16

Doch schließlich ging die Nacht vorbei, und ich war noch da.

Wir krochen noch vor dem ersten Licht der Dämmerung aus unserer Höhle, stampften mit den Füßen, bis wieder etwas Gefühl in sie zurückkehrte, und waren sehr mit uns zufrieden. »Guten Morgen!« sagte Kunga Norbu höflich zu mir. Und damit hatte er recht. Hochstehende Wolken färbten sich über uns rosa, und ein Meer aus blauen Wolken trieb weit unter uns über Nepal dahin. Die höheren Gipfel stachen wie Inseln daraus hervor und färbten sich ebenfalls langsam rosa. Ich hatte nie einen überirdischeren Anblick wahrgenommen; es war, als wären wir aus der Höhle auf einen anderen Planeten gekrochen.

»Vielleicht sollten wir einfach den Südpaß hinab und uns zu diesen indischen Soldaten durchschlagen«, krächzte Freds. »Ich habe keine Lust, wieder auf den Gipfel zu klettern, um die Westseite hinabzusteigen.«

»Du meinst es ernst«, sagte ich.

Also stiegen wir die Südseite hinab.

Peter Habeier, Messners Partner bei der ersten Besteigung des Everest ohne Sauerstofflaschen im Jahre 1979, ist den Grat vom Gipfel bis zum Südpaß in einer Stunde hinabgerast. Er hatte Angst vor Gehirnschäden; meines Erachtens ist die Geschwindigkeit seines Abstiegs der beste Beweis dafür, daß sie schon eingetreten waren. Wir gingen, so schnell wir konnten, was beunruhigend schnell war, und brauchten fast drei Stunden dafür. Einen Schritt nach dem anderen, einen steilen, verschneiten Grat hinab. Ich weigerte mich, in die tiefen Schluchten zu meiner Rechten und Linken hinabzuschauen. Die Wolken unter uns schwollen an wie die Flut in der Fundy-Bai; unser schönes Wetter würde bald ein Ende finden.

Ich kam mir völlig losgelöst von meinem Körper vor, beobachtete einfach, wie er marschierte. Unter mir sang Freds »›I get up, I get dow-wow-wown‹« aus dem Lied »Close to the Edge« von Yes. Wir gelangte an eine große, schneegefüllte Rinne und rutschten sie achtlos hinab, glitten bei jedem verträumten Schritt acht oder zehn Meter weit. Wir alle drei taumelten mittlerweile. Wolken strömten hinauf, und wie durch Zauberei erschien überall um uns herum Nebel, aber wir waren schon unmittelbar über dem Südpaß, und es spielte keine Rolle mehr. Ich sah, daß man im Paß ein Lager aufgeschlagen hatte, und seufzte erleichert auf. Ansonsten wären wir verloren gewesen.

Die Inder sicherten noch ihre Zelte, als wir hineinmarschierten. Eine Woche perfektes Wetter, und sie waren nur bis zum Südpaß gekommen. Sehr langsam, dachte ich, als wir näher kamen. Eine Besteigung im Belagerungsstil, eine logistische Pyramide, völlig auf Nummer Sicher — und so langsam wie der Bau der anderen Art von Pyramide.

Als wir den Paß überquerten und uns den Zelten näherten, wobei wir Abfallhaufen von vorherigen Expeditionen ausweichen mußten, stellten sich die ersten Sorgen bei mir ein. Sie müssen wissen, daß die indische Armee auf dem Everest unglaubliches Pech gehabt hat. Sie haben mehrmals versucht, den Berg zu besteigen, und sind, soweit ich weiß, immer gescheitert. Hauptsächlich wegen der Stürme, doch die Menschen neigen dazu, dies zu ignorieren, und die Inder haben von der Bergsteigergemeinde in Nepal ziemliche Kritik abbekommen. Man hat sie sogar ›schreckliche Bergsteiger‹ genannt. Sie waren also ziemlich empfindlich in dieser Hinsicht, und mir kam sehr langsam in den Sinn, daß sie nicht allzu erfreut sein würden, im Südpaß von drei Bergsteigern begrüßt zu werden, die gerade auf der Nordseite vom Gipfel hinabkamen.

Dann sah uns einer. Er ließ den Holzhammer in seiner Hand fallen.

»Hallo«, krächzte Freds.

Schnell versammelten sich einige von ihnen um uns. Der Wind wehte nun heftiger, und wir alle waren ihm ungeschützt ausgeliefert. »Wer sind Sie?« rief der älteste Inder dort verdrossen, wahrscheinlich ein Major.

»Wir haben uns verirrt«, sagte Freds. »Wir brauchen Hilfe.«

Ah, gut, dachte ich. Freds hat auch daran gedacht. Er wird ihnen nicht sagen, woher wir kommen. Freds hat noch alle Gedanken beisammen. Er wird dieses Problem richtig angehen.

»Woher kommen Sie?« brüllte der Major.

Fred deutete auf die Westseite. Gut, dachte ich. »Unsere Sherpas haben gesagt, wir sollten uns rechts halten. Und das haben wir seit Jomosom auch getan.«

»Woher kommen Sie, bitte?«

»Jomosom!«

Der Major richtete sich auf. »Jomosom«, sagte er scharf, »liegt im westlichen Nepal.«

»Oh«, sagte Freds.

Und wir alle standen da. Anscheinend hatten wir das Freds’ Erklärung zu verdanken.

Ich stieß ihn zur Seite. »In Wahrheit haben wir uns gedacht, wir könnten Ihnen etwas helfen. Wir haben nicht gewußt, worauf wir uns einlassen.«

»Ja!« sagte Freds und machte sich diese neue Taktik dankbar zu eigen. »Vielleicht könnten wir ein paar Lasten für Sie runtertragen?«

»Wir steigen noch hinauf!« bellte der Major. »Wir brauchen niemanden, der Lasten nach unten trägt.« Er deutete auf den Grat hinter uns, der allmählich im Nebel verschwand. »Das ist der Everest!«

Freds blinzelte ihn an. »Sie machen Witze.«

Ich stieß ihn wieder an. »Wir brauchen Hilfe«, sagte ich.

Der Major betrachtete uns eindringlich. »Gehen Sie ins Zelt«, sagte er schließlich.

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