Kurz vor Sonnenuntergang hatten wir den Lho La überwunden und unser Zelt auf dem flachen Ausläufer des Passes auf tiefem hartem Schnee aufgeschlagen. Es war eine der geräumigsten Lagerstätten, die ich je errichtet hatte: auf dem Grat des Himalaja, auf einem breiten Sattel zwischen den höchsten Bergen der Erde und dem sehr spitzen und wunderschönen Lingtren. Unter uns war auf der einen Seite der Khumbu-Gletscher, auf der anderen der Rongbuk-Gletscher in Tibet. Wir waren etwa sechstausendsechshundert Meter hoch, und so hatten Freds und seine Freunde noch ein gutes Stück vor sich, wenn sie zum alten Mallory wollten. Aber nichts über uns würde so willkürlich gefährlich sein wie der Eisfall. Solange das Wetter hielt, heißt das. Bislang hatten wir Glück gehabt; dieser Oktober erwies sich als einer der trockensten seit Jahren.
Es war keine Spur vom englischen Team oder von Arnolds Crew auszumachen, abgesehen von Spuren im Schnee, die um die Seite des Westsattels führten und dann verschwanden. Also waren sie auf dem Weg zum Gipfel. »Verdammt!« sagte ich. »Warum haben sie nicht gewartet?« Jetzt mußten wir noch höher klettern, um Arnold zu erwischen.
Ich saß auf dem festgetretenen Schnee vor dem Zelt. Ich war müde. Und ich war sehr besorgt. Laure kümmerte sich um den Gaskocher. Kunga Norbu saß ein Stück abseits im Schnee und meditierte anscheinend beim Anblick Tibets.
Freds ging umher und sang »Wooden Ships«; er war eindeutig im Himmel. »Talkin’ about very free … and eeeasy … Ich meine, das ist doch ein tolles Lager, oder was?« rief er mir zu. »Sieh dir diesen Sonnenuntergang an. Das ist einfach zuviel. Hätten wir nur noch was Chang mitgenommen. Ich hab aber etwas Hasch. George, jetzt ist an der Zeit für ein Pfeifchen, oder?«
»Noch nicht, Freds«, sagte ich. »Du kommst jetzt her und erklärst mir, was, zum Teufel, da unten mit deinem Kumpel Kunga passiert ist. Du hast es mir versprochen.«
Freds stand da und sah mich an. Wir waren im Schatten — es war kalt, aber windstill, und der Himmel über uns war klar und sehr dunkelblau. Das dünne Zischen des anspringenden Gaskochers war das einzige Geräusch.
Freds seufzte, und sein Gesichtsausdruck wurde so ernst, wie es bei ihm überhaupt möglich war: ein Auge völlig zugekniffen, die Stirn gerunzelt und die Lippen zusammengepreßt. Er sah zu Kunga hinüber, der dort saß und uns beobachtete. »Hör zu«, sagte er nach einer Weile. »Du erinnerst dich doch, wie wir uns vor ein paar Wochen in Chimoa einen angesoffen haben?«
»Ja und?«
»Und ich habe dir gesagt, daß Kunga Norbu ein Tulku ist.«
Ich schluckte. »Freds, verschone mich mit diesem Unsinn.«
»Na ja«, sagte er. »Entweder das, oder ich muß dir irgendwas vorlügen. Und ich bin kein so guter Lügner, mein Gesicht oder irgendwas verrät mich immer.«
»Freds, werde ernst!« Aber als ich zu Kunga Norbu hinübersah, der dort mit diesem leeren Gesichtsausdruck und den unheimlichen schwarzen Augen im Schnee saß, mußte ich mich unwillkürlich fragen, ob er nicht doch recht hatte.
»Es tut mir leid, Mann, wirklich«, sagte Freds. »Ich will dir da nichts vormachen. Aber du mußt eingestehen, daß ich schon versucht habe, es dir zu sagen. Und es ist die reine Wahrheit. Bei Gott, er ist ein echter Tulku. Die erste Inkarnation des berühmten Tsong Khapa, 1555 geboren. Und seitdem weilt er unter uns.«
»Also hat er George Washington kennengelernt, und so weiter?«
»Soweit ich weiß, ist Washington nie in Tibet gewesen.«
Ich starrte ihn an. Er verlagerte unbehaglich sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß, es fällt einem nicht leicht, das zu schlucken, George. Glaub mir, ich hatte zuerst auch meine Schwierigkeiten damit. Doch wenn man eine Weile unter Kunga Norbu studiert, sieht man, wie er so viele wunderbare Dinge tut, daß man es einfach glauben muß.«
Ich starrte ihn sprachlos weiterhin an. »Wenn man zum ersten Mal sieht, wie er seine Wunder wirkt, ist es ein echter Schock. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Mal. Ich marschierte mit ihm von dem verborgenen Rongbuk nach Namche. Wir gingen direkt über den Lho La, wie heute auch, und direkt hinter dem Basislager stießen wir auf diesen indischen Trekker, der schon blau anlief. Er würde eindeutig an der Höhenkrankheit sterben, und so trugen Kunga und ich ihn zwischen uns nach Pheriche hinab, was schon ein hartes Stück Arbeit ist, wie du weißt. Wir brachten ihn zur Rettungsstation, und ich nehme an, sie haben ihn in den Drucktank gelegt, den sie da haben. Hast du den schon mal gesehen? Sie haben im Hinterzimmer einen Tank, der wie ein kleines U-Boot aussieht, und wenn man einen Burschen mit Höhenkrankheit da reinlegt und den Druck auf den der Meereshöhe senkt, geht’s ihm wieder besser. Eine tolle Idee, aber es stellte sich raus, daß die Station diesen Tank von einem Krankenhaus in Tokio gestiftet bekommen hatte, und die Gebrauchsanweisung dafür ist auf Japanisch, und keiner auf der Station kann Japanisch lesen. Außerdem ist das nur eine Experimentaltechnik, niemand weiß genau, ob sie funktioniert oder nicht, und keiner da beabsichtigt, mit kranken Trekkern Experimente anzustellen. Also waren wir wieder ganz am Anfang, und diesem Burschen ging es schlechter denn je, und so brachen Kunga und ich nach Namche auf, aber ich wurde müde, und wir kamen nur echt langsam voran, und plötzlich hob Kunga Norbu ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter, und dann lief er einfach den Trail mit ihm hinab! Ich rief ihm nach und versuchte, mit ihm Schritt zu halten, und ich sage dir, ich raste den Trail runter, und Kunga war trotzdem so schnell, daß ich ihn bald aus den Augen verlor. Er machte große, lange Schritte, als wolle er jeden Augenblick abheben! Ich konnte es einfach nicht glauben!«
Freds schüttelte den Kopf. »Das war das erste Mal, daß ich sah, wie Kunga Norbu in den Lunggom-Seinszustand fiel. Das bedeutet mystischer Langstreckenlauf und war früher mal echt beliebt in Tibet. Ein Adept wie Kunga wird Lung-gom-pa genannt, und wenn man es erst mal beherrscht, kann man echt schnell echt weit laufen. Sogar ein bißchen levitieren. Du hast es heute ja selbst gesehen — unter diesem Eisblock legte er eine Lung-gom-Bewegung vor.«
»Ich verstehe«, sagte ich ziemlich benommen. »He!«, rief ich Laure zu, der noch immer mit dem Gaskocher beschäftigt war. »Laure! Freds sagt, daß Kunga Norbu ein Tulku ist!«
Laure nickte lächelnd. »Ja, Kunga Norbu Lama sehr guter Tulku!«
Ich atmete tief ein. Drüben im Schnee saß Kunga Norbu mit überkreuzten Beinen und blickte auf sein Land hinaus. Oder sonstwo hin. »Ich glaube, jetzt wäre ein Haschpfeifchen nicht schlecht«, sagte ich zu Freds.