12

Wir konnten den Ort eine lange und rastlose Nacht genießen, denn es ist verteufelt schwer, in solch einer Höhe zu schlafen. Die Müdigkeit scheint aus dem geistigen Repetoire herausgefallen zu sein, und wenn sie sich dann doch einmal einstellt, fällt man in das, was man die Cheyne-Stokes-Atmung nennt. Der Körper läßt sich ständig narren, wieviel Sauerstoff er bekommt, und so hyperventiliert man eine Weile und hört dann bis zu jeweils einer Minute ganz zu atmen auf. Das ist kein beruhigendes Muster, wenn es einen schlafenden Menschen überkommen hat, der neben einem liegt; Freds fiel zum Beispiel wirklich hinein, und ich lag die ganze Zeit während seiner wirklich langen Schweigephasen völlig wach und machte mir Sorgen, daß er gestorben sein könnte. Er hatte anscheinend die gleichen Befürchtungen bei mir, jedoch nicht meine Geduld, und wenn ich wirklich einmal einschlief, riß Freds mich normalerweise wieder ins Bewußtsein zurück, indem er mich am Arm zerrte und sagte: »George, verdammt, atme! Atme!«

Doch der nächste Tag dämmerte wieder klar und windstill herauf, und nach dem Frühstück marschierten wir am Schwarzen Ring entlang.

Unsere Route war ungewöhnlich, vielleicht sogar einzigartig. Der Schwarze Ring, härter als die Felsschichten darüber und darunter, erhebt sich als brüchiger Wall aus der im allgemeinen glatten Felswand. Also hatten wir praktisch eine Art Straße, auf der wir gehen konnten. Obwohl sie uneben und aufgerissen war, erreichte sie stellenweise eine Breite von sechs Metern, und eine leichtere Stelle für eine Überquerung konnte man sich nicht vorstellen. Hier hätten sich zahlreiche Lagerstätten geboten.

Natürlich ist man normalerweise, wenn man sich achttausendvierhundert Meter hoch auf dem Everest befindet, daran interessiert, ziemlich schnell entweder höher oder tiefer zu gelangen. Da dieser Wall eben verlief und auch keinerlei Route folgte, wurde er nicht häufig begangen. Da Freds sagte, daß Kunga Norbu nur von oben auf ihn hinabgesehen hatte, waren wir vielleicht die ersten überhaupt, die ihm folgten.

Also wanderten wir diesen Hochweg entlang und machten uns auf die Suche. Freds stieß einen Felsbrocken vom Rand hinab, und wir beobachteten, wie er in den Rongbuk-Gletscher stürzte, bis er unsichtbar wurde, wenngleich wir ihn noch hören konnten. Danach trotteten wir etwas vorsichtiger weiter. Dennoch hatten wir den Grat ziemlich schnell überquert und schauten dann die gewaltige, glatte Rinne der Großen Schlucht hinab. Hier endete der Ring, und der weitere Aufstieg zur berühmten Nordwand, an der man Mallory und Irvine zum letzten Mal gesehen hatte, wäre ein häßliches Stück Arbeit gewesen. Außerdem hatte Kunga Norbu die Leiche gar nicht an dieser Stelle gesehen.

»Wir müssen sie verpaßt haben«, sagte Freds. »Wir trennen uns, marschieren auf den Seiten und sehen auf dem Rückweg in jedem Winkel und jeder kleinen Spalte nach.«

Das taten wir dann auch; wir gingen sehr langsam und näherten uns dem Ende des Ringes, soweit wir es wagten.

Wir waren etwa auf halber Strecke zur Hornbein-Schlucht zurückgekehrt, als Laure sie fand. Er rief, und wir liefen zu ihm.

»Ich glaub, mein Schwein pfeift«, sagte Freds und glotzte erstaunt.

Die Leiche steckte in einem Spalt, bis zur Brust in hartgefrorenem Schnee. Sie lag auf der Seite, so zusammengekauert, daß sie sich auf einer Ebene mit dem Fels auf beiden Seiten des Spaltes befand. Ihre Kleidung war durchgescheuert und verfaulte auf ihr; sie schien aus Strickwolle zu bestehen. Die Art, wie man sie beim Golf in Schottland trägt. Ihre Augen waren geschlossen, und unter einer zerfallenden Kapuze wirkte seine Haut papierdünn. Sechzig Jahre draußen in Sonne und Sturm, doch immer unter dem Gefrierpunkt, hatten ihn auf seltsame Art und Weise erhalten. Ich hatte das unheimliche Gefühl, daß er nur schlief und jeden Augenblick aufwachen und aufstehen würde.

Freds kniete neben ihm und grub etwas im Schnee. »Seht mal — er ist angeseilt, aber das Seil ist gerissen.«

Er hielt ein paar Zentimeter ausgefasertes Seil hoch — Naturfasern, schrecklich dünn. Ich erschauderte, als ich es sah. »So eine primitive Ausrüstung!« rief ich.

Freds nickte kurz. »Die waren plemplem. Ich glaube nicht, daß er eine Sauerstofflasche dabeihat. Die gab’s damals schon, aber er benutzte sie nicht gern.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind wahrscheinlich gleichzeitig gestürzt. Vielleicht durch eine Schneewächte gebrochen. Dann fielen sie hier runter, und der hier blieb im Spalt hängen, während der andere über den Rand stürzte und das Seil riß.«

»Also liegt der andere unten im Gletscher«, sagte ich.

Freds nickte langsam. »Und sieh mal …«Er deutete nach oben. »Wir sind fast direkt unter dem Gipfel. Also müssen sie es geschafft haben. Oder verdammt kurz vor dem Ziel abgestürzt sein.« Er schüttelte den Kopf. »Und sie haben nur so eine Jacke getragen! Erstaunlich!«

»Also haben sie es geschafft«, flüsterte ich.

»Sieht jedenfalls so aus. Also … wer von den beiden ist das?«

Ich schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen. Anfang Zwanzig oder Mitte Dreißig?«

Unbehaglich betrachteten wir die mumifizierten Gesichtszüge.

»Dreißig«, sagte Laure. »Nicht jung.«

Freds nickte. »Meine ich auch.«

»Dann ist es Mallory«, sagte ich.

»Hm.« Freds stand auf und trat zurück. »Das wäre es dann wohl. Das Geheimnis ist gelöst.« Er sah uns an und sprach kurz mit Kunga Norbu. »Er muß die meisten Jahre unter Schnee gelegen haben. Aber verstecken wir ihn den Briten zuliebe unter Felsen.«

Das war leichter gesagt als getan. Da er in der Spalte steckte, mußten wir nur ein paar Steine über ihn legen. Doch wir fanden schnell heraus, daß es hier kaum irgendwelche losen Steine gab; der Wind hatte sie hinabgerollt. Also mußten wir paarweise arbeiten und und große flache Platten heranschaffen, die schwer genug waren, um gegen den Wind bestehen zu können.

Diese sammelten wir noch immer, als Freds plötzlich nach hinten deutete und sich auf zutageliegenden Fels des Rings setzte. »He, die Briten sind über uns auf dem Westgrat! Sie sind fast auf gleicher Höhe mit uns!«

»Arnold kann nicht weit zurück sein«, sagte ich.

»Wir haben hier noch eine Stunde zu tun«, rief Freds. »He, Laure, hör zu — geh zu unserem Lager zurück und pack unsere Sachen. Und dann gehst du den Briten entgegen und sagst ihnen, sie sollen langsamer werden. Verstanden?«

»Langsamerwerden«, wiederholte Laure.

»Genau. Erkläre ihnen, daß wir Mallory gefunden haben und sie diese Gegend meiden sollen. Verschaffe uns Zeit. Du bleibst bei ihnen und steigst mit ihnen hinab. George und Kunga und ich folgen euch dann, und wir treffen euch bei Gorak Shep.«

Gorak Shep? Das schien tiefer zu liegen, als es nötig war.

Laurenickte. »Langsamerwerden, hinabsteigen, wirtreffen euch bei Gorak Shep.«

»Du hast’s kapiert, Kumpel. Wir sehen euch dann da unten.«

Laure nickte und ging los.

»Also schön«, sagte Freds. »Decken wir den Burschen zu.«

Wir errichteten eine kleine Mauer um ihn und legten dann die größte Platte von allen als Grabstein über seinen Kopf. Nur zu dritt konnten wir sie hochheben, und wir taumelten herum, um sie in Position zu bringen, ohne seine Ruhe zu stören; danach hatten wir wirklich kaum noch Luft.

Als wir fertig waren, war die Leiche vollständig abgedeckt, und die meiste Zeit über würde Schnee unser Hügelgrab bedecken, und es würde aussehen wie eine kleine Erhebung unter tausenden. Also hatten wir es geschafft. »Sollten wir nicht etwas sagen?« fragte Freds. »Du weißt schon, ein Gebet oder so?«

»He, Kunga ist der Tulku«, sagte ich. »Sag’ ihm, er soll es machen.«

Freds sprach mit Kunga. Auf seiner Schneebrille konnte ich kleine Abbilder von Kunga sehen, der wie ein Marsianer aussah. Seit Mallory hatte sich die Bergsteigerkleidung doch ziemlich verändert!

Kunga Norbu stand am Ende unseres Grabes und steckte die in Fäustlingen steckenden Hände aus; er sprach eine Weile auf Tibetanisch.

Danach übersetzte Freds seine Worte für mich. »Geist von Chomolungma, Mutter Göttin der Welt, wir sind hier, um die Leiche von George Leigh Mallory zu begraben, des ersten Menschen, der deine geheiligten Hänge erstieg. Er war ein Bergsteiger mit großem Mut, der niemals aufgab, und wir lieben ihn dafür — er zeigte uns sehr rein etwas, das wir alle in uns selbst schätzen. Ich möchte auch hinzufügen, daß aus seiner Kleidung und Ausrüstung ersichtlich wird, daß er ein kompletter Idiot war, überhaupt hier hinaufzusteigen, und möchte mich in besonderer Ehrfurcht auch vor dieser Eigenschaft verneigen. Und so stehen wir hier, drei Schüler deines heiligen Geistes, und ergreifen diesen Augenblick, um diesen Geist hier und in uns und überall auf der Welt zu ehren.« Kunga neigte den Kopf, und Freds und ich folgten seinem Beispiel und gedachten seiner schweigend; und wir hörten nur den Wind, der über die Mutter Göttin nach Tibet pfiff.

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