Wir brauchten zwei Tage, um Arnold und die Briten einzuholen, zwei Tage mühsamer Plackerei den Westsattel des Everest hinauf. Hier gab es keine komplizierten Hindernisse: eine weitläufige Steigung aus hartem Schnee, und wir mußten nur die Steigeisen einschlagen und uns an ihnen hochziehen. Es war eine mörderische Arbeit. Das schien allerdings nicht für Freds, Laure und Kunga Norbu zu gelten. Es mag ja seine Vorteile haben, den Everest mit einem Tulku, einem Langstreckenmeister der Sherpas und einem amerikanischen Raumkadett zu besteigen, aber längere Rasten sind bei ihnen nicht gerade beliebt. Diese drei marschierten den Berg wie zu einem Tubamarsch hinauf, und ich schleppte mich keuchend und schnaubend hinterher und verdammte Arnold mit jedem Schritt.
Spät am zweiten Tag kämpfte ich mich auf die Kuppe des Westsattels hinauf, eine lange, schneebedeckte Wasserscheide unter dem eigentlichen Westgrat. Als ich dort oben eintraf, hatten Freds und Laure bereits das Zelt aufgeschlagen und sicherten es mit einem Netzwerk aus Kletterseilen im Schnee, während Kunga Norbu daneben saß und meditierte.
Weiter unten den Sattel hinab lagen die Camps zweier anderer Teams, ziemlich eng beeinander, als gäbe es hier nicht jede Menge flachen Grund, auf dem man die Zelte aufschlagen konnte. Nachdem ich mich ausgeruht und mehrere Becher heißer Zitrone getrunken hatte, sagte ich: »Dann wollen wir mal herausfinden, wie die Dinge stehen.« Freds ging mit mir hinüber.
Wie es sich herausstellte, standen die Dinge nicht so gut. Die Engländer waren in ihrem Zelt, bis zu den Hüften in ihren Schlafsäcken, und tranken Tee. Und sie waren keiner guten Laune. »Der Mann ist absolut verrückt«, sagte Marion. Sie litt unter leichtem Höhenhusten, und jede Silbe, die sie zu betonen versuchte, verschwand völlig. »Wir haben ups versucht, ihn abzuhängen, aber die Sherpas sind gut, und er ist ups stark.«
»Ein verdammter Blutsauger ist er«, sagte John.
Trevor grinste grimmig. Seine untere Gesichtshälfte war ziemlich sonnenverbrannt, und seine Lippen sprangen schon auf. »Wir zählen darauf, daß du ihn wieder runterbringst, George.«
»Ich will sehen, was ich tun kann.«
Marion schüttelte den Kopf. »Bei Gott, wir haben es versucht, aber es hat überhaupt keinen Sinn. Er hört einfach nicht zu und plappert nur davon, daß er mich zu einem Staa machen will. Ich weiß nicht, wie ich mit ihm fertig werden soll.« Sie errötete. »Und keiner dieser tapferen Jungs da ist einverstanden, daß wir einfach rübergehen und seine verdammte Kamera nehmen und sie nach Tibeee werfen!«
Die Männer schüttelten die Köpfe. »Wir müßten mit den Sherpas fertig werden«, sagte Mad Tom geduldig zu Marion. »Was sollen wir denn tun, uns mit ihnen prügeln? Das kann ich mir nicht mal vorstellen.«
»Und wenn Mad Tom es sich nicht vorstellen kann«, sagte Trevor.
Marion knurrte nur.
»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte ich.
Aber ich mußte dafür nirgendwo hingehen, denn Arnold war herübergekommen, um uns zu begrüßen. »Hallo!« rief er fröhlich. »George, was für eine Überraschung! Was führt euch denn hierher?«
Ich ging aus dem Zelt. Arnold stand vor mir; er hatte zwar einen Sonnenbrand, schien ansonsten aber in Ordnung zu sein. »Du weiß, was mich hierher führt, Arnold. Komm, gehen wir ein Stück beiseite. Ich bin sicher, daß diese Leute nicht mit dir sprechen wollen.«
»Oh, nein, ich habe jeden Tag mit ihnen gesprochen! Wir haben uns richtig gut unterhalten. Und heute habe ich eine tolle Nachricht.« Er sprach ins Zelt. »Ich habe mit meinem Zoom zur Nordwand gesehen, und da hat jemand ein Lager aufgeschlagen! Glaubt ihr, daß das die Expedition ist, die nach Mallorys Leiche sucht?«
Aus dem Zelt kamen Flüche.
»Ich weiß«, rief Arnold. »Das setzt uns ziemlich unter Druck, meint ihr nicht auch? Jetzt bleibt uns nicht mehr viel Zeit.«
»Verpiß dich!«
Arnold zuckte die Achseln. »Na ja, ich hab’s auf Band, wenn ihr es euch ansehen wollt. Sieht so aus, als würden sie Helly-Hansen-Jacken tragen, wenn euch das was sagt.«
»Du willst mir doch nicht erzählen, daß du aus dieser Entfernung die Etiketten lesen kannst?« fragte ich.
Arnold grinste. »Es ist eine verdammt, gute Zoom-Linse. Wenn ich wollte, könnte ich von ihren Lippen ablesen.«
Ich musterte ihn neugierig. Es schien ihm wirklich gut zu gehen, selbst nach vier Tagen harter Kletterei. Er wirkte eine Spur schlanker, und unter seinen Bartstoppeln hatte er einen ziemlich schlimmen Sonnenbrand — aber er kaute noch immer auf einer weiß gewordenen Zigarre zwischen zinkoxydierten Lippen und legte noch immer diesen großäugigen, verwunderten Ausdruck zu Tage, daß sich überhaupt jemand für seine Filmarbeit interessierte. Ich war beeindruckt; er war eindeutig wesentlich zäher, als ich gedacht hatte. Er erinnerte mich an Dick Bass, den amerikanischen Millionär, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die höchsten Berge eines jeden Kontinents zu besteigen. Wie Bass war Arnold ein Mann mittleren Alters, der Profis bezahlte, damit sie ihn hinaufbrachten; und wie Bass akklimatisierte er sich gut und hatte verdammt starke Nerven.
Da stand er also vor mir und dachte gar nicht daran, aufzugeben. Ich mußte mir etwas anderes einfallen lassen. »Arnold, komm’ mal mit mir da rüber und laß diese Leute in Frieden.«
»Gute Idee«, rief Marion aus dem Zelt.
»Diese Marion«, sagte Arnold bewundernd, als wir außer Hörweite waren. »Sie ist wirklich schön. Ich meine, stehe echt auf sie.« Er warf sich in die Brust, um zu zeigen, wie verknallt er war.
Ich funkelte ihn an. »Arnold, es spielt keine Rolle, ob du auf sie stehst oder was, denn sie wollen dich bei dieser Klettertour eindeutig nicht dabei haben. Wenn du sie filmst, zerstörst du alles, worauf es bei diesem Unternehmen ankommt.«
Arnold ergriff meinen Arm. »Ist doch Quatsch! Das versuche ich ihnen doch schon die ganze Zeit zu erklären. Ich kann den Film so schneiden, daß niemand erfahren wird, wo Mallorys Leiche liegt. Man wird nur wissen, daß er hier oben in Sicherheit ist, weil vier junge englische Bergsteiger unglaubliche Risiken auf sich genommen haben, um sie vor den Pressefritzen zu retten, die sie nach London schleppen wollten. Eine tolle Sache, George. Ich bin Filmemacher und weiß, wann ich einen Stoff für einen tollen Film habe, und das wird ein toller Film werden.«
Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht, aber das Problem ist, daß diese Besteigung illegal ist, und wenn du darüber einen Film drehst, kommt das raus, und diese Leute werden von den nepalesischen Behörden verbannt werden. Sie dürfen dann nie wieder nach Nepal einreisen.«
»Na und? Sind sie nicht bereit, dieses Opfer für Mallory zu geben?«
Ich runzelte die Stirn. »Für deinen Film, meinst du. Ohne den Film könnten sie die Sache durchziehen, ohne daß jemand davon erfährt.«
»Na schön, aber ich könnte doch ihre Namen weglassen oder so. Ihnen Künstlernamen verpassen. Marion Davies, wie wäre das?«
»Das ist ihr echter Name.« Ich dachte nach. »Hör mal, Arnold, du weißt ja, daß du dieselben Probleme bekommen wirst. Vielleicht lassen sie dich nicht mal aus Nepal raus.«
Er machte eine abfällige Handbewegung. »Damit werde ich schon fertig. Ich besorge mir einen Anwalt. Oder verteile Bakschisch, eine Menge Bakschisch.«
»Aber diese Leute haben nicht das Geld dafür. Du solltest wirklich vorsichtig sein. Wenn du sie zu sehr bedrängst, werden sie zu drastischen Schritten greifen. Zumindest werden sie dich ein Stück höher aufhalten. Wenn sie die Leiche finden, werden zwei umkehren und dich festhalten, und die beiden anderen begraben sie, und du bekommst überhaupt kein Filmmaterial.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe doch diese Linsen, habe ich dir das nicht gesagt? Mann, ich habe jeden Morgen gefilmt, was die vier zum Frühstück gegessen haben. Von Marion zum Beispiel habe ich mehrere Stunden Material« — er seufzte — »und mein Gott, ich könnte sie zum Star machen. Auf jeden Fall könnte ich das Begräbnis notfalls von hier aus filmen; also geh’ ich das Risiko ein. Mach’ dir um mich keine Sorgen.«
»Ich mache mir keine Sorgen um dich«, sagte ich. »Nimm mein Wort darauf. Aber ich wünschte, du würdest mit mir umkehren. Sie wollen dich hier oben nicht haben, und ich will dich hier oben nicht haben. Es ist gefährlich, besonders, wenn das Wetter sich verschlechtert. Außerdem brichst du den Vertrag mit deiner Reiseagentur, der besagt, daß du meinen Anweisungen auf dem Trek Folge zu leisten hast.«
»Verklag mich doch.«
Ich atmete tief ein.
Arnold legte freundlich eine Hand auf meinen Arm. »Mach’ dir nicht so viel Sorgen, George. Sie werden mich lieben, wenn sie erst Stars sind.« Er sah den Ausdruck auf meinen Gesicht und trat zurück. »Und du versuche ja keine Tricks mit mir, oder ich hänge dir eine Entführungsklage an den Hals, und du wirst nie wieder einen Trek führen.«
»Bring’ mich ja nicht in Versuchung«, erwiderte ich und kehrte zum Lager der Engländer zurück.
Ich ging in ihr Zelt. Laure und Kunga Norbu hatte sich zu ihnen gesellt; es war ziemlich eng. »Kein Glück«, sagte ich. Es überraschte sie nicht.
»Ein Superblutsauger«, bemerkte Freds fröhlich.
Wir saßen da und starrten die blauen Flammen des Gaskochers an.
Dann, wie es unter solchen Umständen meistens passiert, sagte ich: »Ich habe einen Plan.«
Da uns nicht viele Möglichkeiten blieben, war er relativ einfach. Wir würden alle zum Lho La zurückkehren, und vielleicht sogar zum Basislager, damit Arnold dachte, wir hätten aufgegeben. Dort unten könnten die Engländer und Freds und Kunga Norbu dann in den Teehäusern von Gorak Shep neue Vorräte kaufen, und Laure und ich würden versuchen, Arnold aufzuhalten, indem wir ihm zum Beispiel seine Stiefel stahlen. Dann könnten sie an den Leitseilen wieder hinaufklettern und es noch einmal versuchen.
Trevor schaute zweifelnd drein. »Es ist schwierig, hier hinaufzukommen, und wir haben nicht mehr viel Zeit, falls die andere Exepedition schon auf dem Nordgrat ist.«
»Ich habe einen besseren Plan«, erklärte Freds. »Schaut mal, Arnold folgt euch Briten, aber nicht uns. Wenn wir vier vorgeben würden, wieder umzukehren, während ihr vier direkt den Westgrat angeht, würde Arnold euch folgen. Dann könnten wir vier uns den Diagonalgraben hinaufschleichen und euch überholen, indem wir die Hombein-Schlucht nehmen, was ja viel schneller geht. Ihr würdet uns nicht sehen, und wir wären vor euch oben bei der Leiche.«
Niemand war von diesem Plan übermäßig angetan. Die Briten hätten Mallory gern selbst gefunden, das spürte ich deutlich. Und ich hatte nicht die geringste Absicht, noch höher zu steigen, als ich schon war. Ich war in der Tat sogar entschieden dagegen.
Aber mittlerweile hatten sich die Briten fest darauf versteift, Mallory vor dem Fernsehen und der Westminster Abbey zu retten. »Das könnte klappen«, stimmte Marion zu.
»Und wir könnten den Blutsauger auf dem Grat abschütteln«, fügte Mad Tom hinzu. »Das ist ein schwieriges Stück.«
»Genau!« sagte Freds glücklich. »Laure, machst du mit?«
»Was immer du wollen«, sagte Laure und grinste. Er hielt es für eine gute Idee. Dann fragte Freds auf Tibetanisch Kunga Norbu und erklärte uns, Kunga habe dem Plan seinen Segen gegeben.
»George?«
»Oh, Mann, nein. Ich würde ihn lieber irgendwie anders abschütteln.«
»Ach, komm schon!« rief Freds. »Es gibt keine andere Möglichkeit, und du willst uns doch nicht im Stich lassen, oder? Hast du etwa kalte Füße?«
»Er ist dein verdammter Klient«, stellte John klar.
»Oh, Mann … Na schön.«
Ich kehrte mit dem Gefühl zu unserem Zelt zurück, daß die Dinge wirklich außer Kontrolle gerieten. In der Tat war ich im Griff anderer Menschen Pläne gefangen, Pläne, die ich keineswegs billigte und die von Leuten geschmiedet worden waren, deren geistige Ausgeglichenheit ich bezweifelte. Und das alles auf einem Berg, auf dem über fünfzig Menschen gestorben waren. Es stank zum Himmel.