Hälfte Inder. Die Frau Bagdassars war Französin, ihr Sohn wurde während des Sepoy-Aufstands in Europa erzogen, höchstwahrscheinlich in Frankreich, der Heimat seiner Mutter. Waren Sie schon mal bei Regnier in der Kabine?«
»Ja, er hatte mich eingeladen, wie auch andere.«
»Haben Sie das Photo auf dem Tisch gesehen? >Allzeit sieben Fuß unterm Kiel. Frangoise B.<«
»Ja. Seine Mutter.«
»Wenn sie seine Mutter ist, warum >B< und nicht >R Sohn und Mutter haben doch denselben Nachnamen.«
»Vielleicht hat sie nochmals geheiratet.«
»Möglich. Das konnte ich noch nicht überprüfen. Aber kann >Frangoise B.< nicht einfach >Frangoise Bagdassar< bedeuten? Wie in Europa üblich? Indische Radschas haben ja keinen Nachnamen.«
»Und woher der Name Regnier?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat er bei seiner Naturalisierung den Mädchennamen seiner Mutter angenommen.«
»Mutmaßungen«, fauchte Coche. »Kein einziges Faktum. Immer nur >vielleicht< oder >möglich<.«
»Zugegeben. Aber finden Sie Regniers Benehmen im Zusammenhang mit der Ermordung Sweetchilds nicht verdächtig? Erinnern Sie sich, wie er sich erbot, den Schal für Madame Kleber zu holen? Und dann bat er noch den Professor, nicht ohne ihn anzufangen. Ich vermute, daß Regnier in den wenigen Minuten seiner Abwesenheit den Abfalleimer anzündete und das Skalpell aus seiner Kabine holte.«
»Und wieso meinen Sie, daß er das Skalpell hatte?«
»Ich sagte Ihnen doch, daß das Bündel des Negers nach der Durchsuchung des Schiffs aus dem Boot verschwunden war. Und wer leitete die Durchsuchung? Regnier.«
Coche schüttelte zweifelnd den Kopf. Das Schiff machte eine Schlingerbewegung, und er prallte schmerzhaft mit der Schulter gegen den Türrahmen. Seine Laune wurde davon nicht besser.
»Erinnern Sie sich, wie Sweetchild damals anfing?« fuhr Fandorin fort, riß die Uhr aus der Tasche und sprach immer schneller. »Er sagte, er habe alles geklärt, das mit dem Tuch und das mit dem Sohn. Man müsse nur noch in den Listen der Ecole Maritime nachsehen. Das heißt, er hatte nicht nur das Geheimnis des Tuchs ergründet, sondern auch etwas Wichtiges über den Sohn des Radschas in Erfahrung gebracht. Zum Beispiel daß der an der Marseiller Seefahrtsschule studiert hatte. Die übrigens auch unser Regnier absolviert hat. Der Indologe erwähnte ein Telegramm, das er an einen Bekannten im französischen Innenministerium geschickt habe. Möglicherweise wollte Sweetchild etwas über das Schicksal des Jungen herausfinden. Er muß auch einiges erfahren haben, aber wohl nicht, daß Regnier der Erbe Bag- dassars ist, sonst würde er sich vorsichtiger verhalten haben.«
»Und was hat er über das Tuch herausgekriegt?« fragte Coche mit gierigem Interesse.
»Ich glaube, ich kann diese Frage beantworten. Aber nicht jetzt, später. Die Zeit drängt!«
»Sie meinen also, Regnier selbst hat den kleinen Brand inszeniert und die Panik genutzt, um dem Professor den Mund zu verschließen?« fragte Coche nachdenklich.
»Ja, verdammt noch mal, ja! Benutzen Sie doch Ihren Verstand! Wir haben wenig Beweise, ich weiß, aber in zwanzig Minuten läuft die >Leviathan< in die Meerenge ein!«
Doch der Kommissar zögerte noch.
»Die Arretierung eines Kapitäns auf offener See ist Meuterei. Warum schenken Sie der Mitteilung dieses Herrn Glauben?« Er wies mit dem Kinn auf den verrückten Baronet. »Der redet doch immerfort Blödsinn.«
Der rothaarige Engländer lachte verächtlich auf und betrachtete Coche wie eine Laus oder Assel. Einer Antwort würdigte er ihn nicht.
»Weil ich Regnier schon lange im Verdacht habe«, stieß der Russe hervor. »Und weil die Geschichte mit Kapitän Cliff mir sonderbar vorkam. Wieso mußte der Leutnant so lange telegraphische Verhandlungen mit der Reederei führen? Weil man in London nichts von dem Unglück von Cliffs Tochter wußte? Wer hat dann das Telegramm nach Bombay geschickt? Die Direktion des Pensionats? Die dürfte kaum so genau über die Fahrstrecke der >Leviathan< informiert gewesen sein. Hat vielleicht Regnier selbst die Depesche abgeschickt? In meinem Reiseführer steht, daß es in Bombay mindestens ein Dutzend Telegraphenpunkte gibt. Innerhalb der Stadt von einem Telegraphenpunkt zum nächsten zu telegraphieren ist ein leichtes.«
»Und weshalb zum Teufel war das so wichtig für ihn?«
»Um das Schiff in die Hand zu bekommen. Er wußte, daß Cliff nach der Mitteilung die Fahrt nicht fortsetzen konnte. Fragen Sie lieber, warum Regnier ein solches Risiko einging. Doch wohl nicht aus dummem Ehrgeiz, um eine knappe Woche lang ein Schiff zu kommandieren, und dann komme, was da wolle? Es gibt nur eine Theorie: um die >Leviathan< zu versenken, mitsamt den Passagieren und der Besatzung. Die Ermittlung war schon zu dicht an ihn herangekommen, die Schlinge zog sich zusammen. Er wußte, daß die Polizei allen Verdächtigen auf die Pelle rückte. Eine Schiffskatastrophe würde alles zudecken. Dann könnte er in Ruhe nach der Schatulle mit den Edelsteinen fahnden.«
»Aber er würde doch mit uns untergehen.«
»Nein, er nicht. Wir haben eben nachgesehen - das Kapitänsboot ist bereit zum Fieren. Das ist ein kleines, aber stabiles Schiffchen, dem ein Sturm nichts anhaben kann. Es enthält einen Wasservorrat, einen Korb mit Lebensmitteln und, besonders rührend, eine Reisetasche mit Kleidungsstücken. Regnier will höchstwahrscheinlich das Schiff gleich nach dem Einlaufen in die Meerenge verlassen, aus der es nicht mehr herauskommt. Die >Leviathan< kann nicht wenden und wird selbst bei gestoppter Maschine gegen die Klippen getrieben. Vielleicht können einige sich retten, denn die Küste ist nicht weit, doch alle Verschollenen werden als ertrunken gelten.«
»Wie kann man sein so stupid, Monsieur Polizist!« mischte sich der Steuermann ein. »Wir haben schon viele Zeit verloren. Mir hat Mr. Fandorin geweckt. Er sagt, das Schiff fährt falsche Kurs. Ich will schlafen und wünsche ihm zum Teufel. Da bietet er mir Wette, hundert Pfund gegen eins, daß der Kapitän falsch steuert. Ich denke, der Russe hat Verstand verloren, aber alle wissen, die Russen sind bißchen verrückt, da kann ich leichtes Geld verdienen. Ich rauf auf die Brücke. Alles in Ordnung. Der Kapitän hat Wache, der Rudergänger steht an das Steuer. Wegen die hundert Pfund habe ich trotzdem heimlich den Kurs kontrolliert, und da ist mir Schweiß ausgebrochen! Aber zu Kapitän kein Wort. Mr. Fandorin hatte mir eingeschärft, ich soll nichts sagen. Habe ich auch nicht. Ich wünsche angenehme Wache und gehe. Das war« - der Steuermann sah zur Uhr - »vor fünfundzwanzig Minuten.«
Und er fügte auf englisch etwas für die Franzosen im allgemeinen und die französischen Polizisten im besonderen wenig Schmeichelhaftes hinzu.
Nach kurzem Zögern faßte der Kommissar endlich einen
Entschluß. Und er veränderte sich sogleich, seine Bewegungen wurden rasch und zielstrebig. Coche verfiel nicht gern aus dem Stand in Galopp, doch wenn er einmal in Gang gekommen war, brauchte man ihn nicht anzutreiben.
Während er geschwind Jacke und Hose anzog, sagte er zum Steuermann: »Fox, holen Sie zwei Matrosen aufs Oberdeck. Mit Karabinern. Der Erste Offizier soll auch kommen. Nein, lieber nicht, wir haben keine Zeit, alles noch mal zu erklären.«
Er schob seinen treuen Lefaucheux-Revolver in die Tasche und reichte dem Diplomaten eine vierläufige Mariette.
»Können Sie damit umgehen?«
»Ich habe selber einen Herstal«, antwortete Fandorin und zeigte einen kompakten schönen Revolver vor, wie Coche ihn nie gesehen hatte. »Und dies hier.« Mit einer blitzartigen Bewegung zog er aus dem Rohrstock eine schmale biegsame Klinge.
»Dann los.«
Dem Baronet wollte Coche keine Waffe geben, wer weiß, was der Verrückte damit anstellte.
Zu dritt durchschritten sie rasch den langen menschenleeren Korridor. Die Tür einer Kabine wurde geöffnet, und Renate Kleber blickte heraus. Über dem braunen Kleid hatte sie einen Schal umgelegt.
»Meine Herren, was trampeln Sie hier herum wie eine Herde Elefanten?« rief sie ungehalten. »Das Gewitter läßt mich auch so nicht schlafen.«
»Machen Sie die Tür zu und bleiben Sie in der Kabine!« sagte Coche streng und stieß die Kleber, ohne stehenzubleiben, zurück in die Kabine. Jetzt war nicht die Zeit für Höflichkeiten.
Der Kommissar hatte den Eindruck, daß auch die Tür der
Kabine 24, wo Mademoiselle Stomp wohnte, ein wenig zitterte und sich einen Spalt öffnete, aber konnte er sich in einem so verantwortungsvollen Moment um Kleinigkeiten kümmern?
An Deck schlugen ihnen Wind und Regen ins Gesicht. Sie mußten schreien, um einander zu verstehen.
Da war auch schon die Treppe, die zum Steuerhaus und zur Brücke hinaufführte. Bei der untersten Stufe wartete Fox mit zwei wachhabenden Matrosen.
»Ich sagte, mit Karabinern!« schrie Coche.
»Die sind in der Waffenkammer!« brüllte ihm der Steuermann ins Ohr. »Den Schlüssel hat der Kapitän.«
Unwichtig, gehen wir hinauf, zeigte Fandorin mit einer Geste. Sein Gesicht glänzte vor Nässe.
Coche blickte in die Runde und schüttelte sich. Durch die Nacht blinkten die stählernen Fäden des Regens, schimmerten weiß die Gischtkämme, zuckten die Blitze. Gräßlich!
Sie stiegen die eiserne Treppe hinauf, mit den Absätzen polternd und vor dem peitschenden Regen das Gesicht verziehend. Coche ging voran. Er war jetzt der wichtigste Mann auf der riesigen »Leviathan«, die mit ihrem Zweihundert-Meter-Rumpf vertrauensselig dem Untergang entgegenfuhr. Auf der letzten Stufe rutschte der Kommissar aus und bekam gerade noch die Griffstange zu fassen. Er richtete sich auf und holte tief Luft.
Über ihnen waren nur noch die funkenspeienden Schornsteine und die in der Dunkelheit kaum erkennbaren Masten.
Vor der mit Stahlnieten gespickten Tür hob Coche warnend den Finger: still! Diese Vorsicht war wohl überflüssig, denn das Meer toste dermaßen, daß die im Steuerhaus bestimmt nichts hörten.
»Hier ist Eingang zu die Kapitänsbrücke und Steuerhaus!« schrie Fox. »Ohne Erlaubnis von Kapitän darf niemand hinein!«
Coche zog den Revolver aus der Tasche und spannte den Hahn. Fandorin tat das gleiche.
»Sie werden schweigen!« warnte der Kommissar für alle Fälle den so überaus aktiven Diplomaten. »Ich mache das selbst! Oh, ich hätte nicht auf Sie hören sollen!« Und er stieß entschlossen gegen die Tür.
Sie ging nicht auf.
»Er hat sich eingeschlossen«, konstatierte Fandorin. »Sagen Sie was, Fox!«
Der Steuermann hämmerte gegen die Tür.
»Captain, it’s me, Jeremy Fox! Please open! We have an emergency!«*
Hinter der Tür tönte dumpf die Stimme Regniers: »What happened, Jeremy?«**
Die Tür blieb geschlossen.
Der Steuermann drehte sich ratlos zu Fandorin um. Der zeigte auf den Kommissar, hielt dann den Finger an die Schläfe und tat, als zöge er durch. Coche verstand die Pantomime nicht, aber Fox nickte und brüllte aus vollem Halse: »The french cop shot himself!«***
Sofort wurde die Tür aufgerissen, und Coche zeigte dem Kapitän mit Vergnügen sein nasses, doch quicklebendiges Gesicht. Und das schwarze Loch der Lefaucheux-Mündung.
Regnier stieß einen Schrei aus und prallte zurück wie von einem Schlag. Wenn das kein Indiz war: Ein Mensch mit gutem Gewissen weicht nicht so vor der Polizei zurück. * (engl.) Kapitän, ich bin’s, Jeremy Fox! Machen Sie bitte auf! Wir haben einen Notfall!
** (engl.) Was ist passiert, Jeremy?
*** (engl.) Der französische Bulle hat sich erschossen.
Coche packte ohne viel Federlesens den Seemann am Kragen seiner Segeltuchjacke.
»Es freut mich, daß die Nachricht von meinem Tod Sie dermaßen beeindruckt, Herr Radscha«, schnurrte der Kommissar, dann schnauzte er sein in ganz Paris berühmtes: »Hände über den Kopf! Sie sind verhaftet!«
Bei diesen Worten waren schon abgefeimte Pariser Halsabschneider in Ohnmacht gefallen.
Am Steuerrad war, halb umgewandt, der Rudergänger erstarrt. Er hatte gleichfalls die Hände gehoben, und das Steuerrad drehte leicht nach Steuerbord.
»Halt das Rad fest, Idiot!« fuhr Coche ihn an. »Und du« - er stieß einen der Wachhabenden leicht mit dem Finger an - »holst sofort den Ersten Offizier her, er soll das Schiff übernehmen. Einstweilen kommandieren Sie, Fox. Aber ein bißchen plötzlich! Befehlen Sie >Maschine stop< oder, was weiß ich, >volle Kraft rückwärts<, aber stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze!«
»Mal sehen«, sagte der Steuermann, über die Karte gebeugt. »Vielleicht ist noch nicht zu spät, backbords zu steuern.«
Mit Regnier war alles klar. Er versuchte nicht einmal, den Empörten zu spielen, stand da mit gesenktem Kopf. Die Finger seiner erhobenen Hände bebten.
»So, dann wollen wir uns mal unterhalten«, sagte Coche herzlich zu ihm. »Ach, werden wir uns schön unterhalten!«
Zum Frühstück erschien Renate später als die anderen und erfuhr daher als letzte von den Ereignissen der vergangenen Nacht. Alle wetteiferten darin, ihr die unvorstellbaren, un- geheurlichen Neuigkeiten mitzuteilen.
Also, Kapitän Regnier ist nicht mehr Kapitän.
Also, Regnier heißt gar nicht Regnier.
Also, er ist der Sohn jenes Radschas.
Also, er hat sie alle umgebracht.
Also, in der Nacht wäre das Schiff beinahe untergegangen.
»Wir haben friedlich in unseren Kabinen geschlafen«, flüsterte Clarissa Stomp mit vor Entsetzen geweiteten Augen. »Und dieser Mensch hat derweil das Schiff direkt gegen die Klippen gesteuert. Können Sie sich vorstellen, was dann passiert wäre? Nervenzerfetzendes Knirschen, ein Stoß, das Krachen der gerissenen Schiffshaut! Man fällt aus dem Bett und kapiert im ersten Moment überhaupt nichts. Dann Schreie, Füßetrappeln. Der Fußboden neigt sich mehr und mehr auf die Seite. Und das Schlimmste: Das Schiff steht still! Alle laufen halbnackt an Deck ...«
»Not me!«* warf Madame Truffo entschlossen ein.
»Die Matrosen versuchen, die Boote zu Wasser zu lassen«, fuhr die phantasievolle Clarissa in dem gleichen mystisch gedämpften Flüstern fort, ohne den Einwand der Doktorsfrau zu beachten. »Aber die Passagiere rennen hin und her und
* (engl.) Ich nicht!
stören. Bei jeder neuen Welle legt sich das Schiff mehr auf die Seite. Wir können uns kaum noch auf den Beinen halten und müssen uns irgendwo festklammern. Die Nacht ist schwarz, das Meer brüllt, am Himmel tobt das Gewitter ... Ein Boot wird schließlich zu Wasser gelassen, aber es haben sich so viele Menschen, vor Angst halb wahnsinnig, hineingedrängt, daß es umschlägt. Kleine Kinder .«
»Nun ist es aber g-genug«, unterbrach Fandorin sanft, doch entschieden die ausschweifende Erzählerin.
»Sie sollten maritime Romane schreiben, Madame«, sagte der Doktor mißbilligend.
Renate saß wie erstarrt, die Hand auf dem Herzen. Ihr Gesicht war ohnehin bleich und unausgeschlafen, und jetzt nahm es einen grünlichen Schimmer an.
»Nein«, sagte sie und wiederholte: »Nein.«
Dann las sie Clarissa streng die Leviten: »Weshalb erzählen Sie mir solche grausigen Dinge? Wissen Sie nicht, daß ich so etwas in meinem Zustand nicht hören darf?«
Schnauzer war nicht am Tisch. Es sah ihm nicht ähnlich, das Frühstück zu versäumen.
»Wo ist denn Monsieur Coche?« fragte Renate.
»El velhölt noch immel den Allestanten«, meldete der Japaner. Er hatte in den letzten Tagen seine Menschenscheu abgelegt und sah Renate nicht mehr mit gehetzten Augen an.
»Hat Monsieur Regnier denn wirklich diese unvorstellbaren Dinge gestanden?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Er redet sich noch um Kopf und Kragen! Bestimmt hat sich nur sein Verstand getrübt. Wissen Sie, mir ist längst aufgefallen, daß er nicht ganz bei sich ist. Hat er denn selbst gesagt, daß er der Sohn des Radschas ist? Womöglich noch der Sohn von Napoleon Bonaparte. Der Ärmste ist einfach übergeschnappt, das ist doch klar!«
»Nicht ganz, gnädige Frau, nicht ganz«, ertönte hinter ihr die müde Stimme von Kommissar Coche.
Renate hatte ihn nicht hereinkommen hören. Der Sturm hatte zwar aufgehört, aber die See war noch unruhig, das Schiff schaukelte auf den wütenden Wellen, und fortwährend knirschte, klirrte, knarrte etwas. Der von der Kugel durchschlagene Big Ben schaukelte - früher oder später wird das eichene Monstrum hinkrachen, dachte Renate flüchtig und konzentrierte sich wieder auf Schnauzer.
»Nun, was gibt’s da, erzählen Sie!« forderte sie.
Der Polizist ging ohne Eile zu seinem Platz und setzte sich. Er winkte dem Steward, ihm Kaffee einzugießen.
»Uff, ich bin ganz erschöpft«, klagte er. »Was ist mit den Passagieren? Wissen alle Bescheid?«
»Das ganze Schiff summt, aber Einzelheiten weiß kaum jemand«, antwortete der Doktor. »Mir hat Mr. Fox alles erzählt, und ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Anwesenden zu informieren.«
Coche blickte auf Fandorin und den rothaarigen Verrückten und schüttelte verwundert den Kopf.
»Meine Herren, Sie gehören ja nicht zu den Geschwätzigen.«
Den Sinn dieser Bemerkung begriff Renate wohl, doch das gehörte jetzt nicht zur Sache.
»Was ist mit Regnier?« fragte sie. »Hat er etwa all die Untaten gestanden?«
Schnauzer nippte mit Genuß an seinem Kaffee. Er war heute irgendwie verändert, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem zahnlosen Kläffer. Er konnte durchaus zuschnappen, und wenn man nicht aufpaßte, riß er einem ein Stück Fleisch ab. Renate beschloß, den Kommissar in Bulldogge umzutaufen.
»Feines Käffchen«, lobte Coche. »Natürlich hat er gestanden. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Ich hatte freilich meine Plage mit ihm, aber der alte Coche hat ja große Erfahrung. Jetzt sitzt er da, Ihr Freund Regnier, und bringt seine Aussagen zu Papier, ist richtig in Fahrt gekommen. Ich bin gegangen, um ihn nicht zu stören.«
»Wieso >mein Freund« protestierte Renate. »Lassen Sie das. Er ist einfach ein höflicher Mensch, der einer schwangeren Frau kleine Gefälligkeiten erweist. Ich glaube nicht, daß er solch ein Monster ist.«
»Wenn er sein Geständnis fertig hat, geb ich’s Ihnen zu lesen«, versprach Bulldogge. »Aus alter Freundschaft. Wir haben ja viele Stunden zusammen an diesem Tisch gesessen. Das wär’s dann, die Untersuchung ist abgeschlossen. Ich hoffe, Monsieur Fandorin, Sie werden sich nicht zum Advokaten meines Kunden machen? Der kommt um die Guillotine nicht herum.«
»Eher ums Irrenhaus«, sagte Renate.
Der Russe wollte wohl auch etwas sagen, verzichtete aber. Renate sah ihn mit besonderem Interesse an. Er war so frisch und hübsch, als hätte er die ganze Nacht in seinem Bett geschlafen. Und wie immer piekfein angezogen: weißes Jackett, seidene Weste voller Sternchen. Ein sehr interessanter Typ, solchen war Renate noch nicht begegnet.
Da wurde die Tür so heftig aufgerissen, daß sie beinahe aus den Angeln flog. Auf der Schwelle stand ein Matrose, der wild mit den Augen rollte. Als er Coche sah, lief er zu ihm und flüsterte ihm etwas zu, dabei fuchtelte er verzweifelt mit den Armen.
Renate horchte, fing aber nur »Bastard« und »by my mo-
thers grave«* auf.
* (engl.) Beim Grabe meiner Mutter.
Was mochte da passiert sein?
»Doktor, kommen Sie in den Korridor.« Bulldogge schob mißmutig den Teller mit dem Rührei von sich weg. »Übersetzen Sie mir, was der junge Mann da murmelt.«
Zu dritt gingen sie hinaus.
»Waaas?« donnerte draußen der Kommissar. »Wo hattest du deine Augen, du Hund?«
Sich entfernendes Füßetrappeln. Stille.
»Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis Monsieur Coche zurückkommt«, erklärte Renate entschlossen.
Die übrigen schienen der gleichen Meinung zu sein.
Im Salon »Windsor« herrschte gespanntes Schweigen.
Der Kommissar und Truffo kehrten nach einer halben Stunde mit finsterer Miene zurück.
»Es ist geschehen, was zu erwarten war«, verkündete feierlich der zu kurz geratene Doktor, ohne Fragen abzuwarten. »Unter die tragische Geschichte ist ein Punkt gesetzt. Das hat der Verbrecher selbst besorgt.«
»Ist er tot?« schrie Renate und stand mit einem Ruck auf.
»Selbstmord?« fragte Fandorin. »Aber wie? Hatten Sie keine V-vorsichtsmaßnahmen getroffen?«
»Doch, hatte ich.« Coche breitete verdrossen die Arme aus. »Im Karzer, wo ich ihn verhörte, gab es nur einen Tisch, zwei Stühle und eine Pritsche, alles am Fußboden festgeschraubt. Aber wenn ein Mensch unbedingt sterben will, ist er nicht zu bremsen. Regnier hat sich die Stirn an einem Wandvorsprung eingeschlagen. Und das hat er so geschickt gemacht, daß draußen kein Laut zu hören war. Der Posten wollte ihm das Frühstück bringen und sah ihn in einer Blutlache am Boden liegen. Ich habe angeordnet, ihn nicht zu berühren, soll er erst mal liegenbleiben.«
»Darf ich einen Blick auf ihn werfen?« fragte Fan- dorin.
»Von mir aus. Genießen Sie den Anblick, solange Sie wollen, ich frühstücke erst mal.« Und Bulldogge zog seelenruhig das erkaltete Rührei zu sich heran.
Zu viert gingen sie, um einen Blick auf den Selbstmörder zu werfen: Fandorin, Renate, der Japaner und, sonderbar, die Frau des Doktors. Wer hätte der etepeteten Ziege solche Neugier zugetraut?
Renate blickte zähneklappernd über Fandorins Schulter hinweg in den Karzer. Sie sah die wohlbekannte breitschultrige Gestalt, schräg hingestreckt, den schwarzhaarigen Kopf an der Wand. Regnier lag mit dem Gesicht nach unten, der rechte Arm war unnatürlich verdreht.
Renate ging nicht hinein, sie sah auch so genug. Die anderen hockten sich bei dem Toten hin.
Der Japaner hob den Kopf des Selbstmörders an und berührte mit dem Finger die blutige Stirn. Richtig, er war ja Arzt.
»Oh Lord, have mercy upon this sinful creature«*, sprach Madame Truffo fromm.
»Amen«, sagte Renate und wandte sich von dem schrecklichen Anblick ab.
Schweigend kehrten sie in den Salon zurück.
Zur rechten Zeit - Bulldogge hatte seine Mahlzeit beendet, wischte die fettigen Lippen mit einer Serviette ab und nahm die schwarze Mappe zur Hand.
»Ich habe versprochen, Ihnen die Aussagen unseres ehemaligen Tischgenossen zu zeigen«, sagte er unbewegt und legte drei dicht beschriebene Papierblätter vor sich hin, zwei ganze und ein halbes. »Es ist nicht nur ein Geständnis, son-
* (engl.) O Gott, erbarme dich dieses sündigen Geschöpfs.
dern ein richtiger Abschiedsbrief. Aber das ändert nichts an der Sache. Möchten Sie hören?«
Das mußte er nicht zweimal sagen, alle setzten sich rund um den Kommissar und hielten den Atem an. Bulldogge nahm das erste Blatt, hielt es ein Stück von den Augen weg und las vor.
An den Vertreter der französischen Polizei Herrn Kommissar Gustave Coche 19. April 1878, 6.15 Uhr an Bord der »Leviathan«
Ich, Charles Regnier, mache das folgende Geständnis freiwillig und ohne jedweden Zwang, einzig aus dem Wunsch, mein Gewissen zu erleichtern und die Beweggründe zu erklären, die mich zu den schweren Verbrechen trieben.
Das Schicksal ist immer grausam mit mir umgegangen...
»Nun, dieses Lied habe ich schon tausendmal gehört«, kommentierte der Kommissar. »Noch kein Mörder, Räuber oder Kinderschänder hat vor Gericht gesagt, das Schicksal habe ihn mit guten Gaben überschüttet und er, der Lump, sei ihrer nicht würdig gewesen. Na schön, hören wir weiter.
Das Schicksal ist immer grausam mit mir umgegangen, und wenn es mir in der Morgenröte des Lebens freundlich gesonnen war, dann nur, um mich später um so schmerzlicher zu treffen. Meine frühen Jahre verliefen in unbeschreiblichem Luxus. Ich war der einzige Sohn und Erbe eines märchenhaft reichen Radschas, eines sehr gütigen Mannes, der die Weisheit des Ostens wie des Westens in sich aufgenommen hatte. Bis zu meinem neunten Lebensjahr wußte ich nicht, was Bosheit, Angst,
Kränkung, ein nicht erfüllter Wunsch ist. Meine Mutter litt an Heimweh in dem fremden Land und verbrachte ihre ganze Zeit mit mir, sie erzählte mir von dem schönen Frankreich und dem fröhlichen Paris, wo sie aufgewachsen war. Mein Vater hatte sie zum erstenmal im Klub »Bagatelle« gesehen, wo sie die erste Tänzerin war, und sich besinnungslos in sie verliebt. Frangoise Regnier (so der Mädchenname meiner Mutter - ich habe ihn angenommen, als ich die französische Staatsbürgerschaft bekam) erlag den Verlockungen, welche ihr die Ehe mit dem orientalischen Herrscher verhieß, und wurde seine Frau. Aber die Heirat brachte ihr kein Glück, obwohl sie meinen Vater aufrichtig schätzte und ihm bis auf den heutigen Tag die Treue bewahrte.
Als die Welle der blutigen Empörung über Indien hinwegging, spürte mein Vater die Gefahr und schickte seine Frau und seinen Sohn nach Frankreich. Der Radscha wußte, daß die Engländer seit langem auf die Schatulle erpicht waren und gewiß eine Niedertracht aushecken würden, um die Schätze von Brahmapur in ihren Besitz zu bringen.
In der ersten Zeit lebten meine Mutter und ich in Paris sehr luxuriös - in einer eigenen Villa, umgeben von einer zahlreichen Dienerschaft. Ich besuchte eine privilegierte Schule, zusammen mit den Söhnen von gekrönten Häuptern und Millionären. Aber dann änderte sich alles, und ich mußte den Kelch der Not und der Demütigung bis zur Neige leeren.
Niemals vergesse ich den furchtbaren Tag, an dem meine Mutter mir unter Tränen eröffnete, ich hätte keinen Vater, keinen Titel und keine Heimat mehr. Ein Jahr später wurde mir über die britische Botschaft in Paris das einzige Erbstück meines Vaters ausgehändigt - ein Koran. Zu der Zeit hatte meine Mutter mich schon taufen lassen, und ich ging zur Messe, aber ich schwor mir, arabisch zu lernen und unbedingt Vaters Randnotizen in dem Heiligen Buch zu lesen. Viele Jahre später habe ich diese Absicht verwirklicht, darauf komme ich noch zurück.
»Geduld, Geduld«, sagte Coche und lächelte verschmitzt. »Wir kommen noch dahin. Einstweilen haben wir Lyrik.«
Aus der Villa zogen wir aus, gleich nachdem wir die traurige Nachricht bekommen hatten, zunächst in ein teures Hotel, dann in ein einfacheres und schließlich in ein möbliertes Zimmer. Die Dienerschaft wurde immer kleiner, und zuletzt waren wir nur noch zu zweit. Meine Mutter war noch nie praktisch gewesen, weder in ihrer stürmischen Jugend noch später. Die Juwelen, die sie nach Europa mitgenommen hatte, reichten zwei bis drei Jahre, danach gerieten wir richtig in Not. Ich besuchte eine gewöhnliche Schule, wo sie mich verprügelten und »Neger« nannten. Dieses Leben lehrte mich, verschlossen und nachtragend zu sein. Ich führte ein heimliches Tagebuch, in dem ich die Namen meiner Beleidiger festhielt, um mich an jedem einzelnen zu rächen, wenn sich die Gelegenheit bot. Und früher oder später kam eine solche Gelegenheit. Einen der Feinde aus meiner unglücklichen Jugend traf ich viele Jahre später in New York. Er erkannte mich nicht - ich trug einen anderen Namen und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem gehetzten mageren »Truthahn«, wie sie mich in der Schule hänselten. Eines Abends lauerte ich dem alten Bekannten auf als er betrunken aus der Kneipe kam. Ich nannte ihm meinen früheren Namen und unterbrach seinen erstaunten Ruf indem ich ihm das Klappmesser ins rechte Auge stieß, eine Methode, die ich in den Spelunken von Alexandria gelernt hatte. Ich gestehe diesen Mord, weil er mein Los kaum noch erschweren dürfte.
»Das stimmt«, bestätigte der Kommissar. »Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es nicht an.«
Als ich dreizehn war, zogen wir von Paris nach Marseille, weil das Leben dort billiger war und weil meine Mutter dort Verwandte hatte. Mit sechzehn tat ich einen Schritt, an den ich gar nicht denken mag, ich lief von zu Hause weg und heuerte als Schiffsjunge auf einem Schoner an. Zwei Jahre lang befuhr ich das Mittelmeer. Es war eine schwere, doch nützliche Erfahrung. Ich wurde stark, gelenkig und mitleidlos. Das half mir später, in der Marseiller Ecole Maritime der beste Schüler zu werden. Ich beendete die Schule mit einer Medaille und bin seither auf den besten Schiffen der französischen Handelsflotte gefahren. Als Ende letzten Jahres der Posten des Ersten Offiziers auf dem Superschiff »»Leviathan« ausgeschrieben wurde, sicherten mir mein Seefahrtsbuch und ausgezeichnete Empfehlungen den Sieg. Aber zu der Zeit hatte ich bereits ein großes Ziel.
Coche nahm das zweite Blatt und kündigte an: »Und jetzt kommt das Interessanteste.«
Als Kind hatte ich Unterricht im Arabischen gehabt, aber die Lehrer waren dem Erbprinzen gegenüber zu nachsichtig, und so hatte ich nur wenig gelernt. Später, als Mutter und ich in Frankreich waren, hörte der Unterricht gänzlich auf und ich vergaß bald das wenige, was ich wußte. Viele Jahre lang dünkte mich der Koran mit den Anmerkungen meines Vaters ein verwunschenes Buch, in dessen magischen Schriftzeichen sich ein gewöhnlicher Sterblicher niemals zurechtfinden kann. Wie dankbar war ich später dem Schicksal, daß ich nicht einen Kenner des Arabischen gebeten hatte, mir die Randbemerkungen
zu übersetzen! Nein, ich mußte, koste es, was es wolle, selber in dieses Geheimnis eindringen. Wieder beschäftigte ich mich mit dem Arabischen, während ich den Maghreb und die Levante bereiste. Nach und nach begann der Koran mit der Stimme meines Vaters zu mir zu sprechen. Aber es dauerte lange Jahre, bis die handschriftlichen Notizen - blumige Aussprüche von Weisen, Bruchstücke von Gedichten und Lebensratschläge des liebenden Vaters für den Sohn - mir andeuteten, daß sie eine Chiffre in sich bargen. Wenn ich die Notizen in einer bestimmten Reihenfolge las, gewannen sie den Sinn einer genauen und eingehenden Instruktion, aber das konnte nur jemand erkennen, der die Notizen auswendig gelernt, viel darüber nachgedacht und sie im Gedächtnis seines Herzens fixiert hatte. Am längsten grübelte ich über eine Zeile aus einem mir unbekannten Gedicht:
Das Tuch, von Vaters Blut gerötet, wird dir der Todesbote bringen.
Als ich vor einem Jahr die Memoiren eines englischen Generals las, der sich mit seinen »Heldentaten« während der Großen Empörung brüstete (mein Interesse an diesem Thema dürfte verständlich sein), erfuhr ich von dem Geschenk, das der Radscha von Brahmapur vor seinem Tod seinem Sohn gemacht hatte. Also war der Koran in ein Tuch eingewickelt gewesen! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen! Ein paar Monate später stellte Lord Littleby im Louvre seine Sammlung aus. Ich wurde der eifrigste Besucher. Als ich endlich das Tuch meines Vater sah, ging mir die Bedeutung dieser Zeilen auf:
Mit seiner zugespitzten Form ähnelt’s dem Berge und der Zeichnung.
Und auch dieser:
Des Vogels bodenloses Auge blickt ins Geheimnis tief hinein.
Muß ich erklären, daß ich in all den Jahren der Austreibung immer über die irdene Schatulle nachsann, in welcher aller Reichtum der Welt verborgen war? Oft genug habe ich im Traum erlebt, wie der Deckel aufgeht und ich wieder, wie in der fernen Kindheit, den überirdischen Glanz sehe.
Der Schatz gehört mir, ich bin der gesetzliche Erbe! Die Engländer haben mich bestohlen, konnten aber die Früchte ihres Treubruchs nicht genießen. Der schäbige Aasgeier Littleby, der sich mit seinen gestohlenen »Raritäten« brüstete, war in Wirklichkeit ein gewöhnlicher Hehler. Ich hatte nicht die geringsten Zweifel daran, im Recht zu sein, und fürchtete nur eines - daß ich die gestellte Aufgabe nicht bewältige.
Ich habe in der Tat eine Reihe unverzeihlicher, schrecklicher Fehler gemacht. Der erste war der Tod der Diener und besonders der armen Kinder. Natürlich wollte ich diese gänzlich unschuldigen Menschen nicht töten. Wie Sie richtig erraten haben, war ich als Arzt verkleidet, und ich habe ihnen eine Opiumlösung injiziert. Ich wollte sie nur in Schlaf versetzen, aber aus Unerfahrenheit und aus Furcht, das Schlafmittel könnte nicht wirken, habe ich die Dosis falsch berechnet.
Die zweite Erschütterung erwartete mich oben. Als ich das Glas der Vitrine zerschlagen hatte und mit vor Andacht zitternden Händen das Tuch meines Vaters ans Gesicht drückte, wurde plötzlich eine der Türen aufgerissen, und der Hausherr kam humpelnd heraus. Nach meinen Informationen sollte der Lord verreist sein, doch nun stand er plötzlich vor mir, noch dazu mit einer Pistole in der Hand! Ich hatte keine Wahl. Ich nahm die Schiwa-Statuette und schlug sie mit aller Kraft dem
Lord über den Kopf. Er stürzte nicht rückwärts, sondern nach vorn, umfaßte mich mit den Armen und beschmierte meine Kleider mit Blut. Unter dem offenstehenden weißen Kittel trug ich die Paradeuniform, deren dunkelblaue Hose mit roten Streifen den Hosen des Sanitätsdienstes sehr ähnelte. Ich war stolz auf meine Schlauheit, aber sie wurde mir letzten Endes zum Verhängnis. Im Todeskrampf riß mir der Unglückliche das Abzeichen der »Leviathan« vom Uniformrock. Ich bemerkte den Verlust erst, als ich wieder auf dem Schiff war. Zwar konnte ich mir ein Ersatzstück besorgen, aber die verhängnisvolle Spur war hinterlassen.
Ich weiß nicht, wie ich aus dem Haus gekommen bin. Durch die Tür traute ich mich nicht, ich kletterte über den Gartenzaun. Am Ufer der Seine kam ich zu mir. In der einen Hand hatte ich die blutige Statuette, in der anderen die Pistole - ich weiß nicht, wozu ich die mitgenommen hatte. Schaudernd vor Abscheu, warf ich beides in die Seine. Das Tuch hatte ich in der Tasche des Uniformrocks unter dem weißen Kittel, es wärmte mir das Herz.
Am nächsten Tag erfuhr ich aus der Zeitung, daß ich zum Mörder nicht nur von Lord Littleby, sondern auch von neun weiteren Menschen geworden war. Meine Empfindungen hierzu lasse ich weg.
»Gut so.« Der Kommissar nickte. »Es ist schon sentimental genug. Er redet wie vor Geschworenen. So als wie, urteilen Sie selbst, meine Herren, hätte ich denn anders handeln können? Sie an meiner Stelle hätten das gleiche gemacht. Pfui!« Und er las weiter vor.
Das Tuch brachte mich um den Verstand. Der Zaubervogel mit dem leeren Auge hatte eine seltsame Macht über mich. Ich handelte gleichsam nicht aus eigenem Antrieb, sondern einer leisen Stimme gehorchend, die mich führte und leitete.
»Na, da wirft er wohl eine Angel aus in Richtung psychischer Unzurechnungsfähigkeit.« Bulldogge lachte verstehend. »Das kennen wir, das haben wir oft gehört.«
Als wir durch den Suezkanal fuhren, verschwand das Tuch aus meinem Sekretär. Ich fühlte mich der Willkür des Schicksals ausgeliefert. Mir kam überhaupt nicht in den Sinn, das Tuch könnte gestohlen sein. Zu dem Zeitpunkt war ich schon dermaßen in der Gewalt eines mystischen Gefühls, daß mir das Tuch wie ein lebendiges beseeltes Wesen vorkam. Es hatte mich für unwürdig befunden und mich verlassen. Ich war untröstlich, und wenn ich nicht Hand an mich legte, so nur in der Hoffnung, das Tuch werde sich meiner erbarmen und zu mir zurückkehren. Es kostete mich gewaltige Mühe, Ihnen und meinen Kollegen meine Verzweiflung zu verbergen.
Und dann, am Tag vor der Ankunft in Aden, geschah das Wunder! Ich lief in die Kabine von Madame Kleber, nachdem ich ihren Schreckensschrei gehört hatte, und sah den plötzlich aufgetauchten Neger, der mein verschwundenes Tuch um den Hals trug. Jetzt ist mir klar, daß der Wilde ein paar Tage zuvor in meiner Kabine gewesen war und das bunte Tuch einfach mitgenommen hatte, aber damals spürte ich ein mit nichts zu vergleichendes heiliges Entsetzen. Der schwarze Engel der Finsternis schien aus der Hölle gekommen, um mir meinen Schatz zurückzugeben!
In dem sich entspinnenden Kampf tötete ich den Dunkelhäutigen, dann nutzte ich den halb ohnmächtigen Zustand von Madame Kleber, um dem Toten das Tuch unbemerkt abzunehmen. Seither habe ich es stets auf der Brust getragen und mich keinen Moment davon getrennt.
Den Mord an Professor Sweetchild habe ich kaltblütig verübt, mit einer Berechnung, die mich selbst begeisterte. Meine übernatürliche Voraussicht und Reaktionsschnelligkeit führe ich auf den magischen Einfluß des Tuchs zurück. Aus den ersten verworrenen Worten Sweetchilds ersah ich, daß er sich zum Geheimnis des Tuchs vorgearbeitet hatte und auf die Spur des Rad- scha-Sohnes gestoßen war - auf meine Spur. Ich mußte den Professor zum Schweigen bringen, und ich tat es. Das Tuch war mit mir zufrieden, das spürte ich daran, daß das Seidengewebe sich erwärmte und mein geschundenes Herz liebkoste.
Aber die Beseitigung Sweetchilds gab mir nur einen Aufschub. Sie, Kommissar, hatten mich schon von allen Seiten umstellt. Bis zur Ankunft in Kalkutta würden Sie und insbesondere Ihr scharfsinniger Assistent Fandorin .
Coche brummte unzufrieden und warf einen Seitenblick auf den Russen.
»Gratuliere, Monsieur. Ein Mörder würdigt Sie eines Kompliments. Immerhin danke, daß er Sie zu meinem Assistenten ernannt hat und nicht mich zu dem Ihren.«
Es läßt sich denken, mit welchem Vergnügen der Kommissar diese Zeile gestrichen hätte, um sie seinen Pariser Vorgesetzten vorzuenthalten. Aber aus einem Lied läßt sich kein Wort hinauswerfen. Renate sah den Russen an. Der zupfte an einer Schnurrbartspitze und bat den Kommissar fortzufahren.
. Ihr scharfsinniger Assistent Fandorin ganz sicher einen Verdächtigen nach dem anderen ausgeschlossen haben, und dann wäre nur noch ich übriggeblieben. Ein einziges Telegramm an die Einwanderungsbehörde des Innenministeriums hätte genügt, um herauszufinden, welchen Namen der Sohn des Rad- schas Bagdassar jetzt trägt. Und aus den Registern der Ecole
Maritime geht hervor, daß ich unter dem einen Namen dort eingetreten und unter einem anderen ausgeschieden bin.
Und da begriff ich, daß das leere Auge des Paradiesvogels nicht der Weg zu irdischer Glückseligkeit ist, sondern der Weg ins ewige NICHTS. Ich faßte den Entschluß, in den Abgrund zu gehen, aber nicht als jämmerlicher Verlierer, sondern als großer Radscha. Meine edlen Vorfahren sind niemals allein gestorben. Ihre Diener, Ehefrauen und Beischläferinnen folgten ihnen auf den Scheiterhaufen. Ich habe nicht als Herrscher gelebt, aber dafür werde ich sterben, wie es sich für einen wahren Herrscher ziemt - so mein Entschluß. Und auf meine letzte Reise nehme ich nicht Sklaven und Dienerinnen mit, sondern die Blüte der europäischen Gesellschaft. Mein Leichenwagen wird ein riesiges Schiff sein, ein Wunderwerk des europäischen technischen Fortschritts! Die Größe dieses Plans überwältigte mich. Das ist ja noch grandioser als der Besitz eines unermeßlichen Reichtums!
»Da lügt er«, sagte Coche heftig. »Uns wollte er ersäufen, aber für sich hatte er ein Boot bereitgehalten.«
Er nahm das letzte Blatt, das halbe.
Der Trick, den ich gegen Kapitän Cliff anwandte, war infam, das gebe ich zu. Zu meiner teilweisen Rechtfertigung kann ich sagen, daß ich einen so betrüblichen Ausgang nicht erwartet habe. Ich empfinde für Cliff aufrichtige Hochachtung. Ich wollte das Schiff in meine Gewalt bringen, und ich wollte dem großartigen Alten das Leben retten. Ich dachte: Er wird sich eine Zeitlang um seine Tochter sorgen, und dann zeigt sich, daß sie gesund und munter ist. Doch leider, das böse Verhängnis verfolgt mich in allem. Konnte ich vorhersehen, daß den Kapitän der Schlag trifft? Das verfluchte Tuch, es ist an allem schuld!
An dem Tag, an dem die »Leviathan« aus dem Hafen von Bombay auslief habe ich das bunte Seidendreieck verbrannt. Ich habe die Brücken hinter mir abgebrochen.
»Verbrannt?« rief Clarissa Stomp. »Das Tuch existiert nicht mehr?«
Renate saugte sich mit dem Blick an Bulldogge fest. Der zuckte gleichmütig die Achseln und sagte: »Gott sei Dank existiert es nicht mehr. Zum Teufel mit den Schätzen, das sage ich Ihnen, meine Damen und Herren.«
Was für ein Seneca hatte sich da gefunden! Renate rieb sich konzentriert das Kinn.
Es fällt Ihnen schwer, das zu glauben? Nun, als Beweis meiner Aufrichtigkeit gebe ich das Geheimnis des Tuchs preis. Dieses zu wahren ist nicht mehr notwendig.
Der Kommissar unterbrach sich und sah den Russen pfiffig an.
»Wenn ich mich recht entsinne, Monsieur, haben Sie in der letzten Nacht geprahlt, Sie hätten dieses Rätsel gelöst. Sagen Sie uns Ihre Lösung, dann werden wir prüfen, ob Sie so scharfsinnig sind, wie der Tote glaubte.«
Fandorin war kein bißchen verlegen.
»Es ist z-ziemlich einfach«, sagte er lässig.
Wie er sich aufspielt, dachte Renate, aber er ist gut. Ob er es wirklich herausgefunden hat?
»Also, was wissen wir über das Tuch? Es ist d-dreieckig, wobei die eine Seite glatt ist und die anderen beiden etwas gewellt sind. Erstens. Abgebildet ist ein Vogel, der statt des Auges ein L-loch hat. Zweitens. Sie werden sich an die Beschreibung des Brahmapurer Palastes erinnern, insbesondere des Obergeschosses: die Berge am Horizont, die sich in den Fresken zu spiegeln scheinen. D-drittens.«
»Ja, wir erinnern uns, na und?« fragte der Psychopath.
»Aber Sir Reginald«, sagte der Russe mit gespielter Verwunderung. »Wir beide haben doch die Z-zeichnung von Sweetchild gesehen! Darin war alles, was zur Enträtselung gebraucht wird: das dreieckige Tuch, die Zickzacklinie, das Wort >Palast<.«
Er zog ein Taschentuch heraus und faltete es in der Diagonale, so daß ein Dreieck entstand.
»Das Tuch ist der Sch-schlüssel, mit dessen Hilfe man das Versteck des Schatzes findet. Die Form des Tuches entspricht den Konturen eines der Berge, die auf den Fresken dargestellt sind. Man muß nur die obere Ecke des T-tuches an den Gipfel dieses Berges anlegen. So.« Er legte das Dreieck auf den Tisch und umfuhr es mit dem Finger. »Dann bezeichnet das Auge des Paradiesvogels die Stelle, wo man suchen muß. Natürlich nicht auf dem gemalten, sondern auf dem wirklichen Berg. Dort wird es eine Höhle oder etwas Ähnliches geben. Kommissar, habe ich recht oder irre ich mich?«
Alle wandten sich Coche zu. Der blies seine Hängebacken auf, zog die buschigen Augenbrauen zusammen und sah nun wirklich wie eine mürrische alte Bulldogge aus.
»Ich weiß nicht, wie Sie das fertigbringen«, knurrte er. »Ich habe diesen Text schon dort im Karzer gelesen und ihn keine Sekunde aus der Hand gegeben ... Na schön, hören Sie.«
Im Palast meines Vaters sind vier Säle, in denen früher die offiziellen Veranstaltungen stattfanden: im nördlichen Saal die des Winters, im südlichen die des Sommers, im östlichen die des Frühlings und im westlichen die des Herbstes. Sie werden sich erinnern, daß der verstorbene Sweetchild davon erzählte. An den Wänden sind tatsächlich Fresken, welche die Gebirgslandschaft darstellen, auf die man durch die hohen, vom Fußboden bis zur Decke reichenden Fenster blickt. Es sind viele Jahre vergangen, aber ich brauche nur die Augen zu schließen, um diese Landschaft vor mir zu haben. Ich habe viele Reisen gemacht und vieles gesehen, aber einen schöneren Anblick gibt es auf der ganzen Welt nicht! Mein Vater hat die Schatulle unter einem braunen Felsblock auf einem der Berge versteckt. Welcher der vielen Berge das ist, findet man heraus, indem man das Tuch nacheinander an die Berge auf den Fresken hält. Der Berg, dessen Silhouette sich mit der auf dem Tuch deckt, bewahrt den Schatz. Die Stelle, wo man den Felsblock zu suchen hat, wird durch das leere Vogelauge markiert. Natürlich wird selbst ein Mensch, der weiß, in welchem Sektor er suchen muß, viele Stunden oder gar Tage brauchen, um den Stein zu finden, denn die Suchzone umfaßt Hunderte Meter. Aber ein Irrtum ist ausgeschlossen. In den Bergen gibt es viele braune Felsblöcke, aber auf dem betreffenden Berghang nur einen. Das Staubkorn im Auge ist ein brauner Stein, einer unter lauter grauen<, lautet eine Eintragung im Koran. Viele Male habe ich mir vorgestellt, wie ich auf dem heiligen Berg mein Zelt aufschlage und ohne Hast, mit stockendem Herzschlag den Hang absuche, um dieses >Staubkorn< zu finden. Aber das Schicksal hat es anders gewollt.
Nun denn, den Smaragden, Saphiren, Rubinen und Diamanten scheint es beschieden, dort so lange zu liegen, bis ein Erdbeben den Felsblock hinunterwirft. Doch selbst wenn das erst in hunderttausend Jahren geschieht, werden die Edelsteine keinen Schaden nehmen - sie sind ewig.
Ich aber bin am Ende. Das verfluchte Tuch hat meine Kräfte aufgezehrt. Das Leben hat seinen Sinn verloren. Ich bin erledigt, ich habe den Verstand verloren.
»Damit hat er recht«, sagte der Kommissar abschließend und legte das halbe Blatt weg. »Damit endet der Brief.«
»Nun, Legnier-san hat lichtig gehandelt«, sagte der Japaner. »El hat unwüldig gelebt, ist abel wüldig gestolben. Dafül wild ihm vieles velgeben, und im nächsten Leben bekommt el eine neue Chance, seine Velblechen wiedel gutzumachen.«
»Ich weiß nicht, wie das mit dem nächsten Leben ist.« Bulldogge legte die Blätter sorgfältig zusammen und verwahrte sie in der schwarzen Mappe. »Meine Untersuchung ist gottlob beendet. In Kalkutta ruhe ich mich ein wenig aus, dann geht es zurück nach Paris. Der Fall ist abgeschlossen.«
Da bereitete der russische Diplomat Renate Kleber eine Überraschung.
»A-abgeschlossen?« fragte er laut. »Sie haben es wieder zu eilig, Kommissar.« Er wandte sich Renate zu und richtete die stählernen Mündungen seiner kalten blauen Augen auf sie. »Will Madame Kleber uns denn nichts erzählen?«
Diese Frage kam für alle unerwartet. Doch nein, nicht für alle - Clarissa sah verwundert, daß die werdende Mutter nicht im geringsten die Fassung verlor. Zwar wurde sie eine Spur blasser und biß sich kurz auf die volle Unterlippe, aber sie antwortete prompt und selbstsicher: »Sie haben recht, Monsieur, ich habe etwas zu erzählen. Aber nicht Ihnen, sondern dem Vertreter des Gesetzes.«
Sie warf dem Kommissar einen hilflosen Blick zu und sagte flehend: »Um Gottes willen, mein Herr, ich möchte mein Geständnis unter vier Augen machen.«
Die Ereignisse schienen für Coche eine gänzlich unerwartete Wendung zu nehmen. Er blinzelte verwirrt, sah Fan- dorin argwöhnisch an, schob gewichtig das Doppelkinn vor und dröhnte: »Gut, gehen wir in meine Kabine, wenn Sie solchen Wert darauf legen.«
Clarissa gewann den Eindruck, daß der Polizist keine Ahnung hatte, was Madame Kleber ihm gestehen würde.
Nun, das war dem Kommissar kaum vorzuwerfen - Cla- rissa kam ja mit dem Tempo der Ereignisse auch nicht mit.
Kaum hatte sich die Tür hinter Coche und seiner Begleiterin geschlossen, warf Clarissa einen fragenden Blick auf Fandorin, der als einziger zu wissen schien, was vorging. Zum erstenmal wagte sie ihn wieder direkt anzusehen, nicht von der Seite und unter gesenkten Wimpern hervor.
Noch nie hatte sie Erast (ja, im stillen konnte sie ihn beim
Vornamen nennen) so entmutigt gesehen. Seine Stirn war gefurcht, in den Augen stand Unruhe, die Finger trommelten nervös auf dem Tisch. Sollte auch dieser selbstsichere, blitzartig reagierende Mann die Kontrolle über den Lauf der Ereignisse verloren haben? In der vergangenen Nacht hatte sie ihn schon verlegen gesehen, doch nur für einen Moment. Da hatte er rasch seine Fassung wiedergefunden.
Das war so gewesen.
Nach der Katastrophe von Bombay hatte sie sich drei Tage in ihrer Kabine verkrochen. Sie hatte der Stewardeß gesagt, sie wäre krank, und hatte sich das Essen bringen lassen. Nur im Schutz der Nacht war sie spazierengegangen, wie eine Diebin.
An ihrer Gesundheit war nichts auszusetzen, aber wie sollte sie den Zeugen ihrer Schmach vor die Augen treten, besonders ihm? Der Schurke Coche hatte sie zum Gespött gemacht, sie gedemütigt, mit Schmutz beworfen. Und das Schlimmste, sie konnte ihn nicht mal der Lüge zeihen - es stimmte alles, vom ersten bis zum letzten Wort. Ja, gleich nachdem sie ihr Erbe angetreten hatte, war sie nach Paris geeilt, in die Stadt, von der sie so viel gehört und gelesen hatte. Wie eine Motte zum Licht. Und hatte sich die Flügel versengt. Die schmachvolle Geschichte hatte ihr ohnehin den letzten Krümel Selbstachtung geraubt, und jetzt wußten auch noch alle: Miss Stomp ist ein Flittchen, eine vertrauensselige Idiotin, verächtliches Opfer eines professionellen Gigolo!
Mrs. Truffo schaute zweimal herein, um nach ihrer Gesundheit zu fragen. Natürlich wollte sie sich nur an Claris- sas Demütigung weiden. Sie seufzte gekünstelt und jammerte über die Hitze, aber ihre farblosen Äuglein glitzerten triumphierend - na, meine Liebe, wer von uns ist nun eine richtige Lady?
Der Japaner kam und sagte, bei ihnen sei es üblich, einen »Klankenbesuch« zu machen. Er bot seine ärztlichen Dienste an und blickte teilnahmsvoll.
Endlich klopfte auch Fandorin. Clarissa wies ihn ab und öffnete nicht, berief sich auf ihre Migräne.
Macht nichts, sagte sie sich, während sie ihr Beefsteak in völliger Einsamkeit verzehrte. Die neun Tage bis Kalkutta werden auch vergehen. Neun Tage eingeschlossen zu sein, was war das schon, nachdem sie fast ein Vierteljahrhundert eingesperrt gewesen war. Hier hatte sie es ja viel besser als im Hause ihrer Tante. Sie war allein in einer komfortablen Kabine, hatte gute Bücher. In Kalkutta würde sie sich still und leise ans Ufer verdrücken, um dann wirklich eine neue unbeschriebene Seite anzufangen.
Aber am dritten Tag gegen Abend setzten ihr ganz andere Gedanken zu. Oh, wie recht hatte der Barde, von dem die Zeilen stammten:
Wie süß ist’s doch, die Freiheit zu gewinnen, wenn alles weg ist, was man schätzte einst!
Wie es aussah, hatte sie tatsächlich nichts mehr zu verlieren. Spät nachts, Mitternacht war schon vorüber, ordnete Clarissa entschlossen ihre Frisur, puderte ein wenig das Gesicht, legte das elfenbeinfarbene Kleid aus Paris an, das ihr so gut stand, und ging in den Korridor. Das Schiff schlingerte, und sie wurde von Wand zu Wand geworfen.
Bemüht, an nichts zu denken, blieb sie vor der Tür der Kabine 18 stehen, die erhobene Hand zögerte für einen Moment, nur für einen Moment, und klopfte.
Erast öffnete fast sofort. Er trug einen dunkelblauen ungarischen Hausrock mit Schnüren, aus dem breiten Ausschnitt schimmerte ein weißes Hemd.
»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte Clarissa kategorisch, sie hatte nicht einmal gegrüßt.
»Guten A-abend, Miss Stomp«, sagte er rasch. »Ist etwas passiert?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, bat er: »Einen Moment Geduld. Ich z-ziehe mich rasch um.«
Als er sie einließ, war er im Gehrock mit tadellos gebundenem Halstuch. Mit einer Geste bat er sie, Platz zu nehmen.
Clarissa setzte sich, sah ihm in die Augen und äußerte sich wie folgt: »Unterbrechen Sie mich nicht. Wenn ich den Faden verliere, wird es noch fataler . Ich weiß, ich bin viel älter als Sie. Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig? Noch jünger? Macht nichts. Ich will Sie ja nicht ersuchen, mich zu heiraten. Aber Sie gefallen mir. Ich bin in Sie verliebt. Meine ganze Erziehung war darauf gerichtet, niemals und unter gar keinen Umständen so etwas zu einem Mann zu sagen, aber das ist mir jetzt gleich. Ich möchte keine Zeit mehr verlieren. Ich habe ohnehin schon die besten Jahre meines Lebens vertan. Ich verwelke, ohne erblüht zu sein. Wenn ich Ihnen auch nur ein bißchen gefalle, sagen Sie es mir. Wenn nicht, sagen Sie es auch. Nach der Schmach, die ich habe durchmachen müssen, kann es nicht mehr viel schlimmer werden. Und Sie sollen wissen: Mein Pariser ... Abenteuer war ein Alptraum, aber es tut mir nicht leid. Lieber ein Alptraum als die schläfrige Benommenheit, in der ich mein bisheriges Leben verbracht habe. Und nun antworten Sie mir, schweigen Sie nicht!«
Du lieber Gott, hatte sie das wirklich laut sagen können? Darauf konnte sie wohl stolz sein.
Fandorin war im ersten Moment perplex, klapperte sogar ganz unromantisch mit den langen Wimpern. Dann sagte er - langsam und mehr als sonst stotternd: »Miss Stomp ... C-clarissa ... Sie gefallen mir. Sehr sogar. Ich bin von Ihnen h-hingerissen. Und ich b-beneide Sie.«
»Sie beneiden mich? Um was?« fragte sie verdutzt.
»Um Ihren Mut. Darum, daß Sie keine A-angst haben, eine Absage zu bekommen und sich lächerlich zu machen. W-wissen Sie, ich bin eigentlich ein sehr schüchterner Mensch mit wenig Selbstvertrauen.«
»Sie?« Clarissa staunte noch mehr.
»Ja. Ich habe F-furcht vor zwei Dingen: in eine lächerliche oder peinliche S-situation zu geraten und . meine Verteidigung zu schwächen.«
Nein, sie verstand ihn überhaupt nicht.
»Welche Verteidigung?«
»Schauen Sie, ich habe früh erfahren müssen, was ein V-verlust ist, es war eine tiefe Erschütterung - sicherlich fürs ganze Leben. Solange ich allein bin, ist meine V-verteidigung gegen das Schicksal stark, und ich fürchte nichts und niemanden. Für einen Menschen meiner Art ist es am besten, allein zu sein.«
»Mr. Fandorin, ich sagte Ihnen schon, daß ich keineswegs einen Platz in Ihrem Leben beanspruche«, antwortete Clarissa streng, »nicht einmal einen Platz in Ihrem Herzen. Und schon gar nicht plane ich einen Anschlag auf Ihre >Verteidigung<.«
Sie verstummte, denn es war alles gesagt.
Doch ausgerechnet in diesem Moment wurde gegen die Tür gehämmert. Im Korridor schallte die aufgeregte Stimme von Milford-Stokes: »Mr. Fandorin, Sir! Schlafen Sie? Machen Sie auf! Schnell! Eine Verschwörung!«
»Bleiben Sie hier«, flüsterte Fandorin. »Ich bin gleich wieder da.«
Er ging in den Korridor. Clarissa hörte gedämpfte Stimmen, konnte aber nichts verstehen.
Nach fünf Minuten war Fandorin wieder da. Er entnahm der Schreibtischschublade einen kleinen, aber schweren Gegenstand und steckte ihn in die Tasche, dann ergriff er noch seinen eleganten Rohrstock und sagte besorgt: »Bleiben Sie noch ein Weilchen hier und gehen Sie dann in Ihre Kabine. Der Fall scheint sich dem Finale zu nähern.«
Was für ein Finale mochte er meinen? Später, schon in ihrer Kabine, hörte Clarissa Schritte durch den Korridor poltern und Stimmen aufgeregt reden, aber sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß über den Masten der stolzen »Leviathan« der Tod schwebte.
»Was will Madame Kleber denn gestehen?« fragte Doktor Truffo nervös. »Monsieur Fandorin, erklären Sie uns, was vorgeht. Was hat sie damit zu tun?«
Aber Fandorin schwieg und guckte noch griesgrämiger.
Die »Leviathan«, unter den regelmäßigen Stößen der seitlich anrollenden Wellen schlingernd, zerschnitt mit Volldampf das nach dem Sturm trübe Wasser der Palkstraße. In der Ferne war, ein grüner Streifen, die Küste von Ceylon zu erkennen. Es war ein diesiger, doch schwüler Morgen. Durch die offenen Fenster der Windseite drang von Zeit zu Zeit ein faulig heißer Luftstrom in den Salon, fand aber keinen Ausweg und sank kraftlos in sich zusammen, wobei er die Stores ein wenig bewegte.
»Ich glaube, ich habe einen F-fehler gemacht«, murmelte Fandorin. »Die ganze Zeit bin ich einen Schritt, einen halben Schritt zurück hinter ...«
Als der erste Schuß krachte, begriff Clarissa nicht, was das war. Es konnte ja vieles krachen auf einem Schiff, das durch eine unruhige See lief. Aber da krachte es schon wieder.
»Revolverschüsse!« rief Milford-Stokes. »Aber wo?«
»In der Kabine des Kommissars!« sagte Fandorin rasch und stürzte zur Tür.
Alle liefen hinter ihm her.
Es krachte zum dritten und, als es nur noch zwanzig Schritte bis zu Coches Kabine waren, zum vierten Mal.
»Bleiben Sie hier stehen!« schrie Fandorin, ohne sich umzudrehen, und zog einen kleinen Revolver aus der Gesäßtasche.
Die anderen verlangsamten den Schritt, nur Clarissa hatte keine Angst und wollte nicht hinter Erast zurückbleiben.
Er stieß die Kabinentür auf und hob die Hand mit dem Revolver. Clarissa stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute ihm über die Schulter.
Ein umgestürzter Stuhl war das erste, was sie sah. Dann erblickte sie Kommissar Coche. Er lag hinter dem polierten runden Tisch in der Mitte des Raums. Clarissa bog den Hals, um den Liegenden besser zu sehen, und fuhr zusammen: Coches Gesicht war ungeheuerlich verzerrt, und mitten aus der Stirn quoll blasig dunkles Blut, das in zwei Rinnsalen zu Boden lief.
In der gegenüberliegenden Ecke drückte sich Renate Kleber an die Wand. Sie war totenbleich, schluchzte hysterisch, und ihre Zähne klapperten. In ihrer Hand zuckte ein großer schwarzer Revolver mit qualmender Mündung.
»Aah! Huuh!« heulte sie und zeigte mit zitterndem Finger auf den Toten. »Ich ... ich habe ihn getötet!«
»Ich dachte es mir«, sagte Fandorin bündig.
Ohne seinen Revolver zu senken, ging er schnell auf die
Schweizerin zu und riß ihr mit einer geschickten Bewegung die Waffe aus der Hand. Sie dachte nicht an Widerstand.
»Doktor Truffo!« rief er, wobei er jede Bewegung Renates beobachtete. »Kommen Sie her!«
Der Arzt äugte mit furchtsamer Neugier in die von Pulverqualm erfüllte Kabine.
»Untersuchen Sie die Leiche«, sagte Fandorin.
Truffo, halblaut auf italienisch wehklagend, kniete neben dem toten Coche nieder.
»Letale Kopfverletzung«, meldete er. »Der Tod ist sofort eingetreten. Aber das ist nicht alles . Der rechte Ellbogen ist durchschossen. Und hier, das linke Handgelenk. Drei Wunden.«
»Suchen Sie weiter. Es waren vier Sch-schüsse.«
»Mehr ist nicht. Eine der Kugeln hat ihn wohl verfehlt. Doch nein, Moment mal! Da, im rechten Knie!«
»Ich sage alles«, stammelte Renate, von Schluchzen gebeutelt, »nur bringen Sie mich weg aus diesem entsetzlichen Zimmer!«
Fandorin steckte den kleinen Revolver in die Tasche, den großen legte er auf den Tisch.
»Also, gehen wir. Doktor, berichten Sie dem Chef der Wache, was passiert ist, er soll einen Posten vor die Tür stellen. Und kommen Sie dann zu uns in den Salon. Außer uns kann niemand die Untersuchung durchführen.«
»Was für eine schreckliche Reise!« jammerte Truffo, während er den Korridor entlangtrippelte. »Arme >Leviathan
Im Salon »Windsor« nahmen sie folgendermaßen Platz: Madame Kleber am Tisch mit dem Gesicht zur Tür, die übrigen, ohne sich abgesprochen zu haben, ihr gegenüber. Nur Fan- dorin saß auf dem Stuhl neben der Mörderin.
»Meine Herren, sehen Sie mich nicht so an«, rief Madame Kleber kläglich. »Ich habe ihn getötet, aber ich bin nicht schuldig. Ich erzähle Ihnen alles, und Sie werden mir zustimmen. Aber geben Sie mir um Gottes willen ein Glas Wasser.«
Der mitleidige Japaner goß ihr Limonade ein - der Tisch war nach dem Frühstück noch nicht abgeräumt worden.
»Also, was ist passiert?« fragte Clarissa.
»Translate everything she says«, befahl Mrs. Truffo streng ihrem rechtzeitig zurückgekehrten Mann. »Everything, word for word.«*
Der Doktor nickte und wischte sich mit dem Taschentuch die schweißbedeckte Glatze.
»Fürchten Sie nichts, gnädige Frau. Sagen Sie die ganze Wahrheit«, ermunterte Milford-Stokes Madame Kleber. »Dieser Herr ist kein Gentleman, er versteht sich nicht auf den Umgang mit einer Dame, aber ich garantiere Ihnen eine achtungsvolle Haltung.«
Diese Worte waren von einem Blick auf Fandorin begleitet, einem so haßerfüllten Blick, daß Clarissa erstarrte. Was mochte seit gestern zwischen Erast und Milford-Stokes vorgefallen sein? Woher diese Feindschaft?
»Danke, lieber Reginald«, schluchzte Renate.
Sie trank ausgiebig Limonade, zog die Nase hoch und schniefte. Dann warf sie einen flehenden Blick auf ihre Gegenüber und begann: »Coche ist kein Gesetzeshüter! Er ist ein Verbrecher, ein Verrückter! Hier haben alle den Verstand verloren wegen des gräßlichen Tuchs! Sogar der Polizeikommissar!«
»Sie haben gesagt, Sie wollen ihm ein Geständnis ablegen«, erinnerte Clarissa sie feindselig. »Welches?«
* (engl.) Übersetze alles, was sie sagt, Wort für Wort.
»Ja, ich habe einen Umstand verschwiegen . Einen wesentlichen Umstand. Ich hätte bestimmt alles zugegeben, aber ich wollte zuerst den Kommissar überführen.«
»Überführen? Wessen?« fragte Milford-Stokes teilnahmsvoll.
Madame Klebers Tränen versiegten, und sie verkündete triumphierend: »Regnier hat nicht Selbstmord begangen. Kommissar Coche hat ihn umgebracht!« Und als sie die Erschütterung der Zuhörer sah, sprach sie schnell weiter. »Das ist doch offensichtlich! Versuchen Sie mal, sich in einem Zimmerchen von sechs Quadratmetern mit einem Anlauf den Kopf an der Wand zu zerschlagen! Das ist einfach unmöglich. Wenn Charles sich das Leben hätte nehmen wollen, hätte er den Schlips an das Gitter der Ventilation gebunden und wäre vom Stuhl gesprungen. Nein, Coche hat ihn ermordet! Er hat ihm etwas Schweres auf den Kopf gehauen und dann den Selbstmord vorgetäuscht - hat den bereits Toten mit dem Kopf gegen den Wandvorsprung geschleudert.«
»Aber wozu brauchte der Kommissar den Tod Regniers?« Clarissa schüttelte skeptisch den Kopf. Madame Kleber redete eindeutig Unsinn.
»Ich sage doch, er war übergeschnappt vor Habgier! An allem ist das Tuch schuld! Ob Coche wütend auf Charles war, weil der das Tuch verbrannt hatte, oder ob er ihm nicht glaubte, weiß ich nicht. Aber Coche hat ihn getötet, das steht fest. Und als ich ihm das ins Gesicht sagte, hat er es nicht mal bestritten. Er zog seinen Revolver, fuchtelte damit, drohte mir. Wenn ich nicht den Mund hielte, sagte er, werde er mich Regnier hinterherschicken.« Renate zog wieder schniefend die Nase hoch, und - Wunder über Wunder! - der Baronet reichte ihr sein Taschentuch.
Was bedeutete diese geheimnisvolle Wandlung? Er war ihr doch stets aus dem Weg gegangen!
»Ja, und dann legte er den Revolver auf den Tisch, packte mich an den Schultern und schüttelte mich. Ich hatte solche Angst, solche Angst! Ich weiß selber nicht mehr, wie ich ihn zurückstieß und die Waffe vom Tisch nahm. Entsetzlich! Ich lief vor ihm weg, um den Tisch herum, er hinter mir her. Ich drehte mich um und drückte ab, ich weiß nicht mehr, wie oft. Endlich fiel er hin. Und dann kam Herr Fandorin.«
Renate schluchzte laut. Milford-Stokes streichelte ihr behutsam die Schulter - als berührte er eine Klapperschlange.
In die Stille hinein tönte Händeklatschen. Vor Überraschung zuckte Clarissa zusammen.
»Bravo!« Fandorin war es, der klatschte. Er lächelte spöttisch. »B-bravo, Madame Kleber. Sie sind eine große Schauspielerin.«
»Was erlauben Sie sich!« Milford-Stokes verschluckte sich vor Entrüstung, doch Fandorin brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
»Setzen Sie sich hin und hören Sie zu. Ich erzähle Ihnen, wie es wirklich war.« Fandorin war ganz ruhig und schien nicht im geringsten zu bezweifeln, daß er die Wahrheit kannte. »Madame Kleber ist nicht nur eine hervorragende Schauspielerin, sondern überhaupt eine außergewöhnliche und talentierte Person - in jeder Beziehung. Voller Schwung und Phantasie. Leider liegt ihre wichtigste Begabung im kriminellen Bereich. Madame, Sie sind an einer ganzen Reihe von Morden beteiligt. Genauer, Sie sind nicht beteiligt, Sie sind die Anstifterin. Und Regnier war Ihr Komplize.«
»Na bitte«, sagte Renate kläglich zu Milford-Stokes. »Nun ist der auch noch übergeschnappt. Und war immer so still und ruhig.«
»Das Erstaunlichste an Ihnen ist die unglaubliche Reaktionsschnelligkeit«, fuhr Fandorin ungerührt fort. »Sie verteidigen sich nie, Sie sch-schlagen stets als erste zu, Frau Sansfond. Ich darf Sie doch mit Ihrem richtigen Namen anreden?«
»Sansfond? Marie Sansfond? Die?« rief Doktor Truffo.
Clarissa ertappte sich dabei, daß sie mit offenem Munde dasaß. Milford-Stokes zog hastig die Hand von Renates Schulter weg. Renate sah Fandorin mitleidig an.
»Ja, vor Ihnen sitzt die internationale A-abenteurerin Marie Sansfond. Legendär, genial und gnadenlos. Ihr Stil - große Maßstäbe, Erfindungsreichtum, F-frechheit. Und außerdem - keine Beweise und keine Zeugen. Sowie, last but not least, die völlige Geringschätzung von Menschenleben. Die Aussagen von Charles Regnier, auf die wir noch zurückkommen, sind zur Hälfte Wahrheit und zur Hälfte L-lüge. Ich weiß nicht, Madame, wann und unter welchen Umständen Sie diesen Mann kennenlernten, aber zweierlei steht außer Zweifel. Regnier hat Sie aufrichtig geliebt und hat versucht, den Verdacht von Ihnen abzulenken, bis zum letzten Moment seines Lebens. Und das zweite: Sie haben den Sohn des Smaragdenen Radschas angestiftet, nach seinem Erbe zu suchen, sonst würde er damit kaum so viele J-jahre gewartet haben. Sie machten sich mit Lord Littleby bekannt, verschafften sich alle notwendigen Informationen und erstellten dann einen P-plan. Offensichtlich rechneten Sie anfangs darauf, ihm das Tuch durch List abspenstig zu machen, durch V-verführung, der Lord hatte ja keine Ahnung von der Bedeutung des Stoffs. Aber Sie mußten bald erkennen, daß die Aufgabe unlösbar war, denn Littleby hing wie närrisch an seiner Sammlung und würde um nichts auf der Welt auch nur ein einziges Exponat hergegeben haben. Das Tuch zu stehlen war auch nicht möglich, denn bei den Vitrinen standen immer bewaffnete Wächter. Und da beschlossen Sie, auf Nummer Sicher zu gehen - mit minimalem Risiko und, wie es Ihr Markenzeichen ist, ohne Spuren zu hinterlassen. Haben Sie eigentlich gewußt, daß der Lord an jenem verhängnisvollen Abend nicht verreist, sondern zu Hause geblieben war? Ich bin sicher, daß Sie es wußten. Sie wollten Regnier durch vergossenes Blut noch fester an sich binden. Denn die Diener hatte ja nicht er getötet, das waren Sie.«
»Ausgeschlossen!« Doktor Truffo hob die Hand. »Eine Frau ohne medizinische Ausbildung und große Erfahrung soll in drei Minuten neun Spritzen setzen? Unmöglich!«
»Erstens kann man ja neun aufgezogene Spritzen bereithalten. Und zweitens . « Fandorin nahm mit einer eleganten Bewegung einen Apfel aus der Schale und schnitt ein Stückchen ab. »Herr Regnier hatte keine Erfahrung im Umgang mit Spritzen, im Gegensatz zu Marie Sansfond. Vergessen Sie nicht, daß sie im Kloster der Vinzentinerinnen erzogen wurde. Dieser Orden hat es sich bekanntlich zur Aufgabe gemacht, armen Menschen medizinische Hilfe zu leisten, und die Vinzentinerinnen bilden ihre Zöglinge von klein auf dazu aus, in Hospitälern, Leprastationen und Armenhäusern Dienst zu tun. Alle diese Nonnen sind hochqualifizierte Krankenschwestern, und die junge Marie war, soviel ich weiß, eine der besten.«
»Richtig, das hatte ich vergessen!« Der Doktor neigte reuevoll den Kopf. »Aber fahren Sie fort. Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.«
»Also, Paris, Rue de Grenelle, Abend des 15. März. In der Villa von Lord Littleby erscheinen zwei Personen: ein junger dunkelhäutiger Arzt und eine Krankenschwester mit einer bis in die Augen herabgezogenen grauen Nonnenkapuze.
Der Arzt weist ein P-papier mit dem Stempel der Pariser Mairie vor und verlangt, daß alle im Haus Anwesenden zusammengeholt werden. Die Nonne macht die Injektionen - schnell, geschickt, schmerzlos. Später findet der Pathologe bei keinem der Toten an der Einstichstelle ein Hämatom. Marie Sansfond hatte die Ausbildung in ihrer gottgefälligen Jugend nicht vergessen. Das weitere ist bekannt, darum lasse ich die Ei-einzelheiten weg: Die Diener schlafen ein, die Verbrecher steigen hinauf in den ersten Stock, Regniers kurzer Kampf mit dem Hausherrn. Beiden Tätern entging, daß das goldene Abzeichen der >Leviathan< in der Hand des Lords blieb. Später mußten Sie, Madame, Ihrem Komplizen Ihr Abzeichen geben, denn für Sie war es leichter, einen Verdacht von sich abzulenken, als für den Ersten Offizier. Außerdem hatten Sie vermutlich mehr S-selbstvertrauen als er.«
Clarissa, die bislang Fandorin wie verzaubert angesehen hatte, warf einen raschen Blick auf Renate. Die hörte aufmerksam zu, auf ihrem Gesicht war ein verwunderter, gekränkter Ausdruck erstarrt. Wenn sie Marie Sansfond war, verriet sie sich jedenfalls nicht im geringsten.
»Mein Verdacht gegen Sie beide wurde wach an dem Tag, an dem der arme Afrikaner angeblich über Sie herfiel«, sagte der Erzähler vertraulich zu Renate und biß mit seinen regelmäßigen weißen Zähnen ein Stück von dem Apfel ab. »Das geht natürlich auf Regniers Konto - er war in Panik geraten. Sie hätten sich etwas Schlaueres einfallen lassen. Ich rekonstruiere die Kette der Ereignisse, und Sie v-verbessern mich, wenn ich mich im Detail irre. Einverstanden?«
Renate schüttelte betrübt den Kopf und stützte die runde Wange in die Hand.
»Regnier begleitete Sie zu Ihrer Kabine - Sie hatten etwas zu bereden, denn wie Ihr Komplize in seinem Geständnis schreibt, war kurz vorher das Tuch auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Als Sie Ihre Kabine betraten, sahen Sie den riesigen Neger in Ihren Sachen wühlen, und im ersten Moment erschraken Sie, wenn Sie das Gefühl der Angst überhaupt kennen. Aber im nächsten Moment erzitterten Sie vor Freude, denn der Wilde trug das berühmte Tuch um den H-hals. Nun war alles klar: Der flüchtige Sklave hatte beim Stöbern in Regniers Kabine Gefallen an dem bunten Stück Stoff gefunden und beschlossen, seinen mächtigen Hals damit zu schmücken. Auf Ihren Schrei kam Regnier hereingelaufen, sah das Tuch, verlor die Beherrschung und zog seinen Marinedolch. Sie mußten die Geschichte mit dem angeblichen Überfall erfinden - sich auf den Fußboden legen und den sch-schweren, noch warmen Körper des Toten über sich ziehen. Das war doch bestimmt nicht sehr angenehm, oder?«
»Erlauben Sie, das sind doch alles reine Vermutungen!« widersprach Milford-Stokes hitzig. »Natürlich hat der Neger Madame Kleber überfallen, das ist doch offenkundig! Sie phantasieren schon wieder, Herr russischer Diplomat!«
»Nicht im geringsten«, entgegnete Fandorin freundlich und sah den Baronet traurig oder mitleidig an. »Ich habe doch ges-sagt, daß ich schon früher Sklaven vom Volk der Ndanga gesehen habe, in türkischer Gefangenschaft. Wissen Sie, warum die im Orient so geschätzt werden? Weil sie große Kraft und Ausdauer besitzen, sich durch ein sanftes, gutartiges Wesen auszeichnen und absolut nicht zur Aggression neigen. Sie sind ein Stamm von Ackerbauern, nicht von Jägern, und sie haben noch nie Krieg geführt. Ein Ndanga konnte sich nicht auf Madame Kleber stürzen, nicht mal im Schreck. Selbst Monsieur Aono hat sich g-gewundert, daß die Finger des Wilden keine blauen Flecke auf Ihrem Hals hinterließen. Ist das nicht seltsam?«
Renate senkte nachdenklich den Kopf, als wunderte sie sich auch darüber.
»Nun zu dem Mord an Professor Sweetchild. Kaum stand fest, daß der Indologe kurz vor der Enträtselung war, da haben Sie, Madame, ihn gebeten, sich Zeit zu nehmen und alles von Anfang an und ausführlich zu erzählen, und derweil schickten Sie Ihren Komplizen weg, angeblich nach dem Schal, in Wirklichkeit aber, um den Mord vorzubereiten. Er verstand Sie ohne Worte.«
»Falsch!« rief Renate laut. »Meine Herren, Sie alle sind Zeugen! Regnier hat sich selbst erboten! Erinnern Sie sich? Nun, Monsieur Milford-Stokes, ich hatte Sie zuerst gebeten, wissen Sie noch?«
»Stimmt«, bestätigte der Baronet. »So war es.«
»Ein T-trick für Dumme.« Fandorin winkte mit dem Obstmesser ab. »Sie wußten genau, Madame, daß der Brite Sie nicht leiden konnte und nie Ihren Launen nachkam. Sie haben die Operation wie immer geschickt ins Werk gesetzt, aber diesmal leider nicht sauber genug durchgeführt. Die Schuld auf Monsieur Aono abzuwälzen ist Ihnen nicht gelungen, obwohl Sie Ihrem Z-ziel recht nahe waren.« Hier senkte Fandorin bescheiden den Blick, damit die Zuhörer sich erinnern konnten, wer es gewesen war, der die Beweiskette gegen den Japaner zerrissen hatte.
Er ist nicht frei von Eitelkeit, dachte Clarissa, aber sie fand diesen Zug ganz liebenswert, ja, er erhöhte sogar noch die Attraktivität des jungen Mannes. Das Paradox aufzulösen half wie gewöhnlich die Poesie:
Selbst Schwächen unseres geliebten Wesens erscheinen würdig in der Liebe Augen.
Ach, Mr. Diplomat, Sie kennen die Engländerinnen schlecht. Ich vermute, Sie werden in Kalkutta einen längeren Aufenthalt einlegen.
Fandorin machte eine Pause - er ahnte nicht, daß er ein »geliebtes Wesen« sei und später als angenommen in seinem Dienstort eintreffen würde - und fuhr dann fort: »Ihre Situation wurde jetzt wirklich kritisch. Regnier hat es recht p-plastisch in seinem Brief ausgemalt. Daraufhin faßten Sie den furchtbaren, aber auf seine Art genialen Entschluß: das Schiff mitsamt dem wissensdurstigen Polizeikommissar, den Zeugen und noch tausend Menschen als Zugabe zu versenken. Was bedeutete Ihnen das Leben von tausend Menschen, wenn die Sie hinderten, die reichste Frau der Welt zu werden? Schlimmer noch - wenn die Ihr Leben und Ihre Freiheit bedrohten.«
Clarissa sah Renate mit abergläubischem Entsetzen an. Sollte diese junge Frau, die ein bißchen gemein, aber insgesamt durchschnittlich war, zu solch ungeheuerlichem Verbrechen fähig sein? Undenkbar! Aber Fandorin nicht zu glauben war auch unmöglich. Er war so überzeugend und so schön!
Über Renates Wange rann eine bohnengroße Zähre. In ihren Augen stand stummes Flehen: Wofür quält ihr mich so? Was habe ich euch getan? Die Hand der Märtyrerin glitt zum Bauch, das Gesicht verzerrte sich leidend.
»Aber nicht in Ohnmacht fallen«, riet Fandorin ihr kaltblütig. »Das beste M-mittel zur Wiedererweckung ist eine Gesichtsmassage durch Backpfeifen. Und tun Sie nicht, als wären Sie schwach und hilflos. Doktor Truffo und Doktor Aono sind überzeugt, daß Sie gesünder sind als ein B-büffel. Setzen Sie sich, Sir Reginald!« Fandorins Stimme klang wie Stahl. »Sie können später für Ihre Dame eintreten, wenn ich fertig bin. Übrigens, meine Damen und Herren, unserem Sir Reginald haben wir alle für die Rettung unseres Lebens zu danken. Ohne seine ungewöhnliche Gepflogenheit, alle drei Stunden die Koordinaten des Schiffs zu überprüfen, würde das heutige Frühstück nicht hier stattfinden, sondern auf dem M-meeresgrund. Und gefrühstückt würden wir.«
»>Wo ist Polonius?<« sagte der Baronet und lachte schallend. >»Beim Nachtmahl. Nicht wo er speist, sondern wo er gespeist wird.< Lustig.«
Clarissa krümmte sich fröstelnd. Gegen die Bordwand des Schiffs schlug eine besonders schwere Welle, auf dem Tisch klirrte das Geschirr, und der ungefüge Big Ben schwankte wieder hin und her.
»Die Menschen sind für Sie Statisten, Madame, und Statisten haben Ihnen noch nie l-leid getan. Besonders wenn es um fünfzig Millionen Pfund geht. Da ist schwer zu widerstehen. Der arme Coche, zum Beispiel, hat gezaudert. Wie plump er den Mord ausgeführt hat, unser Meister der Fahndung! Sie haben natürlich r-recht - der unglückliche Regnier hat nicht Selbstmord begangen. Ich wäre auch selbst darauf gekommen, aber Ihre offensive Taktik hat mich eine Zeitlang irregeführt. Allein schon der >A-abschiedsbrief
»Abel wozu mußte el Helln Legnier elmolden?« fragte der Japaner. »Das Tuch ist doch velblannt.«
»Regnier versuchte dies dem Kommissar weiszumachen und gab, um ihn zu überzeugen, sogar das Geheimnis des Tuches preis. Aber Coche glaubte es nicht.« Fandorin machte eine Pause und fügte hinzu: »Und er hatte recht.«
Im Salon herrschte Totenstille. Clarissa, die gerade eingeatmet hatte, vergaß auszuatmen. Sie begriff nicht gleich, warum sie plötzlich solch eine Last in der Brust hatte, besann sich - und atmete aus.
»Das Tuch ist also heil?« fragte der Doktor behutsam, als fürchte er, einen seltenen Vogel aufzuscheuchen. »Aber wo ist es?«
»Dieser Fetzen dünne Seide hat heute morgen dreimal den Besitzer gewechselt. Zuerst war es bei dem verhafteten Re- gnier. Der Kommissar glaubte dem Brief nicht, durchsuchte den Gefangenen und fand das T-tuch. Und da, diesen plötzlichen Reichtum in seiner Hand haltend, drehte er durch und verübte den Mord. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Wie günstig alles gekommen war: Im Brief stand, das Tuch wäre verbrannt, der Mörder hatte alles zugegeben, das Schiff fuhr nach Kalkutta, und von dort war es ein Katzensprung nach Brahmapur! Da spielte Coche va banque. Er schlug dem nichtsahnenden Häftling etwas Schweres auf den Kopf, machte in Eile einen Selbstmord daraus und kam hierher in den Salon, um zu warten, bis der Posten die Leiche entdeckte. Aber nun trat Madame Sansfond in das Spiel ein, und sie trickste den Polizisten aus und auch mich. Sie sind eine beeindruckende Frau, Madame!« sagte Fandorin zu ihr. »Ich hatte erwartet, Sie würden sich zu rechtfertigen versuchen und alles Ihrem Komplizen in die Schuhe schieben, zumal er tot ist. Das wäre so ei-einfach gewesen! Doch nein, Sie gingen anders vor. An dem Benehmen des Kommissars konnten Sie ablesen, daß er das Tuch hatte, und Sie dachten nicht an Verteidigung, nein! Sie wollten den Schlüssel zu dem Schatz zurück, und Sie bekamen ihn zurück!«
»Warum muß ich mir eigentlich diesen ganzen Unfug anhören?« rief Renate mit tränenerstickter Stimme. »Sie, Monsieur, sind ein Nobody, ein Ausländer! Ich verlange, daß ein ranghoher Schiffsoffizier sich mit meinem Fall beschäftigt.«
Da nahm der kleine Doktor Haltung an, strich mit der Hand über das dünne Haar auf der olivfarbenen Glatze und erklärte mit Nachdruck: »Ein ranghoher Schiffsoffizier ist zur Stelle, Madame. Sie können davon ausgehen, daß dieses Verhör von der Schiffsführung sanktioniert ist. Fahren Sie fort, Monsieur Fandorin. Sie sagten, daß diese Frau dem Kommissar das Tuch abgenommen hat?«
»Ich bin davon überzeugt. Wie sie es fertigbrachte, sich seines Revolvers zu bemächtigen, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat der Ärmste sie unterschätzt. Wie dem auch sei, sie zielte auf den Kommissar und forderte, ihr auf der Stelle das Tuch auszuhändigen. Als der Alte sich sperrte, durchschoß sie ihm zuerst den einen Arm, dann den anderen, dann das Knie. Sie folterte ihn! Wo haben Sie so schießen gelernt, Madame? Vier Kugeln, und jede genau ins Ziel. Entschuldigen Sie, aber es ist schwer zu g-glauben, daß Coche Sie um den Tisch herum verfolgte, wenn er ein durchschossenes Knie und zwei verstümmelte Arme hatte. Nach dem dritten Schuß ertrug er die Schmerzen nicht mehr und rückte das Tuch heraus. Daraufhin gaben Sie dem Unglücklichen den Rest, indem Sie ihm eine Kugel mitten in die Stirn feuerten.«
»Oh my God!« kommentierte Mrs. Truffo.
Clarissa interessierte etwas anderes: »Also hat sie das Tuch?«
Fandorin nickte. »Ja.«
»Quatsch! Unsinn! Sie sind ja alle verrückt!« Renate (oder Marie Sansfond?) lachte hysterisch. »O Gott, wie absurd!«
»Das ist leicht zu klälen«, sagte der Japaner. »Madame Kle- bel muß dulchsucht welden. Wenn sie das Tuch hat, ist alles wahl. Wenn nicht, hat Monsieur Fandolin sich geillt. In solchen Fällen schneidet man sich bei uns in Japan den Bauch auf.«
»Niemals werden in meiner Gegenwart Männerhände eine Dame durchsuchen!« erklärte Milford-Stokes und stand mit drohender Miene auf.
»Und Frauenhände?« fragte Clarissa. »Madame Truffo und ich werden die Person durchsuchen.«
»Oh yes, it would take no time at all!«* stimmte die Frau des Doktors bereitwillig zu.
»Machen Sie mit mir, was Sie wollen.« Renate faltete schicksalsergeben die Hände. »Aber hinterher werden Sie sich schämen.«
Die Männer gingen hinaus, und Mrs. Truffo tastete Renate unglaublich geschickt ab. Dann blickte sie Clarissa an und schüttelte den Kopf.
Clarissa bekam Angst - um den armen Fandorin. Sollte er sich geirrt haben?
»Das Tuch ist sehr dünn«, sagte sie. »Lassen Sie mich suchen.«
Den Körper einer anderen Frau zu befühlen war sonderbar und beschämend, aber Clarissa biß die Zähne zusammen und untersuchte sorgfältig jede Naht, jede Falte, jede Rüsche an der Unterwäsche. Das Tuch war nicht da.
* (engl.) O ja, das dauert gar nicht lange.
»Sie müssen sich ausziehen!« sagte sie entschlossen. Das war schrecklich, aber noch schrecklicher war die Vorstellung, das Tuch nicht zu finden. Das wäre ein Schlag für Erast! Er würde es nicht ertragen!
Renate hob gehorsam die Arme, damit sich das Kleid leichter ausziehen ließ, und bat schüchtern: »Bei allem, was Ihnen heilig ist, Mademoiselle Stomp, tun Sie meinem Kind keinen Schaden!«
Mit zusammengebissenen Zähnen begann Clarissa ihr das Kleid aufzuknöpfen. Beim dritten Knopf klopfte es an der Tür, und Fandorin rief fröhlich: »Mesdames, beenden Sie die Visitation! Können wir hereinkommen?«
»Ja, kommen Sie«, rief Clarissa und schloß rasch die Knöpfe.
Die Männer guckten rätselhaft. Schweigend standen sie um den Tisch. Wie ein Zauberkünstler breitete Fandorin ein dreieckiges Stück Stoff auf dem Tisch aus, es schillerte in allen Regenbogenfarben.
»Das Tuch!« schrie Renate.
»Wo haben Sie es gefunden?« fragte Clarissa vollends verwirrt.
»Während Sie Madame Sansfond d-durchsuchten, haben wir auch keine Zeit verloren«, erklärte Fandorin mit zufriedener Miene. »Ich kam auf die Idee, daß diese vorausschauende Person das entlarvende Beweisstück in der Kabine des Kommissars versteckt haben könnte. Sie hatte nur wenige Sekunden Zeit und konnte nicht nach einem sicheren Versteck suchen. Und richtig, das Tuch war schnell gefunden. Sie hatte es zusammengeknüllt und unter den Teppichrand geschoben. Jetzt können Sie also den berühmten Paradiesvogel betrachten.«
Clarissa und die anderen starrten wie verzaubert auf das Tuch, das so viele Menschenleben gekostet hatte.
Es hatte die Form eines gleichschenkligen Dreiecks, jede Seite war nicht mehr als 46 Zentimeter lang. Die Zeichnung beeindruckte durch barbarische Buntheit. Vor dem Hintergrund farbenprächtiger Bäume und Früchte breitete ein Wesen, halb Frau, halb Vogel, mit spitzen Brüsten, ähnlich einer antiken Sirene, die Flügel aus. Das Gesicht war im Profil, lange gebogene Wimpern umrahmten ein kleines Augenloch, das mit feinstem Goldfaden gesäumt war. Clarissa glaubte, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben.
»Ja, das ist es, ohne Zweifel«, sagte Milford-Stokes. »Aber beweist Ihr Fund die Schuld von Madame Kleber?«
»Und die Reisetasche?« sagte Fandorin sanft. »Sie erinnern sich doch an die Tasche, die wir b-beide gestern im Kapitänskutter entdeckten? Unter anderem habe ich dort den Umhang gefunden, in dem wir Madame Kleber mehr als einmal gesehen haben. Die Tasche kommt zu den anderen Beweisstücken. Sicherlich finden wir darin weitere Gegenstände, die unserer guten B-bekannten gehören.«
»Was sagen Sie nun, Madame?« fragte der Doktor Renate.
»Die Wahrheit«, antwortete sie, und ihr Gesicht veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit.
... und in ihrem Gesicht geschah eine Veränderung, die mich bestürzte. Das schutzlose, schwache, vom Schicksalsschlag niedergedrückte Lämmlein verwandelte sich wie durch die Berührung eines Zauberstabs in eine Wölfin. Die Schultern reckten sich, das Kinn ging nach oben, die Augen bekamen ein gefährliches Feuer, und die Nasenflügel bebten. Es war, als hätten wir ein Raubtier vor uns - nein, keine Wölfin, sondern eines aus der Katzenfamilie, eine Pantherin oder Löwin, die frisches Blut wittert. Ich prallte unwillkürlich zurück. Oh, mein Schutz wurde hier nicht mehr gebraucht!
Die veränderte Mrs. Kleber warf Fandorin einen so haßlodernden Blick zu, daß selbst dieser undurchdringliche Herr zusammenzuckte.
Ich verstehe die Gefühle dieser seltsamen Frau sehr gut. Ich habe ja meine Einstellung zu dem infamen Russen auch völlig geändert. Er ist ein furchtbarer Mensch, ein bösartiger Verrückter mit einer perversen Phantasie. Wie konnte ich ihm nur Vertrauen und Achtung entgegenbringen? Unglaublich.
Ich weiß einfach nicht, wie ich Ihnen dies schreiben soll, liebste Emily. Die Feder in meiner Hand zittert vor Empörung ... Eigentlich wollte ich es Ihnen verschweigen, aber nun schreibe ich es doch, sonst wird für Sie nicht verständlich, warum meine Einstellung zu Fandorin eine solche Metamorphose durchgemacht hat.
Gestern nacht, nach all den Aufregungen und Erschütterungen, die ich Ihnen schon geschildert habe, gab es zwischen Fandorin und mir ein überaus sonderbares Gespräch, das mich in Wut und traurige Verständnislosigkeit versetzte. Er kam zu mir, dankte mir für die Rettung des Schiffs, und dann redete er mit falscher Anteilnahme, bei jedem Wort stotternd, unvorstellbaren, ungeheuerlichen Blödsinn. Er sagte folgendes, ich habe es Wort für Wort behalten: »Ich weiß von Ihrem Kummer, Sir Reginald. Kommissar Coche hat mir schon vor längerem alles erzählt. Es geht mich natürlich nichts an, und ich konnte mich lange nicht entschließen, das Gespräch darauf zu bringen, aber ich sehe, wie Sie leiden, und kann nicht gleichgültig bleiben. Ich erlaube mir, davon zu sprechen, weil ich selbst einen ebensolchen Kummer überstanden habe. Wie Ihnen jetzt, drohte mir der Verlust der Urteilskraft. Ich bewahrte meinen Verstand und schärfte ihn sogar, bezahlte jedoch mit einem großen Stück meines Herzens. Glauben Sie mir, in Ihrer Situation gibt es keinen anderen Weg. Weichen Sie nicht der Wahrheit aus, so furchtbar sie auch sein mag, und verstecken Sie sich nicht hinter einer Illusion. Und vor allem, machen Sie sich keine Vorwürfe. Es war nicht Ihre Schuld, daß die Pferde durchgingen und daß Ihre schwangere Frau aus der Kutsche fiel und zu Tode kam. Es ist eine schwere Prüfung, die Ihnen auferlegt wurde. Ich weiß nicht, welche Absicht das Schicksal mit dieser Grausamkeit verfolgt, aber ich weiß eines: Die Prüfung muß bestanden werden. Sonst ist alles zu Ende, und die Seele zerfällt.«
Ich habe gar nicht gleich begriffen, was dieser Schuft meinte. Dann ging es mir auf! Er bildete sich ein, daß Sie, meine kostbare Emily, gestorben wären! Sie wären in schwangerem Zustand aus der Kutsche gefallen und zu Tode gekommen! Wäre ich nicht so entrüstet gewesen, so würde ich dem übergeschnappten Diplomaten ins Gesicht gelacht haben! So etwas zu sagen, während ich doch weiß, daß Sie unterm lasurblauen
Himmel auf der paradiesischen Insel ungeduldig auf mich warten! Mit jeder Stunde komme ich Ihnen näher, meine zärtliche Emily. Jetzt kann nichts und niemand mehr mich aufhalten.
Nur - sonderbar - ich kann und kann mich nicht erinnern, wie und warum Sie nach Tahiti gefahren sind, noch dazu allein, ohne mich. Sie werden schwerwiegende Gründe dafür gehabt haben. Unwichtig. Wir werden uns sehen, und Sie, liebe Freundin, werden mir alles erklären.
Aber zurück zu meiner Erzählung.
Mrs. Kleber hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, war gar nicht mehr so klein (erstaunlich, wieviel von der Körper- und der Kopfhaltung abhängt), und sagte, hauptsächlich an Fandorin gewandt: »Alles, was Sie hier dahergeredet haben, ist kompletter Blödsinn. Kein einziger Beweis. Nichts als Vermutungen und unbegründete Folgerungen. Ja, mein richtiger Name ist Marie Sansfond, aber noch kein Gericht der Welt hat mir eine Anklage präsentieren können. Ja, ich bin oft verleumdet worden, zahlreiche Feinde haben Ränke gegen mich geschmiedet, und das Schicksal hat mir mehr als einmal übel mitgespielt, doch ich habe starke Nerven, und Marie Sansfond zu brechen ist nicht einfach. Ich habe mir nur eines vorzuwerfen - daß ich mich besinnungslos in einen Verbrecher und Wahnsinnigen verliebt habe. Wir haben uns heimlich trauen lassen, und ich trage sein Kind unter dem Herzen. Charles hat darauf bestanden, daß wir unsere Ehe geheimhalten. Wenn das ein Verbrechen ist - nun, ich bin bereit, mich einem Geschworenengericht zu stellen, aber Sie können sicher sein, Herr selbsternannter Kriminalist, ein gewiegter Advokat wird Ihre Chimären zerstreuen wie Rauch. Was können Sie mir eigentlich vorhalten? Daß ich in meiner Jugend im Kloster der grauen Schwestern lebte und armen Menschen ihre Leiden zu lindern versuchte? Ja, ich mußte gelegentlich Spritzen geben, und weiter? Da die mir aufgezwungene Konspiration mich sehr belastete und die Schwangerschaft kompliziert verlief, habe ich mich an Morphium gewöhnt, aber jetzt habe ich in mir die Kraft gefunden, die verderbliche Sucht aufzugeben. Mein heimlicher, aber, wohlgemerkt, rechtmäßiger Ehemann bestand darauf, daß ich diese Fahrt unter einem falschen Namen antrat. So kam es zu dem mysteriösen Schweizer Bankier Kleber. Dieser Betrug hat mich sehr gequält, doch hätte ich es dem geliebten Mann verweigern können? Ich ahnte ja nichts von seinem zweiten Leben, von seiner tödlichen Leidenschaft und schließlich von seinen aberwitzigen Plänen!
Charles sagte, er als Erster Offizier habe nicht das Recht, seine Ehefrau auf die Fahrt mitzunehmen, aber eine Trennung könne er auch nicht ertragen, und er sorge sich um unser Kind, darum solle ich unter falschem Namen mitfahren. Ich frage Sie: Ist das ein Verbrechen?
Ich habe gesehen, daß Charles nicht ganz bei sich war und daß irgendwelche dunklen Leidenschaften ihm zusetzten, aber natürlich wäre ich selbst in meinen schlimmsten Angstträumen nicht darauf gekommen, daß er das entsetzliche Verbrechen in der Rue de Grenelle begangen haben könnte. Ich hatte keine Ahnung, daß er der Sohn eines indischen Radschas war. Es war ein Schock für mich, daß mein Kind zu einem Viertel Inder sein würde. Das arme Kind, Sohn eines Wahnsinnigen. Für mich steht außer Zweifel, daß Charles in den letzten Tagen nicht zurechnungsfähig war. Kann denn ein psychisch gesunder Mensch auf die Idee verfallen, ein Schiff zu versenken? Es ist die Handlungsweise eines kranken Menschen. Natürlich habe ich von dem irrsinnigen Plan nichts gewußt.«
Da fiel ihr Fandorin ins Wort und fragte ekelhaft höhnisch: »Und Ihr vorsorglich eingepackter Umhang?«
Mrs. Kleber, nein, Miss Sansfond, das heißt, Madame Regnier ... Oder Madame Bagdassar? Ich weiß nicht, wie ich sie korrekt nennen soll. Gut, mag sie Madame Kleber bleiben, daran bin ich gewöhnt. Also, sie antwortete dem Inquisitor mit großer Würde: »Wahrscheinlich hat mein Mann alles für die Flucht vorbereitet und wollte mich erst im letzten Moment wecken.«
Fandorin konterte: »Aber Sie haben nicht geschlafen«, sagte er mit hochmütiger Miene. »Wir kamen den Korridor entlang und haben Sie gesehen. Sie waren vollständig bekleidet und trugen sogar den Schal um die Schultern.«
»Ja, eine unerklärliche Unruhe hat mir den Schlaf geraubt«, antwortete Mrs. Kleber. »Das Herz hat wohl Böses geahnt ... Mich fröstelte, darum trug ich den Schal. Ist das ein Verbrechen?«
Ich sah zu meiner Freude den freiwilligen Staatsanwalt verwirrt. Die Beschuldigte aber fuhr ruhig und selbstsicher fort: »Daß ich einen anderen Wahnsinnigen, Monsieur Coche, gefoltert haben soll, übersteigt alles Denkbare. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Der alte Schwätzer ist vor Habgier übergeschnappt und hat mich mit dem Tode bedroht. Ich weiß selber nicht, wie ich es fertigbrachte, ihn mit allen vier Schüssen zu treffen. Aber es ist reiner Zufall. Vielleicht hat die Vorsehung selbst meine Hand geführt. Nein, mein Herr, auch hier gehen Sie in die Irre.«
Von Fandorins Selbstzufriedenheit war nichts mehr übrig. »Erlauben Sie mal«, sagte er aufgeregt, »wir haben doch das Tuch gefunden! Sie hatten es unterm Teppich versteckt.«
»Noch eine unbewiesene Behauptung«, fuhr Mrs. Kleber ihn an. »Das Tuch hat natürlich Coche versteckt, nachdem er es meinem armen Mann abgenommen hatte. Und trotz Ihrer schäbigen Insinuationen danke ich Ihnen, mein Herr, daß Sie mir mein Eigentum zurückgegeben haben.«
Mit diesen Worten stand sie ruhig auf, trat an den Tisch und nahm das Tuch!
»Ich bin die rechtmäßige Gattin des rechtmäßigen Erben des Smaragdenen Radschas«, verkündete die erstaunliche Frau. »Ich besitze die Heiratsurkunde. Ich trage den Enkel von Bag- dassar. Ja, mein verstorbener Mann hat eine Reihe schwerer Verbrechen begangen, aber was hat das mit mir und meinem Erbe zu tun?«
Da sprang Miss Stomp auf und versuchte, Mrs. Kleber das Tuch zu entreißen.
»Die Besitzungen und das Eigentum des Radschas von Brahmapur sind von der britischen Regierung konfisziert!« erklärte meine Landsmännin entschlossen, und damit hatte sie recht. »Das bedeutet, daß der Schatz Ihrer Majestät Queen Victoria gehört!«
»Moment mal!« Unser guter Doktor Truffo war auch aufgesprungen. »Ich bin zwar geborener Italiener, besitze aber die französische Staatsbürgerschaft und vertrete hier Frankreichs Interessen! Die Schätze des Radschas waren persönlicher Besitz der Familie, nicht des Fürstentums Brahmapur, darum war die Konfiszierung ungesetzlich! Charles Regnier war auf eigenen freien Wunsch französischer Staatsbürger geworden. Er beging auf dem Territorium seines Landes ein schweres Verbrechen. Eine solche Untat, noch dazu aus eigensüchtigen Beweggründen, wird nach den Gesetzen der französischen Republik mit dem Einzug des persönlichen Vermögens zugunsten des Staates geahndet. Geben Sie das Tuch her, Mesdames! Es gehört Frankreich.« Und er griff auch kriegerisch nach einem Rand des Tuchs.
Es entstand eine Pattsituation, und das machte sich der tük- kische Fandorin zunutze. Mit der byzantinischen Schlauheit seiner Nation verkündete er: »Das ist eine ernste Frage, die geklärt werden muß. Erlauben Sie mir als Vertreter einer neutralen Macht, das Tuch vorübergehend an mich zu nehmen, damit es nicht zerrissen wird. Ich lege es hierher, in einiger Entfernung von den Konfliktparteien.«
Mit diesen Worten nahm er das Tuch und trug es zu einem kleinen Tisch an der Leeseite, deren Fenster geschlossen waren. Später werden Sie verstehen, liebe Emily, warum ich Ihnen alle diese Einzelheiten schreibe.
Also, das Tuch, dieser Zankapfel, lag auf dem kleinen Tisch und versprühte goldene Fünkchen. Fandorin stand davor - Ehrenposten oder Schutzwache. Wir übrigen drängten uns um den Mittagstisch. Stellen Sie sich vor: die raschelnden Vorhänge auf der Luvseite, das düstere Licht des trüben Tages und das ungleichmäßige Schaukeln des Fußbodens. Das ist die Exposition der Schlußszene.
»Niemand darf es wagen, dem Enkel des Radschas Bagdas- sar wegzunehmen, was ihm rechtmäßig gehört!« erklärte Mrs. Kleber, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich bin belgische Staatsbürgerin, und die gerichtliche Untersuchung wird in Brüssel stattfinden. Wenn ich verspreche, ein Viertel des Erbes für wohltätige Zwecke in Belgien zu stiften, werden die Geschworenen zu meinen Gunsten entscheiden. Ein Viertel des Erbes, das sind elf Milliarden belgische Francs - fünf Jahreseinkünfte des belgischen Königreichs.«
Miss Stomp lachte ihr ins Gesicht. »Sie unterschätzen Britannien, meine Liebe. Meinen Sie wirklich, daß man Ihrem jämmerlichen Belgien erlauben wird, über fünfzig Millionen Pfund zu befinden? Von diesem Geld bauen wir hundert mächtige Panzerschiffe und verdreifachen die Macht unserer Flotte, die auch so schon die erste in der Welt ist! Wir werden auf dem ganzen Planeten Ordnung schaffen!«
Miss Stomp ist eine kluge Frau. In der Tat, die Zivilisation würde nur gewinnen, wenn eine so phantastische Summe unseren Staatsschatz bereicherte. Schließlich ist Britannien das fortgeschrittenste und freieste Land auf dem Erdball. Alle Völker würden nur gewinnen, wenn sie die britische Lebensart übernähmen.
Aber Mr. Truffo vertrat eine andere Meinung. »Diese anderthalb Milliarden französische Francs werden es Frankreich ermöglichen, sich nicht nur von den tragischen Folgen des Krieges mit Deutschland zu erholen, sondern auch die modernste, bestausgerüstete Armee Europas zu schaffen. Ihr Engländer wart niemals Europäer, ihr seid Insulaner! Die Interessen Europas sind euch fremd und unbegreiflich. Monsieur de Perner, bis vor kurzem Zweiter Offizier und derzeit provisorischer Chef der >Leviathan<, wird nicht zulassen, daß das Tuch den Engländern in die Hände fällt. Ich werde ihn sofort holen, und er wird es im Safe der Kapitänskabine verwahren.«
Dann sprachen alle durcheinander, versuchten einander zu überschreien; der wild gewordene Doktor wagte sogar, mich gegen die Brust zu stoßen, und Mrs. Kleber trat Miss Stomp gegen den Knöchel.
Da nahm Fandorin einen Teller vom Tisch und schmetterte ihn krachend zu Boden. Alle starrten ihn entgeistert an, und der schlaue Russe sagte: »So werden wir unsere Probleme nicht lösen, meine Damen und Herren. Sie haben sich zu sehr ereifert. Ich schlage vor, den Salon zu lüften, es ist sehr stickig hier.«
Er trat zu den Fenstern der Leeseite und öffnete eines nach dem anderen. Als er das Fenster über dem kleinen Tisch aufriß, auf dem das Tuch lag, geschah etwas Unerwartetes: Vom Zugwind erfaßt, begann das leichte Gewebe zu wogen und flatterte plötzlich zum Fenster hinaus. Unter allgemeinem Geheul schwebte das seidene Dreieck über das Deck, wiegte sich zweimal über der
Reling, als winkte es uns zum Abschied, dann sank es weich in die Tiefe und in die Ferne. Alle verfolgten wie verzaubert den gemächlichen Flug, der irgendwo zwischen trägen schaumgekrönten Wellen endete.
»Was bin ich doch ungeschickt«, sagte Fandorin in die eingetretene Grabesstille hinein. »Soviel Geld versunken! Jetzt können weder Britannien noch Frankreich der Welt ihren Willen diktieren. Welch ein Unglück für die Zivilisation! Dabei ist das eine halbe Milliarde Rubel. Das hätte R-rußland genügt, alle seine Auslandsschulden zu bezahlen.«
Des weiteren geschah folgendes.
Mrs. Kleber stieß einen irrsinnigen Zischlaut aus, von dem es mir kalt den Rücken hinunterlief griff ein Obstmesser vom Tisch und warf sich unglaublich flink auf den Russen. Die überraschende Attacke traf ihn unvorbereitet. Die stumpfe Silberklinge zerschnitt die Luft und bohrte sich unterhalb des Schlüsselbeins in Fandorins Brust, aber wohl nicht tief. Das weiße Hemd des Diplomaten färbte sich blutig. Mein erster Gedanke war: Es gibt ja doch einen Gott, und er straft die Übeltäter. Der infame Russe kam zur Besinnung und sprang zur Seite, doch die entfesselte Furie gab sich mit dem ersten Stich nicht zufrieden, sie faßte das Heft fester und holte zu einem neuen Stoß aus.
Und da verblüffte uns alle der Japaner, der sich an der Diskussion nicht beteiligt und sich überhaupt bislang unauffällig verhalten hatte. Er sprang hoch, fast bis zur Decke, stieß einen kehligen Adlerschrei aus und trat, noch bevor er wieder den Fußboden berührte, Mrs. Kleber mit der Fußspitze gegen das Handgelenk. Diesen Trick hatte ich noch nicht einmal in einem italienischen Zirkus gesehen!
Das Obstmesser flog zur Seite, der Japaner landete in Hockstellung, Mrs. Kleber wich mit verzerrtem Gesicht zurück und hielt mit der Linken das schmerzende Handgelenk.
Aber sie dachte gar nicht daran, ihr blutdürstiges Vorhaben aufzugeben! Nachdem sie mit dem Rücken gegen die Standuhr geprallt war (ich schrieb Ihnen von dem Monstrum), bückte sie sich und raffte den Kleidersaum hoch. Mich machte der schnelle Wechsel der Ereignisse ohnehin schon ganz benommen, aber das war zuviel! Ich sah (verzeihen Sie, liebste Emily, daß ich darüber schreibe) einen Knöchel im schwarzen Seidenstrumpf und eine rosa Unterhosenrüsche, und im nächsten Moment richtete sich Mrs. Kleber wieder auf und hatte eine Pistole in der linken Hand, sehr klein, doppelläufig, mit Griffschalen aus Perlmutt.
Ich wage nicht, Ihnen Wort für Wort wiederzugeben, was diese Person zu Fandorin sagte, Sie dürften solche Ausdrücke auch gar nicht kennen. Der Sinn ihrer sehr energischen und expressiven Rede lief darauf hinaus, daß der »verdammte Perversling« (ich benutze einen Euphemismus, denn Mrs. Kleber drückte sich gröber aus) seinen gemeinen Trick mit dem Leben bezahlen werde. »Aber zuerst mache ich die gelbe Giftnatter unschädlich!« schrie die werdende Mutter, machte einen Schritt vorwärts und schoß auf Aono. Er stürzte zu Boden und stöhnte dumpf
Mrs. Kleber machte noch einen Schritt und zielte mit ihrem Pistölchen Fandorin direkt ins Gesicht. »Ich schieße tatsächlich nie daneben«, zischte sie. »Und jetzt kriegst du das Blei genau zwischen deine hübschen Äuglein.«
Der Russe stand da, die Hand auf dem sich ausbreitenden roten Fleck. Ich kann nicht sagen, daß er vor Angst gezittert hätte, aber er war blaß.
Das Schiff schwankte heftiger als sonst - eine schwere Welle schlug gegen die Bordwand, und ich sah, wie das häßliche Ungetüm Big Ben kippte, kippte ... und auf Mrs. Kleber niederstürzte! Das Hartholz knallte dumpf gegen ihren Hinterkopf, und das ungestüme Weib fiel bäuchlings zu Boden, niedergedrückt vom Gewicht des Eichenturms.
Alle eilten zu Mr. Aono, der mit durchschossener Brust dalag. Er war bei Bewußtsein und versuchte aufzustehen, doch neben ihm hockte Doktor Truffo und hielt den Verletzten bei den Schultern fest. Dann schnitt er ihm die Kleider auf untersuchte den Einschuß und runzelte die Stirn.
»Macht nichts«, sagte der Japaner leise durch die zusammengebissenen Zähne. »Die Lunge ist nul ganz wenig velletzt.«
»Und die Kugel?« fragte Truffo besorgt. »Fühlen Sie sie, Collega? Wo steckt sie?«
»Ich glaube, sie steckt im lechten Schultelblatt«, antwortete Mr. Aono und fügte mit einer Kaltblütigkeit, die mich begeisterte, hinzu: »Linkel Untellappen. Sie welden den Knochen vom Lücken hel aufmeißeln müssen. Das ist sehl schwielig. Ich bitte um Entschuldigung fül die Umstände.«
Da sprach Fandorin einen rätselhaften Satz. Über den Verletzten gebeugt, sagte er leise: »Na bitte, Aono-san, Ihr Traum hat sich erfüllt - jetzt sind Sie mein Onjin. Der kostenlose Ja- panisch-Unterricht muß leider ausfallen.«
Aber Mr. Aono schien das Kauderwelsch zu verstehen, er verzog die blassen Lippen zu einem schwachen Lächeln.
Als Matrosen den verbundenen japanischen Gentleman auf einer Trage hinaustrugen, wandte sich der Doktor Mrs. Kleber zu.
Zu unserer nicht geringen Verwunderung zeigte sich, daß das hölzerne Ungetüm ihr nicht den Schädel zertrümmert, sondern ihr nur eine Beule beigebracht hatte. Wir zogen die betäubte Verbrecherin, so gut es ging, unter der Londoner Sehenswürdigkeit hervor und trugen sie zu einem Sessel.
»Ich fürchte, die Leibesfrucht wird den Schock nicht überstehen«, sagte Mrs. Truffo seufzend. »Und das arme Kind kann ja nichts für die Sünden seiner Mutter.«
»Dem Kind ist nichts passiert«, versicherte ihr Mann. »Diese ... Person ist so zählebig, daß sie gewiß ein gesundes Kind zur Welt bringt, noch dazu leicht und pünktlich.«
Fandorin fügte mit einem Zynismus, der mich unangenehm berührte, hinzu: »Wir wollen hoffen, daß die Geburt im Gefängnishospital stattfindet.«
»Eine schreckliche Vorstellung, was aus diesem Schoß geboren wird«, sagte Miss Stomp schaudernd.
»Jedenfalls wird die Schwangerschaft sie vor der Guillotine bewahren«, bemerkte der Doktor.
»Oder vor dem Galgen«, sagte auflachend Miss Stomp. Das erinnerte uns an die erbitterte Diskussion, die sich unlängst der Kommissar und Inspektor Jackson geliefert hatten.
»Das Äußerste, was ihr droht, ist eine kurze Gefängnishaft wegen versuchten Mordes an Herrn Aono«, sagte Fandorin verdrossen. »Es werden sich mildernde Umstände finden: Affekt, Erschütterung, auch die Schwangerschaft. Mehr zu beweisen wird nicht gelingen, das hat sie uns glänzend demonstriert. Ich versichere Ihnen, Marie Sansfond wird sehr bald wieder auf freiem Fuß sein.«
Seltsam, keiner von uns sprach von dem Tuch, als hätte es das nie gegeben, als hätte der Wind mitsamt dem bunten Stoff nicht nur die hundert britischen Panzerschiffe und die französische Revanche ins Nichtsein geweht, sondern auch den krankhaften Dunst, der den Menschen den Verstand und die Seele getrübt hatte.
Fandorin blieb bei dem beschädigten Big Ben stehen, der jetzt in den Müll gehörte: das Glas zerschlagen, der Mechanismus verdorben, das Gehäuse aus Eichenholz von oben bis unten gerissen.
»Tolle Uhr«, sagte der Russe und bestätigte ein übriges Mal das Faktum, daß Slawen nicht den geringsten Kunstgeschmack besitzen. »Ich werde sie reparieren lassen und mitnehmen.«
Die »Leviathan« brüllte mächtig auf, wohl um ein entgegenkommendes Schiff zu begrüßen, und ich dachte daran, daß ich schon bald, sehr bald, in zwei bis drei Wochen, in Tahiti eintreffe und wir uns wiedersehen, meine angebetete Frau. Das ist das einzige, was zählt. Alles übrige ist Dunst, Nebel, Chimäre.
Wir werden zusammen sein, werden glücklich sein - dort, auf der paradiesischen Insel, wo immer die Sonne scheint.
In Erwartung dieses Freudentags bleibe ich Ihr zärtlich Sie liebender Reginald Milford-Stokes.