ZWEITER TEIL ADEN-BOMBAY

gintaro aono

7. Tag des 4. Monats In Aden

Der russische Diplomat ist ein Mann von tiefem, fast japanischem Verstand. Fandorin-san besitzt die uneuropäische Fähigkeit, eine Erscheinung in ihrer Ganzheit zu sehen, ohne in kleinen Details und technischen Einzelheiten steckenzubleiben. Die Europäer sind unübertroffene Experten in allem, was die Fertigkeiten betrifft, sie kennen bestens das Wie. Wir Asiaten dagegen besitzen Weisheit, denn wir wissen Warum. Für die Behaarten ist der Prozeß der Bewegung wichtiger als das Endziel, wir dagegen lassen kein Auge von dem in der Ferne flimmernden Leitstern, darum finden wir recht häufig nicht die Muße, nach rechts und links zu schauen. Deshalb sind die Weißen fast immer Sieger in kleinen Gefechten, während die gelbe Rasse unerschütterliche Ruhe bewahrt, da sie zuverlässig weiß, daß all das kleinliche Geschäftigkeit ist, die keine Aufmerksamkeit verdient. Im Wesentlichen, einzig Existenziellen wird der Sieg jedenfalls unser sein.

Unser Kaiser hat sich zu einem großen Experiment entschlossen: die Weisheit des Ostens mit dem Verstand des Westens zusammenzubringen. Wir Japaner eignen uns demütig die europäische Wissenschaft der täglichen Errungenschaften an, verlieren aber dabei nicht das Endziel der menschlichen Existenz aus dem Auge - den Tod und die darauf folgende höhere

Form des Daseins. Die Rothaarigen sind zu individualistisch, ihr kostbares »Ich« verschließt ihnen die Augen, verzerrt das Bild der sie umgebenden Welt und erlaubt ihnen nicht, ein Problem aus verschiedenen Gesichtswinkeln zu betrachten. Die Seele des Europäers ist mit eisernen Nägeln an seinem Körper befestigt, und es ist ihr nicht gegeben, sich emporzuschwingen.

Wenn Fandorin-san zur Erleuchtung befähigt ist, so verdankt er das dem halb asiatischen Wesen seiner Heimat. Rußland ähnelt in vielem Japan: Osten mit einem Hang zum Westen. Nur vergessen die Russen, im Unterschied zu uns, den Leitstern, auf den das Schiff Kurs hält, und drehen den Hals gar zu sehr nach rechts und links. Sein »Ich« herauskehren oder es indem mächtigen »Wir« auflösen - darin besteht der Gegensatz zwischen Europa und Asien. Ich glaube, Rußland hat eine gute Chance, vom ersten auf den zweiten Weg umzuschwenken.

Aber ich bin übermäßig ins Philosophieren geraten. Es wird Zeit, daß ich auf Fandorin-san und die Klarheit seines Verstandes komme. Ich beschreibe das Geschehen der Reihe nach.

Es war noch dunkel, als die »Leviathan« in Aden einlief. Über diesen Hafen steht in meinem Reiseführer: »Der Hafen von Aden, ein Gibraltar des Orients, dient England als Verbindungsglied zu Ost-Indien. Hier bunkern die Schiffe Kohle und ergänzen ihre Trinkwasservorräte. Die Bedeutung Adens ist seit der Eröffnung des Suezkanals unwahrscheinlich gestiegen. Die Stadt selbst ist nicht groß. Es gibt ausgedehnte Hafenspeicher, Werften, ein paar Faktoreien, Kontore, Gasthäuser. Die Stadt ist symmetrisch gebaut. Die Trockenheit des Bodens wird durch 30 uralte Zisternen ausgeglichen, in denen sich das Regenwasser aus den Bergen sammelt. Aden hat 34 000 Einwohner, vornehmlich indische Muselmanen.« Einstweilen muß ich mich mit dieser knappen Beschreibung zufriedengeben, denn die Schiffstreppe wird nicht heruntergelassen, und niemand darf an Land. Als Grund wird eine Sanitäts- und Quarantäne-Inspektion angegeben, aber wir Vasallen des Fürstentums Windsor kennen den wahren Sinn des Durcheinanders: Matrosen und Küstenpolizei durchkämmen das ganze gewaltige Schiff nach Negern.

Nach dem Frühstück blieben wir noch im Salon und warteten auf die Resultate der Durchsuchung. Hier kam es zwischen dem Polizeikommissar und dem russischen Diplomaten zu einem wichtigen Gespräch, dem alle Unsrigen beiwohnten (jetzt sind sie für mich schon die »Unsrigen«).

Es wurde zunächst über den Tod des Negers gesprochen, dann kam die Unterhaltung wie gewöhnlich auf die Pariser Morde. Ich beteiligte mich nicht daran, hörte aber sehr aufmerksam zu, obwohl es anfangs wieder so aussah, als wolle man einen grünen Affen im Bambusdickicht und eine schwarze Katze im dunklen Zimmer fangen.

Stomp-san sagte: »Also, Rätsel über Rätsel. Unbegreiflich, wie der Schwarze an Bord gekommen ist, unbegreiflich, warum er Madame Kleber ermorden wollte. Genau wie in der Rue de Grenelle. Die reinste Mystik.«

Da sagte Fandorin-san plötzlich: »Da gibt es keine Mystik. Mit dem Neger ist in der Tat noch manches unklar, aber was den Vorfall in der Rue de Grenelle betrifft, so ist das Bild, wie ich finde, mehr oder weniger klar.«

Alle starrten ihn verdattert an, und der Kommissar lächelte giftig. »Wirklich? Na, dann lassen Sie mal hören.«

Fandorin-san: »Ich denke, es war so. Am Abend kam jemand zur Villa in der Rue de Grenelle .«

Der Kommissar (mit gespielter Begeisterung): »Bravo! Eine geniale Idee!«

Einige lachten, doch die meisten hörten aufmerksam zu, denn der Diplomat ist keiner, der sinnlos die Luft bewegt.

Fandorin-san (unerschütterlich): »»... jemand, dessen Erscheinen bei der Dienerschaft keinerlei Verdacht aufkommen ließ. Es war ein Arzt, möglicherweise im weißen Kittel und gewiß mit einer Arzttasche. Der unerwartete Gast sagte, alle im Hause Anwesenden müßten sich unverzüglich in einem Raum versammeln, denn auf Anordnung der Municipalite hätten sich alle Pariser einer prophylaktischen Impfung zu unterziehen.«

Der Kommissar (mit beginnender Verärgerung): »Was sind das für Phantastereien? Eine Impfung? Warum sollten die Bediensteten dem erstbesten Spitzbuben glauben?«

Fandorin-san (heftig): »Daß Sie nur nicht in nächster Zeit vom >Ermittlungsführer in besonders wichtigen Fällen degradiert werden zum >Ermittlungsführer in nicht besonders wichtigen Fällen<, Monsieur Coche. Sie studieren Ihre eigenen Materialien nicht aufmerksam genug, und das ist unverzeihlich. Werfen Sie doch nochmals einen Blick in den Artikel aus dem >Soir<, in dem von der Bekanntschaft Lord Littlebys mit der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond die Rede ist.«

Der Kommissar kramte in seiner schwarzen Mappe, holte den Zeitungsausschnitt hervor und überflog ihn.

Der Kommissar (achselzuckend): »Na und?«

Fandorin-san (zeigte mit dem Finger): »»Da unten. Schauen Sie, der Anfang der folgenden Notiz: CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN. Da ist die Rede von >energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte<.«

Truffo-san: »»Tatsächlich, meine Herrschaften. Paris hat den ganzen Winter über gegen das wiederholte Aufflackern der Cholera gekämpft. In Dover wurde sogar ein sanitärer Kontrollpunkt für die Kanalfähren aus Calais eingerichtet.«

Fandorin-san: »Darum weckte das Erscheinen eines Arztes bei der Dienerschaft keinerlei Verdacht. Der Besucher trat gewiß sehr sicher auf und sprach überzeugend. Möglicherweise sagte er, es sei schon spät, und er müsse noch mehrere Häuser aufsuchen, oder etwas in der Art. Den Hausherrn mochten die Diener wohl nicht behelligen, da sie von seinem Podagraanfall wußten, doch die Wächter aus dem ersten Stock haben sie natürlich gerufen. Eine Injektion ist schließlich Minutensache.«

Ich war begeistert von dem Scharfsinn des Diplomaten, der die schwierige Aufgabe so leicht gelöst hatte. Auch Kommissar Coche wurde nachdenklich.

»Mal angenommen, es war so«, sagte er mißmutig. »Aber wie wollen Sie den sonderbaren Umstand erklären, daß Ihr Arzt, nachdem er die Diener vergiftet hatte, nicht die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, sondern hinausging, über den Zaun in den Garten kletterte und das Fenster in der Orangerie zerschlug?«

Fandorin-san: »Ich habe darüber nachgedacht. Ist Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen, daß es ja auch zwei Verbrecher gewesen sein können? Der eine beseitigte die Diener, und der andere drang derweil durchs Fenster ins Haus ein.«

Der Kommissar (triumphierend): »Doch, es ist mir in den Sinn gekommen, Herr Klugschwätzer. Zu dieser Schlußfolgerung wollte der Mörder uns ja verleiten. Er versuchte die Spur zu verwischen, das liegt auf der Hand! Nachdem er im Anrichteraum die Diener vergiftet hatte, stieg er die Treppe hinauf und stieß auf den Hausherrn. Wahrscheinlich hatte er das Glas der Vitrine mit Getöse zerschmettert, da er annahm, daß niemand weiter im Haus wäre. Der Lord kam auf den Lärm hin aus dem Schlafzimmer und wurde getötet. Nach diesem außerplanmäßigen Vorfall entwich der Täter eiligst, doch nicht durch die Tür, sondern durchs Fenster der Orangerie. Warum? Um uns zu verwirren und die Sache so darzustellen, als wären sie zu zweit gewesen. Und darauf sind Sie hereingefallen. Aber der alte Coche ist so billig nicht zu kaufen.«

Die Worte des Kommissars wurden beifällig aufgenommen. Regnier-san sagte sogar:»Verdammt, Kommissar, mit Ihnen ist nicht gut Kirschen essen.« (Dieser bildhafte Ausdruck kommt in verschiedenen europäischen Sprachen vor. Er ist nicht wörtlich zu nehmen. Der Leutnant will sagen, daß Coche-san ein sehr kluger und erfahrener Fahnder ist.)

Fandorin-san wartete ein wenig und fragte dann: »Sie haben also die Fußabdrücke unterm Fenster genau studiert und befunden, daß der Mann heruntergesprungen und nicht aufs Fensterbrett gestiegen ist?«

Darauf gab der Kommissar keine Antwort, sah aber den Russen verdrossen an.

Da machte Stomp-san eine Äußerung, die dem Gespräch eine neue, noch schärfere Note verlieh.

»Ein Verbrecher, zwei Verbrecher - ich verstehe noch immer nicht das Wichtigste: Wozu das alles?« sagte sie. »Nicht wegen des Schiwa, klar. Also wozu? Doch wohl nicht wegen des Tuchs, so herrlich es auch sein mag.«

Darauf sagte Fandorin-san, als verstünde sich das von selbst: »Doch, Mademoiselle, eben wegen des Tuchs. Der Schiwa wurde nur zur Ablenkung mitgenommen und gleich von der nächsten Brücke in die Seine geworfen, weil er nicht mehr benötigt wurde.«

Der Kommissar bemerkte: »Für russische Bojaren« (ich habe vergessen, was dieses Wort bedeutet, muß nachschlagen) »ist eine halbe Million Francs vielleicht eine Bagatelle, aber die meisten Menschen rechnen anders. Zwei Kilogramm reinen Goldes wurden also nicht mehr benötigt! Sie haben sich ganz ordentlich vergaloppiert, Herr Diplomat!«

Fandorin-san: »Nicht doch, Kommissar, was ist eine halbe Million Francs gegen die Schätze des Bagdassar?«

»Meine Herrschaften, Schluß mit dem Streit!« rief die verhaßte Madame Kleber launisch. »Ich wäre fast ermordet worden, und Sie reden schon wieder von dieser Geschichte. Während Sie in dem alten Verbrechen kramen, Kommissar, wäre ums Haar ein neues passiert, ohne daß Sie es merken.«

Diese Frau kann es einfach nicht ertragen, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Nach dem gestrigen Vorfall bemühe ich mich, sie möglichst wenig anzusehen - hätte ich doch größte Lust, ihr den Mittelfinger in das pulsierende blaue Äderchen an ihrem weißen Hals zu stoßen. Ein Stoß würde völlig ausreichen, diese Viper zu töten. Aber das gehört natürlich in den Bereich der bösen Gedanken, die ein willensstarker Mensch unterdrücken muß. Nun sind sie in das Tagebuch eingegangen, und der Haß hat ein wenig nachgelassen.

Der Kommissar wies Madame Kleber zurecht. »Schweigen Sie, gnädige Frau«, sagte er streng. »Wir wollen hören, was sich der Herr Diplomat noch ausgedacht hat.«

Fandorin-san: »Die ganze Geschichte macht nur dann einen Sinn, wenn das geraubte Tuch einen besonderen Wert hat. Erstens. Nach den Worten des Professors ist der Wert nicht so groß, also geht es nicht um das Stück Seide, sondern um etwas anderes. Zweitens. Wie wir wissen, hat das Tuch mit dem letzten Willen von Radscha Bagdassar zu tun, dem Besitzer der Schätze von Brahmapur. Drittens. Sagen Sie, Professor, war der Rad- scha ein treuer Diener des Propheten?«

Sweetchild-san (nach kurzem Überlegen): »Das kann ich nicht genau sagen. Moscheen hat er nicht gebaut, Allah hat er in meinem Beisein nicht erwähnt. Der Radscha kleidete sich gern europäisch, rauchte Kuba-Zigarren, las französische Romane. Ach ja, zum Mittagessen trank er Kognak! Mithin hat er die religiösen Verbote nicht allzu ernst genommen.«

Fandorin-san: »Also viertens: Der nicht allzu fromme Bag- dassar hinterläßt dem Sohn als letzte Gabe nicht irgendwas, sondern einen Koran, in ein Tuch gewickelt. Ich vermute, gerade das Tuch war der wichtigste Teil der Sendung. Der Koran diente nur als Vorwand. Vielleicht aber enthielten die Randnotizen von der Hand Bagdassars Instruktionen, wie der Schatz mit Hilfe des Tuches zu finden sei.«

Sweetchild-san: »Warum unbedingt mit Hilfe des Tuches? Der Radscha konnte doch sein Geheimnis in den Marginalien verstecken.«

Fandorin-san: »Er konnte, tat es aber nicht. Warum nicht? Ich verweise Sie auf mein Argument Nummer eins: Wenn das Tuch nicht einen ganz außerordentlichen Wert hätte, wären seinetwegen kaum zehn Menschen ermordet worden. Das Tuch ist der Schlüssel zu den 500 Millionen Rubeln oder, wenn Ihnen das lieber ist, zu den 50 Millionen Pfund, was auf dasselbe hinausläuft. Meines Wissens hat es in der Geschichte der Menschheit noch keinen Schatz dieser Größenordnung gegeben. Übrigens muß ich Sie warnen, Kommissar: Wenn Sie recht haben und der Mörder tatsächlich an Bord der >Leviathan< ist, sind weitere Opfer möglich. Was um so wahrscheinlicher wird, je näher Sie Ihrem Ziel kommen. Gar zu hoch ist der Einsatz und gar zu hoch der Preis, der für den Schlüssel zum Geheimnis gezahlt worden ist.«

Nach diesen Worten herrschte Totenstille. Die Logik von Fandorin-san schien unwiderleglich, und ich bin sicher, daß es allen kalt den Rücken hinunterlief. Außer einem Menschen.

Als erster kam der Kommissar wieder zu sich. Er sagte mit nervösem Lachen: »Sie haben eine blühende Phantasie, Monsieur Fandorin. Was jedoch die Gefahr betrifft, so haben Sie recht. Doch Sie, meine Herrschaften, brauchen nicht zu zittern. Wenn einer in Gefahr ist, dann der alte Coche, und das weiß er sehr gut. So ist nun mal mein Beruf. Aber mit bloßen Händen kriegt mich keiner.« Er ließ den Blick drohend über uns alle gleiten, und es war wie eine Forderung zum Duell.

Komischer alter Dickwanst. Er könnte allenfalls gegen die schwangere Madame Kleber antreten. In meinem Gehirn entstand ein verlockendes Bild: Der rot angelaufene Kommissar wirft die junge Hexe zu Boden und würgt sie mit seinen haarigen Wurstfingern, und Madame Kleber verendet mit vorquellenden Augen und herausgestreckter widerlicher Zunge.

»»Darling, I am scared!«[5] piepste Mrs. Truffo mit dünnem Stimmchen. Ihr Mann streichelte ihr begütigend die Schulter.

Eine interessante Frage stellte der rothaarige und häßliche M.-S.-san (der Name ist zu lang zum Ausschreiben): »Professor, beschreiben Sie doch das Tuch ausführlicher. Na gut, ein Vogel mit einem Löchlein statt des Auges, na gut, ein Dreieck. Hat das Tuch sonst noch etwas Bemerkenswertes?«

Ich muß erwähnen, daß dieser sonderbare Herr sich fast ebenso selten an den allgemeinen Gesprächen beteiligt wie ich. Und wenn er mal etwas sagt, schießt er wie der Autor dieser Zeilen daneben. Um so bemerkenswerter die überraschend gute Frage.

Sweetchild-san: »Soweit ich mich erinnere, ist außer dem leeren Auge und der einmaligen Form nichts Besonderes an dem Tuch. So groß wie ein ansehnlicher Fächer, läßt sich aber in einem Fingerhut verstecken. In Brahmapur ist solch hauchdünnes Gewebe keine Seltenheit.«

»Also liegt der Schlüssel in dem leeren Auge und in der Dreiecksform«, resümierte Fandorin-san mit bewundernswerter Sicherheit.

Er ist wirklich großartig.

Je länger ich über seinen Triumph und über die ganze Geschichte nachdenke, desto stärker wächst in mir der unwürdige

Wunsch, ihnen allen zu demonstrieren, daß auch Gintaro Aono etwas wert ist und sie alle verblüffen kann. Ich könnte zum Beispiel Kommissar Coche etwas Interessantes über den gestrigen Vorfall mit dem schwarzen Wilden erzählen. Im übrigen hat der weise Fandorin-san zugegeben, daß ihm in dieser Sache noch nicht alles klar ist. Ihm ist etwas unklar, und plötzlich kommt der »wilde Japaner« und - zack! - löst das Rätsel. Das wäre doch was!

Gestern habe ich, durch die Beleidigung aus dem Gleis geworfen, vorübergehend die Nüchternheit des Denkens eingebüßt. Nachdem ich mich beruhigt hatte, kam die Überlegung wieder, und in meinem Kopf formte sich eine logische Gedankenkette, die ich dem Polizisten stecken will. Die Schlußfolgerungen mag er sich selber zurechtlegen. Folgendes werde ich ihm sagen.

Zuerst erinnere ich ihn an die groben Worte der Madame Kleber mir gegenüber. Es war eine schwere Beleidigung, noch dazu öffentlich. Und sie geschah genau in dem Moment, als ich meine Beobachtungen mitteilen wollte. Ob Madame Kleber die Absicht verfolgte, mir den Mund zu stopfen? Ich das nicht verdächtig, Herr Kommissar?

Weiter. Warum stellt sie sich schwach, wenn sie so gesund ist wie ein Sumo-Ringer? Sie werden sagen, Unsinn, Lappalie. Darauf antworte ich Ihnen, Herr Fahnder, daß ein Mensch, der sich ständig verstellt, ganz sicher etwas zu verbergen hat. Nehmen Sie zum Beispiel mich. (Ha-ha, das werde ich natürlich nicht sagen.)

Dann lenke ich die Aufmerksamkeit des Kommissars darauf, daß europäische Frauen eine sehr zarte weiße Haut haben. Wieso haben die mächtigen Finger des Negers nicht den kleinsten Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen? Ist das nicht auffällig?

Und wenn der Kommissar dann meint, ich hätte nichts vorgebracht außer den müßigen Mutmaßungen eines rachsüchtigen asiatischen Verstandes, sage ich ihm das Wichtigste, was den Herrn Fahnder sogleich überzeugen wird.

»Monsieur Coche«, sage ich dann mit höflichem Lächeln, »ich besitze nicht Ihren glänzenden Verstand und versuche nicht, mich in die Untersuchung einzumischen (wie sollte ich Unwissender das tun?), aber ich halte es für meine Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit auf einen weiteren Umstand zu lenken. Sie sagen selber, der Mörder aus der Rue de Grenelle befinde sich unter uns. Monsieur Fandorin hat uns eine überzeugende Theorie vorgetragen, auf welche Weise die Dienerschaft von Lord Littleby getötet wurde. Eine Choleraimpfung - das ist eine ausgezeichnete Finte. Also konnte der Mörder mit der Spritze umgehen. Und wenn nun die Villa in der Rue de Grenelle nicht von einem Arzt, sondern von einer Frau, einer Krankenschwester, aufgesucht wurde? Sie würde ja noch weniger Verdacht erregt haben als ein Mann, nicht wahr? Stimmen Sie mir zu? Dann rate ich Ihnen, einmal unauffällig einen Blick auf die Arme von Madame Kleber zu werfen, wenn sie dasitzt, ihr Schlangenköpfchen nachdenklich in die Hand stützt und der weite Ärmel dabei bis zum Ellbogen heruntergleitet. In der Beuge werden Sie kaum erkennbare Pünktchen bemerken. Das sind die Einstiche von Injektionsnadeln, Herr Kommissar. Fragen Sie Doktor Truffo, ob er ihr irgendwelche Spritzen gibt, und der geehrte Arzt wird Ihnen dasselbe antworten wie heute mir: Nein, das tue er nicht, und überhaupt sei er ein prinzipieller Gegner der intravenösen Verabreichung. Dann zählen Sie zwei und zwei zusammen, o weiser Coche-san, und Sie werden etwas haben, worüber Sie sich Ihren grauen Kopfzerbrechen können.« Das werde ich ihm sagen, und dann wird er sich Madame Kleber vornehmen.

Ein europäischer Ritter würde mein Vorgehen wohl häßlich finden, und darin würde sich seine Beschränktheit kundtun. Eben darum gibt es in Europa keine Ritter mehr, doch die Samurai leben. Zwar hat der Kaiser die Standesunterschiede aufgehoben und uns verboten, zwei Schwerter am Gürtel zu tragen, aber das bedeutet nicht die Abschaffung des Samuraititels, sondern im Gegenteil die Erhebung der ganzen japanischen Nation in den Samuraistand, damit wir uns nicht voreinander mit unserm Stammbaum brüsten. Wir halten zusammen, und die übrige Welt steht gegen uns. Oh, edler europäischer Ritter (der gewiß nur in Romanen existiert)! Wenn du mit Männern kämpfst, so benutze männliche Waffen, und wenn du mit Frauen kämpfst, dann weibliche. Das ist der Ehrenkodex des Samurai, und daran ist nichts Häßliches, denn Frauen verstehen nicht schlechter zu kämpfen als Männer. Gegen die Ehre eines Samurai würde es verstoßen, gegen Frauen männliche Waffen anzuwenden und gegen Männer weibliche. So weit würde ich mich nie erniedrigen.

Ich zögere noch, das geplante Manöver zu unternehmen, aber mein Geisteszustand ist erheblich besser als gestern. So erheblich, daß ich ohne Mühe den ganz passablen Dreizeiler zustande brachte:

Als eisiger Funke blitzte der Mond auf stählerner Klinge.

CLARISSA STOMP

Clarissa drehte sich mit gelangweilter Miene um, ob nicht jemand guckte, erst danach linste sie um die Ecke des Deckhauses.

Der Japaner saß allein achtern auf dem Bootsdeck, die Beine untergeschlagen. Sein Kopf war hoch erhoben, zwischen den halbgeschlossenen Lidern glitzerte gespenstisch das Weiß der Augäpfel, ein entrücktes und leidenschaftsloses Gesicht.

Brrr! Clarissa schüttelte sich. Dieser Mr. Aono war schon ein seltenes Exemplar. Hier auf dem Bootsdeck, eine Etage über dem Erste-Klasse-Deck, gab es keine Flaneure, nur ein Schwarm kleiner Mädchen vergnügte sich mit dem Springseil, und im Schatten eines schneeweißen Rettungsboots hockten zwei von der Hitze zermürbte Gouvernanten. Wer außer Kindern und dem halbverrückten Asiaten konnte sich in dieser Sonnenglut aufhalten? Über dem Bootsdeck gab es nur noch das Ruderhaus, die Kapitänsbrücke und natürlich Schornsteine, Masten und Segel. Die weißen Leinwände blähten sich unter dem Druck des Windes, die »Leviathan« eilte, Qualmwolken ausstoßend, auf den quecksilbrigen Streifen des Horizonts zu, und ringsum blinkte und schillerte das leicht zerknitterte flaschengrüne Tuch des Indischen Ozeans. Von hier oben war zu erkennen, daß die Erde tatsächlich rund war, denn der Horizont lag deutlich tiefer als die »Leviathan«.

Aber Clarissa setzte sich der schweißtreibenden Hitze keineswegs aus Liebe zu Meereslandschaften aus. Sie wollte sehen, was Mr. Aono dort oben trieb. Wohin entfernte er sich jedesmal nach dem Frühstück mit solch beneidenswerter Beständigkeit?

Und sie interessierte sich zu Recht. Hier zeigte der ewig lächelnde Asiat sein wahres Gesicht. Ein Mensch mit so erstarrten, erbarmungslosen Zügen ist zu allem fähig. Die Vertreter der gelben Rasse sind eben doch anders als wir, und nicht nur wegen des Augenschnitts. Äußerlich sehen sie Menschen sehr ähnlich, aber sie sind eine ganz andere Art. Wölfe sehen ja auch aus wie Hunde, haben jedoch eine völlig andere Natur. Gewiß, die Gelbhäutigen haben ihre eigene sittliche Basis, doch die ist dem Christentum dermaßen fremd, daß ein normaler Mensch sie nicht begreifen kann. Besser wär’s, sie trügen keine europäische Kleidung und wären unfähig, mit Messer und Gabel zu essen - damit schaffen sie nur die gefährliche Illusion, sie wären zivilisierte Menschen, dabei verbergen sich unter ihrem geleckten schwarzen Scheitel und ihrer glatten Stirn Dinge, die wir uns nicht vorstellen können.

Der Japaner regte sich, machte die Augen auf, und Clarissa retirierte eilig. Natürlich benahm sie sich wie eine dumme Gans, aber sie mußte doch etwas tun! Dieser Alpdruck konnte ja nicht ewig dauern. Sie mußte den Kommissar in die richtige Richtung schieben, sonst war ganz ungewiß, wie das alles enden würde. Trotz der Hitze bewegte sie fröstelnd die Schultern.

Mr. Aonos Aussehen und Benehmen bargen eindeutig ein Geheimnis. Wie das Verbrechen in der Rue de Grenelle. Sonderbar, daß Coche noch nicht begriffen hatte, daß allen Anzeichen nach der Japaner der Hauptverdächtige war.

Er wollte ein Offizier sein, ein Absolvent von Saint-Cyr, und hatte keine Ahnung von Pferden? Clarissa hatte einmal aus reiner Menschenliebe den schweigsamen Asiaten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligen wollen und das Gespräch auf ein Thema gelenkt, das einen Militär interessieren mußte - Reiten, Pferderennen, die Vorzüge und Nachteile der Norfolktraber. Schöner Offizier! Auf die harmlose Frage, ob er schon einmal an einem Steeplechase teilgenommen habe, antwortete er, den Offizieren der kaiserlichen Armee sei es strengstens verboten, sich mit Politik zu befassen. Er weiß nicht, was ein Steeplechase ist! Natürlich ist unbekannt, was Japan für Offiziere hat - vielleicht reiten sie auf Bambusstecken, aber daß ein Absolvent von Saint-Cyr solche Unwissenheit bekundet? Ausgeschlossen.

Das mußte sie Coche verklickern. Oder sollte sie abwarten, bis sie noch etwas Verdächtiges herausfand?

Und der gestrige Vorfall? Clarissa war durch den Korridor gegangen, als aus Mr. Aonos Kabine höchst seltsame Geräusche drangen - ein trockenes Krachen, als ob jemand methodisch Möbelstücke zertrümmerte. Clarissa faßte sich ein Herz und klopfte.

Die Tür wurde aufgerissen. In der Öffnung stand der Japaner - nackt bis auf das Lendentuch! Der dunkle Körper glänzte schweißig, die Augen waren blutunterlaufen.

Als er Clarissa erblickte, stieß er einen Pfeiflaut aus.

Die zurechtgelegte Frage (»Monsieur Aono, könnten Sie mir vielleicht ein paar der wundervollen Gravüren zeigen, von denen ich so viel gehört habe?«) war ihr entfallen, und sie stand starr. Gleich würde er sie in die Kabine zerren und sich über sie hermachen! Dann würde er sie in Stücke zerlegen und die ins Meer werfen. Das war ganz einfach. Und dann gäbe es Miss Clarissa Stomp nicht mehr, die wohlerzogene englische Lady, die nicht besonders glücklich war, aber noch so viel vom Leben erwartete.

Clarissa stammelte, sie habe sich in der Tür geirrt. Aono sah sie schweigend an und atmete schwer. Ein saurer Geruch ging von ihm aus.

Sie mußte wohl doch mit dem Kommissar sprechen.

Vor dem Five o’clock tea paßte sie an der Tür des Salons »Windsor« den Kommissar ab und teilte ihm ihre Überlegungen mit, doch der Kerl nahm das irgendwie sonderbar auf - er sah sie spöttisch und stechend an, als erwarte er ein unanständiges Geständnis. Zwischendurch brummte er in den Bart: »Wie sie doch alle erpicht sind, sich gegenseitig anzuschwärzen.«

Als sie fertig war, fragte er aus dem Nichts: »Die Herren Eltern sind hoffentlich wohlauf?«

»Wessen, von Monsieur Aono?«

»Nein, Mademoiselle, die Ihrigen.«

»Ich bin schon als Kind Waise geworden«, antwortete sie mit einem erschrockenen Blick auf den Kommissar.

»Was festzustellen war.« Coche nickte zufrieden und ging, ein Clarissa unbekanntes Liedchen trällernd, als erster in den Salon. Eine Flegelei!

Dieses Gespräch hinterließ einen unguten Bodensatz. Die Franzosen sind ja doch trotz all ihrer gepriesenen Galanterie keine Gentlemen. Natürlich sind sie imstande, einer Frau blauen Dunst vorzumachen und den Kopf zu verdrehen, ihr hundert rote Rosen aufs Hotelzimmer zu schicken (hier verzog Clarissa schmerzlich das Gesicht), aber glauben darf man ihnen nicht. Ein englischer Gentleman ist vielleicht etwas langweilig, dafür weiß er, was Pflicht und Anstand ist. Ein

Franzose dagegen schleicht sich ins Vertrauen und übt dann Verrat.

Diese Verallgemeinerungen hatten freilich nicht direkt mit Kommissar Coche zu tun. Überdies lieferte er beim Mittagessen eine Erklärung für sein Benehmen, und das auf beunruhigende Weise.

Beim Dessert warf Coche, der bislang ein ungewohntes enervierendes Schweigen bewahrt hatte, plötzlich einen durchdringenden Blick auf Clarissa und sagte: »Übrigens, Mademoiselle Stomp, Sie fragten neulich nach Marie Sans- fond, der Dame, die angeblich mit Lord Littleby kurz vor seinem Tode gesehen wurde.«

Clarissa fuhr vor Überraschung zusammen, alle verstummten und guckten neugierig den Kommissar an; sie kannten schon die besondere Intonation, mit der er seine »Geschichten« zu beginnen pflegte.

»Ich hatte versprochen, Ihnen später von dieser Frau zu erzählen. Jetzt ist die Zeit gekommen.« Coche sah nur Clarissa an, und dieser Blick gefiel ihr immer weniger. »Es wird eine lange Geschichte, aber langweilig ist sie nicht, denn es geht um eine außergewöhnliche Frau. Und wir haben ja Zeit, oder? Wir sitzen bequem, essen Käse, trinken Orangeade. Doch wenn jemand anderes zu tun hat, soll er in Gottes Namen gehen, der alte Coche ist nicht beleidigt.«

Niemand rührte sich vom Fleck.

»Also, soll ich von Marie Sansfond erzählen?« fragte er gespielt treuherzig.

»Ja, unbedingt!« riefen alle.

Nur Clarissa schwieg, sie wußte, daß das Gespräch nicht von ungefähr begonnen worden war und ausschließlich ihr galt. Coche machte auch keinen Hehl daraus.

Er schmatzte genüßlich und holte die Pfeife hervor, ohne die Damen um Erlaubnis zu fragen.

»Ich erzähle der Reihe nach. Es lebte einmal in der belgischen Stadt Brügge ein kleines Mädchen namens Marie. Ihre Eltern waren wohlanständige Bürger der Stadt, gingen regelmäßig in die Kirche und vergötterten ihr goldlockiges Kind. Als Marie fast sechs war, bekam sie ein Brüderchen, den künftigen Erben der Bierbrauerei >Sansfond & Sansfond<. Die glückliche Familie war nun noch glücklicher, doch plötzlich geschah ein Unglück. Der Säugling, kaum einen Monat alt, stürzte aus dem Fenster und war tot. Erwachsene waren nicht im Hause, nur die beiden Kinder und ihre Bonne. Aber die hatte sich für eine halbe Stunde entfernt, um sich mit ihrem Liebsten, einem Feuerwehrmann, zu treffen. Während ihrer Abwesenheit drang ein Unbekannter in schwarzem Umhang und mit schwarzem Hut ins Haus ein. Die kleine Marie konnte sich unterm Bett verstecken, doch ihr Brüderchen nahm der schwarze Mann aus der Wiege und warf es aus dem Fenster. Dann verschwand er.«

»Was erzählen Sie da für Scheußlichkeiten!« rief Madame Kleber und griff nach ihrem Bauch.

»Das ist noch gar nichts.« Coche winkte mit der Pfeife ab. »Das Beste kommt erst noch. Die wie durch ein Wunder gerettete Marie erzählte ihren Eltern von dem furchtbaren >schwarzen Onkel<. Auf der Suche nach dem Übeltäter wurde die ganze Umgebung auf den Kopf gestellt und im Eifer des Gefechts sogar der örtliche Rabbiner verhaftet, zumal der Ärmste immer in Schwarz herumlief. Aber dem Vater ließ ein merkwürdiges Detail keine Ruhe: Warum hatte der Verbrecher einen Hocker ans Fenster geschoben?«

»O Gott!« stöhnte Clarissa und faßte sich ans Herz. »Sollte etwa ...«

»Sie sind unglaublich scharfsinnig, Mademoiselle Stomp«, sagte der Kommissar auflachend. »Ja, die kleine Marie hatte ihr Brüderchen aus dem Fenster geworfen.«

»How terrible!« rief Mrs. Truffo entsetzt. »But why?«[6]

»Das Mädchen konnte es nicht ertragen, daß alles sich nur noch um den Kleinen drehte und sie ganz vergessen war. Sie dachte, wenn sie das Brüderchen aus der Welt schafft, ist sie wieder der Liebling von Mama und Papa«, erklärte Coche unbewegt. »Aber es war das erste und letzte Mal, daß Marie Sansfond ein Beweisstück hinterließ und entlarvt wurde. Das liebe Kind hatte noch nicht gelernt, Spuren zu verwischen.«

»Und was geschah mit der minderjährigen Verbrecherin?« fragte Leutnant Regnier sichtlich erschüttert. »Sie konnte doch wohl nicht vor Gericht gestellt werden?«

»Nein, vor Gericht wurde sie nicht gestellt.« Der Kommissar lächelte Clarissa verschmitzt zu. »Aber die Mutter konnte den Schicksalsschlag nicht verwinden, ihr Verstand trübte sich, und sie kam ins Irrenhaus. Monsieur Sansfond mochte sein Töchterchen, das die Familie ins Unglück gestürzt hatte, nicht mehr sehen und gab sie ins Kloster der Vinzentinerinnen, der grauen Schwestern, wo sie erzogen wurde. Sie war in allem die Erste - im Lernen, in Gott gefälligen Werken. Am liebsten aber soll sie Bücher gelesen haben. Als die Novizin siebzehn war, ereignete sich im Kloster ein höchst unangenehmer Skandal.« Coche warf einen Blick in seine Mappe und nickte. »Da hab ich’s. 17. Juli 1866. Die Barmherzigen Schwestern erhielten Besuch vom Brüsseler Erzbischof, und es geschah, daß aus dem Schlafgemach des angesehenen Prälaten der uralte erzbischöfliche Ring mit dem riesigen Amethysten verschwand, der Ludwig dem Heiligen gehört haben sollte. Am Abend zuvor hatte

Monsignore die beiden besten Novizinnen zu einer Unterredung in sein Gemach gebeten, unsere Marie und ein Mädchen aus Arles. Auf die beiden fiel natürlich der Verdacht. Die Äbtissin fand unter der Matratze der Arlesierin das Samtfutteral des Rings. Die Diebin fiel in Erstarrung, antwortete nicht auf Fragen und wurde in den Karzer gebracht. Als eine Stunde später die Polizei eintraf, konnte die Verbrecherin nicht mehr verhört werden, sie hatte sich mit der Gürtelschnur ihrer Kutte erhängt.«

»Das hat diese garstige Marie Sansfond gefingert, ich errate es!« rief Milford-Stokes. »Scheußlich, die Geschichte, scheußlich!«

»Das weiß niemand ganz genau, nur wurde der Ring nie gefunden.« Der Kommissar breitete die Arme aus. »Zwei Tage später kam Marie, in Tränen aufgelöst, zu der Äbtissin, sagte, daß alle sie scheel ansähen, und bat, sie aus dem Kloster zu entlassen. Die Mutter Äbtissin, die seltsamerweise gegen ihre Lieblingsnovizin abgekühlt war, hielt sie nicht.«

»Man hätte das Täubchen am Tor durchsuchen müssen«, sagte Dr. Truffo bedauernd. »Der Amethyst war bestimmt unter ihren Röcken versteckt.«

Als er diese Worte seiner Gattin übersetzt hatte, stieß sie ihm den spitzen Ellbogen in die Seite, denn sie hielt die Bemerkung wohl für anstößig.

»Ob man sie nicht durchsuchte oder doch, aber nichts fand, weiß ich nicht. Marie jedenfalls fuhr vom Kloster nach Antwerpen, das bekanntlich die Welthauptstadt für Edelsteine ist. Dort wurde die Ex-Nonne plötzlich reich und lebte fortan auf großem Fuß. Manchmal saß sie auch mit leeren Händen da, doch nicht lange - ihr scharfer Verstand, ihre glänzenden schauspielerischen Fähigkeiten und das gänzliche Fehlen moralischer Skrupel« (der Kommissar hob belehrend die Stimme und machte sogar eine Pause) »halfen ihr immer wieder, die Mittel für ein elegantes Leben aufzutreiben. Die Polizei von Belgien, Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Brasilien, Italien und einem weiteren Dutzend Länder nahm Marie Sansfond mehr als einmal fest und verdächtigte sie der verschiedensten Verbrechen, aber eine Anklage wurde ihr nie präsentiert: Mal gab es keine Anhaltspunkte, mal reichten die Indizien nicht aus. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen ein paar Episoden aus ihrer Dienstliste. Sie langweilen sich doch nicht, Mademoiselle Stomp?«

Clarissa hielt es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten. Aber ihr war sorgenvoll zumute.

»Das Jahr 1870«, sagte Coche nach einem weiteren Blick in seine Mappe. »Das kleine, aber reiche Städtchen Fettburg in der deutschsprachigen Schweiz. Schokoladen- und Schinkenproduktion. Auf viertausend Einwohner kommen achteinhalbtausend Schweine. Eine Region der fetten Idioten - Pardon, Madame Kleber, ich wollte Ihre Heimat nicht beleidigen«, besann sich der Kommissar verspätet.

»Macht nichts.« Madame Kleber zuckte lässig die Achseln. »Ich komme aus der französischsprachigen Schweiz. In dem Teil, wo Fettburg liegt, leben tatsächlich nur Dummköpfe. Ich glaube, ich kenne die Geschichte, sie ist lustig. Erzählen Sie nur.«

»Lustig für manch einen vielleicht.« Coche seufzte vorwurfsvoll und zwinkerte plötzlich Clarissa zu, was schon über die Hutschnur ging. »Eines Tages gerieten die ehrlichen Bürger des Städtchens in unbeschreibliche Erregung. Ein Bauer namens Möbius, der in Fettburg als Faulpelz und Tölpel galt, prahlte, er habe am Vorabend sein Land verkauft, einen schmalen Streifen steiniger Brache, und zwar an eine hochgestellte Dame, die sich Gräfin de Sansfond nenne. Für 30 Acre unfruchtbaren Bodens, auf dem nicht mal Disteln wuchsen, habe ihm die dumme Gräfin 3 000 Franken bezahlt. Aber in der Stadtverwaltung gab es Leute, die klüger waren als Möbius, und denen kam die Geschichte spanisch vor. Was wollte die Gräfin mit 30 Acre Sand und Steinen? Irgendwas stimmte da nicht. Für alle Fälle wurde ein gewiefter Mitbürger nach Zürich entsandt, und der fand heraus, daß die Gräfin de Sansfond eine bekannte Person sei. Sie führe ein fröhliches Leben in Luxus, und das Interessanteste - sie zeige sich häufig in Begleitung des Herrn Goldsilber, des Direktors der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Wie erzählt wurde, hatte der Herr Direktor mit der Gräfin ein Techtelmechtel. Und da reimten die Bürger sich alles zusammen. Ich muß erwähnen, daß das Städtchen Fettburg seit langem von einem Eisenbahnanschluß träumte, um Schokolade und Schinken billiger ausführen zu können. Das Ödland, das die fröhliche Gräfin erworben hatte, zog sich von der nächstgelegenen Bahnstation zu dem Wald, wo das Gemeindeland anfing. Den Stadtvätern dämmerte: Die Gräfin hatte von ihrem Liebhaber erfahren, daß der Streckenbau in Vorbereitung war, und hatte den Schlüsselabschnitt gekauft, um tüchtig zu kassieren. Und da reifte in den Köpfen der Bürger ein dreister Plan. Sie entsandten zu der Gräfin eine Deputation, die Ihre Erlaucht überreden sollte, das Landstück der ruhmreichen Stadt Fettburg abzutreten. Die Schöne sträubte sich zunächst und behauptete, von dem Streckenbau nichts zu wissen, doch als der Bürgermeister andeutete, die Sache rieche nach einer Absprache zwischen Ihrer Erlaucht und Seiner Exzellenz dem Herrn Direktor, und das sei strafbar, schluchzte die schwache Frau und willigte ein. Das Ödland wurde in dreißig gleich große Grundstücke aufgeteilt und auf einer Auktion versteigert. Die Fettburger schlugen sich beinahe, und einzelne Grundstücke erzielten einen Preis von 15000. Insgesamt verdiente die Gräfin ...« Der Kommissar fuhr mit dem Finger über die Zeile. »... fast 280000 Franken.«

Madame Kleber prustete los und bedeutete Coche mit einer Geste: Ich sage nichts, erzählen Sie weiter.

»Wochen, Monate gingen ins Land, doch der Baubeginn blieb aus. Die Fettburger schickten eine Anfrage an die Regierung und erhielten die Antwort, in den nächsten fünfzehn Jahren sei für ihre Stadt kein Bahnanschluß vorgesehen. Sie liefen zur Polizei: so und so, Raub am hellichten Tag. Die Polizei hörte die Geschädigten voller Mitgefühl an, konnte aber nicht helfen, denn Madame Sansfond hatte ja selbst gesagt, daß sie von einem Bahnbau nichts wisse und ihr Land nicht abtreten wolle. Alles sei rechtmäßig und nicht anfechtbar. Nun, und daß sie sich als Gräfin ausgebe, sei natürlich nicht schön, aber leider auch nicht strafbar.«

»Schlau!« lachte Regnier. »Wirklich, nicht anfechtbar.«

»Noch etwas.« Der Kommissar blätterte in seinen Papieren. »Es gibt da eine ganz phantastische Geschichte. Schauplatz ist der amerikanische Wilde Westen im Jahr 1873. In den Goldminen Californiens traf die weltbekannte Nekromantin und Großdrakonesse des Malteserordens Miss Kleo- patra Frankenstein ein, laut Paß Marie Sansfond. Sie verkündete den Goldsuchern, die Stimme von Zarathustra habe sie in diese wilde Gegend geführt, und sie habe den Auftrag, in dem Städtchen Golden Nugget ein großes Experiment durchzuführen. Genau an diesem Längen- und Breitengrad konzentriere sich die kosmische Energie auf so einzigartige Weise, daß es möglich sei, in einer sternklaren Nacht mit Hilfe kabbalistischer Formeln Menschen, die bereits die Große Scheide zwischen dem Reich der Lebenden und dem

Reich der Toten überschritten hätten, wieder auferstehen zu lassen. Sie, Kleopatra, wolle dieses Wunder in der kommenden Nacht vollbringen, in Anwesenheit von Publikum und gänzlich gratis, denn sie sei keine Zirkuskünstlerin, sondern ein Medium der Höheren Sphären. Und was glauben Sie?« Coche machte eine wirkungsvolle Pause. »Vor den Augen von fünfhundert bärtigen Zuschauern zauberte die Drako- nesse über dem Grabhügel von Roter Coyote, einem legendären Indianerhäuptling, der vor hundert Jahren gestorben war, und plötzlich kam die Erde in Bewegung, man kann sagen, sie tat sich auf, und heraus stieg der indianische Krieger mit Federschmuck, Tomahawk und bemalter Physiognomie. Die Zuschauer erbebten, und Kleopatra, ganz im Banne der mystischen Trance, schrie gellend: >Ich fühle in mir die Kraft des Kosmos! Wo ist euer städtischer Friedhof? Gleich mache ich alle, die dort liegen, wieder lebendig!< An dieser Stelle schreibt die Zeitung, daß der Friedhof von Golden Nugget sehr groß war, weil in den Goldminen tagtäglich jemand ins Jenseits befördert wurde. Es gab dort mehr Gräber, als die Stadt Einwohner hatte. Die Goldsucher malten sich aus, was geschehen würde, wenn all die Schlagetots, Trunkenbolde und Galgenvögel ihren Gräbern entstiegen, und verfielen in Panik. Der Friedensrichter rettete die Situation. Er trat vor und fragte die Drakonesse höflich, ob sie nicht bereit sei, dieses große Experiment abzubrechen, wenn die Einwohner der Stadt ihr eine volle Tasche Goldstaub spendeten, als bescheidenes Opfer für die Bedürfnisse der okkulten Wissenschaft.«

»Na und, hat sie eingewilligt?« fragte lachend der Leutnant.

»Ja. Für zwei Taschen.«

»Und der Indianerhäuptling?« fragte Fandorin lächelnd.

Er hat ein schönes Lächeln, nur sehr jungenhaft, dachte Cla- rissa. Nein, Teuerste, schlage ihn dir aus dem Kopf. Wie man in Suffolk sagt: Lecker und rund, aber nicht für deinen Mund.

»Den Indianerhäuptling nahm Kleopatra Frankenstein mit«, antwortete Coche mit ernster Miene. »Für wissenschaftliche Untersuchungen. Er soll später in einem Bordell zu Denver im Suff erstochen worden sein.«

»Tatsächlich, eine interessante P-person, diese Marie Sans- fond«, sagte Fandorin nachdenklich. »Erzählen Sie mehr von ihr. Von diesen geschickten Gaunereien bis zum kaltblütigen Massenmord ist es noch ein g-ganzes Ende.«

»Oh, please, it’s more than enough«, protestierte Mrs. Truffo und wandte sich an ihren Mann. »My darling, it must be awfully tiresome for You to translate all this nonsense.«[7]

»Madame, es zwingt Sie ja niemand, hier zu sitzen«, antwortete der Kommissar beleidigt.

Mrs. Truffo klapperte empört mit den Augen, dachte aber nicht daran zu gehen.

»Der Herr Kosak hat recht«, sagte Coche. »Ich will mal ein etwas böseres Beispiel raussuchen.«

Madame Kleber prustete mit einem Blick auf Fandorin, und auch Clarissa konnte sich trotz ihrer Nervosität eines Lächelns nicht enthalten, so wenig ähnelte der Diplomat einem wilden Sohn der russischen Steppe.

»Also, das Negerbaby, hören Sie zu. Hier haben wir auch einen letalen Ausgang. Die Sache liegt noch nicht lange zurück, zwei Jahre.« Der Kommissar sah ein paar zusammengeklammerte Blätter durch, um seine Erinnerung aufzufrischen. Er griente. »In gewisser Hinsicht ein Meisterwerk.

Ich habe so allerhand in meiner Mappe, meine Damen und Herren.« Liebevoll klopfte er mit seiner kurzfingrigen Plebejertatze auf den schwarzen Kalikodeckel. »Der alte Coche hat sich gründlich auf die Reise vorbereitet und kein Papierchen vergessen, das ihm zupaß kommen könnte. Die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle, ist der Presse noch nicht zur Kenntnis gelangt, doch ich habe hier den Polizeibericht. Also, in einem deutschen Fürstentum (in welchem, sage ich nicht, denn es ist eine heikle Sache) wartete eine durchlauchte Sippe auf Familienzuwachs. Es wurde eine schwere Geburt. Zugegen war der angesehene Leibarzt Doktor Vogel. Endlich erfüllte ein Quäken das Schlafzimmer. Als die Großherzogin, die vor Schmerzen minutenlang das Bewußtsein verloren hatte, die Augen aufschlug und mit schwacher Stimme bat: >Ach, Herr Professor, zeigen Sie mir mein Kind<, reichte Doktor Vogel Ihrer Hoheit mit überaus verlegener Miene einen zauberhaften Schreihals von hellkaffeebrauner Farbe. Die Großherzogin verlor wieder das Bewußtsein. Der Doktor sah zur Tür hinaus und winkte mit dem Finger den Großherzog herbei, eine flagrante Verletzung der Hofetikette.«

Dem Kommissar war anzusehen, daß es ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, den prüden »Windsors« diese Geschichte zu erzählen. In dem Polizeibericht dürften kaum solche Einzelheiten gestanden haben - Coche phantasierte also. Er lispelte, wenn er die Großherzogin zitierte, und wählte absichtlich hochtrabende Wörter, damit es komischer wirkte. Clarissa sah sich nicht als Aristokratin, aber sie verzog das Gesicht, denn den Hohn gegen adlige Persönlichkeiten empfand sie als schlechten Ton. Auch Milford-Stokes, Baronet und Sproß eines alten Geschlechts, runzelte die Stirn. Doch diese Reaktion schien den Kommissar noch mehr zu beflügeln.

»Seine Hoheit nahmen es dem Leibarzt nicht übel, denn es war ein erhebender Moment. Von seinen Gefühlen als Vater und Gatte überwältigt, stürmte der Großherzog ins Schlafzimmer ... Die nun folgende Szene können Sie sich selber ausmalen: ein soldatenmäßig fluchender Landesherr, eine Großherzogin, die bald schluchzte, bald Rechtfertigungen stammelte, bald in Ohnmacht fiel, ein lauthals brüllendes Negerbaby und der in wohligem Entsetzen erstarrte Leibmedikus. Zu guter Letzt faßten sich Seine Hoheit und beschlossen, über das Schicksal der erlauchten Gattin später zu befinden. Einstweilen galt es, die Spuren zu verwischen. Bloß wie? Den Säugling heimlich in den Abtritt werfen?« Coche hielt schelmisch die Hand vor den Mund. »Bitte um Vergebung, meine Damen, das ist mir so herausgerutscht. Sich des Säuglings zu entledigen war unmöglich - das ganze Herzogtum wartete auf die Geburt. Es wäre ja auch eine Sünde gewesen. Die Berater zusammenrufen? Gott behüte, sie würden es ausplaudern. Was tun? Und da unterbreitete Doktor Vogel, ergebenst hüstelnd, einen Vorschlag zur Rettung der Situation. Er habe eine Bekannte, Fräulein von Sansfond, die Wunder vollbringe und nicht nur einen neugeborenen weißhäutigen Säugling beschaffen, sondern sogar einen Phönix vom Himmel holen könne. Sie verstehe zu schweigen, Geld für ihre Gefälligkeit werde sie als adliges Fräulein natürlich nicht nehmen, aber sie liebe altertümliche Kostbarkeiten . Kurz und gut, ein paar Stunden später ruhte in der Atlaswiege ein prächtiges Jungchen, heller als ein Milchferkel und sogar mit weißblondem Haar, und das arme Negerbaby war in unbekannter Richtung aus dem Palast getragen worden. Im übrigen hatte man der Großherzogin versichert, das unschuldige Kind werde in südliche Gefilde gebracht und dort von guten Menschen aufgezogen.

Also, alles war aufs beste geregelt. Der dankbare Großherzog übergab dem Doktor für Fräulein von Sansfond eine wundervolle brillantbesetzte Tabaksdose mit Monogramm, dazu ein Dankschreiben, und er ließ ihr ausrichten, sie möge das Herzogtum ein für allemal verlassen. Was das taktvolle Fräulein auch ungesäumt tat.« Coche konnte ein Prusten nicht unterdrücken. »Am nächsten Morgen wollte der Großherzog endlich seinen Erben in Augenschein nehmen. Angewidert hob er den Jungen aus der Wiege, drehte ihn hin und her - und sah plötzlich auf dem rosigen Popo ein herzförmiges Muttermal. Genau solch ein Muttermal hatten an der gleichen Stelle Seine Hoheit, der verblichene Vater Seiner Hoheit, der Großvater und so fort bis ins siebte Glied. Der Großherzog, gänzlich irritiert, schickte nach dem Leibarzt, doch nun stellte sich heraus, daß Doktor Vogel letzte Nacht in unbekannter Richtung abgereist war, unter Zurücklassung seiner Frau und seiner acht Kinder.« Coche brach in ein heiseres Lachen aus, hustete, fuchtelte mit den Händen. Einer kicherte verlegen, Madame Kleber hielt sich keusch die Hand vor den Mund.

»Eine sogleich anberaumte Untersuchung ergab, daß sich der Leibarzt in letzter Zeit sonderbar benommen hatte und sogar im Spielcasino des benachbarten Baden-Baden gesehen worden war, noch dazu in Begleitung einer fröhlichen jungen Dame, die der Beschreibung nach Ähnlichkeit mit Fräulein von Sansfond hatte.« Der Kommissar wurde ernst. »Der Arzt wurde zwei Tage später in einem Straßburger Hotel aufgefunden. Tot. Er hatte eine tödliche Dosis Laudanum genommen und einen Brief hinterlassen: >An allem bin ich allein schuld.< Eindeutig Selbstmord. Wer in Wirklichkeit schuld war, lag auf der Hand, aber das beweise mal. Die Tabaksdose war ein allerhöchstes Geschenk, und dann war da noch der Brief. Ein Gerichtsprozeß wäre die Hoheiten teuer zu stehen gekommen. Am rätselhaftesten war, auf welche Weise der neugeborene Prinz gegen das Negerbaby vertauscht und wo im Reich der blauäugigen Blondköpfe überhaupt der schokoladenbraune Säugling hergekommen war. Allerdings hatte nach etlichen Informationen Marie Sansfond einige Zeit vor der beschriebenen Geschichte ein Stubenmädchen aus Senegal in ihren Diensten gehabt.«

»Sagen Sie, K-kommissar«, fragte Fandorin, als das Gelächter verstummt war (vier hatten gelacht: Leutnant Re- gnier, Doktor Truffo, Professor Sweetchild und Madame Kleber), »ist Marie Sansfond denn so schön, daß sie jedem Mann den Kopf verdrehen kann?«

»In allen Berichten steht, daß sie ganz alltäglich aussieht und keine besonderen Kennzeichen hat.« Coche warf einen frechen Blick auf Clarissa. »Die Haarfarbe, das Benehmen, den Akzent, den Kleidungsstil wechselt sie mühelos. Aber es scheint doch etwas an ihr dran zu sein. Ich habe in meinem Dienst alles Erdenkliche gesehen. Die verhängnisvollsten Herzensbrecherinnen sind selten schön. Wenn man ihr Photo betrachtet, gleitet der Blick ab, doch bei persönlicher Begegnung verspürt man ein Kribbeln auf der Haut. Ein Mann fliegt schließlich nicht auf eine gerade Nase und auf lange Wimpern, sondern auf einen besonderen Geruch.«

»Pfui, Kommissar«, wies Clarissa Coche zurecht. »Sie sind in Gesellschaft von Damen.«

»Ich bin in Gesellschaft von Verdächtigen«, parierte er gelassen. »Und Sie sind eine von ihnen. Woher soll ich wissen, ob Mademoiselle Sansfond nicht hier mit am Tisch sitzt?«

Seine Augen saugten sich an Clarissas Gesicht fest. Das erinnerte mehr und mehr an einen bösen Traum. Das Atmen fiel ihr schwer.

»Wenn ich richtig gerechnet h-habe, ist diese Dame jetzt 29 Jahre alt?«

Fandorins ruhige, sogar etwas indolente Stimme half Cla- rissa, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Für weibliche Eitelkeit war hier nicht der Platz, und sie rief: »Was starren Sie mich so an, Herr Schnüffler? Sie machen mir da ein unverdientes Kompliment. Ich bin älter als Ihre Abenteurerin, fast zehn Jahre! Auch die übrigen Damen taugen kaum für die Rolle der Mademoiselle Sansfond. Madame Kleber ist zu jung, und Madame Truffo spricht, wie Sie wissen, nicht französisch!«

»Für die gewiefte Marie Sansfond ist es eine Kleinigkeit, zehn Jahre mehr oder weniger zu spielen«, antwortete der Kommissar gemächlich, wobei er Clarissa nach wie vor durchdringend ansah. »Besonders wenn so viel Geld auf dem Spiel steht und im Falle des Scheiterns die Guillotine droht. Waren Sie wirklich nicht in Paris, Mademoiselle Stomp? Irgendwo in der Nähe der Rue de Grenelle?«

Clarissa wurde totenbleich.

»Na, hier muß ich mich als Vertreter der Schiffahrtsgesellschaft Jasper & Arthaud Partnership< einmischen«, unterbrach Regnier gereizt den Polizisten. »Meine Damen und Herren, ich versichere Ihnen, Gauner mit internationaler Reputation hatten keinen Zugang zu unserm Schiff. Unsere Gesellschaft garantiert, daß sich auf der >Leviathan< keine Falschspieler, keine Kokotten und erst recht keine polizeibekannten Abenteurerinnen befinden. Verstehen Sie, wir sind auf Jungfernfahrt und tragen eine besondere Verantwortung. Skandale können wir uns nicht leisten. Kapitän Cliff und ich haben immer wieder die Passagierlisten durchgesehen und in Zweifelsfällen Erkundigungen eingezogen. Auch bei der französischen Polizei, Herr Kommissar. Ich und der Kapitän sind bereit, für jeden der Anwesenden zu bürgen. Wir werden Sie nicht hindern, Ihrer Berufspflicht nachzukommen, Monsieur Coche, aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Und das Geld der französischen Steuerzahler.«

»Na-na«, knurrte Coche. »Wir werden ja sehen.«

Worauf Mrs. Truffo zur allgemeinen Erleichterung das Gespräch auf das Wetter brachte.

REGINALD MILFORD-STOKES

10. April 1878 22 Uhr 31

Im Arabischen Meer

17 Grad 06 Minuten 28 Sekunden nördl. Breite 59 Grad 48 Minuten 14 Sekunden östl. Länge

Meine teure und heißgeliebte Emily!

Diese Höllenarche ist in der Gewalt böser Mächte. Ich spüre das mit meiner ganzen leidenden Seele. Wobei noch nicht einmal sicher ist, ob ein Verbrecher wie ich überhaupt eine Seele hat. Ich habe geschrieben und nachgedacht. Ich erinnere mich, daß ich ein Verbrechen verübt habe, ein furchtbares Verbrechen, für das es keine Vergebung gibt noch geben kann, aber seltsamerweise ist mir total entfallen, worin es eigentlich bestand. Und ich möchte es auch gar nicht mehr wissen.

In der Nacht, im Schlaf, erinnere ich mich sehr gut daran, wie wäre sonst der grauenhafte Zustand zu erklären, in dem ich jeden Morgen aufwache? Wenn nur unsere Trennung bald zu Ende wäre. Ich habe das Gefühl, daß nicht mehr viel fehlt, und ich verliere den Verstand. Das käme sehr zur Unzeit.

Die Tage ziehen sich quälend in die Länge. Ich sitze in der Kabine und starre auf den Minutenzeiger des Chronometers. Er bewegt sich nicht. An Deck vor dem Fenster hat jemand gesagt: »Heute ist der zehnte April«, doch ich konnte nicht begreifen, wieso der zehnte April. Ich schließe meine Schatulle auf und sehe, daß mein gestriger Brief an Sie vom 9. April datiert ist und mein vorgestriger vom 8. April. Also hat alles seine Richtigkeit. Der 10. April.

Schon seit Tagen lasse ich kein Auge von Professor Sweetchild (wenn er denn tatsächlich Professor ist). Dieser Mann ist in unserm Salon »Windsor« sehr beliebt. Er ist ein notorischer Phrasendrescher und brüstet sich mit seinen Kenntnissen in Geschichte und Orientalistik. Kein Tag vergeht ohne neue Märchen über Schätze, eines unwahrscheinlicher als das andere. Zu allem übrigen hat er unangenehme huschende Ferkelaugen. Manchmal blitzen darin wahnsinnige Fünkchen. Sie müßten mal hören, mit welch wollüstiger Stimme dieser Mann von Edelsteinen erzählt. Bestimmt ist er über all den Brillanten und Smaragden verrückt geworden.

Heute während des Frühstücks ist Doktor Truffo plötzlich aufgestanden, hat laut in die Hände geklatscht und feierlich verkündet, Mrs. Truffo habe Geburtstag. Alle riefen Ah und Oh, gratulierten dem Geburtstagskind, und der Doktor überreichte seiner unansehnlichen Gattin öffentlich ein Geschenk - ungewöhnlich geschmacklose Topasohrringe. Wie vulgär - aus der Überreichung eines Geschenks an die eigene Ehefrau ein Spektakel zu machen! Aber Mrs. Truffo sah es offenbar nicht so. Sie lebte auf und wirkte ganz glücklich, und ihre fade Physiognomie nahm die Farbe von geriebenen Mohrrüben an. Der Leutnant sagte: »O Madame, wenn wir früher von dem freudigen Ereignis gewußt hätten, würden wir bestimmt eine Überraschung für Sie vorbereitet haben. Geben Sie Ihrer Bescheidenheit die Schuld.« Das hirnlose Geburtstagskind errötete noch mehr und stammelte schüchtern: »Sie möchten mir wirklich etwas Gutes tun?« Die Antwort war ein allgemeines gutmütig träges Brummen. »Dann«, so sagte sie, »lassen Sie uns Lotto spielen. In unserer Familie wurden an Sonn- und kirchlichen Feiertagen immer Karten und der Spielmarkenbeutel hervorgeholt. Oh, das macht solchen Spaß! Meine Herrschaften, Sie würden mir eine große Freude machen!« Ich hörte Mrs. Truffo zum erstenmal eine so umfängliche Rede halten. Im ersten Moment glaubte ich, sie wolle sich über uns lustig machen, doch nein, sie meinte es ernst. Was sollten wir tun? Nur Regnier entschlüpfte, da er angeblich seine Wache antreten mußte. Der tumbe Kommissar versuchte ebenfalls, sich auf dringende Pflichten zu berufen, aber alle sahen ihn so mißbilligend an, daß er schnaufte und blieb.

Mr. Truffo holte das Zubehör für das idiotische Spiel, dann begann die Quälerei. Alle legten trübsinnig ihre Karten aus und blickten wehmütig auf das sonnenbeschienene Deck. Die Fenster standen weit offen, durch den Salon wehte eine frische Brise, doch wir saßen da und spielten eine Szene aus dem Kinderzimmer. »Als Anreiz«, wie das beflügelte Geburtstagskind sagte, wurde eine Bank eingerichtet, in die jeder eine Guinee einzahlte. Die Siegeschancen lagen bei der Bankhalterin selbst, da sie als einzige aufpaßte, welche Nummern ausgerufen wurden. Der Kommissar hatte wohl auch nicht übel Lust, die Bank zu sprengen, aber er verstand nicht die kindlichen Sprüche, mit denen Mrs. Truffo um sich warf - ihr zu Liebe wurde diesmal englisch gesprochen.

Die jämmerlichen Topasohrringe im Wert von zehn Pfund bewogen Sweetchild, sein Steckenpferd zu satteln. »»Ein ausgezeichnetes Geschenk, Sir!« sagte er zu dem Arzt. Der strahlte vor Vergnügen, doch Sweetchilds nächster Satz verdarb alles. »Gewiß, Topase sind heutzutage wohlfeil, aber wer weiß, vielleicht geht der Preis so in hundert Jahren wieder in die Höhe. Edelsteine sind ja so unberechenbar! Sie sind ein richtiges Wunder der Natur, nicht so wie die langweiligen Metalle Gold und Silber. Metall ist seelenlos und formlos, man kann es umschmelzen, doch Steine haben ihre unwiederholbare Individualität. Sie geben sich jedoch nicht jedem in die Hände, nur dem, der vor nichts haltmacht und um ihres magischen Strah- lens willen bis ans Ende der Welt zu gehen bereit ist, vielleicht noch weiter.« Diese hochtrabenden Sentenzen waren begleitet vom Piepsen der Mrs. Truffo, welche die Nummern der Spielmarken ausrief. Ein Beispiel. Sweetchild sagt: »Ich erzähle Ihnen die Legende von dem großen und mächtigen Eroberer Mahmud von Ghasna, der vom Glanz der Diamanten verzaubert war und auf der Suche nach den Zauberkristallen halb Indien mit Feuer und Schwert durchquerte.« Mrs. Truffo: »Elf meine Herrschaften. Zwei Einsen, zwei Trommelstöckchen.« Und so die ganze Zeit.

Übrigens, die erwähnte Legende will ich nacherzählen. Sie wird Ihnen helfen, den Charakter des Erzählers besser zu verstehen. Ich werde mich bemühen, seinen eigenartigen Redestil wiederzugeben.

»Im Sommer des Jahres (ist mir entfallen) nach Christi Geburt und nach muselmanischer Zeitrechnung im Jahre (ist mir erst recht entfallen) erfuhr der mächtige Mahmud von Ghasna, daß es auf der Halbinsel Kathiawar einen Tempel gebe, in dem ein gewaltiges Götzenbild aufbewahrt werde, vor dem sich Hunderttausende von Menschen zu verneigen pflegten. Der Götze beschütze die Grenzen jenes Landes vor fremdländischen Überfällen, und jeder, der diese Grenzen mit dem Schwert in der Hand überschreite, sei des Todes. Das Heiligtum gehöre einer mächtigen brahmanischen Gemeinde, der reichsten in ganz Indien. Überdies besäßen die Brahmanen unermeßliche Mengen von Edelsteinen. Der furchtlose Mahmud hatte keine Angst vor der Macht des Götzen, er zog sein Heer zusammen und begab sich auf den Feldzug. Er schlug fünfzigtausend Köpfe ab, zerstörte fünfzig Festungen und brach in das Heiligtum ein.

Seine Krieger schändeten den Tempel und kehrten das Unterste zuoberst, konnten aber den Schatz nicht finden. Da trat Mahmud vor den Götzen, holte aus und schlug ihm seine Streitaxt gegen den kupfernen Schädel. Die Brahmanen warfen sich vor dem Sieger zu Boden und boten ihm eine Million Silbermünzen, wenn er ihren Gott verschone. Mahmud lachte und schlug ein zweitesmal zu. Der Götze bekam einen Riß. Die Brahmanen heulten noch lauter und boten dem furchtgebietenden Herrscher zehn Millionen Goldmünzen. Aber die schwere Streitaxt hob sich zum drittenmal, der Götze spaltete sich in zwei Hälften, und nun flossen in einem glitzernden Strom Diamanten und Edelsteine, die in seinem Innern versteckt gewesen, auf den Boden des Tempels. Der Wert dieses Schatzes war in Zahlen nicht ausdrückbar.«

Da verkündete Mr. Fandorin mit etwas verlegener Miene, er habe alles komplett. Alle außer Mrs. Truffo freuten sich schrecklich und wollten auseinanderlaufen, aber sie bat so nachdrücklich um noch eine Partie, daß man bleiben mußte. Wieder tönte es: »Neununddreißig, und dann beiß ich! Siebenundzwanzig, und dann tanz ich!« und ähnlicher Unsinn.

Aber jetzt nahm Mr. Fandorin das Wort und erzählte in seiner sanften, leicht spöttischen Manier ebenfalls ein Märchen, ein arabisches, das er in einem alten Buch gelesen hatte. Ich zitiere Ihnen dieses Gleichnis aus meiner Erinnerung.

Es waren einmal drei maghrebinische Kaufleute, die machten sich auf ins Innere der Großen Wüste, denn sie hatten Kenntnis erlangt, daß es weit weg, mitten in der Sandwüste, wo die Karawanen nicht hinkamen, einen großen Schatz gäbe, wie Sterbliche ihn nie gesehen hätten. Die Kaufleute zogen vierzig Tage dahin, litten unter Gluthitze und Entkräftung, und sie hatten jeder nur noch ein Kamel, die übrigen waren verendet. Plötzlich sahen sie einen großen Berg. Als sie näher kamen, trauten sie ihren Augen nicht: Der ganze Berg bestand aus Silberbarren. Die Kaufleute priesen Allah. Einer von ihnen füllte seine Säcke mit Silber und machte sich auf den Rückweg, die anderen aber sagten: »Wir ziehen weiter.« Und sie gingen nochmals vierzig Tage, und die Sonne färbte ihre Gesichter schwarz und ihre Augen rot. Und wieder kamen sie zu einem Berg, der war aus Gold. Der zweite Kaufmann rief: »Unsere Leiden haben sich gelohnt. Der Allmächtige sei gepriesen!« Er füllte seine Säcke mit Gold und fragte seinen Gefährten: »Was stehst du untätig da?« Der dritte Kaufmann antwortete ihm und sprach: »Wieviel Gold kannst du schon auf einem Kamel wegbringen?« Der Zweite: »Genug, um der reichste Mann in unserer Stadt zu sein.« - »Das reicht mir nicht«, sagte der Dritte. »Ich gehe weiter, um den Berg aus Diamanten zu finden. Wenn ich dann heimkomme, werde ich der reichste Mann der ganzen Welt sein.« Und er zog weiter, und sein Weg währte nochmals vierzig Tage. Sein Kamel legte sich hin und stand nicht mehr auf, aber der Kaufmann machte nicht halt, denn er war eigensinnig und glaubte an den Diamantenberg, und eine Handvoll Diamanten ist bekanntlich wertvoller als ein Berg aus Silber oder ein Hügel aus Gold. Und eines Tages sah der dritte Kaufmann vor sich ein absonderliches Bild: Mitten in der Wüste stand ein Mensch, tiefgebeugt, denn er trug auf seinen Schultern einen Diamantenthron, und auf dem Thron saß ein Ungeheuer mit schwarzer Visage und glühenden Augen. »Wie freue ich mich, dich zu sehen, verehrter Reisender!« krächzte der Gebeugte. »»Darf ich vorstellen, das ist Marduf der Dämon der Habgier, und den Thron wirst du jetzt auf deinen Schultern tragen, bis dich einer ablösen kommt, der ebenso habgierig ist wie du und ich.«

An dieser Stelle brach die Erzählung ab, denn Mr. Fandorin hatte wieder gewonnen, und auch die zweite Bank fiel nicht an

das Geburtstagskind. Gleich darauf saß Mrs. Truffo allein am Tisch, die anderen waren wie vom Wind weggeblasen.

Ich denke dauernd über das Märchen von Mr. Fandorin nach. Es ist nicht so einfach, wie es scheint.

Sweetchild ist der dritte Kaufmann. Als ich das Märchen zu Ende gehört hatte, kam mir die Erleuchtung! Ja, er ist ein gefährlicher Wahnsinniger. In ihm brodelt eine unbezähmbare Leidenschaft - als ob ich nicht wüßte, was das ist. Nicht umsonst folge ich ihm seit Aden wie ein unsichtbarer Schatten.

Ich schrieb Ihnen schon, liebste Emily, daß ich die Liegezeit im Hafen ausgiebig genutzt habe. Sie glauben gewiß, ich meinte damit den Erwerb eines neuen Navigationsgeräts. Ja, ich habe einen neuen Sextanten, und ich kontrolliere wieder regelmäßig den Kurs des Schiffes, aber hier geht es um etwas anderes. Ich hatte einfach Furcht, mein Geheimnis dem Papier anzuvertrauen. Womöglich liest es jemand, ich bin ja rings von Feinden umgeben. Aber mein Verstand ist wendig, und ich habe mir einen feinen Kniff ausgedacht: Ab heute schreibe ich mit Milch. Wenn ein Fremder das Papier zur Hand nimmt, wird er nichts erkennen, doch meine Emily ist schlau und wird die Blätter überm Lampenschirm erwärmen, dann werden die Zeilen sichtbar. Ein vortrefflicher Einfall, was?

Also, Aden. Noch auf dem Schiff, solange wir nicht an Land durften, fiel mir auf, daß Sweetchild nervös war, ja, er hüpfte vor Erregung. Das hatte schon angefangen, als Fandorin erklärt hatte, das gestohlene Tuch von Lord Littleby sei der Schlüssel zu den mythischen Schätzen des Smaragdenen Radschas. Nun fieberte der Professor dem Landgang entgegen, er murmelte immer wieder vor sich hin: »Ach, schnell an Land.« Fragt sich, wozu?

Das wollte ich herausfinden.

Ich zog meinen breitkrempigen schwarzen Hut über die

Augen und folgte Sweetchild. Zunächst lief alles gut - er drehte sich kein einziges Mal um, und ich ging ihm ungehindert nach bis zu dem Platz hinter der Zollbude. Aber hier gab es eine unangenehme Überraschung: Sweetchild rief eine Droschke und rollte in unbekannter Richtung davon. Die Droschke fuhr recht langsam, aber ich konnte ihr ja nicht gut hinterherlaufen - wie hätte das ausgesehen? Natürlich warteten auf dem Platz weitere Fahrzeuge, ich hätte eines davon besteigen können, doch Sie kennen meine unüberwindliche Abneigung gegen offene Equipagen, Emily. Sie sind eine Erfindung des Teufels und werden nur von hirnlosen Draufgängern genutzt. Unter denen gibt es sogar solche - ich habe es mehr als einmal mit eigenen Augen gesehen -, die ihre Frau und ihre unschuldigen Kinder mitfahrenlassen. Wie leicht geschieht ein Unglück! Besonders gefährlich sind die bei uns in Britannien so populären zweirädrigen Wagen. Jemand hat mir erzählt (habe vergessen, wer), wie ein junger Mann aus angesehener Familie in einem zweirädrigen Wagen mit seiner jungen Frau, die noch dazu im achten Monat schwanger war, eine Spazierfahrt unternahm. Natürlich fand das ein böses Ende: Der Taugenichts kam mit den Pferden nicht zurecht, sie gingen durch, und der Wagen schlug um. Dem jungen Mann passierte nichts, bei seiner Frau aber setzten vorzeitige Wehen ein. Weder sie noch das Kind konnte gerettet werden. Und alles aus Unbedachtheit. Wären sie lieber zu Fuß gegangen. Oder Boot gefahren. Zur Not kann man auch die Eisenbahn nehmen, ein Einzelabteil. In Venedig benutzen sie Gondeln. Wir beide waren dort, erinnern Sie sich? Wissen Sie noch, wie das Wasser an den Stufen zum Hotel leckte?

Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, ich schweife immer wieder ab. Also, Sweetchild fuhr mit einer Droschke weg, und ich blieb beim Zoll zurück. Denken Sie, ich hätte aufgegeben? Keineswegs. Während ich auf Sweetchild wartete, betrat ich einen Laden für Marinebedarf und kaufte einen neuen Sextanten, der besser ist als der gestohlene, sowie ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk über Seefahrt, mit astronomischen Formeln. Jetzt kann ich die jeweilige Position des Schiffes schneller und genauer bestimmen und bin nicht mehr hinters Licht zu führen.

Ich wartete sechs Stunden und achtunddreißig Minuten. Saß auf einer Bank. Blickte aufs Meer. Dachte an Sie.

Als Sweetchild zurückkehrte, stellte ich mich schlafend. Er huschte vorbei, überzeugt, daß ich ihn nicht gesehen hätte.

Kaum war er hinter der Ecke der Zollbude verschwunden, lief ich zu seinem Kutscher. Für einen Sixpence erzählte mir der Bengale, wohin unser lieber Professor gefahren war. Sie müssen zugeben, liebe Emily, daß ich mich bei dieser Geschichte geschickt angestellt habe.

Diese Information bestärkte mich in meinem anfänglichen Verdacht. Sweetchild hatte sich vom Hafen direkt zum Telegraphenamt bringen lassen. Dort blieb er eine halbe Stunde, später kehrte er noch viermal dorthin zurück. Der Kutscher sagte: »Sahib sehr-sehr aufgeregt. Immer hin und her. Mal befehlen: Bring auf Basar, dann an Rücken klopfen: Bring auf Post, los-los.« Mir wurde klar, daß Sweetchild zuerst eine Depesche abgeschickt und dann ungeduldig auf Antwort gewartet hatte. Nach den Worten des Bengalen war er das letztemal ganz verändert herausgekommen, hatte ein Papier geschwenkt und sich zum Schiff bringen lassen. Also mußte er die Antwort bekommen haben.

Was darin steht, weiß ich nicht, doch es liegt auf der Hand, daß der Professor, oder was immer er ist, Komplizen hat.

Das war vorvorgestern. Seitdem ist Sweetchild wie ausgewechselt. Wie ich schon schrieb, redet er nur noch von Edelsteinen. Manchmal setzt er sich plötzlich irgendwo an Deck hin und zeichnet etwas, mal auf seine Manschette, mal auf sein Taschentuch.

Am Abend fand im Grand Salon ein Ball statt. Ich habe Ihnen schon den majestätischen Saal geschildert, der aus Versailles oder dem Buckingham Palace hergeholt scheint. Überall Vergoldungen, die Wände bestehen aus Spiegeln, die elektrischen Kristallüster klirren melodisch im Takt des Wellengangs. Das Orchester (übrigens ganz ordentlich) spielte hauptsächlich Wiener Walzer, ein Tanz, den ich, wie Sie wissen, unanständig finde, darum stand ich in einer Ecke und beobachtete Sweetchild. Der amüsierte sich tüchtig, forderte eine Dame nach der anderen auf, galoppierte wie ein Ziegenbock und trat ihnen gnadenlos auf die Füße, was ihn aber nicht im geringsten beirrte. Mich lenkte ein wenig die Erinnerung ab, wie wir beide tanzten und wie graziös Ihre Hand im weißen Handschuh auf meiner Schulter lag. Plötzlich sah ich, wie Sweetchild zusammenzuckte, seine Dame beinahe fallenließ und, ohne sich zu entschuldigen, fast im Laufschritt zu den Tischen mit dem Imbiß eilte. Seine Dame blieb wie versteinert mitten im Saal stehen. Der unbändige Hungeranfall kam auch mir sonderbar vor.

Aber Sweetchild würdigte die Schüsseln mit Kuchen, Käse und Früchten keines Blicks. Er griff sich aus dem silbernen Serviettenhalter eine Papierserviette und begann, darüber gebeugt, eifrig etwas zu krakeln. Er war ganz außer sich, hielt es inmitten der Menge nicht für nötig, Vorsicht walten zu lassen! Vor Neugier brennend, bewegte ich mich lässigen Ganges zu ihm hin. Aber Sweetchild richtete sich auf und faltete die Serviette zweimal, wohl um sie in die Tasche zu stecken. Schade, ich hatte ihm nicht über die Schulter schauen können. Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf und wollte eben umkehren, da sah ich Mr. Fandorin mit zwei Gläsern Champagner auf den Tisch zu kommen. Ein Glas reichte er Sweetchild, das andere behielt er. Ich hörte, wie der Russe sagte: »Ach, lieber Professor, was sind Sie doch zerstreut! Eben haben Sie eine schmutzige Serviette in die Tasche gesteckt.« Sweetchild holte verlegen die Serviette hervor, zerknüllte sie und warf sie unter den Tisch. Ich trat zu den beiden und brachte das Gespräch auf die Mode, denn ich wußte, daß der Indologe bald gelangweilt gehen würde. So kam es auch.

Kaum hatte er uns mit einer Entschuldigung verlassen, flüsterte Mr. Fandorin mit Verschwörermiene: »Na, Sir Reginald, wer von uns kriecht unter den Tisch?« Da ging mir auf, daß das Verhalten des Professors nicht nur mir, sondern auch dem Diplomaten verdächtig vorkam. Zwischen uns entstand blitzschnell ein völliges Einvernehmen. »Ja, das ist nicht ganz schicklich«, antwortete ich. Mr. Fandorin blickte nach rechts und links und schlug vor: »Machen wir’s so: Einer denkt sich einen anständigen Vorwand aus, und der andere kriecht unter den Tisch.« Ich nickte und dachte nach, doch mir fiel nichts Passendes ein. »Heureka«, flüsterte mein Partner und öffnete mit einer schnellen Bewegung einen meiner goldenen Manschettenknöpfe, der fiel zu Boden, und der Diplomat stieß ihn mit der Schuhspitze unter den Tisch. »Sir Reginald«, sagte er laut, damit die Umstehenden es hörten. »Ich glaube, Sie haben einen Manschettenknopf verloren.«

Abgemacht ist abgemacht. Ich hockte mich hin und blickte unter den Tisch. Die Serviette lag ganz nahe, doch der verdammte Knopf war bis an die Wand gekullert, und der Tisch war ziemlich breit. Stellen Sie sich folgendes Bild vor: Ihr Ehemann kriecht auf allen vieren unter dem Tisch herum und kehrt dem Saal nicht gerade seine imposanteste Seite zu. Auf dem Rückweg gab es einen kleinen Zwischenfall. Als ich unter dem Tisch hervorschaute, sah ich direkt vor mir zwei junge Damen, die sich lebhaft mit Mr. Fandorin unterhielten. Als sie meinen rothaarigen Kopf in Höhe ihrer Knie erblickten, kreischten sie erschrocken auf, doch mein tückischer Partner sprach ungerührt: »»Darf ich vorstellen - der Baronet Milford-Stokes.« Die Damen guckten mich von oben herab kühl an und entfernten sich wortlos. Ich sprang auf und rief vor Wut kochend: »Sir, Sie haben die Damen mit Absicht hier festgehalten, um mich zum Gespött zu machen!« Fandorin antwortete mit unschuldiger Miene: »Ich habe sie in der Tat hier festgehalten, aber nicht, um Sie zum Gespött zu machen, Sir. Mir war nur die Idee gekommen, daß die beiden mit ihren weiten Röcken Ihr riskantes Unternehmen verdecken könnten. Aber wo ist denn nun das Beutestück?«

Ich entfaltete die Serviette mit vor Erregung zitternden Händen, und wir erblickten etwas Seltsames. Ich zeichne es aus der Erinnerung auf:


Was sind das für geometrische Figuren? Was bedeutet die Zickzacklinie? Was hat »Palace« damit zu tun? Und wozu die drei Ausrufungszeichen?

Ich sah Fandorin verstohlen an. Er zupfte mit zwei Fingern an seinem Ohrläppchen und murmelte etwas Unverständliches. Ich vermute, auf russisch.

»Was halten Sie davon?« fragte ich.

»Abwarten«, antwortete der Diplomat mit rätselhafter Miene. »»Er ist seinem Ziel nahe.«

Wer ist nahe? Sweetchild? Welchem Ziel? Und ist es gut, daß er ihm nahe ist?

Aber ich kam nicht dazu, alle diese Fragen zu stellen, denn im Saal setzte gewaltiger Applaus ein. Monsieur Drieux, der für die Betreuung der Passagiere zuständig ist, schrie ohrenbetäubend in den Trichter: »Also, Mesdames et Messieurs, der Grand Prix unserer Tombola geht an die Kabine Nummer achtzehn!« Bislang hatte mich die geheimnisvolle Serviette so in Anspruch genommen, daß ich nicht auf das Geschehen im Saal achtete. Dort hatte das Tanzen längst aufgehört, und es lief die Ziehung der Wohltätigkeitslotterie zugunsten gefallener Mädchen (ich schrieb Ihnen am 3. April von dieser blöden Idee). Meine Einstellung zur Wohltätigkeit und zu gefallenen Mädchen ist Ihnen bekannt, darum enthalte ich mich eines Kommentars.

Die feierliche Verkündung wirkte sonderbar auf meinen Gesprächspartner - er verzerrte leidend das Gesicht und zog den Kopf zwischen die Schultern. Im ersten Moment wunderte ich mich, doch dann fiel mir ein, daß die Kabine Nr. 18 Mr. Fan- dorin gehörte. Stellen Sie sich vor, das Glückslos war auf ihn gefallen!

»Das ist ja unerträglich«, murmelte der Auserwählte Fortu- nas und stotterte stärker als sonst. »Ich werde ein wenig Spazierengehen.« Er wollte zur Tür retirieren, aber Mrs. Kleber rief schallend: »Das ist Monsieur Fandorin aus unserm Salon! Da ist er, meine Herrschaften! Im weißen Smoking mit roter Nelke! Monsieur Fandorin, wo wollen Sie hin? Sie haben den Grand Prix gewonnen!«

Alle wandten sich dem Diplomaten zu und applaudierten noch heftiger. Vier Stewards trugen den Hauptpreis in den Saal: eine unglaublich häßliche Standuhr, die Big Ben nachbildete. Es war ein wahrhaft angsteinflößendes Gerät aus geschnitztem Eichenholz, anderthalb Mann hoch und mindestens vier Stones schwer. Ich sah in Mr. Fandorins Augen etwas wie Grauen, und ich kann ihn dafür nicht verurteilen.

Ein weiteres Gespräch war unmöglich, und ich kehrte in meine Kabine zurück, um diesen Brief zu schreiben.

Ich fühle gefährliche Ereignisse heranreifen, die Schlinge zieht sich um mich zusammen. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, meine Herren Verfolger, so einfach kriegen Sie mich nicht!

Es ist schon spät, Zeit, die Koordinaten zu messen.

Auf Wiedersehen, liebe, zärtliche, unendlich vergötterte Emily.

In heißer Liebe Ihr Reginald Milford-Stokes

RENATE KLEBER

Renate paßte Schnauzer (so nannte sie den alten Coche, seit sie wußte, was für einer er war) vor seiner Kabine ab. Nach der zerknitterten Visage und den zerrauften grauen Haaren des Kommissars zu urteilen, war er eben erst aufgestanden - er hatte sich wohl gleich nach dem Mittagessen hingelegt und bis zum Abend gegrunzt.

Sie packte den Fahnder am Ärmel, stellte sich auf die Zehenspitzen und sprudelte hervor: »Ich muß Ihnen was erzählen!«

Schnauzer warf ihr einen prüfenden Blick zu, kreuzte die Arme vor der Brust und sagte mit unguter Stimme: »Ich höre mit Interesse zu. Wollte ohnehin längst mal mit Ihnen sprechen, Madame.«

Sein Ton ließ Renate aufhorchen, aber sie dachte - Unsinn, Schnauzer hat eine schlechte Verdauung, oder ihm ist im Traum eine krepierte Ratte erschienen.

»Ich habe für Sie die Arbeit gemacht«, prahlte Renate und blickte nach rechts und links, ob auch niemand lauschte. »Gehen wir in Ihre Kabine, dort stört uns niemand.«

Schnauzers Behausung war tipp-topp aufgeräumt: Mitten auf dem Tisch prangte die bekannte schwarze Mappe, daneben lagen ein Stoß Papier und gutgespitzte Bleistifte. Renate sah sich neugierig um, entdeckte eine Schuhbürste und eine Dose Schuhkrem und auf einer Schnur trocknende Hemdkragen. Der Alte ist geizig, dachte sie, er putzt seine Schuhe selbst und wäscht selbst, um dem Personal kein Trinkgeld geben zu müssen.

»Na, reden Sie schon«, knurrte er gereizt, da Renates Neugier ihn verdroß.

»Ich weiß, wer der Täter ist«, meldete sie stolz.

Diese Neuigkeit verfehlte die erhoffte Wirkung auf den Kommissar. Er holte tief Luft und fragte: »Wer?«

»Na sind Sie denn blind? Das ist doch mit bloßem Auge zu sehen!« Renate schlug die Hände zusammen und setzte sich in einen Sessel. »Alle Zeitungen haben geschrieben, daß den Mord ein Psychopath verübt haben muß. Kein normaler Mensch hätte das fertiggebracht, richtig? Und jetzt überlegen Sie mal, wer bei uns am Tisch sitzt. Natürlich ist da eine komische Truppe beisammen, lauter Langweiler und Mißgeburten, aber nur ein Psychopath.«

»Sie meinen den Baronet?« fragte Schnauzer.

»Na endlich.« Renate schüttelte mitleidig den Kopf. »Das liegt doch klar auf der Hand. Haben Sie mal gesehen, mit was für Augen er mich anguckt? Das ist doch ein Tier, ein Monster. Ich fürchte mich, allein durch den Korridor zu gehen. Gestern traf ich ihn auf der Treppe, und ringsum kein Mensch. Es hat mir einen Stich gegeben!« Sie griff sich an den Bauch. »Ich beobachte ihn schon lange. Nachts brennt in seiner Kabine Licht, und die Vorhänge sind zugezogen. Gestern aber war ein schmaler Spalt offen, und ich habe vom Deck aus hineingeschaut. Er stand mitten in der Kabine, fuchtelte mit den Händen, schnitt ekelhafte Grimassen, drohte jemandem mit dem Finger. Gräßlich! Später in der Nacht bekam ich Migräne und ging hinaus an die frische Luft. Plötzlich seh ich, auf der Back steht unser Verrückter, den Kopf gen Himmel gereckt, und guckt durch ein Metallding zum Mond. Und da fiel bei mir der Groschen!« Renate beugte sich vor und begann zu flüstern. »Wir haben nämlich Vollmond. Und da ist er durchgedreht. Er ist geisteskrank, und bei Vollmond erwacht seine Blutgier. Ich habe darüber gelesen! Was starren Sie mich so an? Haben Sie in den Kalender gesehen?« Renate entnahm ihrem Ridikül einen kleinen Kalender. »Da, schauen Sie, ich habe nachgeblättert. Am 15. März wurden die zehn Menschen in der Rue de Grenelle ermordet, und es war Vollmond. Da steht es schwarz auf weiß: pleine lune!«

Schnauzer sah hin, aber ohne Interesse.

»Was glotzen Sie denn wie ein Uhu!« rief Renate ärgerlich. »Sie werden doch begreifen, daß heute wieder Vollmond ist! Während Sie hier herumsitzen, schnappt er wieder über und bringt noch einen Menschen um. Ich weiß sogar, wen - mich. Er haßt mich.« Ihre Stimme zitterte hysterisch. »Auf diesem schauerlichen Schiff wollen sie mich alle töten! Mal fällt ein Afrikaner über mich her, mal stiert mich der Asiat an und läßt die Kaumuskeln spielen, und nun auch noch der durchgedrehte Baronet!«

Schnauzer sah sie unverwandt an. Renate fuchtelte mit der Hand vor seiner Nase herum und rief: »He, Monsieur Coche! Sind Sie eingeschlafen?«

Der Alte schob ihre Hand beiseite und sagte rauh: »Jetzt hören Sie mal zu, meine Liebe. Stellen Sie sich nicht dumm. Mit dem rothaarigen Baronet werde ich schon fertig. Erzählen Sie mir lieber, was es mit der Spritze auf sich hat. Aber schön die Wahrheit!« bellte er so heftig, daß Renate den Kopf einzog.

Beim Abendbrot saß sie da und starrte auf ihren Teller. Den sautierten Aal rührte sie nicht an, dabei aß sie sonst immer mit gutem Appetit. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Die Lippen zuckten ab und zu.

Dafür wirkte Schnauzer gutmütig und sogar wohlgelaunt. Er blickte öfter mal und nicht ohne Strenge zu Renate, aber nicht feindselig, eher väterlich. Dieser Coche war nicht so bedrohlich, wie er gerne gewirkt hätte.

»Solides Ding«, sagte er mit einem neidischen Blick auf die Big-Ben-Uhr in der Ecke des Salons. »Manche haben eben Glück.«

Der monumentale Preis paßte nicht in Fandorins Kabine und war einstweilen im Salon »Windsor« abgestellt worden. Der eichene Turm tickte, klirrte und grunzte ohrenbetäubend und schlug jede volle Stunde derart schallend, daß sich alle ans Herz griffen. Beim Frühstück, als Big Ben mit zehnminütiger Verspätung verkündete, daß es schon neun sei, hätte die Frau des Doktors fast ihren Teelöffel verschluckt. Überdies war das Fundament des Turms offenkundig zu schmal, so daß dieser bei Wellengang gefährlich zu schwanken begann. So auch jetzt - als der Wind auffrischte und die weißen Gardinen vor den offenstehenden Fenstern flatterten wie zur Kapitulation, knarrte Big Ben bedrohlich.

Der Russe schien die ernstgemeinte Begeisterung des Kommissars für Ironie zu nehmen und begann sich zu rechtfertigen: »Ich habe ihnen ges-sagt, sie sollen die Uhr auch den gefallenen Mädchen geben, aber Herr Drieux war unerbittlich. Ich schwöre bei Christus, Allah und Buddha, wenn wir in Kalkutta eintreffen, v-vergesse ich das Monstrum auf dem Schiff. Niemand soll es wagen, mir das Ungetüm aufzuzwingen!«

Er warf einen besorgten Seitenblick auf Leutnant Regnier, doch der schwieg diplomatisch. Da guckte er auf der Suche nach Mitgefühl zu Renate hin, aber sie guckte finster zurück. Erstens hatte sie schlechte Laune, und zweitens war Fandorin bei ihr in Ungnade gefallen.

Das war eine Geschichte für sich.

Es hatte damit begonnen, daß ihr auffiel, wie die kränkliche Mrs. Truffo zusehends auflebte, wenn der reizende Diplomat in der Nähe war. Monsieur Fandorin gehörte allem Anschein nach zu der verbreiteten Art schöner Männer, die in jedem Dummchen etwas Pikantes erkennen konnten und nichts anbrennen ließen. Renate mochte diese Sorte Männer und war ihnen gegenüber nicht gleichgültig. Gar zu gern hätte sie gewußt, was für einen Vorzug der blauäugige brünette Russe an der faden Mrs. Truffo gefunden hatte. Daß er ein bestimmtes Interesse an ihr nahm, stand außer Zweifel.

Ein paar Tage zuvor war Renate Zeugin einer spaßigen Szene zwischen den beiden Akteuren geworden: Mrs. Truffo (als Vamp) und Monsieur Fandorin (als tückischer Verführer). Das Publikum bestand aus einer jungen Dame (sehr attraktiv, wenngleich in anderen Umständen), die hinter einer hohen Chaiselonguelehne versteckt war und immer wieder in einen Handspiegel schaute. Schauplatz - das Achterschiff. Zeit der Handlung - der romantische Sonnenuntergang. Die Sprache des Stücks war Englisch.

Mrs. Truffo pirschte sich mit plumper britischer Verführungskunst an den Diplomaten heran (beide handelnde Personen standen an der Reling, der erwähnten Chaiselongue halb zugewandt). Mrs. Truffo begann, wie es sich gehört, mit dem Wetter. »Hier in den südlichen Breiten scheint die Sonne so grell!« blökte sie leidenschaftlich.

»O ja«, antwortete Fandorin. »In Rußland ist zu dieser Jahreszeit der Sch-schnee noch nicht getaut. Hier dagegen erreicht die Temperatur fünfunddreißig Grad Celsius, im Schatten, in der Sonne ist es noch heißer.«

Nach dem erfolgreichen Abschluß des Vorspiels wähnte sich die zickige Person berechtigt, zu intimeren Themen überzugehen.

»Ich weiß gar nicht, was ich machen soll!« versetzte sie mit der vom Thema vorgegebenen Schüchternheit. »Ich habe eine so empfindliche weiße Haut! Die sengende Sonne verdirbt mir den Teint und beschert mir womöglich noch Sommersprossen.«

»Ich neige auch zu Sommersprossen«, antwortete der Russe mit tiefem Ernst. »Aber ich habe vorgesorgt und eine Lotion aus dem Extrakt der türkischen Kamille mitgenommen. Schauen Sie - die Bräunung ist gleichmäßig, und keine Sommersprossen.«

Und der Verführer, diese Schlange, hielt der wohlanständigen Frau sein hübsches Gesicht hin.

Mrs. Truffos Stimme zitterte verräterisch.

»Tatsächlich, keine einzige Sommersprosse. Nur daß die Brauen und Wimpern ein wenig ausgeblichen sind. Sie haben ein schönes Epithel, Mr. Fandorin, einfach bildschön.«

Gleich küßt er sie, prophezeite Renate, als sie das Epithel des Diplomaten nur noch fünf Zentimeter von der puterroten Physiognomie der Arztfrau entfernt sah.

Sie irrte sich.

Fandorin rückte ab und sagte: »Epithel? Sie kennen sich in Physiologie aus?«

»Ein wenig«, antwortete Mrs. Truffo bescheiden. »Ich hatte vor meiner Heirat mit Medizin zu tun.«

»Wirklich? Wie interessant! Das müssen Sie mir unbedingt e-erzählen!«

Leider konnte Renate das Schauspiel nicht zu Ende genießen, denn eine Bekannte setzte sich zu ihr, und sie mußte die Beobachtung aufgeben.

Aber die plumpe Attacke der dummen Mrs. Truffo hatte

Renates Eitelkeit angestachelt. Ob sie auch mal die Wirkung ihrer Reize auf das appetitliche russische Bärchen ausprobierte? Natürlich nur aus rein sportlichem Interesse und um nicht die Fertigkeiten einrosten zu lassen, ohne die keine auf sich haltende Frau auskommt. Für Liebesglut hatte Renate keinen Sinn. Offen gestanden, in ihrem Zustand verursachten die Männer ihr nichts als Übelkeit.

Um sich die Zeit zu vertreiben, legte sie sich einen einfachen Plan zurecht. Leichte Seemanöver unter dem Codenamen »Bärenjagd«. Im übrigen hatten die Männer mehr Ähnlichkeit mit der Gattung der Hunde. Sie waren bekanntlich primitive Wesen und teilten sich in drei Grundtypen: Schakale, Schäferhunde und Rüden. Und jeder Typ verlangte ein anderes Herangehen.

Der Schakal nährte sich von Aas - also bevorzugte er leichte Beute. Männer dieses Typs flogen auf Zugänglichkeit.

Als Renate mit Fandorin zum erstenmal unter vier Augen sprach, klagte sie über ihren Mann, den langweiligen Bankier, der nur Zahlen im Kopf habe und sich nicht um seine junge Frau kümmere. Hier hätte sogar ein Dummkopf mitbekommen, daß die Frau unter Langeweile und Sehnsucht litt.

Es klappte nicht. Sie mußte sich lange zudringlicher Fragen nach der Bank ihres Mannes erwehren.

Na schön, Renate stellte sich um auf Schäferhund. Diese Sorte Männer vergöttert schwache und schutzlose Frauen. Sie wollen nicht gefüttert werden, sie wollen retten und schützen. Eine gute Unterart, nützlich und angenehm im Umgang. Nur darf man mit Kränklichkeit nicht zu dick auftragen - Männer fürchten sich vor kranken Frauen.

Ein paarmal verging Renate fast vor Hitze, und sie lehnte sich graziös an die eiserne Schulter ihres Ritters und Beschützers. Einmal bekam sie ihre Kabinentür nicht auf, der Schlüssel klemmte. Abends auf dem Ball bat sie Fandorin, ihr einen angetrunkenen (doch ganz harmlosen) Dragonermajor vom Leibe zu halten.

Der Russe hielt ihr die Schulter hin, öffnete ihr die Tür, erteilte dem Dragoner eine Abfuhr, ließ aber kein Zeichen von Verliebtheit erkennen.

Sollte er ein Rüde sein? dachte Renate verwundert. Das sieht man ihm nicht an.

Dieser dritte Männertyp war der unkomplizierteste, er ermangelte gänzlich der Phantasie. Auf Männer dieser Art wirkte nur etwas derb Sinnliches wie ein zufällig entblößter Fußknöchel. Andererseits gehörten viele bedeutende Männer und sogar Koryphäen der Kultur gerade diesem Typ an, und darum war es einen Versuch wert.

Mit den Rüden war ein ganz urtümlicher Umgang angezeigt. Renate bat den Diplomaten, mittags punkt zwölf zu ihr zu kommen, sie wolle ihm ihre Aquarelle zeigen (die in Wirklichkeit gar nicht existierten). Eine Minute vor zwölf stand die Jägerin vor dem Spiegel, nur mit Mieder und Unterhose angetan.

Auf das Klopfen rief sie laut: »Kommen Sie herein, ich warte schon auf Sie!«

Fandorin öffnete und blieb starr in der Tür stehen. Renate, ohne sich umzudrehen, wackelte mit dem Popo und stellte aufreizend den nackten Rücken zur Schau. Schon im achtzehnten Jahrhundert hatten kluge Schöne herausgefunden, daß auf Männer weniger ein nabeltiefes Dekollete wirkte als vielmehr ein entblößter Rücken. Offenbar weckte der Anblick der schutzlosen Wirbelsäule bei den menschlichen Männchen einen räuberischen Instinkt.

Der Diplomat schien beeindruckt - er stand und guckte, ohne sich abzuwenden. Mit dem Effekt zufrieden, sagte Renate launisch: »Na, was ist, Jenny, helfen Sie mir bitte ins Kleid. Gleich kommt ein sehr wichtiger Gast.«

Wie hätte sich ein normaler Mann in solcher Situation verhalten?

Nun, ein Frechling wäre schweigend hinzugetreten und hätte die zarten Löckchen am Hals geküßt.

Ein gewöhnlicher Mann hätte ihr das Kleid gereicht und schüchtern gekichert.

In dem Moment hätte Renate die Jagd als erfolgreich beendet angesehen. Sie hätte die Verlegene gespielt, den Eindringling vor die Tür gesetzt und jegliches Interesse an ihm verloren. Aber Fandorin fiel aus dem Rahmen.

»Es ist nicht Jenny«, sagte er mit scheußlich gelassener Stimme. »Ich bin’s, Erast Fandorin. Ich werde draußen w-warten, bis Sie sich angezogen haben.«

Also gehörte er einer gegen Verführung gefeiten seltenen Art an oder er war ein heimlicher Perversling. Im zweiten Falle wären die Bemühungen kleiner Engländerinnen ohnehin vergeblich. Renates scharfes Auge konnte jedoch keine Anzeichen für perverse Neigungen entdecken. Außer vielleicht das sonderbare Bestreben, sich mit Schnauzer zurückzuziehen.

Aber das waren alles Dummheiten. Es gab schwerer wiegende Gründe für Verdruß.

Als Renate sich eben entschlossen hatte, mit der Gabel in dem erkalteten Aalsaute zu stochern, sprangen die beiden Türflügel polternd auf, und herein stürmte der bebrillte Professor. Er hatte schon immer einen etwas närrischen Eindruck gemacht - mal war das Jackett schief zugeknöpft, mal waren die Schnürsenkel nicht zugeknotet. Jetzt aber sah er vollends derangiert aus: das Bärtchen zerzaust, der Schlips verrutscht, die Augen weit aufgerissen, unterm Rock hervor baumelte der Hosenträger. Etwas Außergewöhnliches mußte ihm widerfahren sein. Renate vergaß im Nu ihre Unannehmlichkeiten und starrte neugierig auf die gelehrte Vogelscheuche.

Professor Sweetchild breitete wie ein Ballettänzer die Arme aus und schrie: »Heureka, meine Herrschaften! Das Geheimnis des Smaragdenen Radschas ist gelöst!«

»O no!« stöhnte Mrs. Truffo. »Not again!«[8]

»Auf einmal paßt alles zusammen!« erklärte der Professor verworren. »Ich war doch mehr als einmal im Palast, wieso bin ich nicht früher darauf gekommen! Ich habe hin und her überlegt, und es fügte sich nicht zueinander! In Aden bekam ich ein Telegramm von einem Bekannten im französischen Innenministerium, und er bestätigte meine Vermutungen, doch ich kapierte noch immer nicht, was das Auge bedeutet und vor allem, wer das sein mag. Das heißt, wer, das ist schon klar, aber wie? Auf welche Weise? Und plötzlich ging mir ein Licht auf!« Er lief zum Fenster. Die vom Wind geblähte Gardine umhüllte ihn wie ein weißes Gewand - der Professor schob sie ungeduldig weg. »Ich band mir meinen Schlips, stand dabei am Kabinenfenster und blickte auf die Wellen. Kamm auf Kamm, bis zum Horizont. Und da kam mir die Erleuchtung! Und alles paßte zusammen - das mit dem Tuch, dem Sohn! Eine reine Büroarbeit. Die Listen der Ecole Maritime durchsehen, und schon hat man ihn!«

»Ich verstehe kein Wort«, knurrte Schnauzer. »Phantastereien. Maritime ...«

»O doch, das ist sehr sehr interessant!« rief Renate. »Ich liebe Geheimnisse und ihre Enthüllung. Aber, lieber Professor, so geht es nicht. Setzten Sie sich an den Tisch, trinken

* (engl.) O nein! Nicht schon wieder!

Sie ein Glas Wein, verpusten Sie und dann erzählen Sie schön der Reihe nach - ruhig, vernünftig. Und vor allem von Anfang an, nicht vom Ende her. Sie sind doch ein wunderbarer Erzähler. Aber zuerst hole mir bitte jemand meinen Schal, sonst erkälte ich mich noch in der Zugluft.«

»Ich werde die Fenster auf der Windseite schließen, dann gibt es keine Zugluft mehr«, bot Sweetchild an. »Sie haben recht, Madame, ich erzähle lieber der Reihe nach.«

»Nein, nicht schließen, dann wird es stickig. Nun, meine Herren.« Renates Stimme vibrierte launisch. »Wer holt mir den Schal aus der Kabine? Hier ist der Schlüssel. Monsieur Baronet!«

Der rothaarige Verrückte rührte sich natürlich nicht vom Fleck. Dafür sprang Regnier auf.

»Professor, ich bitte Sie, fangen Sie nicht ohne mich an«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.«

»And I’ll go get my knitting«*, seufzte Mrs. Truffo.

Sie kehrte als erste zurück und klapperte geschickt mit den Stricknadeln. Ihrem Manne bedeutete sie mit der Hand, er brauche nicht zu übersetzen.

Sweetchild bereitete seinen Triumph vor. Er war scheint’s entschlossen, Renates Rat zu befolgen und seine Entdek- kungen möglichst wirksam darzulegen.

Am Tisch herrschte völlige Stille, alle sahen den Redner an und beobachteten jede seiner Gesten.

Sweetchild nippte vom Rotwein, ging im Salon auf und ab. Dann blieb er in malerischer Pose stehen, den Zuhörern halb zugewandt, und begann: »Ich habe Ihnen schon von dem unvergeßlichen Tag erzählt, an dem Radscha Bagdassar mich in seinen Palast zu Brahmapur einlud. Das liegt ein Vierteljahrhundert zurück, und doch erinnere ich mich an alles bis auf die letzten Details. Das erste, was mir auffiel, war der Anblick des Palastes. Da ich wußte, daß Bagdassar einer der reichsten Männer der Welt war, hatte ich orientalischen Luxus und Größe erwartet. Nichts dergleichen! Die Gebäude des Palastes waren recht bescheiden, ohne ornamentale Verzierungen. Und ich dachte mir, daß die Leidenschaft für Edelsteine, die in diesem Geschlecht vom Vater auf den Sohn vererbt wurde, alle anderen eitlen Bestrebungen verdrängt habe. Wozu Geld für Marmorwände verschwenden, wenn man dafür noch einen Saphir oder Diamanten erwerben konnte? Der Brahmapurer Palast, geduckt und unscheinbar, war eigentlich auch eine Lehmschatulle, in der die zauberische Sammlung unbeschreiblichen Glanzes aufbewahrt wurde. Marmor und Alabaster konnten ohnehin nicht mit dem blendend hellen Licht der Steine wetteifern.« Der Professor nippte wieder vom Wein, spielte Nachdenklichkeit.

Atemlos stürmte Regnier herein, legte Renate respektvoll den Schal um die Schultern und blieb neben ihr stehen.

»Was für Marmor und Alabaster?« fragte er flüsternd.

»Der Palast von Brahmapur, stören Sie nicht.« Renate ruckte ungeduldig mit dem Kinn.

»Die Innenausstattung des Palastes war auch sehr einfach«, nahm Sweetchild den Faden wieder auf. »Im Lauf der Jahrhunderte waren die Säle und Gemächer mehrmals umgestaltet worden, und vom historischen Gesichtspunkt interessierte mich nur das Obergeschoß, das aus vier Sälen bestand, jeder einer Himmelsrichtung zugewandt. Die Säle waren ehedem offene Galerien gewesen, doch im vergangenen Jahrhundert hatte man sie verglast. In dieser Zeit wurden die Wände mit hochinteressanten Fresken geschmückt - sie bilden die Berge ab, die von allen Seiten das Tal einschließen. Die Landschaft ist erstaunlich realistisch dargestellt - die wirklichen Berge ringsum scheinen sich in einem Spiegel zu reflektieren. Vom philosophischen Standpunkt soll die Spiegelung die Dualität alles Seins symbolisieren und .«

Irgendwo ganz in der Nähe ertönte das Alarmgeläut der Schiffsglocke, Schreie waren zu hören, eine Frau kreischte verzweifelt.

»O Gott, Feueralarm!« rief der Leutnant und stürzte zur Tür. »Das hat uns noch gefehlt!«

Alle liefen ihm hinterher.

»What’s happening?« fragte die verängstigte Mrs. Truffo vergeblich. »Are we boarded by pirates?«*

Renate saß einen Moment offenen Mundes da, dann schrie sie gellend, verkrallte sich in den Rockschoß des Kommissars und hielt ihn fest.

»Monsieur Coche, lassen Sie mich nicht allein!« flehte sie. »Ich weiß, was ein Schiffsbrand bedeutet, ich habe darüber gelesen! Jetzt stürzen alle zu den Booten, schubsen einander beiseite, und eine schwache schwangere Frau wie ich wird ganz sicher weggedrängt. Versprechen Sie mir, daß Sie sich um mich kümmern!«

»Wieso denn Boote?« knurrte der Alte beunruhigt. »Was reden Sie für Unsinn! Man hat mir gesagt, daß die >Levia- than< einen idealen Brandschutz hat und sogar einen eigenen Brandmeister. Sie brauchen nicht so zu zittern, alles wird gut.« Er versuchte, sich zu befreien, aber Renate hielt seinen Rockschoß fest umklammert. Ihre Zähne schnatterten.

»Laß mich los, Mädchen«, sagte Coche freundlich. »Ich gehe nicht weg. Ich will nur durchs Fenster auf das Deck schauen.«

Nein, Renates Finger hielten fest.

Aber der Kommissar sollte recht behalten. Nach ein paar * (engl.) Was ist passiert? Ein Piratenüberfall?

Minuten waren im Korridor ruhige Schritte und Stimmen zu hören, und die »Windsors« kamen einer nach dem anderen wieder herein.

Sie hatten sich noch nicht von dem Schreck erholt, darum lachten sie viel und sprachen lauter als sonst.

Als erste kamen Clarissa Stomp, das Ehepaar Truffo und der puterrote Regnier herein.

»Alles ganz harmlos«, verkündete der Leutnant. »Jemand hat eine noch brennende Zigarre in den Abfalleimer geworfen, und da lag eine alte Zeitung drin. Die Flammen erfaßten eine Portiere, aber die Matrosen haben das Feuer im Nu gelöscht. Doch wie ich sehe, sind Sie hier allseitig auf einen Schiffbruch vorbereitet.« Er lachte und blickte Clarissa genauer an.

Diese hielt eine Geldbörse und eine Flasche Orangeade in den Händen.

»Naja, die Orangeade soll Sie vor dem Verdursten auf See bewahren«, erriet Regnier. »Aber wozu die Geldbörse? Die würde Ihnen im Rettungsboot kaum nützen.«

Renate kicherte hysterisch, und Clarissa, die alte Jungfer, stellte verlegen die Flasche auf den Tisch.

Der Doktor und seine Frau waren auch gerüstet: Mr. Truffo hatte die Arzttasche mit den Instrumenten bei sich, und seine Frau drückte eine Decke an die Brust.

»Das hier ist der Indische Ozean, gnädige Frau, da würden Sie kaum erfrieren«, sagte Regnier mit ernster Miene, aber die Ziege schüttelte nur verständnislos den Kopf.

Nun kam der Japaner mit einem rührenden geblümten Bündelchen in der Hand. Was mochte er darin haben - einen Satz Harakirimesser?

Der Psychopath erschien zerrauft, ein Kästchen in der Hand, wie es für Schreibutensilien verwendet wird.

»Wem wollen Sie denn schreiben, Monsieur MilfordStokes? Ah, verstehe! Wenn Miss Stomp ihre Orangeade ausgetrunken hat, stecken wir einen Brief in die leere Flasche und lassen ihn auf den Wellen schwimmen«, scherzte der Leutnant übermütig, wohl vor Erleichterung.

Jetzt waren alle beisammen außer dem Professor und dem Diplomaten.

»Monsieur Sweetchild verpackt bestimmt seine wissenschaftlichen Arbeiten, und der Russe stellt den Samowar auf, um ein letztes Mal Tee zu trinken«, sagte Renate, von dem Frohsinn des Leutnants angesteckt.

Da kam der Russe wie aufs Stichwort. Er blieb an der Tür stehen. Sein schönes Gesicht war finster wie eine Gewitterwolke.

»Was ist, Monsieur Fandorin, wollen Sie Ihren Preis holen und ins Rettungsboot mitnehmen?« fragte Renate schelmisch.

Alle bogen sich vor Lachen, aber der Russe wußte den geistreichen Scherz nicht zu schätzen.

»Kommissar Coche«, sagte er halblaut, »wenn es Ihnen keine Mühe macht, kommen Sie bitte in den Korridor. Und zwar rasch!«

Sonderbar, diese Worte sprach der Diplomat ohne das geringste Stottern. Vielleicht hatte die Nervenerschütterung ihn kuriert? Das kommt ja vor.

»Was soll denn so eilig sein?« fragte Coche mißmutig. »Später, junger Mann, später. Erst will ich den Professor zu Ende hören. Wo steckt er bloß?«

Der Russe sah den Kommissar erwartungsvoll an. Als er erkannte, daß der Alte in seiner Sturheit nicht daran dachte, in den Korridor zu kommen, zuckte er die Achseln und sagte kurz: »Der Professor kommt nicht.«

Coche runzelte die Stirn.

»Wieso denn das?«

Renate fuhr hoch.

»Warum nicht? Er hat doch an der interessantesten Stelle aufgehört! Das ist einfach unanständig!«

»Mr. Sweetchild ist soeben ermordet worden«, teilte der Diplomat bündig mit.

»Waas?« brüllte Coche. »Ermordet? Wie denn?«

»Ich vermute, mit einem chirurgischen Skalpell«, antwortete der Russe erstaunlich kaltblütig. »Ihm wurde mit großer Exaktheit die Kehle durchgeschnitten.«

KOMMISSAR COCHE

»Wann läßt man uns endlich an Land?« jammerte Madame Kleber. »Alle Welt geht in Bombay spazieren, nur wir sitzen hier fest.«

Die Gardinen an den Fenstern waren zugezogen, denn die zum Zenit aufgestiegene Sonne heizte das Deck auf und ließ die Luft schmelzen. Heiß und stickig war’s im »Windsor«, doch alle blieben geduldig sitzen und warteten auf die Lösung.

Coche zog seine Taschenuhr, ein Auszeichnungsstück mit dem Profil Napoleons III. und antwortete verschwommen: »Bald, Herrschaften. Bald lasse ich Sie gehen. Aber nicht alle.«

Er wußte, worauf er wartete: Inspektor Jackson und seine Männer machten eine Durchsuchung. Das Mordwerkzeug lag zwar gewiß auf dem Grunde des Ozeans, aber vielleicht wurden andere Beweisstücke gefunden. Hoffentlich. Nun konnte Jackson aber kommen.

Die »Leviathan« war bei Morgengrauen in Bombay eingelaufen. Seit gestern abend saßen die »Windsors« in ihren Kabinen unter Hausarrest. Coche hatte mit Vertretern der örtlichen Behörden verhandelt, seine Mutmaßungen geäußert und um Unterstützung gebeten. Daraufhin hatte man ihm Jackson und eine Truppe Konstabler geschickt. Na los, Jackson, bewege dich, trieb Coche den langsamen Inspektor in Gedanken an. Nach der schlaflosen Nacht hatte er einen Kopf wie eine Kesselpauke, und die Leber muckerte. Aber seine Stimmung war nicht schlecht - der Faden entwirrte sich, und schon war das Ende zu erkennen.

Um halb neun ließ Coche, der mit der Bombayer Polizei alles geregelt und das Telegraphenamt aufgesucht hatte, alle Arrestanten im »Windsor« zusammenkommen - das war günstiger für die Durchsuchung. Nicht einmal die schwangere Renate wurde verschont, obwohl sie in der Tatzeit bei den anderen gewesen war und den Professor keineswegs hatte meucheln können. Schon seit fast vier Stunden bewachte der Kommissar seine Gefangenen. Er hatte einen strategischen Punkt besetzt, nämlich einen tiefen Sessel gegenüber dem Verdächtigen. Draußen, vom Salon aus nicht zu sehen, standen zwei bewaffnete Polizisten.

Ein Gespräch kam im Salon nicht in Fluß, die Arrestanten schwitzten und waren nervös. Von Zeit zu Zeit blickte Re- gnier herein, nickte Renate mitfühlend zu und enteilte wieder zu seinen Pflichten. Zweimal erschien der Kapitän, aber er sagte nichts, versengte nur den Kommissar mit einem wütenden Blick. Als ob der alte Coche die Suppe eingebrockt hätte!

Der verwaiste Stuhl von Professor Sweetchild erinnerte an eine Zahnlücke. Der Indologe lag jetzt an Land in einer Kühlkammer des Bombayer Leichenschauhauses. Coche stellte sich das Halbdunkel und die Eisblöcke vor und war fast neidisch auf den Toten. Der lag da, hatte alle Sorgen hinter sich, der durchweichte Kragen schnitt ihm nicht in den Hals.

Der Kommissar blickte Doktor Truffo an, dem offenbar auch nicht wohl in seiner Haut war: Über das brünette Gesicht des Arztes lief der Schweiß in Strömen, und seine englische Furie zischte ihm unentwegt ins Ohr.

»Was schauen Sie mich so an, Monsieur!« explodierte er, als er den Blick des Polizisten auffing. »Immerfort starren Sie mich an! Das ist empörend! Mit welchem Recht? Seit fünfzehn Jahren arbeite ich nach bestem Wissen und Gewissen ...« Er schluchzte beinahe. »Ja, mit einem Skalpell, na und? Das kann sonst wer gewesen sein!«

»Wirklich mit einem Skalpell?« fragte Mademoiselle Stomp ängstlich.

Zum erstenmal in der ganzen Zeit wurde im Salon über das Geschehene gesprochen.

»Ja, einen so sauberen Schnitt macht nur ein sehr gutes Skalpell«, antwortete Truffo ärgerlich. »Ich habe die Leiche untersucht. Offensichtlich hat jemand Sweetchild von hinten gepackt, ihm mit einer Hand den Mund zugehalten und mit der anderen die Kehle durchgeschnitten. Im Korridor ist die Wand mit Blut vollgespritzt - etwas über Mannshöhe. Weil der Kopf nach hinten gerissen wurde.«

»Dafür bedarf es doch keiner besonderen Körperkraft?« fragte der Russe, der sich hier auch als Kriminalist aufspielte. »Genügt nicht das Ü-überraschungsmoment?«

Der Doktor zuckte verzagt die Achseln.

»Ich weiß nicht, Monsieur. Ich habe es noch nicht versucht.«

Aha! Die Tür ging auf, und es zeigte sich die knochige Physiognomie des Inspektors. Er winkte Coche mit dem Finger, und der rappelte sich ächzend aus dem Sessel hoch.

Im Korridor erwartete den Kommissar eine angenehme Überraschung. Ach, wie gut sich das alles fügte! Wirkungsvoll, schön. Am besten gleich ins Schwurgericht - solche Beweisstücke vermochte kein Advokat zu entkräften. Ja, der alte Gustave Coche konnte noch jedem jungen Bengel hundert Punkte vorgeben. Auch Jackson war tüchtig, er hatte sich bemüht.

Zu viert kehrten sie in den Salon zurück: der Kapitän, Re- gnier, Jackson und als letzter Coche. Er fühlte sich so wohl, daß er sogar ein Liedchen trällerte. Und die Leber gab Ruhe.

»Das wär’s, meine Damen und Herren«, erklärte er aufgeräumt und trat in die Mitte des Salons. Er hielt die Hände auf dem Rücken und wippte leicht auf den Absätzen. Es war schon angenehm, sich als bedeutende Person zu fühlen, gewissermaßen sogar als Schicksalslenker. Der Weg war lang und steinig gewesen, aber nun war er bewältigt. Was blieb, war der Erfolg.

»Der alte Coche hat sich den grauen Kopf zerbrechen müssen, doch wie einer die Spur auch verwischt, ein alter Spürhund wittert die Fuchshöhle. Mit der Ermordung Professor Sweetchilds hat der Verbrecher sich endgültig verraten, es war ein Schritt der Verzweiflung. Aber ich denke, der Mörder wird mir beim Verhör von dem indischen Tuch erzählen und manches andere noch. Im übrigen möchte ich dem Herrn russischen Diplomaten danken, der mir, ohne es zu wissen, mit einigen Fragen und Bemerkungen geholfen hat, den richtigen Weg zu finden.«

In diesem Moment des Triumphs konnte Coche sich Großmut erlauben. Er nickte Fandorin herablassend zu. Der neigte schweigend den Kopf. Sie waren ja doch widerlich, die Aristokraten mit ihrem hoffärtigen Getue, ein menschliches Wort bekam man von ihnen nicht zu hören.

»Ich fahre nicht weiter mit Ihnen. Wie man so sagt - danke für die Gesellschaft. Auch der Mörder geht an Land, den ich gleich hier auf dem Schiff Inspektor Jackson übergeben werde.«

Alle blickten hellwach den finsteren mageren Herrn an, der beide Hände in den Taschen hielt.

»Ich freue mich, daß dieser Alptraum vorüber ist«, sagte

Kapitän Cliff. »Ich weiß, Sie hatten eine Menge Unannehmlichkeiten, aber das liegt nun hinter uns. Wenn Sie es möchten, wird der Chefsteward Sie auf andere Salons verteilen. Ich hoffe, die weitere Fahrt mit unserer >Leviathan< wird Ihnen helfen, die Geschichte zu vergessen.«

»Wohl kaum«, antwortete Madame Kleber für alle. »Wir haben hier so viel Nervenkraft gelassen! Aber spannen Sie uns nicht auf die Folter, Monsieur Kommissar, und sagen Sie rasch, wer der Mörder ist.«

Der Kapitän wollte noch etwas sagen, doch Coche hob abwehrend die Hand - seine Rede sollte ein Solo sein, das hatte er sich verdient.

»Ich gestehe, anfangs waren Sie mir alle verdächtig. Das Aussieben war langwierig. Jetzt kann ich Ihnen das Wichtigste mitteilen: Bei der Leiche von Lord Littleby fanden wir ein goldenes Abzeichen der >Leviathan<, dieses hier.« Er klopfte mit dem Finger auf den Wal an seinem Revers. »Dieses kleine Ding gehörte dem Mörder. Wie Sie wissen, haben solch ein Abzeichen nur die höheren Schiffsoffiziere und die Passagiere der Ersten Klasse. Die Offiziere schieden sofort als Verdächtige aus, denn sie hatten alle das Abzeichen, und keiner hatte sich an die Schiffahrtsgesellschaft mit der Bitte um ein neues gewandt, da das alte verlorengegangen wäre. Dafür hatten vier der Passagiere das Abzeichen nicht: Mademoiselle Stomp, Madame Kleber, Monsieur MilfordStokes und Monsieur Aono. Auf diese Vier hatte ich ein besonderes Auge. Doktor Truffo ist als Arzt hier, Mrs. Truffo als seine Frau, und der Herr russische Diplomat trug sein Abzeichen aus Snobismus nicht, weil er nicht wie ein Hausmeister aussehen wollte.«

Der Kommissar brannte seine Pfeife an und ging im Salon auf und ab.

»Ich habe gesündigt und bereue. Ganz zu Anfang habe ich den Herrn Baronet verdächtigt, bekam aber rechtzeitig eine Auskunft über seine ... Umstände und nahm eine andere Person aufs Korn. Sie, gnädige Frau.« Coche wandte sich Mademoiselle Stomp zu.

»Ich habe es bemerkt«, sagte sie würdevoll. »Ich bin nur nicht dahintergekommen, was mich so verdächtig machte.«

»Aber nanu?« sagte Coche verwundert. »Erstens ist zu sehen, daß Sie erst vor kurzem zu Reichtum gekommen sind. Das allein ist schon verdächtig. Zweitens haben Sie gelogen, Sie wären noch nie in Paris gewesen. Dabei steht auf Ihrem Fächer mit Goldbuchstaben >Hotel Ambassadeur<. Zwar tragen Sie den Fächer nicht mehr bei sich, aber Coche hat scharfe Augen. In teuren Hotels bekommen Gäste solche Sächelchen zur Erinnerung geschenkt. Das >Ambassadeur< liegt ausgerechnet in der Rue de Grenelle, fünf Gehminuten vom Schauplatz des Verbrechens. Es ist ein großes, schickes Hotel, dort steigen viele ab, warum hält Mademoiselle Stomp es geheim? fragte ich mich. Da stimmt etwas nicht. Und dann saß mir noch diese Marie Sansfond im Kopf.« Der Kommissar lächelte Clarissa Stomp entwaffnend zu. »Nun, ich habe meine Kreise gezogen und bin schließlich auf die richtige Spur gestoßen, also tragen Sie es mir nicht nach, Mademoiselle.«

In diesem Moment sah Coche, daß der rothaarige Baronet weiß wie ein Laken war: Der Unterkiefer bebte, die grünen Augen glühten wie bei einem Basilisken.

»Was meinen Sie mit ... meinen >Umständen

»Aber-aber.« Coche hob beschwichtigend die Hand. »Beruhigen Sie sich erst mal. Sie dürfen sich nicht aufregen. Wen gehen Ihre Umstände was an? Ich habe ja nur sagen wollen, daß Sie mir nicht mehr verdächtig waren. Wo haben Sie übrigens Ihr Abzeichen?«

»Weggeworfen«, antwortete der Baronet heftig, und seine Augen sprühten noch immer Blitze. »Es ist abscheulich! Sieht aus wie ein goldener Blutegel! Außerdem ...«

»Außerdem steht es einem Baronet Milford-Stokes nicht an, solch ein Schildchen zu tragen wie irgendwelche Neureichen, stimmt’s?« bemerkte der Kommissar scharfsinnig. »Noch ein Snob.«

Mademoiselle Stomp schien auch beleidigt.

»Kommissar, Sie haben sehr plastisch beschrieben, was meine Person verdächtig gemacht hat. Besten Dank«, sagte sie giftig und schob das spitze Kinn vor. »Immerhin haben Sie Gnade für Recht ergehen lassen.«

»In Aden habe ich etliche telegraphische Anfragen an die Pariser Präfektur geschickt. Auf die Antworten konnte ich nicht warten, denn die Ermittlungen brauchten ihre Zeit, aber in Bombay waren die Depeschen schon da. Eine davon betrifft Sie, Mademoiselle. Jetzt weiß ich, daß Sie seit Ihrem vierzehnten Lebensjahr, nach dem Tode Ihrer Eltern, bei einer entfernten Tante auf dem Lande gelebt haben. Sie war reich, aber geizig, behandelte Sie, ihre Gesellschaftsdame, stiefmütterlich und hielt Sie fast nur bei Wasser und Brot.«

Die Engländerin errötete und bereute sichtlich ihre Bemerkung. Macht nichts, mein Herzblatt, dachte Coche, gleich wirst du erst richtig rot werden.

»Vor ein paar Monaten ist die Alte gestorben, und es stellte sich heraus, daß sie ihr Vermögen Ihnen vermacht hat. Es nimmt nicht wunder, daß Sie nach so vielen Jahren des Eingesperrtseins erst mal die Welt anschauen und eine Weltreise unternehmen wollten. Bis dahin hatten Sie wohl nichts als Bücher gesehen, stimmt’s?«

»Und warum hat sie verheimlicht, daß sie in Paris war?« fragte Madame Kleber unhöflich. »Weil ihr Hotel in derselben Straße lag, in der so viele Menschen ermordet wurden? Aus Angst, der Verdacht könnte auf sie fallen?«

»Nein«, sagte Coche auflachend. »Der Grund ist ein anderer. Mademoiselle, plötzlich reich geworden, tat, was jede Frau an ihrer Stelle getan hätte - sie fuhr nach Paris, in die Hauptstadt der Welt, um die Pariser Sehenswürdigkeiten zu betrachten, sich nach der letzten Mode zu kleiden und . romantische Abenteuer zu erleben.«

Die Engländerin preßte nervös ihre Finger und blickte flehend, aber Coche war nicht mehr zu bremsen - ich werde Ihnen schon zeigen, verflixte Milady, was es heißt, über einen Kommissar der Pariser Polizei die Nase zu rümpfen.

»Und Madame Stomp bekam reichlich Romantik zu kosten. Im Hotel >Ambassadeur< lernte sie einen unwahrscheinlich gutaussehenden und umgänglichen Kavalier kennen, der in der Verbrecherkartei unter dem Spitznamen >Vampir< geführt wurde. Ein bekannter Schwindler, spezialisiert auf nicht mehr junge reiche Ausländerinnen. Die Leidenschaft flammte im Nu auf wie immer bei >Vampir< und endete ohne Vorwarnung. Eines Morgens, um genau zu sein, am 13. März, erwachten Sie, Madame, in Einsamkeit und erkannten das Hotelzimmer nicht wieder - es war leer. Ihr Herzensfreund hatte alles mitgenommen, bis auf die Möbel. Man schickte mir die Liste der Ihnen geraubten Gegenstände.« Der Kommissar blickte in seine Mappe. »Unter der Nummer 38 steht >eine Goldbrosche in Form eines Wals<. Als ich das alles las, verstand ich, warum Madame Stomp sich nicht gern an Paris erinnert.«

Das unglückliche Dummchen konnte einem leid tun - sie hielt die Hände vors Gesicht, ihre Schultern zuckten.

»Madame Kleber habe ich nicht ernsthaft verdächtigt«, ging Coche zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. »Obwohl sie für das Fehlen des Abzeichens keine vernünftige Erklärung hatte.«

»Und walum haben Sie meine Mitteilung ignolielt?« fragte der Japaner plötzlich. »Ich habe Ihnen doch etwas sehl Wichtiges elzählt.«

»Ignoriert?« Der Kommissar wandte sich heftig dem Sprecher zu. »Keineswegs. Ich habe mit Madame Kleber gesprochen, und sie hat mir erschöpfende Auskunft gegeben. Das erste Stadium der Schwangerschaft hat ihr so zu schaffen gemacht, daß der Arzt ihr Schmerzmittel verschrieben hat. Die schmerzhaften Zustände hörten danach auf, aber die Ärmste hatte sich schon an das Präparat gewöhnt und nahm es zur Beruhigung und als Schlafmittel. Die Dosis wurde immer größer, und schon hatte sich eine verhängnisvolle Abhängigkeit herausgebildet. Ich habe väterlich mit Madame Kleber gesprochen, und sie hat in meiner Gegenwart das Zeug über Bord geworfen.« Coche blickte Renate gespielt streng an, und sie schob kindlich die Unterlippe vor. »Meine Liebe, Sie haben dem alten Coche Ihr Ehrenwort gegeben.«

Renate senkte den Blick und nickte.

»Ah, welch rührendes Feingefühl für Madame Kleber!« explodierte Clarissa. »Mich braucht man wohl nicht zu schonen, Herr Detektiv? Mich kann man zum Gespött machen, ja?«

Aber Coche hatte jetzt keinen Sinn für sie, er sah den Japaner an, und sein Blick war schwer, haftend. Der kluge Jackson begriff ohne Worte, daß es Zeit war. Seine Hand tauchte aus der Tasche, und sie hielt einen Revolver aus matt blinkendem brüniertem Stahl. Die Mündung zielte genau auf die Stirn des Asiaten.

»Ihr Japaner haltet uns doch für rothaarige Affen, nicht wahr?« fragte Coche. »Ich habe gehört, daß ihr uns Europäer so nennt. Wir sind behaarte Barbaren, stimmt’s? Dafür seid ihr schlau, feinfühlig, hochkultiviert, und die Weißen können euch nicht das Wasser reichen!« Der Kommissar blies höhnisch die Wangen auf und stieß eine dicke Rauchwolke zur Seite aus. »Ein Dutzend Affen umzubringen, das ist doch eine Lappalie und gilt bei euch nicht als Sünde.«

Aono straffte sich, sein Gesicht versteinerte.

»Sie beschuldigen mich, ich hätte Lold Littleby und seine Vasallen, das heißt, seine Dienel, umgeblacht?« fragte er mit monotoner, lebloser Stimme. »Walum?«

»Weil die Kriminologie darauf hinweist, mein Bester«, sprach der Kommissar gewichtig und wandte sich von dem Japaner ab, denn die Rede, die er halten wollte, war nicht für diesen gelbbäuchigen Bastard bestimmt, sondern für die Geschichte. Gebt mir nur Zeit, dann wird sie in den Lehrbüchern der Kriminologie gedruckt!

»Zuerst, meine Herrschaften, nenne ich Ihnen die indirekten Umstände, die beweisen, daß dieser Mann die Verbrechen, deren ich ihn anklage, begehen konnte. (Ach, diese Rede müßte ich nicht hier vor einem Dutzend Zuhörern halten, sondern im Justizpalast vor vollem Saal!) Sodann präsentiere ich Ihnen die Indizien, die unwiderlegbar beweisen, daß Monsieur Aono die elf Menschen nicht nur ermorden konnte, sondern tatsächlich ermordet hat - zehn am 15. März in der Rue de Grenelle und einen gestern, am 14. April, an Bord der >Leviathan<.«

Rund um Aono bildete sich ein leerer Raum, nur der Russe blieb neben dem Arrestanten sitzen, und der Inspektor stand mit dem schußbereiten Revolver hinter ihm.

»Ich hoffe, niemand bezweifelt, daß der Tod Professor Sweetchilds direkt mit dem Verbrechen in der Rue de Grenelle zusammenhängt. Die Untersuchung hat ergeben, daß die Tat das Ziel hatte, nicht den goldenen Schiwa zu rauben, sondern das Seidentuch.« Coche guckte mürrisch: Ja, die Untersuchung, da brauchen Sie nicht das Gesicht zu verziehen, Herr Diplomat.

»Denn das Tuch ist der Schlüssel zu den verborgenen Schätzen des einstigen Radschas Bagdassar von Brahmapur. Wir wissen bislang nicht, auf welche Weise der Beschuldigte das Geheimnis des Tuchs herausfand. Doch wir wissen alle, daß der Orient viele Geheimnisse hat, deren Wege uns Europäern verschlossen sind. Aber der tote Professor, ein wirklicher Kenner des Orients, vermochte zur Lösung vorzudringen. Er war schon im Begriff, uns seine Entdeckung mitzuteilen, doch da setzte der Feueralarm ein. Der Verbrecher hatte sicherlich den Eindruck, das Schicksal selbst sende ihm die prächtige Gelegenheit, Sweetchild den Mund zu stopfen. Und wieder wären alle Spuren verwischt, wie in der Rue de Grenelle. Aber der Verbrecher ließ einen wichtigen Umstand außer acht: Diesmal war Kommissar Coche in der Nähe, und mit dem funktionieren solche Scherze nicht. Es war ein riskanter Plan, doch nicht ohne Erfolgschancen. Der Täter wußte, daß der Gelehrte als erstes in seine Kabine eilen würde, um seine Papiere zu retten . das heißt, seine Manuskripte. Dort, hinter der Ecke des Korridors, beging der Mörder seine Untat. Also, indirekter Umstand Nummer eins.« Der Kommissar hob den Finger. »Monsieur Aono lief aus dem Salon, er konnte den Mord begehen.«

»Nicht nul ich«, sagte der Japaner. »Aus dem Salon sind noch sechs Pelsonen gelaufen: Monsieur Legnier, Monsieur und Madame Tluffo, Monsieur Fandolin, Monsieur Milfold- Stokes und Mademoiselle Stomp.«

»Richtig«, stimmte Coche zu. »Aber ich wollte den Beisitzern, also den Anwesenden, nur den Zusammenhang der beiden Verbrechen demonstrieren wie auch die Möglichkeit, daß Sie den gestrigen Mord begehen konnten. Nun zurück zu dem >Verbrechen des Jahrhunderts<. Als es stattfand, war Herr Aono in Paris. Dieses Faktum steht außer Zweifel und wird durch eine Depesche, die ich bekommen habe, bestätigt.«

»In Palis walen zusammen mit mil noch andelthalb Millionen Menschen«, warf der Japaner ein.

»Und doch ist dies der indirekte Umstand Nummer zwei«, sagte der Kommissar gespielt treuherzig.

»Ein bißchen sehr indirekt«, wandte der Russe ein.

»Unbestritten.« Coche stopfte Tabak in die Pfeife und machte den nächsten Zug. »Aber die tödliche Injektion hat den Dienern von Lord Littleby ein Arzt verabfolgt. Ärzte gibt es in Paris nicht anderthalb Millionen, sondern erheblich weniger, nicht wahr?«

Diese Behauptung zog niemand in Zweifel. Kapitän Cliff fragte: »Das stimmt, aber was folgt daraus?«

»Ich sag’s Ihnen, Herr Kapitän.« Coches scharfes Auge blitzte. »Unser Freund Aono ist keineswegs Offizier, wie er sich uns vorgestellt hat, sondern diplomierter Chirurg, und er hat vor kurzem die Medizinische Fakultät der Sorbonne absolviert! Das wird in derselben Depesche mitgeteilt.«

Wirkungsvolle Pause. Gedämpftes Stimmengewirr im Saal des Justizpalastes, die Pressezeichner stricheln mit den Bleistiften in den Notizblocks: Kommissar Coche spielt das Trumpfas aus. Wartet nur, meine Lieben, das ist es noch gar nicht, das Trumpfas kommt erst noch.

»Und damit, meine Herrschaften, kommen wir von den indirekten Umständen zu den Beweisen. Monsieur Aono soll uns doch mal erklären, warum er, als Arzt Vertreter eines angesehenen Berufs, sich als Offizier ausgegeben hat. Wozu diese Lüge?«

Über die wachsbleiche Schläfe des Japaners rann ein Schweißtropfen. Er sagte nichts. Sein Pulver hatte nicht lange vorgehalten.

»Es gibt nur eine Antwort: um den Verdacht von sich abzulenken. Der Mörder war Arzt!« resümierte der Kommissar zufrieden. »Und nun der Beweis Nummer zwei. Haben Sie, meine Herrschaften, schon vom japanischen Kampf gehört?«

»Nicht nur gehört, ich habe ihn gesehen«, sagte der Kapitän. »Einmal in Macao war ich dabei, wie ein japanischer Steuermann drei amerikanische Matrosen verprügelte. Ein schmächtiges Männlein, das man scheint’s umpusten konnte, aber wie er sprang und mit Armen und Beinen zuschlug - er warf die drei bärenstarken Waljäger zu Boden. Dem einen hieb er die Handkante gegen den Arm, worauf der Ellbogen nach der anderen Seite stand, er hatte ihm den Knochen durchschlagen, können Sie sich das vorstellen? Solch ein Schlag!«

Coche nickte zufrieden.

»Ich habe auch gehört, daß die Japaner das Geheimnis des tödlichen waffenlosen Kampfes beherrschen. Sie können einen Menschen mit nur einem Finger töten. Wir alle haben mehr als einmal gesehen, wie Herr Aono seine Gymnastik machte. In seiner Kabine unterm Bett wurden Stücke eines Kürbis gefunden, der sehr hart gewesen sein muß. Und in einem Sack hatte er noch mehrere heile. Sie dienten dem Beschuldigten wohl dazu, die Kraft und Genauigkeit seines

Schlags zu üben. Ich kann mir nicht vorstellen, was für Kraft man haben muß, um einen harten Kürbis mit der bloßen Hand zu zerschlagen, noch dazu in mehrere Stücke.«

Der Kommissar blickte die Anwesenden vielsagend an und spielte den Beweis Nummer zwei aus: »Ich erinnere Sie daran, meine Herrschaften, daß der Schädel des unglücklichen Lord Littleby durch den ungewöhnlich starken Schlag mit einem schweren stumpfen Gegenstand in mehrere Bruchstücke zertrümmert wurde. Betrachten Sie jetzt die schwieligen Handkanten des Beschuldigten.«

Der Japaner nahm seine kleinen sehnigen Hände mit einem Ruck vom Tisch.

»Jackson, lassen Sie den Mann nicht aus den Augen, er ist sehr gefährlich«, warnte Coche. »Wenn was ist, schießen Sie ihn ins Bein oder in die Schulter. Ich möchte Herrn Aono fragen: Wo haben Sie das goldene Abzeichen gelassen? Sie schweigen? Dann antworte ich für Sie: Das hat Ihnen Lord Littleby abgerissen, als Sie ihm den tödlichen Schlag mit der Handkante versetzten.«

Aono öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber er biß sich mit den ein wenig schiefen kräftigen Zähnen auf die Lippen und schloß die Augen. Sein Gesicht wirkte sonderbar entrückt.

»Es ergibt sich folgendes Bild des Verbrechens in der Rue de Grenelle«, erklärte Coche. »Am Abend des 15. März erschien Gintaro Aono in der Villa von Lord Littleby mit der vorgefaßten Absicht, alle Bewohner des Hauses zu töten und sich das dreieckige Tuch aus der Sammlung des Hausherrn anzueignen. Zu diesem Zeitpunkt besaß er schon ein Billett für die >Leviathan<, die vier Tage später von Southhampton nach Indien auslaufen sollte. Offensichtlich wollte der Beschuldigte in Indien nach dem Schatz von Brahmapur suchen. Wir wissen nicht, wie es ihm gelang, die unglückliche Dienerschaft zu der >Choleraimpfung< zu überreden. Wahrscheinlich hat er ein gefälschtes Papier der Pariser Mairie vorgewiesen. Das dürfte durchaus glaubhaft gewirkt haben, weil, wie ich aus der Depesche weiß, mitunter tatsächlich Medizinstudenten des Absolventensemesters der Sorbonne für prophylaktische Maßnahmen herangezogen werden. Unter den Studierenden und Stationsärzten der Universität sind viele Asiaten, so daß die gelbe Haut des abendlichen Besuchers die zum Tode verurteilten Bediensteten kaum irritiert haben mag. Am ungeheuerlichsten ist die unmenschliche Grausamkeit, mit der zwei unschuldige Kinder getötet wurden. Meine Herrschaften, ich habe nicht wenig Erfahrung im Umgang mit dem Abschaum der Gesellschaft. Im Eifer des Gefechts kann ein Bandit wohl einen Säugling in den Kamin werfen, aber so, mit kalter Berechnung, mit ruhiger Hand . Sie werden zugeben, das ist nicht französisch und nicht europäisch.«

»Vollkommen richtig!« rief Regnier zornig, und Doktor Truffo pflichtete ihm von Herzen bei.

»Das Weitere war einfach«, fuhr Coche fort. »Der Mörder überzeugte sich, daß die von den Injektionen vergifteten Bediensteten in tiefem Schlaf lagen, aus dem sie nicht wieder erwachen sollten, stieg dann seelenruhig hinauf in den ersten Stock, in den Saal, wo die Sammlung aufbewahrt wurde, und ging dort ans Werk. Er war ja überzeugt, daß der Hausherr verreist sei. Aber der unglückliche Lord Littleby war wegen eines Podagraanfalls nicht nach Spa gefahren und hielt sich zu Hause auf. Als er Glas klirren hörte, kam er in den Saal, wo er auf das barbarischste umgebracht wurde. Dieser Mord war nicht geplant, und der Verbrecher verlor seine teuflische Kaltblütigkeit. Wahrscheinlich hatte er möglichst viele Exponate mitnehmen wollen, um die Aufmerksamkeit nicht auf das verhängnisvolle Tuch zu lenken, doch jetzt mußte er sich beeilen. Vielleicht hat der Lord vor seinem Tode ja auch geschrien, und der Mörder befürchtete, man könnte die Schreie auf der Straße hören. Ob so oder anders, er nahm den für ihn unnötigen goldenen Schiwa und suchte das Weite, ohne zu bemerken, daß in der Hand des Toten das goldene Abzeichen der >Leviathan< zurückblieb. Um die Untersuchung in die Irre zu führen, stieg Aono auf seinem Rückweg durch das Fenster der Orangerie . Doch halt!« Coche griff sich an die Stirn. »Daß ich nicht eher darauf gekommen bin! Er konnte ja gar nicht auf demselben Weg zurück, wenn der Lord geschrien hatte! Vielleicht waren draußen schon Passanten zusammengelaufen? Darum schlug Aono ein Fenster der Orangerie heraus, sprang in den Garten und kletterte über den Zaun. Doch die Vorsicht war überflüssig, die Rue de Grenelle war zu dieser späten Stunde menschenleer. Selbst wenn der Lord geschrien hatte, niemand hatte es gehört.«

Die empfindsame Madame Kleber schluchzte auf. Mrs. Truffo hörte sich die Übersetzung an und schneuzte sich gefühlvoll.

Beweiskräftig, anschaulich, unstrittig, dachte Coche. Die Beweise und die Mutmaßungen der Untersuchung ergänzten sich bestens. Doch das, meine Lieben, ist noch nicht alles, was der alte Coche für euch in Reserve hat.

»Es ist nun an der Zeit, daß wir zur Ermordung Professor Sweetchilds kommen. Der Beschuldigte hat mit Recht gesagt, theoretisch hätten das außer ihm noch sechs Personen tun können. Gemach, gemach, meine Damen und Herren!« Der Kommissar hob beschwichtigend die Hand. »Ich werde jetzt beweisen, daß nicht Sie den Professor getötet haben, sondern daß es niemand anders war als unser schlitzäugiger Freund.«

Der Japaner war wie versteinert. Schlief er vielleicht? Oder betete er zu seinem japanischen Gott? Aber ob du betest oder nicht, du mußt dich doch auf die alte Schlampe, die Guillotine, legen.

Plötzlich kam dem Kommissar ein höchst unangenehmer Gedanke. Und wenn sich nun die Engländer den Japaner wegen der Ermordung Sweetchilds schnappten? Der war doch britischer Untertan gewesen! Dann würde der Verbrecher vor ein englisches Gericht gestellt, und statt auf die französische Guillotine käme er an den britischen Galgen. Nur das nicht! Wem nützte eine Gerichtsverhandlung im Ausland? Das »Verbrechen des Jahrhunderts« mußte im Justizpalast verhandelt werden und sonst nirgends! Was zählte es schon, daß Sweetchild auf einem englischen Schiff ermordet wurde. In Paris hatte es zehn Leichen gegeben und hier nur eine, überdies war das Schiff nicht ausschließlich britisches Eigentum, denn im Konsortium waren beide Länder vertreten!

Coche regte sich so auf, daß seine Gedanken sich verwirrten. Nein, Pustekuchen, sagte er im stillen, meinen Kunden kriegt ihr nicht. Gleich bin ich mit dem Theater hier fertig, dann geh ich zum französischen Konsul. Ich selbst werde den Mörder nach Frankreich bringen. Und er malte sich aus: Das Schiff legt in Le Havre an, Himmel und Menschen, Polizeioffiziere, Journalisten ...

Er mußte die Sache zu Ende bringen.

»Inspektor Jackson wird jetzt über die Ergebnisse der Durchsuchung berichten, die er in der Kabine des Beschuldigten vorgenommen hat.«

Der Inspektor wollte trocken und sachlich auf englisch losrattern, doch der Kommissar unterbrach ihn.

»Die Untersuchung wird von der französischen Polizei durchgeführt«, sagte er streng. »Die offizielle Sprache der Ermittlung ist Französisch. Außerdem wird Ihre Sprache hier nicht von allen verstanden, Monsieur. Ich bin nicht sicher, daß der Beschuldigte Englisch versteht. Sie werden zugeben, daß er das Recht hat, die Ergebnisse Ihrer Durchsuchung zu erfahren.«

Dieser Protest war von prinzipieller Bedeutung - die Engländer mußten von Anfang an in ihre Schranken gewiesen werden. Sie sollten wissen, daß sie hier nicht die erste Geige spielten.

Als Dolmetscher erbot sich Regnier. Er stellte sich neben den Inspektor und übersetzte Satz für Satz, doch er schmückte die kurzen abgehackten Äußerungen des Engländers mit dramatischer Intonation und ausdrucksstarken Gesten aus.

»Entsprechend der Instruktion wurde die Kabine Nr. 24 durchsucht. Der Name des Passagiers: Gintaro Aono. Die Kabine ist rechteckig und 200 Quadratfuß groß. Sie wurde in 20 horizontale und 44 vertikale Quadrate aufgeteilt.« Regnier fragte zurück und erklärte dann: »Die Wände werden auch in Quadrate aufgeteilt, denn sie müssen nach Geheimfächern abgeklopft werden. Ob solche freilich in einer Schiffskabine vorstellbar sind . Die Durchsuchung erfolgte zunächst in der Vertikale, dann in der Horizontale. In den Wänden wurde kein Geheimfach gefunden.« Regnier breitete vielsagend die Arme aus - wer hätte das gedacht? »Bei der Untersuchung der horizontalen Ebene wurden folgende Gegenstände gefunden und der Akte beigefügt: erstens Aufzeichnungen in Hieroglyphenschrift, die sollen übersetzt und studiert werden. Zweitens ein langer, sehr scharfer Dolch von orientalischem Aussehen. Drittens ein Sack mit elf ägyptischen

Kürbissen. Viertens unterm Bett Stücke eines zerschlagenen Kürbis. Und endlich fünftens eine Arzttasche mit chirurgischen Instrumenten. Ein großes Skalpell fehlt.«

Die Zuhörer ächzten auf. Der Japaner öffnete die Augen und warf einen kurzen Blick auf den Kommissar, sagte aber wieder nichts.

Gleich gesteht er, dachte Coche, doch er irrte. Der Asiat, ohne von seinem Stuhl aufzustehen, drehte sich jäh zu dem hinter ihm stehenden Inspektor um und schlug ihn von unten kraftvoll gegen die Hand, die den Revolver hielt. Während die Waffe in einem malerischen Bogen durch die Luft flog, war der flinke Japaner schon an der Tür, riß sie auf - und lief mit der Brust gegen zwei Colts: Im Korridor standen Polizisten. Im nächsten Moment beendete der Revolver des Inspektors seine Flugbahn, krachte auf den Tisch, und es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Geläut, Gekreisch, Pulverqualm.

Coche taxierte schnell die Situation: Der Arrestant wich zurück zum Stuhl, Mrs. Truffo lag in Ohnmacht, andere Opfer waren nicht zu sehen, der Big Ben hatte unterhalb des Zifferblatts ein Loch, und die Zeiger standen still, dennoch läutete er. Die Damen kreischten. Aber die Situation war unter Kontrolle.

Als der Japaner wieder auf seinem Stuhl saß, sicherheitshalber mit Handschellen gefesselt, als die Arztfrau ins Leben zurückgeholt war und alle Platz genommen hatten, lächelte der Kommissar und sagte, mit seiner Kaltblütigkeit kokettierend: »Soeben, meine Herren Geschworenen, haben Sie einem aufrichtigen Geständnis beigewohnt, das freilich in nicht ganz gewöhnlicher Form gemacht wurde.«

Er hatte sich mit den »Geschworenen« wieder versprochen, doch er korrigierte sich nicht, es war eben eine Probe.

»Es war der letzte Beweis, und einen direkteren kann es nicht geben«, schloß Coche zufrieden. »Und Ihnen, Jackson, muß ich einen Tadel aussprechen. Ich hatte Sie gewarnt, daß der Mann gefährlich ist.«

Der Inspektor war krebsrot. Das hatte er verdient.

Aber alles lief vorzüglich. Der Japaner saß vor drei Pistolenmündungen, die gefesselten Hände an die Brust gedrückt. Seine Augen waren wieder geschlossen.

»Das wär’s, Inspektor. Sie können ihn mitnehmen. Soll er einstweilen bei Ihnen im Kittchen sitzen. Später, wenn die Formalitäten erledigt sind, nehme ich ihn mit nach Frankreich. Meine Damen und Herren, leben Sie wohl. Der alte Coche geht an Land. Ihnen noch eine glückliche Reise.«

»Ich fürchte, Kommissar, Sie werden mit uns w-weiter- fahren müssen«, sagte der Russe in ganz alltäglichem Ton.

Coche glaubte, sich verhört zu haben.

»Hä?«

»Herr Aono ist gänzlich unschuldig, so daß die U-unter- suchung weitergehen muß.«

Coche machte ein überaus dummes Gesicht: die Augen quollen hervor, die Wangen liefen rot an.

Der Russe, ohne die Explosion abzuwarten, sagte mit wahrhaft unnachahmlicher Selbstsicherheit: »Herr Kapitän, auf dem Sch-schiff haben Sie die oberste Gewalt. Der Kommissar hat uns soeben die Imitation einer gerichtlichen Untersuchung vorgespielt, wobei er die Rolle des Staatsanwalts übernahm und sie sehr überzeugend vortrug. Aber vor einem zivilisierten Gericht erhält nach dem Ankläger der V-vertei- diger das Wort. Wenn Sie gestatten, möchte ich diese Mission übernehmen.«

»Wozu Zeit verlieren?« fragte der Kapitän verwundert. »Ich finde, es ist auch so alles klar. Der Herr Polizist hat alles sehr gut erklärt.«

»Einen Passagier an Land zu setzen ist eine höchst e-ernste Angelegenheit. Letzten Endes fällt die ganze Verantwortung auf den Kapitän. Überlegen Sie, welchen Schaden Sie dem Ruf der Schiffahrt z-zufügen, wenn sich herausstellt, daß es ein Irrtum war. Und ich versichere Ihnen«, Fandorin hob etwas die Stimme, »daß der Kommissar sich irrt.«

»Quatsch!« rief Coche. »Aber ich habe nichts dagegen. Das kann sogar interessant werden. Sprechen Sie, Monsieur, ich höre mit Vergnügen zu.«

Wirklich, es war eine Probe. Dieser Junge war nicht dumm, vielleicht hatte er in der Logik der Anklage irgendwelche Löcher entdeckt, die geflickt werden mußten. Wenn während des Prozesses der Staatsanwalt in Bedrängnis geriet, konnte Coche ihm zu Hilfe kommen.

Fandorin schlug ein Bein übers andere und verschränkte die Finger vor dem Knie.

»Sie haben eine beeindruckende und beweiskräftige R-rede gehalten. Auf den ersten Blick erscheint Ihre Argumentation unumstößlich. Ihre logische Kette wirkt fast makellos, obwohl die sogenannten indirekten Umstände natürlich nichts w-wert sind. Ja, Herr Aono war am 15. März in Paris. Ja, Herr Aono war zu dem Zeitpunkt, als der P-professor ermordet wurde, nicht im Salon. Für sich betrachtet, bedeuten diese beiden Fakten rein gar nichts, darum können wir sie außer acht lassen.«

»Einverstanden«, sagte Coche spöttisch. »Kommen wir gleich zu den Indizien.«

»Bitte sehr. An mehr oder weniger gewichtigen Indizien habe ich fünf gezählt. Monsieur Aono ist Arzt, hat diesen Umstand aber aus irgendwelchen Gründen geheimgehalten. Erstens. Monsieur Aono kann mit einem Schlag einen sehr harten Gegenstand spalten, einen Kürbis, vielleicht auch einen Kopf. Zweitens. Monsieur Aono hat kein >Leviathan<- Abzeichen. Drittens. In der Arzttasche des Beschuldigten fehlt das Skalpell, mit dem möglicherweise Professor Sweetchild ermordet wurde. Viertens. Und schließlich fünftens: Eben hat der Beschuldigte vor unseren Augen einen Fluchtversuch unternommen, womit er sich endgültig entlarvte. Habe ich etwas vergessen?«

»Ja, sechstens«, warf der Kommissar ein. »Er kann keinen dieser Punkte erklären.«

»Gut, also sechs«, stimmte der Russe leichthin zu.

Coche lachte auf.

»Mehr als genug, damit jedes Schwurgericht den Braven auf die Guillotine schickt.«

Inspektor Jackson schüttelte plötzlich den Kopf und knurrte: »To the gallows.«

»Nein, an den Galgen«, übersetzte Regnier.

Ach, der Engländer, diese schwarze Seele, dachte Coche. Ich habe eine Schlange am Busen genährt.

»Aber erlauben Sie mal«, fuhr er hoch. »Die Ermittlung ist von französischer Seite durchgeführt worden. Also kommt der Bursche auf die Guillotine!«

»Aber das entscheidende Indiz, das Fehlen des Skalpells, hat die britische Seite entdeckt. Er kommt an den Galgen«, übersetzte der Leutnant.

»Das Hauptverbrechen wurde in Paris verübt! Guillotine!«

»Aber Lord Littleby war britischer Untertan. Professor Sweetchild auch. Galgen.«

Der Japaner schien diese Diskussion nicht zu hören, die in einen internationalen Konflikt auszuarten drohte. Seine Augen waren noch immer geschlossen, das Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Diese Gelben sind eben doch anders als wir, dachte Coche. Wozu der ganze Aufwand: Staatsanwalt,

Advokat, Geschworene, Richter im Talar. Na schön, alles richtig, Demokratie ist Demokratie, aber im Volksmund heißt das »Perlen vor die Säue werfen«.

Nach einer Pause sagte Fandorin: »Sind die Streitereien beendet? Kann ich f-fortfahren?«

»Los«, sagte Coche finster, im Kopf die bevorstehenden Schlachten mit den Briten.

»Wir wollen auch die gespaltenen Kürbisse nicht d-diskutieren. Sie beweisen gar nichts.«

Die ganze Komödie hing dem Kommissar allmählich zum Halse heraus.

»Gut. Keine Kleinkrämerei.«

»A-ausgezeichnet. Bleiben nur fünf Punkte: verheimlicht, daß er Arzt ist; das fehlende Abzeichen; das fehlende Skalpell; der Fluchtversuch; er gibt keine Erklärungen.«

»Aber jeder Punkt reicht aus, ihn aufs . Schafott zu schicken.«

»Die Sache ist die, Kommissar, daß Sie europäisch denken. Herr Aono hat eine andere L-logik, eine japanische, und Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, in sie einzud-dringen. Ich hingegen hatte mehr als einmal die Ehre, mich mit dem Mann zu unterhalten, und ich habe von seiner seelischen Struktur eine bessere Vorstellung als Sie. Monsieur Aono ist nicht einfach Japaner, er ist ein Samurai, noch dazu aus einem a-alten und einflußreichen Geschlecht. Das ist in diesem Falle wichtig. Über fünf Jahrhunderte waren die Männer des Geschlechts Aono nur Krieger, alle anderen Berufe galten als unwürdig für die Mitglieder einer so vornehmen S-sippe. Der Beschuldigte ist der dritte Sohn in der Familie. Als Japan sich dafür entschied, Europa einen Schritt entgegenzukommen, schickten viele angesehene Familien ihre Söhne zum Studium ins Ausland. Das tat auch der Vater von Herrn Aono.

Den ältesten Sohn ließ er in England zum Marineoffizier ausbilden. Das Fürstentum Satsuma, in dem das Geschlecht der Aonos lebt, liefert nämlich die Kader für Japans Kriegsmarine, und der Dienst auf See hat in Satsuma das größte Prestige. Den zweiten Sohn schickte Aono senior nach Deutschland, an die Militärakademie. Nach dem DeutschFranzösischen Krieg 1870 beschlossen die Japaner, das deutsche Armeemodell zu übernehmen; ihre Militärberater sind durchweg Deutsche. Diese Angaben über die Familie Aono habe ich von dem Beschuldigten persönlich.«

»Und was zum Teufel nützen uns die aristokratischen Details?« fragte Coche gereizt.

»Mir ist aufgefallen, daß der Beschuldigte von seinen Vorfahren und seinen älteren B-brüdern mit Stolz redet und über sich selbst am liebsten schweigt. Ich habe längst bemerkt, daß er für einen Saint-Cyr-Absolventen in militärischen Dingen erstaunlich unwissend ist. Und warum hätte man ihn an die französische Militärakademie schicken sollen, wenn die japanische Armee, wie er selber sagt, nach deutschem Muster organisiert wird? Meine Mutmaßung läuft auf folgendes hinaus: Aono senior hatte, den Zeichen der Zeit nachgebend, beschlossen, seinen dritten Sohn einen friedlichen Beruf erlernen zu lassen, den des Arztes. Wie ich aus Büchern weiß, ist es in Japan nicht ü-üblich, einen Beschluß des Familienoberhauptes anzufechten, und der Beschuldigte bezog gehorsam die medizinische Fakultät. Aber dabei fühlte er sich höchst unglücklich und sogar entwürdigt. Er, der Sproß des kriegerischen Geschlechts der Aonos, sollte mit Binden und K-klistierspritzen umgehen! Das ist der Grund, warum er sich als Militär ausgab. Er schämte sich einfach, seinen unkriegerischen Beruf publik zu machen. Vom europäischen Standpunkt mag das absurd sein, aber versuchen Sie, es mit seinen Augen zu s-sehen. Wie hätte sich Ihr Landsmann d’Artagnan gefühlt, wenn man ihn gezwungen hätte, nicht Musketier, sondern Arzt zu werden?«

Coche sah, wie mit dem Japaner eine Veränderung geschah. Er hatte die Augen geöffnet und sah Fandorin mit deutlicher Erregung an; auf seine Wangen traten rote Flecke. Errötete er etwa? Unsinn!

»Ach, was für Feinheiten«, fauchte der Kommissar. »Aber lassen wir das dahingestellt sein. Erzählen Sie mir lieber, Herr Verteidiger, wo Ihr schüchterner Klient das goldene Abzeichen gelassen hat. Hat er sich geschämt, es zu tragen?«

»Genauso ist es.« Der selbsternannte Advokat nickte unerschütterlich. »Ja, er hat sich geschämt. Was steht denn auf dem Abzeichen geschrieben?«

Coche linste hinunter auf sein Revers.

»Gar nichts steht da geschrieben. Nur die drei Anfangsbuchstaben der Schiffahrtsgesellschaft >Jasper-Arthaud Part- nership<.«

»Eben.« Fandorin zeichnete die drei Großbuchstaben in die Luft. »J-A-P. Also >Jap<. Das klingt wie >Japs<, der verächtliche Spitzname, mit dem die Ausländer die Japaner bezeichnen. Würden Sie, Kommissar, auf der Brust ein Abzeichen tragen, auf dem >Froschfresser< geschrieben steht?«

Kapitän Cliff warf den Kopf zurück und lachte schallend. Sogar der sauertöpfische Jackson und die affektierte Miss Stomp lächelten. Die roten Flecke im Gesicht des Japaners wurden größer.

Coches Herz verkrampfte sich in einer unguten Vorahnung. Seine Stimme klang heiser: »Hätte er das nicht selbst erklären können?«

»Ausgeschlossen. Schauen Sie, soweit ich es aus den Büchern weiß, liegt der wesentliche Unterschied zwischen

Europäern und Japanern in der sittlichen Grundlage des sozialen Verhaltens.«

»Sehr geklügelt«, bemerkte der Kapitän.

Der Diplomat wandte sich ihm zu.

»Keineswegs. Die christliche Kultur beruht auf dem Schuldgefühl. Sündigen ist schlecht, weil man sich hinterher mit Reue plagt. Um Schuldgefühle zu vermeiden, bemüht sich ein normaler Europäer um ein sittliches Verhalten. Genauso trachten die Japaner, nicht gegen ethische Normen zu verstoßen, aber aus einem anderen Grund. In ihrer Gesellschaft spielt die Scham die Rolle des moralischen Wächters. Am schlimmsten ist es für einen Japaner, in eine schmähliche L-lage zu kommen, von der Gesellschaft verurteilt oder, noch übler, verlacht zu werden. Darum haben die Japaner große Angst, etwas Ungehöriges zu tun. Ich versichere Ihnen: Als gesellschaftlicher Zivilisationsfaktor ist die Scham wirksamer als das Gewissen. Vom Standpunkt des Herrn Aono war es gänzlich undenkbar, von etwas >Beschämen- dem< laut zu sprechen, noch dazu Fremden gegenüber. Arzt zu sein statt Militär ist beschämend. Eine Lüge einzugestehen ist noch beschämender. Und einzuräumen, daß er, ein japanischer Samurai, einem beleidigenden Spitznamen irgendeine Bedeutung beimessen könnte, ist ausgeschlossen.«

»Danke für die Lektion.« Coche machte eine ironische Verbeugung. »Und der Fluchtversuch Ihres Klienten, geschah der auch aus Scham?«

»That’s the point«, sagte Jackson beifällig, er wurde wieder vom Feind zum Freund. »The yellow bastard almost

broke my wrist.«[9]

»Sie haben es wieder erraten, K-kommissar. Vom Schiff zu fliehen ist unmöglich, wohin auch? Mein Klient (wenn Sie ihn schon so nennen wollen) hielt seine Lage für aussichtslos und sah nur weitere Erniedrigungen voraus, darum wollte er sich sicherlich in seiner Kabine einschließen und seinem Leben nach Samuraibrauch ein Ende setzen. Ist es nicht so, Monsieur Aono?« Zum erstenmal sprach Fandorin den Japaner direkt an.

Der gab keine Antwort, senkte aber den Kopf.

»Sie würden eine Enttäuschung erlebt haben«, sagte ihm der Diplomat sanft. »Wahrscheinlich haben Sie es überhört: Ihr ritueller D-dolch ist von der Polizei bei der Durchsuchung beschlagnahmt worden.«

»Ah, Sie sprechen von diesem, wie heißt es gleich, Hira- kira, Harikari.« Coche griente in seinen Schnauzbart. »Blödsinn, ich glaube nicht, daß ein Mensch sich selbst den Bauch aufschlitzt. Ammenmärchen. Wenn man schon ins Jenseits will, dann lieber mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Aber darüber will ich mich nicht mit Ihnen streiten. Ich habe ein Indiz, gegen das nicht anzukommen ist - das fehlende Skalpell. Was sagen Sie dazu? Daß der eigentliche Verbrecher es beizeiten Ihrem Klienten gestohlen hat, um den Mord vorzubereiten und die Verantwortung auf Aono abzuwälzen? Das geht nicht auf! Woher sollte der Mörder wissen, daß der Professor uns seine Entdeckung beim Mittagessen mitteilen wollte? Sweetchild war ja selber gerade erst dahintergekommen, wie sich das mit dem Tuch verhielt. Erinnern Sie sich, wie zerrauft er in den Salon gelaufen kam?«

»Nun, für das Fehlen des Skalpells kann ich Ihnen eine höchst einfache Erklärung g-geben. Und nicht als Vermutung, sondern als F-faktum. Erinnern Sie sich, wie nach Port Said plötzlich auf rätselhafte Weise Gegenstände aus den Kabinen verschwanden? Die geheimnisvolle Epidemie hörte so plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatte. Und wissen Sie wann? Nach dem Tod unseres dunkelhäutigen blinden P-passagiers. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie und warum er auf die >Leviathan< geriet. Hier meine Theorie. Der Neger ist höchstwahrscheinlich von arabischen Sklavenhändlern aus Afrika verschleppt und auf dem Wasserweg nach Port Said gebracht worden. Warum ich das annehme? Weil er, nachdem er seinen Besitzern entflohen war, nicht irgendwohin lief, sondern auf ein Schiff. Er mag geglaubt haben, wenn ihn ein Schiff von zu Hause weggeschafft habe, könne ihn ein Schiff auch wieder zurückbringen.«

»Was hat das mit unserer Angelegenheit zu tun?« fragte Coche aufgebracht. »Ihr Neger starb am 5. April, und Sweetchild ist gestern ermordet worden! Und überhaupt, gehen Sie doch zum Teufel mitsamt Ihren Märchen! Jackson, führen Sie den Verhafteten ab!«

Er wandte sich entschlossen dem Ausgang zu, aber der Diplomat umklammerte auf einmal den Ellbogen des Kommissars und sagte mit widerwärtiger Höflichkeit: »Lieber Monsieur Coche, ich möchte meine Argumentation zu Ende b-bringen. Gedulden Sie sich noch ein wenig, es dauert nicht mehr lange.«

Coche versuchte sich loszureißen, doch die Finger des Milchbarts waren wie aus Stahl. Er zerrte ein paarmal vergeblich, wollte sich aber nicht lächerlich machen und drehte sich zu Fandorin um.

»Gut, noch fünf Minuten«, knurrte er und blickte haßerfüllt in die ungerührten blauen Augen des Frechlings.

»D-danke. Um Ihren letzten Beweis zu widerlegen, sind fünf Minuten vollauf genug. Ich wußte, daß der Flüchtling auf dem Dampfer irgendwo einen Unterschlupf haben mußte. Im Unterschied zu Ihnen, Kapitän, habe ich nicht in den Schiffsräumen und Kohlenbunkern zu suchen begonnen, sondern auf dem O-oberdeck. Den >schwarzen Mann< hatten ja nur Passagiere der ersten Klasse gesehen. Da lag es nahe, anzunehmen, daß er sich hier versteckte. Und richtig, steuerbords im dritten Boot von vorn fand ich, was ich suchte: Speisereste und ein Bündel Sachen: ein paar bunte Tücher, eine Perlenschnur und etliche blanke G-ge- genstände - ein kleiner Spiegel, ein Sextant, ein Kneifer und auch ein großes Skalpell.«

»Warum soll ich Ihnen glauben?« brüllte Coche. Sein Fall zerbröselte zusehends zu Staub.

»Weil ich kein persönliches Interesse habe und b-bereit bin, meine Aussagen zu beeiden. Darf ich fortfahren?« Der Russe lächelte widerlich. »Danke. Der arme Neger wollte wohl nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.«

»Stop mal!« Regnier runzelte die Stirn. »Monsieur Fan- dorin, warum haben Sie Ihre Entdeckung nicht dem Kapitän oder mir gemeldet? Welches Recht hatten Sie, das zu verheimlichen?«

»Ich habe es nicht verheimlicht. Das Bündel habe ich dort l-liegenlassen. Und als ich nach ein paar Stunden wieder in das Boot schaute, das war schon nach der D-durchsuchung des Schiffs, war es verschwunden. Ich dachte mir, Ihre Matrosen hätten es gefunden. Jetzt zeigt sich, daß der Mörder des Professors Ihnen zuvorgekommen ist. Die Beutestücke des Negers, auch das Skalpell von Monsieur Aono, sind in seinem Besitz. Der Verbrecher hat wohl die Möglichkeit ... extremer Maßnahmen vorausgesehen und das Skalpell für alle Fälle bei sich getragen - um die Untersuchung auf eine falsche Spur zu führen. Monsieur Aono, Ihnen ist doch ein Skalpell gestohlen worden?«

Der Japaner zögerte und nickte dann.

»Und Sie haben nicht darüber gesprochen, weil ein Offizier der kaiserlichen Armee ja kein Skalpell haben k-kann, nicht wahr?«

»Der Sextant gehört mir!« erklärte der rothaarige Baronet. »Ich dachte ... Aber unwichtig. Also dieser Wilde hat ihn gestohlen. Meine Herrschaften, wenn einem von Ihnen mit dem Sextanten der Schädel eingeschlagen wird - ich habe nichts damit zu tun.«

Es war eine totale Pleite. Coche schielte verwirrt zu Jackson.

»Tut mir leid, Kommissar, aber Sie müssen die Reise fortsetzen«, sagte der Inspektor auf französisch und verzog mitfühlend die schmalen Lippen. »My apologies, Mr. Aono. If You just Stretch Your hands ... Thank You.«*

Die Handschellen klirrten kläglich.

In die eingetretene Stille hinein tönte schallend die erschrockene Stimme von Renate Kleber: »Erlauben Sie, meine

Herren, aber wer ist dann der Mörder?«

* (engl.) Entschuldigen Sie, Mr. Aono. Strecken Sie bitte die Hände vor. Danke.

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